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Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley 


Der Sohn des Verräters

Ein Darkover Roman

Ins Deutsche übertragen von Fred Kinzel

Edel eBooks

1

Marguerida Alton-Hastur saß an ihrem Schreibtisch und sah aus dem Fenster. Sie war unruhig, hätte jedoch keinen Grund dafür nennen können. Ein prächtiger, frühherbstlicher Himmel mit verschiedenen interessanten Wolkengebilden füllte die schmale Öffnung. Sie fand, dass eines an ein Kamel erinnerte, ein Tier, das auf Darkover nie existiert hatte und jetzt nur noch in einigen Wildreservaten lebte. Marguerida dachte daran, wie viel Spaß sie immer gehabt hatten, als die Kinder noch klein waren und zu bestimmen versuchten, wonach die Wolken aussahen. Einmal hatten mehrere Wolken in ihren Augen wie ein Schwarm Delfine ausgesehen, die in den Meeren von Thetis herumtollten, dem Planeten, auf dem sie aufgewachsen war. Sie hatte damals weder ihre plötzliche Tränenflut erklären können noch die Natur ihrer Fantasiebilder. Ihre Kinder hatten das Meer nie gesehen und erst recht nicht darin gebadet, sie konnten ihr schmerzliches Verlangen nach warmen Ozeanen und milden Seewinden nicht nachvollziehen. Komisch – sie hatte seit einer Ewigkeit nicht an jenen Tag gedacht. Sie wurde wohl langsam alt und fing an, in Erinnerungen zu schwelgen.

Inzwischen waren die Kinder alle viel zu groß für Wolkengucken, selbst Yllana, die Jüngste mit ihren elf Jahren, und Marguerida vermisste das harmlose Spiel sehr. Letzten Mittsommer war Domenic, ihr Ältester, zum designierten Erben seines Vaters ernannt worden, trotz der lautstarken Proteste von Javanne Hastur, ihrer schwierigen Schwiegermutter. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Nicht mehr lange, und sie könnte selbst Schwiegermutter werden, und dann Großmutter! Hoffentlich würde sie ihrer noch unbekannten Schwiegertochter mehr Sympathie entgegenbringen als Javanne ihr, und hoffentlich würde sie freundlicher oder wenigstens höflicher zu ihr sein. Aber noch nicht so bald, flüsterte sie vor sich hin. Auch wenn das Elterndasein durchaus nicht immer leicht gewesen war, sie hatte es nicht eilig damit, dass ihre Kinder sie verließen.

Sie sah sich in dem kleinen Arbeitszimmer um, das sie sich in ihrer Suite auf Burg Comyn eingerichtet hatte. Das Feuer im Kamin loderte, und der behagliche Raum duftete nach brennendem Balsamholz. Die verkleideten Wände reflektierten das zuckende Licht des Feuers, und die Farben im Muster des Teppichs auf dem Steinboden erfreuten ihr Auge. Der Geschmack des Herbstes drang selbst durch die dicken Mauern von Burg Comyn, ein frischer Geruch, der ihren Geist stets belebte. Es hatte lange gedauert, bis sie sich an das Wetter auf Darkover gewöhnt hatte, denn auf Thetis war der Sommer mehr oder weniger endlos gewesen. Aber inzwischen freute sie sich richtig auf den Wechsel der Jahreszeiten und die Feste, die ihn unterstrichen.

Aus dem angrenzenden Raum hörte sie das fröhliche Klimpern eines Klaviers; dort gab Ida Davidson Yllana ihre Musikstunden. Marguerida lächelte bei dem Klang. Es handelte sich um kein E-Piano, wie es Ida gespielt hatte, als Marguerida während ihrer Universitätszeit bei ihr wohnte. Ein solches Instrument war auf Darkover verboten, da es die fortgeschrittene Technik der Föderation benutzte. Stattdessen handelte es sich bei diesem hier um eine anständige Imitation der noblen Vorfahren jenes Instruments, es war gänzlich aus einheimischem Holz und den raren Metallen Darkovers gefertigt, nach Entwürfen, die Marguerida unter großen Schwierigkeiten aus den Archiven der Universität erhalten hatte. Vorher hatte kein Tasteninstrument dieser Art auf Darkover existiert, aber nun, nach allen Mühen beim Bau des ersten, gab es sechs Stück davon in Thendara. Einige Mitglieder der Musikergilde schrieben spezielle Musik dafür. Yllana spielte jedoch keine dieser heimischen Kompositionen, sondern eine der Klieg-Variationen aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert – methodisch streng, strukturiert und eine echte Herausforderung für zehn kleine Finger.

Wie ihr ein rascher mentaler Überblick über Burg Comyn zeigte, gab es absolut nichts, was die Heiterkeit des Augenblicks stören konnte. Ihr Laran, eine Quelle des bitteren Zorns, als sie es an sich entdeckte, hatte durchaus seine nützlichen Seiten offenbart; eine davon war die Fähigkeit, ihre Umgebung abzusuchen. Vielleicht war sie völlig grundlos so nervös. Es war ein schwieriges Jahr gewesen, mit einem Sommer, der so heiß gewesen war wie schon lange nicht. Die Bauern hatten sich wegen einer Dürre Sorgen gemacht, und die Waldbrandgefahr in den Bergen war sehr groß gewesen. Auch Störungen anderer Art hatte es gegeben – einige kleinere Unruhen auf den Märkten von Thendara und Berichte von einem Aufstand in Shainsa in den Trockenstädten. Aber schließlich war vom Westen Regen gekommen, die milden, an zwanzig Grad heranreichenden Temperaturen waren vergangen, und es waren keine größeren Brände ausgebrochen.

Sie musste sich nun wirklich an die Arbeit machen! Mit dieser Verträumtheit vergeudete sie nur Zeit, und die war im Augenblick sehr kostbar. Marguerida blickte auf den Stapel Papiere vor sich. Es waren Personalbögen, bedeckt mit Noten und begleitenden Texten. Nach fast zwei Jahrzehnten des Zweifelns und Zögerns hatte sie schließlich ihrer großen, geheimen Leidenschaft nachgegeben und eine Oper geschrieben. Es hatte all ihren Mut und viel gutes Zureden von Ida gekostet, damit sie überhaupt anfing. Aber nachdem sie einmal begonnen hatte, konnte sie fast nicht mehr aufhören. Mikhail Hastur, ihr geliebter Gefährte und Ehemann seit nahezu sechzehn Jahren, hatte sich schon beschwert, dass ihre Tätigkeit als Komponistin ein größerer Rivale war, als es ein Mann aus Fleisch und Blut je sein könnte, und Marguerida wusste, er meinte es nur halb im Scherz.

