Cover

Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley

Die blutige Sonne

Ein Darkover Roman


Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck

Edel eBooks

Das rote Licht verweilte noch auf den Hügeln. Zwei der vier kleinen Monde standen am Himmel, der grüne Idriel kurz vor dem Untergang und die winzige Sichel Mormallors, elfenbeinblaß, nahe dem Zenit. Die Nacht würde dunkel werden. Kindra n’ha Mhari merkte nicht gleich, was an der kleinen Stadt seltsam war. Sie war zu dankbar, sie vor Sonnenuntergang erreicht zu haben – Schutz vor der regenfeuchten Kälte einer darkovanischen Nacht, ein Bett nach einer viertägigen Reise, einen Becher Wein vor dem Einschlafen.

Aber langsam ging ihr auf, daß hier etwas nicht stimmte. Normalerweise würden die Frauen zu dieser Stunde in den Straßen hin- und hergehen, mit den Nachbarinnen plaudern und für das Abendessen einkaufen, während die Kinder draußen spielten und sich stritten. Aber heute abend war keine einzige Frau auf der Straße und auch kein Kind.

Was war nicht in Ordnung? Stirnrunzelnd ritt sie die Hauptstraße entlang bis zum Gasthof. Sie war hungrig und müde.

Vor vielen Tagen hatte sie mit einer Gefährtin Dalereuth verlassen. Ihr Ziel war das Gildenhaus in Neskaya gewesen. Aber ihre Gefährtin war, was beide nicht gewußt hatten, schwanger gewesen. Sie hatte ein Fieber bekommen, und im Gildenhaus von Thendara hatte sie eine Fehlgeburt gehabt und lag immer noch dort, sehr krank. Kindra war allein nach Neskaya weitergeritten, aber sie hatte einen Umweg von drei Tagen gemacht, um der Eidesmutter der kranken Frau Nachricht zu bringen. Sie hatte sie in einem Dorf in den Bergen gefunden, wo sie einer Gruppe von Frauen half, eine kleine Meierei zu errichten.

Kindra fürchtete sich nicht davor, allein zu reisen; sie war in diesen Bergen schon zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter unterwegs gewesen. Aber allmählich gingen ihr die Vorräte aus. Glücklicherweise war der Gastwirt ein alter Bekannter von ihr; sie hatte nur wenig Geld dabei, weil die Reise sich so unerwartet in die Länge gezogen hatte. Doch der alte Jorik würde ihr ein Bett für die Nacht und ihr und ihrem Pferd zu essen geben und sich darauf verlassen, daß sie ihm die Bezahlung schickte. Er wußte ja, falls sie es nicht tat oder nicht konnte, würde ihr Gildenhaus der Ehre der Gilde wegen die Rechnung begleichen.

Der Mann, der ihr Pferd in den Stall führte, war ihr auch seit vielen Jahren bekannt. Er machte ein finsteres Gesicht, als sie abstieg. „Ich weiß wirklich nicht, wo wir Eure Stute einstellen sollen, mestra, mit all den fremden Pferden hier ... was meint Ihr, wird sie sich eine Box mit einem anderen Pferd teilen, ohne zu treten? Oder soll ich sie dahinten lose anbinden?“ Kindra bemerkte, daß der Stall gedrängt voll mit Pferden war, zwei Dutzend oder mehr. Statt nach dem Gasthof eines einsamen Dorfes sah es hier wie in Neskaya am Markttag aus!

„Habt Ihr unterwegs irgendwelche Reiter getroffen, mestra?

„Nein, keinen.“ Kindra zog ein wenig die Stirn kraus. „Alle Pferde in den Kilghardbergen scheinen sich hier in eurem Stall zu befinden. Was ist los, ein königlicher Besuch? Was hast du eigentlich? Du siehst dauernd über die Schulter, als stände da dein Herr mit einem Stock, um dich zu schlagen. Und wo ist der alte Jorik? Warum ist er nicht hier und begrüßt seine Gäste?“

„Nun, mestra, der alte Jorik ist tot“, antwortete der Alte, „und Dame Janella versucht, mit ihren kleinen Töchtern Annelys und Marga den Gasthof allein weiterzuführen.“

„Tot? Die Götter schützen uns“, sagte Kindra. „Was ist geschehen?“

„Es waren diese Räuber, mestra, Narbengesichts Bande. Sie kamen her und stachen Jorik nieder, mit seiner Schürze an“, berichtete der alte Stallknecht. „Stellten die Wirtschaft auf den Kopf, zerbrachen alle Bierkrüge, und als das Mannsvolk sie mit Mistgabeln hinaustrieb, schworen sie, sie würden zurückkehren und die Stadt in Brand stecken. Deshalb ließen Dame Janella und die Ältesten die Mütze herumgehen und sammelten Kupfer, um Brydar von Fen Hills und alle seine Männer anzuheuern, damit sie uns verteidigen, wenn die Räuber wiederkommen. Und seitdem sind Brydars Männer hier, mestra, streiten und trinken und haben ein Auge auf die Frauen. Die Leute in der Stadt sagen schon, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit! Aber geht hinein, geht nur hinein, mestra, Janella wird Euch willkommen heißen.“

Die dicke Janella sah blasser und dünner aus, als Kindra sie je gesehen hatte. Sie begrüßte Kindra mit ungewöhnlicher Freundlichkeit. Unter normalen Umständen war sie kalt gegen Kindra, wie es sich für eine respektable Ehefrau in Anwesenheit eines Mitglieds der Amazonengilde schickte. Jetzt, vermutete Kindra, lernte sie, daß eine Gasthofbesitzerin es sich nicht leisten konnte, eine Besucherin vor den Kopf zu stoßen. Auch Jorik hatte nichts für die Freien Amazonen übrig gehabt, aber er wußte aus Erfahrung, daß sie ruhige Gäste waren, die sich für sich hielten, keinen Ärger machten, sich nicht betranken, weder Barschemel noch Bierkrüge zerbrachen und ihre Rechnung prompt bezahlten. Der Ruf eines Gastes, dachte Kindra mit trockenem Humor, verändert die Farbe seines Geldes nicht.

„Habt Ihr schon gehört, gute mestra? Diese schlechten Männer, Narbengesichts Kerle, sie haben meinen guten Mann niedergestochen, und das für nichts – nur weil er mit einem Bierkrug nach einem warf, der Hand an mein kleines Mädchen gelegt hatte, und Annelys ist noch keine fünfzehn! Ungeheuer!“

„Und sie töteten ihn? Empörend!“ murmelte Kindra, aber ihr Mitleid galt dem Mädchen. Ihr ganzes Leben lang mußte die kleine Annelys sich daran erinnern, daß ihr Vater gestorben war, als er sie verteidigte, weil sie sich nicht selbst verteidigen konnte. Wie alle Frauen der Gilde hatte Kindra geschworen, sich selbst zu verteidigen und niemals einen Mann um Schutz anzugehen. Sie war schon ihr halbes Leben lang Mitglied der Gilde. Ihr kam es entsetzlich vor, daß ein Mann hatte sterben müssen, um ein Mädchen vor einer Belästigung zu bewahren, die sie selbst hätte abwehren können müssen.