Das Komponieren an sich war ihr ziemlich leicht gefallen, aber die Zeit – Ruhe und Frieden – dafür zu finden, war schwierig gewesen. Als Ehefrau des designierten Erben von Regis Hastur und Mutter von drei Kindern hatte sie viele Pflichten. Etwas widerstrebend hatte Marguerida auch einen Teil der Haushaltsführung von Burg Comyn aus der Hand von Lady Linnea Storn-Lanart, der Gemahlin Regis’, übernommen. Sie hatte in den Jahren ihrer Ehe mit Mikhail Hastur vieles getan, was sie sich nicht hätte träumen lassen, als sie noch jung war und eine akademische Karriere anstrebte. An vorderster Stelle hierbei stand, dass sie unter Anleitung der Bewahrerin Istvana Ridenow gelernt hatte, wie sie mit ihren einzigartigen und potenziell gefährlichen Laran-Gaben umgehen musste. Ihre Freundin und Vertraute war gleich nach der Hochzeit von Neskaya nach Thendara gekommen, um sie und Mikhail mit auszubilden und zu unterrichten. Istvana war elf Jahre lang in der Stadt geblieben, und es waren wundervolle Jahre für Marguerida gewesen. Doch nun war Istvana wieder in ihrem eigenen Turm und folgte ihrer eigenen Berufung, und Marguerida fiel es immer noch schwer, sie nicht zu vermissen.

Sie blickte kurz auf die vergangenen Jahre zurück und kam zu dem Schluss, dass sie deren Herausforderungen gar nicht so übel gemeistert hatte. Oft hatte sie in der einen Hand alte Lesetexte in Darkovers rundem Alphabet gehalten und mit der anderen ein Kind an ihrer Brust gewiegt. Sie hatte gelernt, Sitzungen des Rats der Comyn ohne ihre furchteinflößenden Wutausbrüche durchzuhalten, selbst in Gegenwart ihrer Schwiegermutter, Javanne Hastur, die ein dauerhafter Stachel in ihrem Fleisch blieb. Die Schattenmatrix, die in ihre linke Hand eingebrannt war, jenes Ding, das sie aus einem Turm in der Oberwelt gerissen hatte, blieb ein gewisses Rätsel, aber sie hatte Wege gefunden, es zu beherrschen, sodass sie sich nicht mehr vor ihr fürchtete. Die Matrix überstieg nach wie vor das beträchtliche Wissen, das die Leroni Darkovers im Laufe der Jahrhunderte angehäuft hatten, ein Ding, das wirklich und unwirklich zugleich war. Marguerida konnte damit heilen, aber genauso gut töten, und beide Extreme in den Griff zu bekommen, war sehr schwer gewesen. Es waren anstrengende Jahre gewesen, aber sie hatte Dinge zu Wege gebracht, die sie sich nie hätte träumen lassen, und das verschaffte ihr ein tiefes Gefühl der Befriedigung.

Während jener Jahre des Lernens und der Mutterschaft war ihr jedoch keine Zeit für die Musik geblieben, die einst ihr Leben bestimmt hatte und immer noch ihre beherrschende Leidenschaft war. Stattdessen hatte sie ihre beachtlichen Energien in weniger persönliche Aktivitäten gelenkt. Mit Hilfe des Gildenhauses von Thendara, dem Zentrum der Entsagenden in der Stadt, hatte sie eine kleine Druckerei und mehrere Schulen für die Kinder von Händlern und Handwerkern gegründet. Und sie hatte der Musikergilde geholfen, die Erlaubnis zum Bau eines neuen Aufführungssaales zu bekommen, der wesentlich größer war als alle bisherigen und die Erhaltung der vorzüglichen Musiktradition Darkovers in jeder erdenklichen Weise unterstützte.

Marguerida hatte die Projekte allerdings weder selbstlos noch leichtfertig ausgewählt. Als sie vor über sechzehn Jahren auf ihren Geburtsplaneten zurückkehrte, war dort alles, was mit der Terranischen Föderation zu tun hatte, groß in Mode gewesen, ein Zustand, der nicht nur die konservativeren Herrscher einiger Domänen beunruhigte, sondern auch die Handwerker und Händler. Sie befürchteten, ihre Lebensart könnte in einer Flut terranischer Technologie untergehen, und hatten sich sogar mit der Bitte an Regis Hastur gewandt, den Rat der Comyn wieder einzurichten, der zwei Jahrzehnte zuvor aufgelöst worden war. Ihre Forderung war in der Geschichte Darkovers ohne Beispiel, und Regis hatte sich ihre Argumente angehört und den Rat tatsächlich wieder eingesetzt. Damit blieb Darkover auf einem Kurs, der die Mehrzahl seiner Bewohner zufrieden stellte.

Doch eine völlige Rückkehr zu Prä-Föderations-Tagen war unmöglich, auch wenn einige Mitglieder im Rat ernsthaft anderer Meinung waren. Javanne, zum Beispiel, schien besessen von der Vorstellung, alle Leute müssten nur tun, was sie wollte, und sich richtig anstrengen, dann würde der Glanz früherer Zeiten irgendwie neu erstrahlen, und die Föderation würde sie nicht länger beunruhigen. Dom Francisco Ridenow, das Oberhaupt der Domäne Ridenow, war nicht viel besser.

Marguerida verstand beides, die merkwürdige Sehnsucht ihrer Schwiegermutter nach einer Zeit, die sie eigentlich gar nicht gekannt hatte – denn die Terraner waren vierzig Jahre vor Javannes Geburt nach Darkover gekommen –, und ihre beinahe atavistische Angst vor Veränderung. Die junge Frau begriff auch, dass es für eine Umkehr viel zu spät war und dass Darkover vermehrtes Wissen und nicht analphabetische Unwissenheit brauchte, wenn es gedeihen wollte. Die Föderation würde nicht abziehen, nur weil Javanne Hastur es wünschte; es schien allerdings unmöglich, der Frau diesen Umstand begreiflich zu machen.

Die Weltraummanie, die noch eine Generation zuvor die jungen Menschen beherrscht hatte, war jedoch wieder abgeklungen, und die große Masse der Leute war zu ihren normalen Beschäftigungen zurückgekehrt – mit einem stillen Seufzer der Erleichterung, wie Marguerida wusste. Die Zahl junger Männer und Frauen, welche die komplizierte Technologie der Föderation erlernen wollten, war ebenfalls zurückgegangen. Es gab zwar immer ein Aufgebot junger Leute, die unbedingt eine Beschäftigung im Hauptquartier der Föderation anstrebten, aber dabei handelte es sich überwiegend um Abkömmlinge von Föderationsleuten, die Darkovaner geheiratet hatten.