„Ach, Ihr wißt nicht, wie das ist, mestra, wenn man allein ist, ohne den guten Mann. Bei dem einschichtigen Leben, das Ihr führt, könnt Ihr Euch das nicht vorstellen!“

„Nun, Ihr habt Töchter, die Euch helfen können“, antwortete Kindra. Janella schüttelte den Kopf und jammerte: „Aber sie können nicht in die Wirtschaft zu all diesen rauhen Männern kommen, sie sind erst kleine Mädchen!“

„Es wird ihnen guttun, etwas über die Welt und ihre Sitten zu lernen“, meinte Kindra, doch die Frau seufzte. „Ich möchte nicht, daß sie zuviel darüber lernen.“

„Dann werdet Ihr Euch wohl einen zweiten Mann nehmen müssen.“ Kindra wußte, daß es zwischen ihr und Janella einfach keine Verständigungsmöglichkeit gab. „Aber Euer Kummer tut mir ehrlich leid. Jorik war ein guter Mann.“

„Ihr wißt gar nicht, wie gut, mestra“, sagte Janella weinerlich. „Ihr Frauen von der Gilde, ihr nennt euch freie Frauen. Mir allerdings kommt es vor, als sei ich immer frei gewesen – bis heute, wo ich Tag und Nacht auf mich selbst aufpassen muß, falls sich einer falsche Ideen über eine alleinstehende Frau in den Kopf setzt. Erst neulich sagte einer von Brydars Männern zu mir –, und das ist noch so eine Sache, diese Männer. Sie fressen uns um Haus und Herd, und seht nur, mestra, im Stall ist kein Platz für die Pferde unserer zahlenden Gäste, denn das halbe Dorf hat die Pferde der Räuber wegen hier eingestellt. Und diese angeheuerten Degen trinken Tag für Tag das Bier meines guten alten Mannes –“ Plötzlich fielen ihr ihre Pflichten als Wirtin ein. „Doch kommt in die Gaststube, mestra; und ich werde Euch ein Abendessen bringen. Oder hättet Ihr gern etwas Leichteres, vielleicht Rabbithorn mit Pilzen geschmort? Wir sind überfüllt, ja, aber da ist das kleine Zimmer oben an der Treppe, das könnt Ihr für Euch allein haben, ein Zimmer, für eine feine Dame geeignet, und tatsächlich hat Lady Hastur vor ein paar Jahren in genau diesem Bett geschlafen. Lilla! Lilla! Wo ist das einfältige Mädchen nur? Als ich sie aufnahm, sagte ihre Mutter mir, sie sei geistig zurückgeblieben, aber sie hat Witz genug, herumzulungern und mit diesem jungen Söldner zu schwatzen, Zandru kratze sie alle! Lilla! Beeil dich, zeig der guten Frau hier ihr Zimmer, hol Waschwasser, kümmere dich um ihre Satteltaschen!“

Später ging Kindra in die Gaststube hinunter. Wie alle Gildenfrauen hatte sie gelernt, sich unauffällig zu benehmen, wenn sie allein war. Eine einzelne Frau forderte zumindest Fragen heraus, deshalb reisten sie für gewöhnlich in Paaren. Das wiederum rief hochgezogene Augenbrauen und gelegentlich dreckige Bemerkungen hervor, verhütete aber die sehr unerfreulichen Annäherungsversuche, denen sich eine allein reisende Frau auf Darkover aussetzte. Natürlich vermochte sich jede Frau der Gilde selbst zu schützen, wenn es über rohe Worte hinausging, aber das konnte Schwierigkeiten für die ganze Gilde mit sich bringen. Besser war es, sich auf eine Weise zu verhalten, die das Problem so klein wie möglich hielt. Deshalb setzte Kindra sich allein in eine winzige Ecke neben der Feuerstelle und behielt die Kapuze auf – sie war weder jung noch besonders hübsch –, trank ihren Wein, wärmte ihre Füße und tat nichts, was die Aufmerksamkeit irgendeines Anwesenden auf sich ziehen konnte. Es schoß ihr durch den Kopf, daß sie, die sich eine Freie Amazone nannte, in diesem Augenblick größeren Beschränkungen unterworfen war als Janellas hin- und herlaufende junge Töchter, die vom Dach ihrer Familie und der Anwesenheit ihrer Mutter beschützt waren.

Sie beendete ihre Mahlzeit und rief nach einem zweiten Glas Wein, zu müde, die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen und, falls sie es tat, zu erschöpft, um einzuschlafen.

Ein paar von Brydars angeheuerten Degen saßen um einen langen Tisch am anderen Ende des Raums, tranken und würfelten. Sie waren eine gemischte Mannschaft; Kindra kannte keinen von ihnen, aber Brydar selbst war sie schon verschiedentlich begegnet und hatte einmal sogar zusammen mit ihm den Schutz einer Handelskarawane auf dem Weg durch die Wüste zu den Trockenstädten übernommen. Sie nickte ihm höflich zu, und er grüßte sie, zollte ihr jedoch keine weitere Aufmerksamkeit. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß ihr nicht einmal ein höfliches Gespräch willkommen war, wenn sie sich in einem Raum voller Fremder befand.

Einer der jüngeren Söldner, ein junger Mann, groß, bartlos und gertenschlank, mit kurzgeschnittenem ingwerfarbenem Haar, erhob sich und kam zu ihr. Kindra machte sich auf das Unvermeidliche gefaßt. Wenn sie mit zwei oder drei anderen Gildenfrauen zusammen gewesen wäre, hätte sie sich über harmlose Gesellschaft, einen Umtrunk und ein Gespräch über die Gefahren der Straße gefreut. Aber eine einzelne Amazone trank nicht mit Männern in öffentlichen Wirtschaften, und, verdammt nochmal, das wußte Brydar ebenso gut wie sie.

Einer der älteren Söldner mußte sich mit dem grünen Jungen einen Spaß erlaubt und ihn angestachelt haben, seine Männlichkeit durch einen Annäherungsversuch bei der Amazone zu beweisen, damit er und die anderen über die Abfuhr, die ihm bevorstand, lachen konnten.

Einer der Männer blickte auf und machte eine Bemerkung, die Kindra nicht verstand. Der Junge knurrte etwas, eine Hand an seinem Dolch. „Paß auf, du ...!“ Er benutzte ein gemeines Schimpfwort. Dann trat er an Kindras Tisch und sagte mit leiser, heiserer Stimme: „Einen guten Abend wünsche ich Euch, ehrenwerte Meisterin.“

Verblüfft über die höfliche Phrase, aber immer noch auf der Hut, antwortete Kindra: „Euch ebenfalls, junger Herr.“

„Darf ich Euch einen Becher Wein anbieten?“

„Ich habe genug zu trinken gehabt“, sagte Kindra, „aber ich danke Euch für das freundliche Angebot.“ Irgend etwas, das nicht ganz stimmte, etwas beinahe Feminines in dem Betragen des Jünglings ließ sie aufhorchen, und dann war auch sein Vorschlag nicht das Übliche. Die meisten Leute wußten, daß Freie Amazonen sich Liebhaber nahmen, wenn sie es wollten, und nur zu oft legten manche Männer das so aus, daß jede Amazone jederzeit zu haben sei. Kindra war erfahren darin, versteckte Annäherungsversuche abzubiegen, ehe es zu einer offenen Frage und Ablehnung kam; bei direkteren Versuchen kam sie ohne viel Höflichkeit aus. Aber das war es nicht, was dieser Junge wollte. Sie merkte es, wenn ein Mann sie mit Begehren ansah, ob er es in Worte kleidete oder nicht. Und obwohl das Gesicht dieses jungen Mannes bestimmt Interesse verriet, war es kein sexuelles Interesse. Was also wollte er von ihr?

„Darf ich ... darf ich mich zu Euch setzen und einen Augenblick mit Euch reden, ehrenwerte Dame?“

Mit Grobheit wäre sie fertig geworden. Diese übermäßige Höflichkeit war ihr ein Rätsel. Hatten die Söldner einen Weiberfeind damit aufgezogen, er werde niemals den Mut aufbringen, mit ihr zu reden? Gleichmütig erklärte sie: „Dies ist ein öffentliches Lokal; die Stühle gehören mir nicht. Setzt Euch, wenn es Euch beliebt.“

In großer Verlegenheit nahm der Junge Platz. Er war tatsächlich noch sehr jung. Er hatte noch keinen Bart, aber seine Hände waren hart und schwielig, und auf einer Wange hatte er eine längst verheilte Narbe. Nein, er war doch nicht so jung, wie sie gedacht hatte.

„Seid Ihr eine Freie Amazone, mestra?“ Er benutzte die übliche und ziemlich beleidigende Bezeichnung, aber das nahm sie ihm nicht übel. Viele Leute kannten kein anderes Wort.

„Das bin ich“, sagte sie, „aber wir wollen lieber sagen: Ich bin vom Eidbund ...“ – Sie verwendete das Wort Comhi-Letzis – „... eine Entsagende der Schwesternschaft Freier Frauen.“

„Darf ich fragen – ohne Anstoß zu erregen –, was der Name ,Entsagende‘ zu bedeuten hat, mestra?

Im Grunde freute sich Kindra über eine Gelegenheit, das zu erklären. „Weil, Sir, wir im Ausgleich zu unserer Freiheit als Frauen der Gilde einen Eid leisten, in dem wir jenen Privilegien entsagen, die wir haben könnten, wenn wir einem Mann angehörten. Wenn wir die Nachteile nicht auf uns nehmen wollen, Eigentum und Vieh zu sein, müssen wir auch den Vorteilen entsagen, die dieser Stand mit sich bringen mag. So kann kein Mann uns vorwerfen, wir versuchten, uns aus beiden Alternativen das Beste zu nehmen.“

Ernst stellte er fest: „Das scheint mir eine ehrenhafte Haltung zu sein. Ich habe noch nie eine – eine Entsagende kennengelernt. Erzählt mir doch, mestra ...“ – seine Stimme kiekste plötzlich – „... ich nehme an, Ihr kennt die Verleumdungen, die über euch in Umlauf sind – erzählt mir doch, wie eine Frau den Mut aufbringt, sich der Gilde anzuschließen, wenn sie doch weiß, was über sie gesagt werden wird!“

„Ich glaube“, erwiderte Kindra ruhig, „für manche Frauen kommt einmal ein Zeitpunkt, wo sie zu der Überzeugung gelangen, daß es Schlimmeres gibt, als Gegenstand öffentlicher Verleumdungen zu sein. So war es bei mir.“

Darüber dachte er einen Augenblick stirnrunzelnd nach. „Ich habe noch nie gesehen, daß eine Freie ... äh ... eine Entsagende allein reist. Seid Ihr nicht für gewöhnlich zu zweit, ehrenwerte Dame?“

„Das stimmt. Aber Not kennt kein Gebot.“ Kindra erklärte ihm, daß ihre Gefährtin in Thendara krank geworden sei.

„Und Ihr seid so weit gereist, um eine Botschaft zu überbringen? Ist sie Eure Bredhis?“ Der Junge benutzte das höfliche Wort für die Freipartnerin oder Liebhaberin einer Frau, und da es das höfliche Wort und nicht der Gossenausdruck war, fühlte Kindra sich nicht beleidigt. „Nein, nur eine Kameradin.“

„Ich ... ich hätte es nicht gewagt, zu sprechen, wenn hier zwei von euch gewesen wären ...“

Kindra lachte. „Warum nicht? Selbst zu zweit oder zu dritt sind wir keine Hunde, die Fremde beißen.“

Der Junge blickte auf seine Stiefel. „Ich habe Grund, Frauen ... zu fürchten“, sagte er fast unhörbar. „Aber Ihr kamt mir freundlich vor. Und wie ich annehme, mestra, sucht Ihr immer, wenn Ihr in diese Berge kommt, wo das Leben für die Frauen so schwer ist, nach Ehefrauen und Töchtern, die zu Hause unzufrieden sind, um sie für Eure Gilde anzuwerben?“

Ich wollte, das könnten wir! dachte Kindra mit all der alten Bitterkeit. Sie schüttelte den Kopf. „Unser Freibrief verbietet es uns. Eine Bedingung darin lautet, daß eine Frau von sich aus zu uns kommen und einen offiziellen Antrag um Aufnahme bei uns stellen muß. Es ist mir nicht einmal erlaubt, Frauen von den Vorteilen der Gilde zu erzählen, wenn sie mich danach fragen. Ich darf ihnen nur die Dinge nennen, denen sie durch Eid entsagen müssen.“ Mit schmalen Lippen setzte sie hinzu: „Wenn wir das täten, was Ihr sagt, und unzufriedene Ehefrauen und Töchter ausfindig machten und in die Gilde lockten, würden die Männer kein einziges Gildenhaus in den Domänen stehenlassen, sondern uns überall das Dach über dem Kopf anzünden.“ Es war die alte Ungerechtigkeit. Die Frauen von Darkover hatten sich dies Zugeständnis, den Freibrief für die Gilde, errungen, aber er war so mit Einschränkungen gespickt, daß viele Frauen nie eine Gildenschwester zu sehen bekamen oder mit ihr sprechen konnten.