Dafür war die Föderation selbst verantwortlich. Die politische Körperschaft, die Marguerida aus ihrer Universitätszeit kannte, gab es nicht mehr, an ihre Stelle war ein Gewirr von bürokratischen Gremien getreten, die alle eifersüchtig über ihre Privilegien wachten und nicht gewillt waren, Neuankömmlinge in ihren Reihen aufzunehmen. Diese Neuorganisation hatte vor zwölf Jahren stattgefunden und ihnen Lyle Belfontaine als Stützpunktleiter im Hauptquartier beschert. Marguerida hatte ihn nie persönlich kennen gelernt, ihr Vater hingegen schon, und der hatte ihr einen ziemlich armseligen Eindruck von dem Mann vermittelt. Belfontaine hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er die Darkovaner für rückständig und unbrauchbar hielt. Die organisatorische Verschiebung in der Föderation hatte ihn zum mächtigsten Terraner auf dem Planeten gemacht und selbst über dem Planetarischen Verwalter angesiedelt, der zwar seinen Posten behielt, aber in wesentlichen Dingen nichts mehr zu sagen hatte. Belfontaine hatte das alte John-Reade-Waisenhaus aus Verärgerung über eine Entscheidung von Regis geschlossen und das Medizinische Zentrum außer für die Angestellten der Föderation gleich ebenfalls dichtgemacht.

Die meisten dieser Ereignisse hatten sich bis vor kurzem unbemerkt von Marguerida abgespielt. Sie war viel zu sehr mit der Erziehung ihrer drei Kinder und den Studien mit Istvana beschäftigt gewesen. Beide Tätigkeiten hatten sie auf unerwartete Art befriedigt, größere Angelegenheiten hatte sie mit Freuden ihrem Vater, Regis oder Mikhail überlassen. Zusammen mit ihren anderen, öffentlicheren Aktivitäten hatte es ihr gereicht. Doch nun, da sie herausgefunden hatte, dass sie mit ebendieser Hand, die ihr Fluch und ihr Segen war, auch Musik komponieren konnte, hatte sie einen Quell der Freude entdeckt, den ihr nichts anderes bieten konnte.

Sie hatte nie an der Verwaltung von Burg Comyn teilhaben wollen, aber Lady Linnea überzeugte sie schließlich, dass sie keine andere Wahl hatte. Eines unbestimmten Tages, wenn Regis Hastur sich zur Ruhe setzte oder seine Gemahlin zu alt dafür war, würde ihr diese Aufgabe ohnehin zufallen. Die Vorstellung behielt etwas Unwirkliches für Marguerida, als könnte sie den Gedanken an das unvermeidliche Ende der beiden nicht ertragen.

Sie hatte ihre neuen Pflichten in Angriff gekommen wie alles andere in ihrem Leben auch – indem sie möglichst vieles in möglichst kurzer Zeit lernte. Es war von Nutzen gewesen, dass sie ihren längst verstorbenen Mentor Ivor Davidson zehn Jahre lang als Assistentin auf seinen Reisen in die hintersten Winkel der Föderation begleitet hatte, wo sie nach einheimischen Musiktraditionen forschten. Darüber hinaus genoss Marguerida den Vorteil, Burg Comyn auf eine Weise zu kennen wie niemand sonst. In ihr Gedächtnis waren uralte Erinnerungen an das Gebäude eingebrannt, ein Überbleibsel von der Überschattung durch die seit langem tote Bewahrerin Ashara Alton. Diese uralten Erinnerungen waren als immer wiederkehrende Albträume der Fluch ihrer Kindheit und Jugend gewesen. Erst die Rückkehr auf ihren Geburtsplaneten hatte sie von der Qual durch unerklärliche Gedanken und Bilder befreit, obwohl damit für eine Weile mehr Schwierigkeiten verbunden waren, als sie sich vorstellen konnte. Beinahe wäre sie am Einsetzen der Schwellenkrankheit im Erwachsenenalter gestorben – eine Erfahrung, die sie gnädigerweise fast schon vergessen hatte.

Ashara war beim Bau von Burg Comyn dabei gewesen, und nach ihrem Tod war ihr Schatten im mittlerweile zerstörten Alten Turm an einer Seite der Burg gegenwärtig geblieben. So gab es also vergessene Seitenwege, Räume und Durchgänge, die Marguerida ebenso vertraut waren wie die Linien ihrer Hand. Dieses Wissen war beunruhigend, und sie musste es sorgfältig verbergen, denn es machte die Dienerschaft nervös. Der Umgang mit dem Personal war eine echte Herausforderung gewesen, da Marguerida mehr daran gewöhnt war, Dinge selbst zu erledigen, als sie zu befehlen. Und die Verwaltung von Burg Comyn war ein wesentlich größeres Unterfangen, als Reisepapiere und Gepäck in Ordnung zu halten. In vielerlei Hinsicht war das Gebäude wie eine autarke Stadt, mit eigener Brauerei, Bäckerei und selbst einer kleinen Weberei. Es war ständig mit Vorräten wie für eine Belagerung versorgt, und zu Margueridas Aufgaben hatte es gehört, das Haus gegen alle erdenklichen Notlagen zu wappnen.

Auch wenn Marguerida vor zweiundvierzig Jahren auf Darkover zur Welt gekommen war, hatte sie ihr halbes Leben auf anderen Planeten verbracht, und ein Teil von ihr fühlte sich immer noch als Eindringling. Ihr Vater sagte, ihm gehe es oft genauso, und es tröstete sie, dieses Gefühl der Fremdheit mit ihm zu teilen. Während ihrer gesamten Universitätszeit war sie von ihm entfremdet gewesen, aber als sie sich bald nach ihrer Rückkehr nach Darkover wieder begegnet waren, hatte sie ihn verändert vorgefunden. Nun konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen – seinen ironischen Humor, seine tiefen Einsichten und, vor allem, seine gleich bleibende Zuneigung zu ihr, Mikhail und allen seinen Enkeln. Er war nicht mehr der betrunkene, gepeinigte Mann, der nachts tobte, und selbst der Tod seiner Frau Diotima Ridenow vor zehn Jahren hatte ihn erstaunlicherweise nicht wieder in diesen früheren Zustand gebracht.