„Sie werden wohl herausgefunden haben, daß wir keine Huren sind“, sagte Kindra, „und deshalb bestehen sie darauf, wir alle liebten Frauen und seien darauf aus, ihnen ihre Ehefrauen und Töchter zu stehlen. Anscheinend müssen wir entweder das eine oder das andere Schlechte sein.“

„Dann gibt es bei Euch keine Liebhaberinnen von Frauen?“

Kindra zuckte die Schultern. „Doch. Ihr müßt wissen, daß es Frauen gibt, die lieber sterben als heiraten würden, und selbst mit allen Beschränkungen und Entsagungen des Eides scheint es die vorzuziehende Alternative zu sein. Aber ich versichere Euch, wir sind nicht alle so. Wir sind freie Frauen – frei, so oder anders zu sein, wie es unser eigener Wille ist.“ Nach kurzem Nachdenken setzte sie vorsichtig hinzu: „Und wenn Ihr eine Schwester habt, könnt Ihr ihr das weitersagen.“

Der junge Mann fuhr zusammen, und Kindra biß sich auf die Lippe. Schon wieder war sie nicht auf der Hut gewesen. Manchmal konnte sie die Gedanken eines anderen so deutlich lesen, daß ihre Gefährtinnen sie beschuldigten, ein wenig von der telepathischen Begabung der höheren Kasten, dem Laran, zu haben. Kindra, die, soviel sie wußte, dem Volk entstammte und weder einen Tropfen edlen Blutes noch telepathische Begabung besaß, schirmte sich für gewöhnlich ab, aber von irgendwoher hatte sie zufällig einen Gedanken aufgefangen, einen bitteren Gedanken: Meine Schwester würde es nicht glauben ... Der Gedanke wurde so schnell unterdrückt, daß Kindra sich fragte, ob sie sich das Ganze nicht bloß eingebildet habe.

Das junge Gesicht auf der anderen Seite des Tisches verzog sich bitter.

„Es gibt keine mehr, die ich meine Schwester nennen kann.“

„Das tut mir leid.“ Kindra war verwirrt. „Allein zu sein, ist eine traurige Sache. Darf ich nach Eurem Namen fragen?“

Wieder zögerte der Junge, und Kindra erkannte mit dieser seltsamen Intuition, daß den zusammengepreßten Lippen beinahe der richtige Name entschlüpft wäre. Aber er schluckte ihn hinunter.

„Brydars Männer nennen mich Marco. Fragt nicht nach meiner Abstammung. Es gibt keinen mehr, der sich mit mir verwandt nennt – dank jenen dreckigen Räubern unter Narbengesicht.“ Er spuckte aus. „Was glaubt Ihr, warum ich mich in dieser Gesellschaft befinde? Für die paar Kupferstücke, die die Dorfbewohner bezahlen können? Nein, mestra. Auch ich bin durch einen Eid gebunden. Einen Racheschwur.“

Kindra verließ die Gaststube bald, aber sie konnte lange nicht einschlafen. Etwas in der Stimme, den Worten des jungen Mannes hatte eine Saite in ihrer eigenen Erinnerung zum Klingen gebracht. Warum hatte er sie so eindringlich befragt? Hatte er vielleicht eine Schwester oder Verwandte, die davon gesprochen hatte, sie wolle eine Entsagende werden? Oder war er, ein offensichtlich effeminierter Junge, auf sie neidisch, weil sie der ihr von der Gesellschaft zudiktierten Rolle entfliehen konnte, er aber nicht? Phantasierte er vielleicht über einen ähnlichen Fluchtweg aus den Anforderungen, die an Männer gestellt wurden? Bestimmt nicht! Es gab für einen Mann leichtere Lebensmöglichkeiten als die eines Söldners! Und Männer hatten die Wahl, wie sie ihr Leben gestalten wollten – mehr Wahl jedenfalls als die meisten Frauen. Kindra hatte sich entschlossen, eine Entsagende zu werden, und hatte sich dadurch unter den Bewohnern der Domänen zur Ausgestoßenen gemacht. Selbst die Wirtin tolerierte sie nur, weil sie ein regelmäßiger Gast war und gut bezahlte. Aber ebenso hätte sie eine Prostituierte oder einen fahrenden Gaukler toleriert und gegen beide weniger Vorurteile gehabt.

War der Jüngling, fragte sie sich, einer jener Spione, von denen das Gerücht ging, sie würden durch die cortes, die regierende Körperschaft in Thendara, ausgesandt, um Entsagende zu fangen, die die Bedingungen ihres Freibriefes brachen, indem sie Proselyten machten und versuchten, Frauen für die Gilde anzuwerben? Wenn das zutraf, hatte sie der Versuchung wenigstens widerstanden. Sie hatte nicht einmal gesagt, obwohl es ihr auf der Zunge gelegen hatte, daß Janella, wenn sie eine Entsagende wäre, sich durchaus imstande fühlen würde, den Gasthof mit Hilfe ihrer Töchter zu führen.

Ein paarmal in der Geschichte der Gilde hatten Männer sogar versucht, sich verkleidet einzuschleichen. Wenn man sie entdeckt hatte, war summarisch mit ihnen verfahren worden, aber geschehen war es und mochte wieder geschehen. Was das betraf, dachte Kindra, mochte er in Frauenkleidern recht überzeugend wirken, doch nicht mit der Narbe im Gesicht und diesen schwieligen Händen. Dann lachte sie im Dunkeln und betastete die Schwielen an ihren eigenen Händen. Nun, wenn er so dumm sein sollte, es zu versuchen, würde es schlimm für ihn ausgehen. Lachend schlief sie ein.

Stunden später erwachte sie von Hufschlägen, dem Klirren von Stahl, Rufen und Schreien draußen. Irgendwo kreischten Frauen. Kindra fuhr in ihre Überkleider und rannte nach unten. Brydar stand im Hof und brüllte Befehle. Über der Hofmauer war der Himmel rot von Flammen. Narbengesicht und seine Räuberbande mußten in der Stadt am Werk sein.