Doch trotz der verständnisvollen Gegenwart ihres Vaters war Margueridas Gefühl des Fremdseins nie ganz verschwunden. Unter anderem war das die Folge ihrer schwierigen Beziehung zu Javanne Hastur. Mikhails Mutter hatte sie nie ganz als Familienmitglied akzeptiert, auch wenn sein Vater, Dom Gabriel, den Widerstand schließlich aufgab und sie mit aufrichtiger Zuneigung willkommen hieß. Javanne hatte es stets verstanden, Marguerida das Gefühl zu vermitteln, etwas stimme nicht mit ihr und mit Domenic, ihrem Ältesten, den sie unter so ungewöhnlichen Umständen empfangen hatte – nämlich während der Rückreise durch die Zeit aus dem Zeitalter des Chaos. Möglicherweise hatte ihre Schwiegermutter sogar Recht, was Domenic anging, obwohl sich Marguerida eher die Zunge abgebissen hätte, als das zuzugeben. Er war ein seltsamer Bursche, der älter wirkte, als er war, zurückhaltend und distanziert. Aber der Unterschied reichte noch tiefer, und Marguerida wusste es. Ihr ältestes Kind hatte einen leicht unheimlichen Zug an sich, eine gewisse Stille, die den Eindruck erweckte, als lauschte er auf eine ferne Stimme. Und vielleicht tat er es tatsächlich, oder er war, wie Dom Danilo Syrtis-Ardais einmal halb im Scherz gemeint hatte, die Reinkarnation von Varzil Ridenow. Das wollte Marguerida nicht hoffen, denn nach ihrem einzigen Zusammentreffen mit dem längst toten Laranzu verspürte sie nicht das geringste Verlangen, ihm in anderer Form noch einmal zu begegnen, am allerwenigsten in der ihres Sohnes.

Sie versuchte zu akzeptieren und damit fertig zu werden, dass ihre Schwiegermutter sie nicht mochte. Immerhin war diese Regis’ ältere Schwester und gehörte zur Familie. Ein wenig tröstete sie die Tatsache, dass Javanne Gisela Aldaran, die inzwischen die Frau von Mikhails älterem Bruder Rafael war, sogar noch unhöflicher behandelte. Das war so ziemlich das Einzige, was sie und ihre Schwägerin gemeinsam hatten, denn Marguerida hatte sich nie mit ihr anfreunden können, und deren ständige Anwesenheit auf Burg Comyn konnte mitunter eine echte Prüfung sein. Sie hatte sich redlich Mühe gegeben, sich mit ihrer Schwägerin zu versöhnen, hatte an Giselas Ahnenforschung in den Domänenfamilien Interesse gezeigt und auch am Schachspiel. Einmal zu Mittwinter war es ihr sogar gelungen, ein dreidimensionales Schachspiel als Geschenk für Gisela zu besorgen, die daraufhin vorübergehend auftaute.

Doch ansonsten blieb Gisela eine reservierte und störende Erscheinung auf Burg Comyn, die bereits genügend eigenwillige Persönlichkeiten beherbergte. Teilweise konnte Marguerida Giselas Melancholie und schwelende Wut verstehen. Die Frau hatte bereits als junges Mädchen ein Auge auf Mikhail geworfen und ihr Ziel nicht erreicht. Das war schon schlimm genug. Obendrein wohnten sie und Rafael aber auch noch in der Burg und bekamen Mikhail und Marguerida fast täglich zu Gesicht. Gisela war eine Art Edelgeisel, damit sich die Domäne Aldaran anständig benahm. Regis hatte Dom Damon Aldaran nie ganz getraut, und so anstrengend es auch war, Gisela ständig um sich zu haben, besaß er damit einen Hebel, den Alten in Schach zu halten. Es gelang Marguerida, ihrer schwierigen Verwandten deren schlechte Laune großteils zu vergeben, sie erkannte schließlich die Intelligenz und den Ehrgeiz darin und hätte sie nur so alle zehn Tage am liebsten erwürgt.

Mit ihrer Schwiegermutter verhielt es sich dagegen ganz anders, und obwohl Javanne nicht sehr häufig in der Burg weilte, entfachte der Gedanke an sie jedes Mal Margueridas Wut. Javanne war vernarrt in Rhodri und Yllana, die jüngeren Sprösslinge von Marguerida und Mikhail, Domenic hingegen behandelte sie, als wäre er Luft oder, schlimmer noch, als würde er schlecht riechen. Und dabei war er so ein guter Junge, so ernst und nachdenklich, ganz anders als Rhodri, der nichts als Unfug im Sinn hatte. Yllana war noch nicht voll ausgereift, aber sie war einigermaßen intelligent, geschickt mit den Händen, scharfzüngig wie ihre Mutter und vorsichtig wie Mikhail.

Grimmig schob Marguerida diese ablenkenden Gedanken beiseite. Es war an der Zeit, dass sie mit einer Reinschrift des gesamten Manuskripts begann. Diese Aufgabe hätte sie zwar auch an ein Mitglied der Musikergilde vergeben können, aber sie wollte es selbst tun. Ihre übliche Morgenarbeit hatte sie rasch erledigen können – den Speiseplan für das Abendessen, mit Gerichten, die Regis’ mittlerweile sensiblen Magen nicht in Aufruhr versetzten, das Eindringen von Mäusen in einen der Mehlbehälter im Küchenbereich und mehrere andere Kleinigkeiten. Es war ein ganz normaler Tag, voller belangloser Probleme.

Die Kinder waren für den Augenblick beschäftigt, obwohl immer die Gefahr bestand, dass Alanna Alar, ihre schwierige Pflegetochter, sie störte. Domenic, ihr heimlicher Liebling, leistete seinen Wachdienst, und Rhodri schrubbte eine Mauer, die er vor ein paar Tagen mit Kreide und Farbe verziert hatte. Es war eigentlich ein hübsches Wandbild, und es tat ihr Leid, dass sie ihm befehlen musste, es zu entfernen, aber sie konnte ihrem anstrengenden Zweitältesten nun einmal nicht gestatten, gewohnheitsmäßig Wände zu verunstalteten. Es war schlimm genug, dass er sich an stibitzten Torten aus der Küche überfraß und offenbar Anstalten machte, Diebstahl als seine Vollzeitbeschäftigung anzusehen. Marguerida überlegte, ob sich ein Teil dieser kolossalen Energie nicht in künstlerische Bahnen lenken ließe, wozu Rhodri durchaus talentiert zu sein schien. Aber der Gedanke war müßig, denn in wenigen Monaten würde er zu seiner ersten Ausbildung nach Arilinn gehen, und danach warteten die Kadetten auf ihn. Sein Leben war bereits verplant, sofern das bei der unsicheren Lage der Dinge überhaupt möglich war.

Margueridas Jahre auf Darkover waren nicht störungsfrei verlaufen, und daran war größtenteils die Terranische Föderation schuld gewesen. In den beiden vergangenen Dekaden hatte die Föderation den Druck auf den Planeten erhöht, seinen geschützten Status aufzugeben und Vollmitglied zu werden. Das hätte bedeutet, Steuern in die Kassen der zunehmend räuberischen Terraner zu zahlen, und es hätte außerdem drastische Änderungen in der Art und Weise, wie Darkover regiert wurde, zur Folge gehabt. Wenn ein Planet Teil der Föderation wurde, unterwarf er sich ihr und verlor im Wesentlichen die Autonomie über seine eigenen Ressourcen und seine Regierungsform. Aus diesem Grund hatte Lew energisch davon abgeraten, den geschützten Status aufzugeben, eine Entscheidung, die ihn zum Verbündeten von Javanne machte. Es hatte Javanne nicht sonderlich gefreut, dass Lew ihre Meinung teilte, da ihre noch aus der Jugendzeit stammende Abneigung gegen ihn sich mittlerweile zu etwas verhärtet hatte, das fanatischem Hass nahe kam, aber wenigstens fanden ihre erbitterten Auseinandersetzungen im Rat der Comyn damit ein Ende. Die »Debatten« bei den Ratssitzungen waren häufig emotional aufgeheizt und von Rachsucht geprägt und ließen bei Marguerida ein tiefes Verlangen nach Ruhe und Frieden entstehen. Doch wie ihr Lew ruhig darlegte, konnte es keinen Frieden auf Darkover geben, denn es wäre unnatürlich gewesen, wenn alle einer Meinung wären.

Anstatt mit ihrer Arbeit zu beginnen, wanderten Margueridas Gedanken zu den Problemen, welche die Föderation Darkover unaufhörlich bereitete. Es war wirklich sehr ärgerlich, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Dann hielt sie inne, sah stirnrunzelnd auf die Notenzeilen und schließlich zum Kaminfeuer. Sie war im Laufe ihrer Studien mit Istvana Ridenow äußerst diszipliniert geworden, und es war ungewöhnlich, dass ihre Gedanken so abschweiften. Vielleicht gab es doch einen Grund für ihre innere Unruhe.

Marguerida war hinsichtlich der sich verschlechternden Beziehungen zwischen Darkover und der Föderation stets auf dem Laufenden, auch wenn sie versuchte, möglichst im Hintergrund zu bleiben. Javanne missfiel an ihr unter anderem, dass Marguerida aufgrund ihrer Position die Ansichten ihres Mannes, ihres Vaters und einiger anderer auf Burg Comyn beeinflussen konnte. Javanne ging davon aus, dass sich ihre Schwiegertochter einmischte, denn das würde sie selbst schließlich auch tun, wenn sie die Gelegenheit dazu bekäme. Um diesem Misstrauen entgegenzuwirken, hatte Marguerida nach Kräften versucht, sich als richtige darkovanische Frau zu geben, die sich nur für häusliche Dinge und nicht für Staatsangelegenheiten interessierte. Wie sie bereitwillig zugab, war ihr das nicht sehr gut gelungen. Sie war viel zu energisch, um während der Ratssitzungen einfach nur still zu sitzen, auch wenn sie sich das jedes Mal wieder gelobte.

Es war wirklich komisch. Sie und Javanne waren sehr ähnlich veranlagt, und während Marguerida den Vorteil einer in der Föderation erworbenen Bildung besaß, kannte dafür ihre Schwiegermutter Darkover wie ihre Westentasche. So waren sie in fast allen Dingen uneins, und das oft auf schmerzliche Weise. Javanne konnte einfach nicht begreifen, dass man sich mit der Föderation auseinander setzen musste; sie ließ sich weder wegwünschen noch fortschicken.

Selbst wenn die beiden einer Meinung waren, so wie damals, als der Stützpunktleiter einige Medienschirme in den Gasthäusern der Handelsstadt installierte und Regis sie wieder abbauen ließ, weil sie das Abkommen mit der Föderation verletzten, geschah dies widerwillig und auf unfreundliche Art. Als Marguerida nun an diesen Zwischenfall dachte, regte sich etwas in ihr, und sie fragte sich, ob Belfontaine etwa einen weiteren Eingriff in die darkovanische Lebensart plante. Sie besaß keinerlei Informationen, die einen solchen Verdacht nahe gelegt hätten, aber manchmal schien ihr Unterbewusstsein schlauer zu sein als ihr wacher Geist.

Natürlich hatte es diese seltsamen Vorfälle im letzten Sommer gegeben. Ein kleiner Tumult auf dem Pferdemarkt, und alle möglichen Gerüchte, die vorbeigezogen waren wie die Wolken am Himmel. Es war ein Sommerfieber gewesen, und die normalerweise friedliche Bevölkerung der Stadt hatte sich für kurze Zeit hässlich und böse gezeigt. Aber warum sollte sie das gerade jetzt beunruhigen, da sie ein paar ungestörte Stunden zum Arbeiten hatte? Sie fühlte einen Schauder des Unbehagens, nicht zum ersten Mal, seit sie sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, wie ihr nun klar wurde.

Irgendetwas beunruhigte Marguerida, und es war nicht die Föderation, nicht ihre Kinder oder Mikhail oder sonst etwas, das sie eindeutig bestimmen konnte. Sie verspürte einen leichten Anflug von Kopfschmerz und ein komisches Gefühl im Magen, fast als wäre sie wieder schwanger. Da sie wusste, dass dies nicht der Fall war, konnte sie sich ihr Unwohlsein nicht erklären, es sei denn, sie wurde ernsthaft krank. Schnell verwarf sie den Gedanken und wandte sich wieder ihrer Arbeit auf dem Schreibtisch zu.

Sie musste sich wirklich zusammennehmen und konzentrieren. Marguerida hatte sich selbst einen Termin gesetzt, den sie einhalten musste. In drei Wochen hatte Regis Geburtstag, und es war Brauch geworden, zu diesem Anlass für musikalische Abendunterhaltung zu sorgen. An diesem Tag sollte, als Geschenk für ihn, die Premiere ihrer Oper sein, deren Thema die Sage von Hastur und Cassilda war, den legendären Ahnen seines Hauses. Zum Glück gehörte es zu den ganz normalen Vorbereitungen auf das Ereignis, dass eine wachsende Zahl von Musikern in die Burg kam. Ein noch größeres Glück war es, dass die Sänger und Instrumentalisten Marguerida als ein inoffizielles Mitglied ihrer Gilde betrachteten. Bisher konnte das ganze Projekt vor Regis geheim gehalten werden, auch wenn sie überzeugt war, dass er etwas ahnte. In einer Burg, welche die verschiedensten Telepathen beherbergte, war es zwar schwierig, aber dennoch nicht unmöglich, eine Überraschung zu planen.

Marguerida schloss die Augen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Erneut ließ sie die Alton-Gabe ihre Fühler ausstrecken und nach der Quelle ihres Unbehagens suchen. Diese besondere Eigenschaft ihrer Gabe hatte sie vor Jahren entdeckt, in einem längst zerstörten Turm in der fernen Vergangenheit, als sich ihr Leben für immer verändert hatte. Alles schien in Ordnung zu sein, also beschloss sie, dass sie sich einfach nur töricht benahm. Sie zuckte mit den Achseln, öffnete die Augen und griff zur Schreibfeder.