„Du, Renwal, schleichst dich hinter ihre Wachen, bindest die Pferde los und treibst sie davon“, ordnete Brydar an, „damit Narbengesichts Leute uns standhalten müssen und nicht zuschlagen und fliehen können! Und da alle guten Pferde hier im Stall stehen, muß einer hierbleiben, damit sie sich nicht an unsere heranmachen ... Die übrigen kommen mit mir. Haltet eure Schwerter bereit ...“

Janella drückte sich unter das überhängende Dach eines Außengebäudes, und ihre Töchter und Mägde drängten sich wie Hühner auf der Stange um sie. „Wollt ihr uns ohne Schutz zurücklassen, wo wir euch sieben Tage lang beherbergt und keinen Penny Bezahlung dafür bekommen haben? Bestimmt werden Narbengesicht und seine Männer hier nach den Pferden suchen, und wir sind ihnen hilflos auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ...“

Brydar wies auf den Jungen Marco. „Du da. Bleib hier und bewache Pferde und Frauen …“

Der Junge knurrte: „Nein! Ich habe mich dir auf dein Versprechen hin angeschlossen, daß ich Narbengesicht mit dem Schwert in der Hand gegenüberstehen soll! Es ist eine Ehrensache – glaubst du, ich brauche deine dreckigen Kupfermünzen?“

Hinter der Mauer war nur noch ein tobendes Durcheinander. „Ich habe keine Zeit, viele Worte zu wechseln“, sagte Brydar schnell. „Kindra – der Kampf geht dich nichts an, aber du kennst mich als einen Mann, der sein Wort hält. Bleib hier und bewache die Pferde und diese Frauen, und ich werde dafür sorgen, daß sich die Mühe für dich lohnt!“

„Auf eine Frau sollen wir uns verlassen? Eine Frau soll uns beschützen? Warum keine Maus dazu einsetzen, einen Löwen zu bewachen!“ schnitt ihm Janellas Keifen das Wort ab. Der Junge Marco drängte mit flammenden Augen: „Was mir für diesen Kampf zugesagt worden ist, gehört Euch, mestra, wenn Ihr es mir ermöglicht, meinem geschworenen Feind gegenüberzutreten!“

„Geht nur; ich werde mich um sie kümmern“, sagte Kindra. Es war unwahrscheinlich, daß Narbengesicht so weit kam, doch es war wirklich nicht ihre Angelegenheit. Normalerweise würde sie neben den Männern kämpfen und wäre ärgerlich gewesen, wenn man ihr eine ungefährliche Aufgabe zugewiesen hätte. Aber Janellas Ausruf war ihr gegen den Strich gegangen. Marco zog sein Schwert und eilte zum Tor; Brydar folgte ihm. Kindra sah ihnen nach, in Gedanken bei eigenen früheren Kämpfen. Eine bestimmte Redewendung hatte sie aufmerksam gemacht. Der Junge Marco ist von Adel, dachte sie. Vielleicht sogar Comyn, der Bastard eines großen Lords, möglicherweise ein Hastur. Ich weiß nicht, was er bei Brydars Männern verloren hat, aber er ist kein gewöhnlicher Söldner!

Janellas Jammern erinnerte sie an ihre Pflichten. „Oh! Oh! Entsetzlich!“ heulte die Wirtin. „Zurückgelassen mit nichts als einer Frau zu unserm Schutz ...“

Gereizt befahl Kindra: „Kommt!“ Sie wies auf das Tor. „Helft mir, das Tor zu schließen!“

„Ich nehme keine Befehle von euch schamlosen Frauen in Hosen an ...“

„Dann laßt das verdammte Tor offenstehen.“ Kindra verlor die Geduld. „Laßt Narbengesicht ruhig hereinspazieren. Möchtet Ihr, daß ich gehe und ihn einlade, oder sollen wir eine Eurer Töchter schicken?“

„Mutter!“ rief ein Mädchen von fünfzehn vorwurfsvoll und riß sich von Janellas Hand los. „So darfst du nicht sprechen – Lilla, Marga, helft der guten mestra, das Tor zu schließen!“ Sie kam zu Kindra und half ihr, die schweren hölzernen Flügel zuzuschieben und den dicken Querbalken vorzulegen. Die Frauen jammerten kopflos. Kindra suchte sich eine von ihnen aus, ein junges Ding, sechs oder sieben Monate lang schwanger, das eine Decke über ihr Nachtgewand geworfen hatte.

„Du“, sagte sie. „Bringe alle kleinen Kinder nach oben in das Zimmer mit der stärksten Tür, riegele dich mit ihnen ein und öffne nicht, solange du nicht meine oder Janellas Stimme hörst.“ Die Frau bewegte sich nicht, sie schluchzte nur, und Kindra befahl scharf: „Beeile dich! Steh nicht da wie ein im Schnee festgefrorenes Rabbithorn! Verdammt nochmal, los, oder ich schlage dich bewußtlos!“ Sie machte eine drohende Geste, und die Frau setzte sich in Bewegung. Dann schickte sie die Kinder die Treppe hinauf, nahm eins der kleinsten auf den Arm und trieb die anderen mit ängstlichen, glucksenden Lauten zur Eile an.

Kindra betrachtete den Rest der verängstigten Frauen. Janella war hoffnungslos. Sie war fett und kurzatmig, und sie starrte Kindra beleidigt an, wütend darüber, daß eine Frau zu ihrem Schutz bestellt worden war. Außerdem konnte sie jeden Augenblick in Panik geraten und alle anderen damit anstecken. Aber wenn sie etwas zu tun bekam, mochte sie sich beruhigen. „Janella, geht in die Küche und macht einen heißen Weinpunsch“, sagte Kindra. „Die Männer werden einen haben wollen, wenn sie zurückkommen, und verdient haben sie ihn dann auch. Danach sucht Leinen für Verbände zusammen, falls einer verwundet ist. Macht Euch keine Sorgen“, setzte sie hinzu, „sie werden nicht zu Euch vordringen, solange wir hier sind. Und nehmt die da mit.“ Sie wies auf die schwachsinnige Lilla, die sich wimmernd und mit entsetzt aufgerissenen Augen an Janellas Rock klammerte. „Sie wird uns nur im Weg sein.“

Als Janella murrend gegangen war, die Idiotin an ihren Fersen, sah sich Kindra unter den kräftigen jungen Frauen um, die übriggeblieben waren.

„Ihr alle kommt mit in den Stall und stapelt schwere Strohballen rings um die Pferde auf, damit sie nicht fortgetrieben werden können. Nein, laßt die Laterne da. Wenn Narbengesicht und seine Männer durchbrechen, werden wir ein paar Strohballen in Brand stecken. Das wird die Pferde ängstigen, und dann kann es gut sein, daß sie einen oder zwei Räuber tottreten. Und während die Räuber mit den Pferden zu tun haben, könnt ihr Frauen entkommen. Im Gegensatz zu dem, was ihr vielleicht gehört habt, suchen die meisten Räuber zuerst nach Pferden und reicher Beute. Frauen sind nicht der erste Posten auf ihrer Liste. Und keine von euch hat Juwelen oder reiche Kleider, nach denen es sie gelüsten könnte.“ Kindra wußte, daß jeder Mann, der sie selbst zu vergewaltigen versuchte, es schnell bereuen würde. Und sollte sie von der Überzahl überwältigt werden, hatte sie gelernt, wie sie die Erfahrung überleben konnte, ohne Schaden zu nehmen. Aber diese Frauen hatten keinen derartigen Unterricht gehabt. Es war ungerecht, ihnen wegen ihrer Angst Vorwürfe zu machen.