Nachdem sie die Feder ins Tintenfass getaucht hatte, begann sie die erste.

Seite abzuschreiben. Die darkovanische Notenschrift unterschied sich von der, die sie an der Universität gelernt hatte, aber nach all der Zeit war sie ihr vertraut und ging ihr leicht von der Hand. O ja, es war richtig gewesen, es selbst zu tun – hier gab es eine Stelle, wo unklar war, was sie gemeint hatte. Kein Wunder, nachdem sie das Original ein halbes Dutzend Mal umgearbeitet hatte. Sie summte die Noten, vokalisierte leise eine Strophe und nahm die notwendigen Korrekturen vor.

Nach einer halben Stunde hatte Marguerida vier Seiten sauber abgeschrieben, als ein rötlicher Sonnenstrahl durch das schmale Fenster fiel, den Schreibtisch erhellte und sie blinzeln ließ. Sie stand auf, um das blendende Licht auszusperren, aber statt den Vorhang zuzuziehen, blieb sie einen Moment stehen und sah hinaus. Ihr elfenbeinfarbenes Wollkleid schmiegte sich in bequemen Falten um ihren noch immer schlanken Körper, und die Schürze, die sie angelegt hatte, um Tintenflecke zu vermeiden, saß straff auf ihrer Taille. Eine frische Brise ließ die Fähnchen auf dem gegenüberliegenden Dach flattern, und der Geruch des Herbstes war allgegenwärtig. Unter anderen Umständen wäre sie jetzt draußen, auf einem Ausritt mit ihrem Pferdeknecht und zwei Wächtern. Sie würde sich zwar über die Eskorte ärgern, aber dennoch die frische Luft genießen. Dorilys, ihre geliebte Stute, war inzwischen achtzehn Jahre alt und schon schwach, deshalb ritt sie eins ihrer Fohlen, eine lebhafte, zinngraue Stute mit einem weißen Stern auf der Brust, die auf den Namen Dyania hörte. Es fiel schwer, einen so schönen Tag im Haus zu verbringen; mit gewaltigem Widerwillen wandte sie sich ihrem Schreibtisch zu.

Yllana hatte aufgehört zu spielen, und es war sehr still, als Marguerida sich wieder setzte. Erneut flammte Unbehagen in ihr auf, das sie aber zu ignorieren versuchte. Vielleicht war sie nur wegen der Oper nervös. Eigentlich war es ja mehr ein Oratorium, da es weder Kulissen noch Kostüme geben würde. Beides hätte sich Marguerida sehr gewünscht und dazu eine öffentliche Aufführung des Werks im neu erbauten Musiksaal am anderen Ende Thendaras. Aber in ihrer Position war das vermutlich keine sehr gute Idee. Javanne Hastur und einige andere eher konservative Angehörige der Domänen würden es wahrscheinlich für unschicklich halten, dass sie ein Stück komponierte, das öffentlich aufgeführt werden sollte, als wäre sie eine gewöhnliche Musikerin und nicht die Frau Mikhail Hasturs. Gegen die Feindseligkeit von Javanne war sie machtlos, sie konnte die Frau höchstens überleben, wie sie hoffte. Doch das würde womöglich noch eine Weile dauern, die Hasturs waren für ihre Langlebigkeit berühmt. Erst in einigen Jahrzehnten würde Mikhail der Herrscher ihrer Welt werden, wenn es überhaupt dazu kam. So wie die Dinge im Augenblick standen, war er Regis’ rechte Hand, Lew Alton war seine linke, und Danilo Syrtis-Ardais hielt ihm wie immer den Rücken frei.

Marguerida war es recht so, denn wenn Mikhail erst an der Macht war, würde ihr Leben noch eingeschränkter werden, als es bereits war. Zum Glück nahm sie an, dass sie bis dahin eine ältere Dame sein würde, der es hoffentlich nicht mehr viel ausmachte, regelrecht eine Gefangene auf Burg Comyn zu sein. Noch machte es ihr allerdings sehr viel aus. Manchmal hätte sie am liebsten geschrien. Und gelegentlich ging sie tatsächlich mitten in der Nacht in einen der rückwärtigen Höfe und heulte die Monde an, nur damit ihr leichter wurde, und um einmal ganz allein, ohne die Wächter, Diener und all die zänkischen Persönlichkeiten zu sein, von denen die Burg voll war.

Sie nahm die Arbeit wieder auf und fand eine sehr schwierige Passage, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderte. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, die Sache auf eine andere Gelegenheit zu verschieben – auf nächstes Jahr gar. Marguerida nahm einen neuen Bogen und sichtete die verschiedenen Stimmen darauf, fand heraus, wo das Problem lag, und tüftelte daran herum, bis sie zufrieden war. Wie hatte sie nur so plump sein können? Sie fragte sich, ob Korniel, der vorzügliche Opernkomponist des letzten Jahrhunderts auf Renney, auch solche Probleme gehabt hatte. Sehr wahrscheinlich. Die Flut von Ys, sein bekanntestes Werk, war Margueridas Maßstab für eine herausragende Leistung, und sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie etwas so Großartiges und Bewegendes zu Stande bringen würde. Immerhin war manches von dem, was sie in Fortführung der umfangreichen Balladentradition über Hastur und Cassilda geschaffen hatte, gar nicht so übel. Sie hatte den Text geringfügig erweitert – hoffentlich nicht so sehr, dass sie die Empfindungen ihres Publikums verletzte – und einige fremde Elemente aus Quellen eingeführt, die sie im Norden gesammelt hatte. Erald, der Sohn Meister Everards, des verstorbenen früheren Hauptes der Musikergilde, war dabei sehr hilfreich gewesen. Er hielt sich nicht oft in Thendara auf, da er beim Fahrenden Volk lebte, den umherziehenden Gauklern Darkovers, aber wenn er in der Gegend weilte, kam er jedes Mal zur Burg und unterhielt sich mit ihr. Ein seltsamer Mann, aber sie betrachtete ihn als einen Freund.

Ja, dieser Refrain, den sie eingeführt hatte, war wirklich gut. Oder aber ihre Augen füllten sich aus einem anderen Grund mit Tränen. Marguerida legte die Feder beiseite, hob die linke Hand mit dem nun von Tintenflecken beschmutzten Seidenhandschuh und wischte den feuchten Film weg. Es war wirklich albern, von seiner eigenen Schöpfung so gerührt zu sein. Andererseits, wenn das Werk ihr selbst die Tränen in die Augen trieb, würde die Wirkung auf ihr Publikum vermutlich die gleiche sein. So ermuntert, ging sie mit frischer Begeisterung wieder an die Abschrift.