Ich könnte sie es lehren. Aber die Vorschriften unseres Freibriefs verbieten es mir, und ich bin durch meinen Eid gebunden, mich danach zu richten. Und dabei sind diese Gesetze nicht von unsern Gildenmüttern gemacht, sondern von Männern, die sich davor fürchten, was wir ihren Frauen erzählen könnten!

Nun, vielleicht finden sie wenigstens Genugtuung in dem Gedanken, daß sie ihr Heim gegen Eindringlinge verteidigen können! Kindra setzte ihre eigene drahtige Kraft ein, beim Aufstapeln der Strohballen um die Pferde zu helfen. Die Frauen vergaßen bei der anstrengenden Arbeit ihre Furcht. Nur eine murrte gerade laut genug, daß Kindra es hören konnte: „Für sie ist das alles schön und gut! Sie ist als Kriegerin ausgebildet und an diese Arbeit gewöhnt! Ich bin es nicht!“

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, über die Gildenhaus-Moral zu diskutieren. Kindra fragte nur freundlich: „Bist du stolz darauf, daß du nicht gelernt hast, dich selbst zu verteidigen, Kind?“ Aber das Mädchen antwortete nicht. Verdrossen schleppte sie ihren schweren Strohballen weiter.

Kindra fiel es nicht schwer, ihren Gedanken zu folgen: Wäre dieser Brydar nicht gekommen, könnte jeder Mann in der Stadt jede einzelne seiner eigenen Frauen beschützen! Diese Art des Denkens war es, dachte Kindra verächtlich, die Jahr für Jahr Dörfer in Flammen aufgehen ließ. Denn kein Mann schuldete einem anderen Loyalität oder würde einen anderen Haushalt als seinen eigenen verteidigen. Es hatte einer Bedrohung wie der durch Narbengesicht bedurft, um diese Dorfleute soweit zu organisieren, daß sie sich die Dienste einer Handvoll Söldner erkauften. Und jetzt beklagten sich die Frauen darüber, daß ihre Männer nicht jeder vor seiner eigenen Haustür stehen und die eigene Frau und den eigenen Herd verteidigen konnten!

Als die Pferde verbarrikadiert waren, drängten sich die Frauen nervös im Hof zusammen. Sogar Janella kam an die Küchentür und hielt Ausschau. Kindra trat an das verrammelte Tor, das Messer locker in seiner Scheide. Die anderen Frauen standen unter dem Dach der Küche. Aber ein junges Mädchen, das gleiche, das Kindra geholfen hatte, das Tor zu schließen, bückte sich, schürzte den Rock resolut bis zu den Knien, ging dann und kam mit einer großen Axt zum Holzhacken wieder. Diese Waffe in der Hand, bezog sie neben Kindra am Tor Posten.

„Annelys!“ rief Janella. „Komm zurück! Komm zu mir!“

Das Mädchen warf einen verächtlichen Blick auf seine Mutter. „Wenn ein Räuber über die Mauer klettert, wird er weder an mich noch an meine kleine Schwester Hand legen, ohne kaltem Stahl zu begegnen. Es ist kein Schwert, aber ich glaube, selbst in den Händen eines Mädchens würde diese Klinge seine Meinung auf der Stelle ändern!“ Sie blickte herausfordernd zu Kindra hin. „Ich schäme mich für euch alle, daß ihr einer einzigen Frau unsere Verteidigung überlaßt! Sogar ein Rabbithorn kämpft für seine Jungen!“

Kindra grinste das Mädchen kameradschaftlich an. „Wenn du ebensoviel Geschick mit diesem Ding wie Mut hast, kleine Schwester, möchte ich lieber dich hinter mir haben als einen Mann. Fasse die Axt mit beiden Händen dicht nebeneinander, wenn der Zeitpunkt kommt, sie zu benutzen, und versuche nicht, irgendeinen kunstvollen Streich zu tun. Hau einfach fest auf seine Beine, als wolltest du einen Baum fällen. Damit wird er nämlich nicht rechnen, verstehst du?“

Die Nacht schleppte sich dahin. Die Frauen hockten auf Strohballen und Kisten und lauschten voll Angst und mit gelegentlichem Schluchzen und Weinen auf das Klirren von Schwertern, Schreie und Rufe. Nur Annelys stand entschlossen neben Kindra und hielt ihre Axt umklammert. Nach etwa einer Stunde ließ sich Kindra auf einem Strohballen nieder und sagte: „Du brauchst die Axt nicht so fest zu halten, du wirst dich nur vor einem Angriff ermüden. Lehne sie gegen den Ballen, dann kannst du sie im Notfall sofort ergreifen.“

Annelys fragte leise: „Wie kommt es, daß Ihr so genau wißt, was zu tun ist? Wie lernen das die Freien Amazonen – ihr nennt euch anders, nicht wahr? Sind alle Gildenfrauen Kämpferinnen und Söldnerinnen?“

„Nein, nein, nicht einmal viele von uns“, antwortete Kindra. „Es ist nur so, daß ich nicht viele andere Talente habe. Ich kann nicht besonders gut weben oder sticken, und meine Geschicklichkeit bei der Gartenarbeit ist nur im Sommer zu etwas nutze. Meine eigene Eidesmutter ist Hebamme; das ist unser am höchsten geachteter Beruf. Selbst Leute, die die Entsagenden verachten, geben zu, daß wir oft das Leben eines Kindes retten, wenn die Dorfhebamme versagt. Sie nun hätte mich ihren Beruf gelehrt, aber auch dafür habe ich kein Talent, und mir wird übel beim Anblick von Blut –“ Sie blickte plötzlich hinab auf ihr langes Messer, erinnerte sich an ihre vielen Schlachten und lachte. Annelys lachte mit ihr, ein seltsamer Laut vor dem verängstigten Wimmern der anderen Frauen.

Ihr fürchtet Euch vor dem Anblick von Blut?“

„Es kommt darauf an“, erklärte Kindra. „Ich kann kein Leiden sehen, wenn ich nichts dagegen tun kann, und wenn eine Geburt leicht vonstatten geht, schickt man selten nach der Hebamme. Wir werden nur zu verzweifelten Fällen gerufen. Ich möchte lieber gegen Männer oder wilde Tiere kämpfen als um das Leben einer hilflosen Frau oder das des Kindes ...“

„Ich glaube, so würde es mir auch gehen“, meinte Annelys, und Kindra dachte: Wenn ich jetzt nicht durch die Gesetze der Gilde gebunden wäre, könnte ich ihr erzählen, was wir sind. Und die hier würde ein Gewinn für die Schwesternschaft sein ...

Aber ihr Eid machte sie stumm. Sie seufzte und sah Annelys nur an.

Schon dachte Kindra, die Vorsichtsmaßnahmen seien umsonst getroffen worden und Narbengesichts Männer würden überhaupt nicht mehr kommen, als eine der Frauen aufkreischte. Kindra sah die Quaste einer grobgestrickten Mütze hinter der Mauer hochkommen. Dann erschienen zwei Männer oben auf der Mauer, das Messer zwischen den Zähnen, um die Hände zum Hochklettern frei zu haben.

„Hier also haben sie alles versteckt, Frauen, Pferde, alles ...“ brummte der eine. „Du gehst zu den Pferden, ich kümmere mich um ... Was ist denn das?“ brüllte er, als Kindra mit gezogenem Messer auf ihn zulief. Er war größer als sie, beim Kampf konnte sie sich nur verteidigen und sich Schritt für Schritt auf den Stall zurückziehen. Wo waren die Männer? Warum war es den Räubern gelungen, so weit zu kommen? Waren sie hier die letzte Verteidigung der Stadt? Aus dem Augenwinkel sah sie, daß der zweite Räuber hinter ihr das Schwert hob. Sie drehte sich und achtete darauf, daß sie stets beide sehen konnte.

Dann hörte sie Annelys schreien, die Axt blitzte einmal auf, und der zweite Räuber fiel heulend um. Aus seinem Bein sprudelte Blut. Kindras Gegner zögerte bei dem Geräusch. Kindra hob ihr Messer und rannte es ihm durch die Schulter. Sein Messer, das ihm aus der schlaffen Hand fiel, fing sie auf. Er stürzte auf den Rücken, und sie sprang auf ihn.

„Annelys!“ rief sie. „Ihr Frauen! Bringt Riemen, Stricke, irgend etwas, womit wir ihn binden können – es könnten andere da sein …“

Janella kam mit einer Wäscheleine und stand daneben, als Kindra den Mann fesselte. Dann trat die Wirtin zurück und betrachtete den zweiten Räuber, der in einer Lache seines eigenen Blutes dalag. Sein Bein war am Knie abgetrennt. Er atmete noch, aber er war schon so weit hinüber, daß er nicht einmal mehr stöhnte, und während die Frauen standen und ihn ansahen, starb er. Janella starrte Annelys entsetzt an, als sei ihrer Tochter auf einmal ein zweiter Kopf gewachsen.

„Du hast ihn getötet“, stöhnte sie. „Du hast ihm das Bein abgehackt!“

„Wäre es dir lieber, wenn er mir meins abgehackt hätte, Mutter?“ fragte Annelys und beugte sich zu dem anderen Räuber hinab. „Er hat nur einen Stich in die Schulter bekommen, er wird am Leben bleiben, damit er gehängt werden kann!“

Schwer atmend richtete Kindra sich auf und zog die Wäscheleine noch einmal fest an. Sie blickte zu Annelys hin und sagte: „Du hast mir das Leben gerettet, kleine Schwester.“

Das Mädchen lächelte aufgeregt zu ihr hoch. Ihr Haar hatte sich gelöst und fiel ihr in die Augen. Plötzlich schlang Annelys die Arme um Kindra, und die Frau drückte sie an sich, ohne auf das beunruhigte Gesicht der Mutter zu achten.

„Eine von uns hätte es nicht besser machen können. Ich danke dir, Kleines!“ Verdammt, das Mädchen hatte ihren Dank und ihr Lob verdient, und wenn Janella sie anstarrte, als sei Kindra eine böse Verführerin junger Mädchen, dann war Janella selbst daran schuld. Kindra ließ ihren Arm um Annelys’ Schulter liegen und sagte: „Hör mal, ich glaube, da kommen die Männer zurück.“

Und eine Minute später hörten sie Brydar rufen, und sie mühten sich, den schweren Querbalken vom Tor zu heben. Die Männer trieben mehr als ein Dutzend guter Pferde vor sich her. Brydar lachte: „Narbengesichts Leute werden keine Verwendung mehr für sie haben, und wir sind gut damit bezahlt! Wie ich sehe, habt ihr Frauen die letzten von ihnen erledigt?“ Er blickte auf den Banditen nieder, der tot in seinem Blut lag, dann auf den anderen, der mit Janellas Wäscheleine gefesselt war. „Gute Arbeit, mestra. Ich werde dafür sorgen, daß du einen Anteil von der Beute erhältst.“

„Das Mädchen hat mir geholfen“, sagte Kindra. „Ohne sie wäre ich jetzt tot.“

„Einer von diesen Männern hat meinen Vater umgebracht“, erklärte das Mädchen heftig. „Deshalb habe ich nur meine Schuld bezahlt, das ist alles!“ Sie wandte sich zu Janella und befahl: „Mutter, bring unsern Verteidigern den Weinpunsch – sofort!“

Überall in der Gaststube saßen Brydars Männer und tranken dankbar den heißen Wein. Brydar stellte seinen Becher hin und rieb sich mit einem müden: „Puh!“ die Augen. Er sagte: „Einige meiner Männer sind verwundet, Dame Janella. Versteht sich die eine oder andere Eurer Frauen auf die Heilkunst? Wir brauchen Verbandszeug und auch Salbe und Kräuter. Ich ...“ Er brach ab, da ihm einer der Männer von der Tür her aufgeregt winkte, und ging eilends hinaus.

Annelys brachte Kindra einen Becher und drückte ihn ihr schüchtern in die Hand. Kindra nahm einen Schluck. Das war nicht der Weinpunsch, den Janella gebraut hatte, sondern ein klarer, feiner, goldener Wein aus den Bergen. Kindra trank ihn langsam. Sie wußte, das Mädchen hatte ihr damit etwas sagen wollen. Annelys saß ihr gegenüber, nahm hin und wieder einen Schluck von dem heißen Punsch in ihrem eigenen Becher. Beiden widerstrebte es, sich zu trennen.

Verdammt sei das dumme Gesetz, das es mir verbietet, ihr über die Schwesternschaft zu erzählen! Sie ist zu gut für diesen Gasthof und ihre törichte Mutter. Die schwachsinnige Lilla ist eher das, was ihre Mutter zu ihrer Hilfe braucht, und ich vermute, Janella wird Annelys so schnell wie möglich an irgendeinen Bauerntölpel verheiraten, nur um wieder einen Mann im Haus zu haben! Die Ehre verlangte, daß sie schwieg. Und doch, wenn sie Annelys ansah und an das Leben dachte, das das Mädchen hier führen würde, fragte sie sich beunruhigt, was denn das für eine Ehre sei, der zufolge sie ein Mädchen wie Annelys an einem Ort wie diesem zurücklassen solle.