Doch mitten zwischen zwei Strophen trat plötzlich eine Veränderung ein. Im einen Augenblick war Marguerida noch tief in ihre Papiere versunken, und im nächsten fuhr eine Kälte in ihren Körper, die ihre Hand heftig zittern ließ. Die Feder spritzte, machte mehrere Kleckse und glitt ihr aus den Fingern. Über dem linken Auge spürte sie einen scharfen und schmerzhaften Stich, der so schnell wieder verging, dass sie fast glaubte, sie hätte ihn sich nur eingebildet. Sie blinzelte mehrmals, und der zunächst verschwommene Raum wurde wieder klar.

Für einen Moment saß sie einfach nur da, zu überrascht, um denken zu können. Es hatte sich wie eine Art Anfall angefühlt, aber sie hatte seit Jahren keinen mehr gehabt. Erst nach einer Weile begriff Marguerida, dass das, was sie gerade erlebt hatte, nicht ihr widerfahren war, sondern jemand anderem. Ihr erster Gedanke galt Mikhail und den Kindern. Ihr vorheriges Unbehagen musste eine jener unangenehmen Heimsuchungen durch die Aldaran-Gabe gewesen sein, ein Blick in die Zukunft. Diese hatte sie nicht häufig, und sie schienen sich immer um Ereignisse zu drehen, die ihr Leben unmittelbar betrafen.

Dann, ohne dass sie genau begriff, warum sie es wusste, war Marguerida plötzlich klar, was nicht stimmte. Sie stand abrupt auf und stieß gegen den Schreibtisch, sodass das Tintenfass umfiel. Dunkle Flüssigkeit ergoss sich über die Schreibunterlage, die eben kopierten Seiten und ihr Gewand, aber sie nahm kaum Notiz davon.

Mikhail! Die Alton-Gabe ertönte aus ihrem Geist und ließ alle Telepathen in dem großen Gebäude aufhorchen.

Was gibt es?

Regis ist etwas zugestoßen!

2

Ein kalter Windstoß schlug Katherine Aldaran ins Gesicht und ließ sie nach Luft schnappen. Es war ein Schock nach der Heizungswärme im Gebäude des Raumhafens. Die Angst, die Katherine umklammert hielt, seit Herm sie mitten in der Nacht geweckt und ihr befohlen hatte, für Darkover zu packen, schien ihren Würgegriff für einen Augenblick zu lösen; an ihre Stelle trat nun Zorn. Sie würde nie vergessen, wie er in jener schrecklichen Nacht im Halbdunkel des Schlafzimmers ausgesehen hatte, wie sich seine Pupillen selbst bei der ungenügenden Beleuchtung noch zusammengezogen hatten. Der verzweifelte Ausdruck auf seinem für gewöhnlich ruhigen, vertrauten Gesicht hatte sie so sehr erschreckt, dass sie nicht einmal Fragen stellte, sondern einfach tat, was er verlangte.

Sie hatte die Angst in der winzigen Kabine auf dem Schiff ausgehalten und beim Umsteigen auf Vainwal. Katherine schluckte schwer und öffnete den Mund, um endlich eine Erklärung zu verlangen, aber der eisige Wind entriss ihr die Worte und löste ihren Dutt auf. Sie sah, dass der Gepäckträger, den man ihnen zugeteilt hatte, direkt hinter ihr war, und zwang sich, die Fragen nicht zu stellen, die ihr auf der Zunge lagen. Stattdessen fluchte sie heftig in ihrer Renney-Mundart, machte ihrer Angst und Wut in farbigen Ausdrücken Luft, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr Sohn ein paar Schimpfwörter aufschnappte. »Du hättest mich vorwarnen können, dass wir hier in einen Sturm kommen!« Ihre Worte klangen matt im Vergleich mit denen, die sie gern losgeworden wäre.

Herm sah zu, wie Katherine ihr langes schwarzes Haar bändigte und die Strähnen wie Peitschenschnüre aus dem erschöpften Gesicht zog. Sie besaß ein lebhaftes Temperament, seine Kate, und dass man sie mitten in der Nacht aus ihrem Bett zerrte und dann ohne vernünftige Erklärung durch die halbe Galaxis verfrachtete, hatte ihre Selbstbeherrschung bis zum Äußersten strapaziert. Er hatte die Fragen, die in ihr aufstiegen, ein paar Mal aufgefangen – nach telepathischen Maßstäben hatte sie praktisch geschrien – und wusste, was es ihr abverlangt hatte, sie zurückzuhalten. Nur Kates Einsicht, dass ihr Diplomatengatte nicht offen sprechen würde, solange die Föderation mithörte, hatte ihn bislang vor einem zermürbenden Kreuzverhör bewahrt. Stattdessen war er mit kaltem Schweigen gestraft worden, was seiner Meinung nach noch schlimmer war.

Aber Herm musste unwillkürlich lachen, auch wenn er wusste, dass er sie damit noch wütender machte, als er den wunderbaren, reinen Herbstgeruch wahrnahm, der von Westen kam. Er konnte nicht anders. Die beißende Kälte strich ihm über die Wangen, erfrischend und vertraut, aber es lag noch keine Spur von Schnee in ihr. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte, und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass Heimweh sein täglicher Begleiter gewesen war. Seit mehr als zwanzig Jahren war er nicht zu Hause gewesen, und das war zu lange.

Nun legte er den Arm um Kates schlanke Taille und zog sie an sich. Er spürte die Wärme ihres Körpers und roch den schwachen chemischen Duft des Lufterfrischers aus dem Raumschiff. Sie wehrte sich gegen seine Berührung, und er ließ sie widerstrebend los.

»Ein Sturm? Davon kann keine Rede sein, Kate. Das ist nur eine frische Brise.« Er schnupperte kennerhaft und sprach unbefangener, als ihm zu Mute war. »Aber ich wäre überrascht, wenn es nicht vor Einbruch der Nacht noch regnen würde.«

Amaury, der das dunkle Haar und die blasse Haut seiner Mutter hatte, sah seinen Stiefvater skeptisch an, während sich Terése zitternd an sein Bein lehnte. Herm beugte sich vor und hob die Kleine in die Höhe, auch wenn sie dafür schon ziemlich groß war. Sie war ein hübsches Ding, mit dem roten Haar und den grünen Augen, die in der Aldaransippe so verbreitet waren. Tatsächlich sah Terése seiner Schwester Gisela sehr ähnlich, als diese im selben Alter war. »Ist es hier immer so kalt, Papa?« Vertrauensvoll schmiegte sie sich an seine Schulter. Sie hatte noch nie Schnee gesehen, und in dem künstlichen Klima, in dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatten, fiel nie Regen.