Vermutlich war es ein weises Gesetz, jedenfalls war es von klügeren Köpfen als dem ihren gemacht worden. Andernfalls würden wohl junge Mädchen sich für den Augenblick von dem Gedanken an ein Leben voller Aufregung und Abenteuer blenden lassen und sich der Schwesternschaft anschließen, ohne sich ganz klar darüber zu sein, welche Mühsale und Entsagungen auf sie warteten. Sie hießen nicht umsonst die Entsagenden; ihr Leben war nicht leicht. Und wenn sie bedachte, auf welche Art Annelys sie ansah, mochte es gut sein, daß das Mädchen ihr allein aus Heldenverehrung folgen würde. Das hatte keinen Sinn. Kindra seufzte. „Nun, für heute nacht ist die Aufregung vorbei, denke ich. Ich muß ins Bett; ich habe morgen einen langen Ritt vor mir. Hör dir den Lärm draußen an! Ich wußte nicht, daß es unter Brydars Männern so schwer Verwundete gegeben hat ...“

„Das hört sich mehr nach einem Streit an als nach Männern in Schmerzen.“ Annelys lauschte auf die Rufe und Proteste. „Zanken sie sich um die Beute?“

Plötzlich flog die Tür auf, und Brydar von Fen Hills trat in den Raum. „Mestra, verzeih mir, du bist müde ...“

„Ziemlich“, antwortete sie. „Aber nach all diesem Aufruhr werde ich doch nicht gleich schlafen können. Was kann ich für dich tun?“

„Ich bitte dich, mit mir zu kommen. Es ist Marco, der Junge. Er ist verwundet, schwer verwundet, aber er will es nicht zulassen, daß wir ihn verbinden, bevor er mit dir gesprochen hat. Er sagt, er habe eine dringende Botschaft, eine sehr dringende, die er weitergeben müsse, bevor er stirbt ...“

„Avarra sei uns gnädig“, sagte Kindra erschrocken. „Dann stirbt er?“

„Das kann ich nicht sagen. Er läßt uns nicht an sich heran. Wenn er vernünftig wäre und uns für ihn sorgen ließe – aber er blutet wie ein abgestochenes chervine, und er hat gedroht, jedem Mann die Kehle durchzuschneiden, der ihn berührt. Wir haben versucht, ihn niederzuhalten und gegen seinen Willen zu verbinden, aber seine Wunden fingen so heftig an zu bluten, als er sich wehrte, daß wir es nicht wagten. Wirst du kommen, mestra?

Kindra sah ihn fragend an. Sie hätte nicht gedacht, daß er an irgendeinem Mann seiner Bande solchen Anteil nähme. Brydar verteidigte sich: „Der Bursche steht in gar keiner Beziehung zu mir, er ist weder mein Pflegebruder noch mein Verwandter und nicht einmal ein Freund. Aber er hat an meiner Seite gekämpft, und er ist mutig. Er war es, der Narbengesicht im Einzelkampf tötete. Und an den dabei empfangenen Wunden stirbt er jetzt vielleicht.“

„Warum kann er nur mit mir sprechen wollen?“

„Er sagt, mestra, es sei eine Sache, die seine Schwester betrifft. Und er bittet dich im Namen Avarras, der Erbarmenden, daß du zu ihm kommst. Und er ist fast jung genug, dein Sohn zu sein.“

„So“, sagte Kindra schließlich. Sie hatte ihren eigenen Sohn nicht mehr gesehen, seit er acht Tage alt gewesen war, und er würde, dachte sie, noch zu jung sein, ein Schwert zu tragen. „Ich kann keine Bitte abschlagen, die mir im Namen der Göttin gestellt wird.“ Stirnrunzelnd erhob sie sich. Der junge Marco hat behauptet, er habe keine Schwester. Nein ... er hatte gesagt, es gebe niemanden mehr, den er Schwester nennen könne. Das mochte ein Unterschied sein.

Auf den Stufen hörte sie die Stimme von einem der Männer, der ausrief: „Junge, wir wollen dir doch nichts tun! Aber wenn wir diese Wunde nicht versorgen, kannst du sterben, hörst du?“

„Geh weg von mir! Ich schwöre bei Zandrus Höllen und bei Narbengesichts da draußen verstreuten Gedärmen, ich steche dem ersten, der mich berührt, dies Messer in die Kehle!“

Im Fackellicht drinnen sah Kindra Marco auf einem Strohballen halb sitzen, halb liegen. Er hielt einen Dolch in der Hand und wehrte seine Kameraden damit von sich ab. Aber er war todesblaß, und auf seiner Stirn stand eisiger Schweiß. Der Strohballen rötete sich langsam von einer Blutlache. Kindra wußte, daß der menschliche Körper ohne ernste Gefahr mehr Blut verlieren konnte, als die meisten Leute für möglich hielten. Doch für jeden gewöhnlichen Menschen sah es sehr beunruhigend aus.

Marco erblickte Kindra und keuchte: „Mestra, ich bitte Euch ... ich muß mit Euch allein reden ...“

„Das ist keine Art, mit einem Kameraden umzuspringen, Junge“, schalt einer der Söldner, der hinter ihm kniete. Kindra kniete sich neben den Strohballen. Die Wunde saß hoch oben am Bein nahe der Leiste. Die Lederhose hatte den Schlag etwas aufgefangen, sonst hätte den Jungen das gleiche Schicksal ereilt wie den Mann, den Annelys mit der Axt getroffen hatte.

„Du kleiner Dummkopf“, sagte Kindra. „Ich kann nicht halb soviel für dich tun wie dein Freund hier.“

Marcos Augen schlossen sich vor Schmerz oder Schwäche. Kindra dachte, er habe das Bewußtsein verloren, und winkte dem Mann hinter ihm. „Schnell jetzt, solange er bewußtlos ist ...“ Aber Marco zwang unter Qualen die Augen wieder auf.

„Wollt auch Ihr mich betrügen?“ Er hob den Dolch, aber so schwach, daß Kindra erschrak. Ganz bestimmt war hier keine Zeit zu verlieren. Das beste war, auf seine Launen einzugehen.

„Geht“, sagte sie zu den anderen Männern. „Ich werde ein vernünftiges Wort mit ihm reden, und wenn er nicht hören will, nun, dann ist er alt genug, die Folgen seiner Torheit zu tragen.“ Ihr Mund verzog sich, als die Männer gingen. „Ich hoffe, was du mir zu sagen hast, ist es wert, daß du dein Leben dafür riskierst, du Schwachkopf!“

Aber ein schrecklicher Verdacht wuchs in ihr, als sie sich auf das blutige Stroh kniete. „Du Narr, weißt du, daß das wahrscheinlich deine Todeswunde ist? Ich verstehe nur wenig von der Heilkunst. Deine Kameraden hätten besser für dich sorgen können.“

„Ganz bestimmt wird es mein Tod sein, wenn Ihr mir nicht helft“, flüsterte die heisere, schwache Stimme. „Keiner dieser Männer ist mir ein so guter Kamerad, daß ich ihm vertrauen könnte ... Mestra, helft mir, ich bitte Euch im Namen der gnädigen Avarra – ich bin eine Frau.“

Kindra holte scharf Atem. Der Verdacht war ihr bereits gekommen – und sie hatte richtig vermutet. „Und keiner von Brydars Männern weiß ...“