»Nein, Kleines. Das ist noch gar nichts im Vergleich zum Winter. Aber bald werden wir in einer warmen Kutsche sitzen – vorausgesetzt, Lew hat die Nachricht erhalten, die ich ihm von Vainwal geschickt habe – und dann in einem hübschen, warmen Haus.« Er zeigte über die spitzen Dächer Thendaras. »Siehst du das große Gebäude dort oben auf dem Berg? Dorthin fahren wir, glaube ich.« Er hatte den riesigen Bau noch nie gesehen, aber das musste Burg Comyn sein.

Selbst aus der Ferne wirkte sie gewaltig. Das Weiß des Mauerwerks leuchtete in der Nachmittagssonne, und Herm konnte Wimpel und Flaggen auf den Türmen und Vorsprüngen flattern sehen. Auf einer Seite stand eine dunkle Ruine, als wäre ein Teil des Gebäudes vom Blitz getroffen und nicht wieder repariert worden. Ohne dass er es sich erklären konnte, ließ ihn der Anblick plötzlich vor Unbehagen frösteln.

»Das ist kein Haus«, protestierte Amaury.

»Nein, es ist eine Burg.«

»Ist das die Burg, in der du aufgewachsen bist, Vater?« Amaury hatte vor einigen Monaten aufgehört, ihn Papa zu nennen, und die förmlichere Anrede übernommen. Er war jetzt fast dreizehn und benahm sich genauso, wie Herm es in seinem Alter getan hatte, als er auch Wege suchte, sich von seinen Eltern zu lösen und eine eigenständige Person zu werden.

»Nein. Burg Aldaran ist weit weg, droben in den Hellers, das sind sehr, sehr große Berge, und man kann sie von hier nicht einmal sehen. Kommt. Bald sind wir in der Burg, dort bekommen wir ein schönes heißes Bad und Essen, das nicht aus einem Automaten stammt.« Er winkte dem Gepäckträger, den ihm der Zolloffizier zugeteilt hatte, da er offenbar immer noch Senator war. Der Mann, ein Zivilangestellter der Föderation, hatte ihre wenigen Habseligkeiten auf einen Wagen gestapelt.

Sie hatten so vieles zurückgelassen! Herm hatte versprochen, alles nachschicken zu lassen, aber er wusste, dass es wahrscheinlich nicht dazu kommen würde. Man würde alles beschlagnahmen, was sie nicht mitgenommen hatten. Er staunte noch immer, dass er Katherine ohne den geringsten Streit von Terra weggebracht hatte, nur mit den Dingen im Gepäck, die wirklich kostbar oder unersetzbar waren. Sie hatte ihn nicht einmal ausgefragt, als hätte sie seine Entschlossenheit gespürt. »Man hat mich nach Darkover zurückgerufen, Liebes«, hatte er verkündet. »Ich muss sofort aufbrechen, und ich will dich und die Kinder nicht hier lassen.« Das hatte genügt, damit sie sich in Bewegung setzte und zu packen begann. Er wusste, wie verängstigt sie sein musste, anders als die Kinder, die das Ganze anscheinend als ein großes Abenteuer ansahen. Wirklich unglaublich, seine Kate.

Die Bescheidenheit ihres Heims hatte verhindert, dass sie allzu viel Besitz ansammelten, aber ihr Gepäck war immer noch beachtlich. Da waren Kates Ölfarben und Pinsel, ihre Skizzenblöcke und Kreiden, Amaurys Sammlung von rennischen Kriegerfiguren und zwei von Teréses zerfledderten Stoffpuppen, dazu eine große Menge Kleidung, die für das Klima auf Darkover völlig ungeeignet war. Die grässlichen Synthetiksachen, die sie in den stets warmen Räumen Terras trugen, boten keinen Schutz gegen den beißenden Wind. Weiter hatten sie Hologramme von Katherines riesiger Familie auf Renney dabei und sogar Herms Sammlung von Miniaturkeramik, winzige Schüsseln und Vasen, nicht länger als sein Daumen. Es war dumm gewesen, sie mitzunehmen, aber er hatte die lieb gewonnenen Objekte einfach nicht zurücklassen können. Abgesehen davon waren einige der Stücke tatsächlich sehr wertvoll, und er sah nicht ein, dass sie entweder in einem Lager verschimmeln oder zum Nutzen der Föderation versteigert werden sollten.

Nicht eingepackt hatten sie dagegen sämtliche technischen Spielereien der Föderation – weder Kommunikatoren noch Computer, Rekorder oder Sendegeräte. All das war nach darkovanischem Gesetz verboten, und ihre einzige illegale Fracht bestand aus einer kleinen Schachtel »Lumens«, von selbst leuchtenden Punkten, die auf jeder Oberfläche hafteten. Herm las gerne im Bett, und mit Hilfe der Lumens konnte er es tun, ohne seine Frau zu stören. Er dachte kurz darüber nach, wie die Kinder wohl reagieren würden, wenn sie schließlich erkannten, wie sehr sich Darkover von ihrer gewohnten Umgebung unterschied. In ihrem gesamten jungen Leben hatte stets eine Berührung mit dem Finger genügt, damit sie Zugang zu enormen Datenmengen hatten oder zu umfassenden Berichten von den Planeten der ausgedehnten Föderation. Herm war sich nicht sicher, ob ihm selbst ohne Medien noch wohl sein würde. Achselzuckend ließ er den Gedanken fallen.

Katherine war es inzwischen gelungen, ihr Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zu drehen. Die Geschicklichkeit ihrer Finger erstaunte ihn immer wieder. Zum Glück war der Kragen ihres terranischen Gewands hochgeschlossen, sodass sie nicht unzüchtig erscheinen würde. Nachdem er so viele Jahre lang Frauen mit tief ausgeschnittenen Kleidern gesehen hatte, die ihren Nacken in einer Weise entblößten, die ihn bei seiner Ankunft in der Föderation schockierte, hatte er diese Besonderheit der darkovanischen Kleidersitten fast schon vergessen. Mit einem leichten Erschrecken fragte sich Herm, ob er sich wieder an Dinge anpassen konnte, die er nicht mehr für wichtig hielt – wie eben das Bedecken des Nackens für Frauen oder das Tragen eines Schwerts für Männer. War er noch ausreichend Darkovaner, um hier leben zu können?

Sie trotteten über das Rollfeld in Richtung des Torbogens, der den Raumhafen von dem Teil Thendaras trennte, den man die Handelsstadt nannte. Es war nicht weit, aber sie waren alle gründlich durchgefroren, als sie dort ankamen. Herm nickte den schwarz gekleideten terranischen Wachmännern träge zu und zückte seine Papiere und Dokumente, ohne sich das geringste Zögern anmerken zu lassen.