Über Agatha Christie

Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihre beliebten Helden Hercule Poirot und Miss Marple sind – auch durch die Verfilmungen – einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.

Erstes Kapitel

Keuchend folgte Mrs McGillicuddy dem Gepäckträger, der ihren Koffer über den Bahnsteig trug. Mrs McGillicuddy war klein und beleibt, der Gepäckträger war groß und machte weit ausgreifende Schritte. Mrs McGillicuddy war zudem mit etlichen Paketen beladen, den Früchten der Weihnachtseinkäufe eines ganzen Tages. Es war ein ungleiches Rennen, und der Gepäckträger verschwand schon um die Ecke am Ende des Bahnsteigs, als Mrs McGillicuddy noch die Gerade entlanghastete.

Bahnsteig 1 war im Augenblick nicht besonders voll, denn ein Zug war gerade abgefahren, nur im Niemandsland davor herrschte ein einziges Kommen und Gehen zwischen Untergrundbahnen, Gepäckaufbewahrung, Teestuben, Auskunft, Anzeigetafeln und den beiden Verbindungsstellen mit der Außenwelt, ANKUNFT und ABFAHRT.

Mrs McGillicuddy wurde mit ihren Paketen herumgestoßen, erreichte jedoch schließlich den Zugang zu Bahnsteig 3, stellte ein Paket ab und wühlte in der Handtasche nach der Fahrkarte, die es ihr erlauben würde, an dem strengen, uniformierten Wächter vor der Sperre vorbeizukommen.

Plötzlich ertönte über ihrem Kopf eine raue, aber betont deutliche Stimme: »Der Zug nach Brackhampton, Milchester, Waverton, Carvil Junction, Roxeter und Chadmouth mit Abfahrt um 16 Uhr 50 steht abfahrbereit auf Gleis 3. Die Wagen nach Brackhampton und Milchester befinden sich im hinteren Zugteil. Reisende nach Vanequay steigen in Roxeter um.« Die Stimme verstummte mit einem Knacken und sagte gleich darauf an, der Zug aus Birmingham und Wolverhampton mit Ankunft um 16 Uhr 35 sei auf Gleis 9 eingefahren.

Mrs McGillicuddy fand ihre Fahrkarte und wies sie vor. Der Mann knipste sie und murmelte: »Nach rechts – hinterer Zugteil.«

Mrs McGillicuddy trottete den Bahnsteig entlang und fand ihren gelangweilten und ins Leere starrenden Gepäckträger vor der Tür eines Wagens dritter Klasse.

»Bitte schön, Mylady.«

»Ich reise erster Klasse«, sagte Mrs McGillicuddy.

»Das hätten Sie ja auch gleich sagen können«, murrte der Gepäckträger. Er musterte abschätzig ihren maskulinen Pepitamantel.

Mrs McGillicuddy, die das gleich gesagt hatte, widersprach nicht weiter. Sie war ziemlich außer Atem.

Der Gepäckträger holte den Koffer wieder aus dem Abteil und marschierte zum nächsten Wagen, wo sich Mrs McGillicuddy in einsamer Pracht niederließ. Der Zug um 16.50 wurde wenig frequentiert; Reisende erster Klasse nahmen für gewöhnlich den schnelleren Vormittagsexpress oder aber den Zug um 18.40, der einen Speisewagen mitführte. Mrs McGillicuddy gab dem Gepäckträger sein Trinkgeld, das er enttäuscht in Empfang nahm, offenkundig der Meinung, es sei eher angemessen für Reisende der dritten als der ersten Klasse. Nach ihrer Nachtfahrt aus dem Norden herunter und einem Tag voller fieberhafter Einkäufe ließ sich Mrs McGillicuddy eine behagliche Fahrt zwar gern etwas kosten, aber reichliche Trinkgelder pflegte sie nie zu geben.

Mit einem Seufzer sank sie in die weichen Polster und schlug eine Zeitschrift auf. Fünf Minuten später ertönte ein Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung. Die Zeitschrift entglitt Mrs McGillicuddys Hand, ihr Kopf fiel zur Seite, und drei Minuten später war sie eingeschlafen. Nach fünfunddreißig Minuten erwachte sie neu belebt. Sie schob ihren im Schlaf verrutschten Hut zurecht, setzte sich auf und betrachtete durchs Fenster das wenige, was von der vorbeifliegenden Landschaft zu sehen war. Es war schon fast dunkel, ein trübseliger, nebliger Dezembertag – bis Weihnachten waren es nur noch fünf Tage. London war schon dunkel und trübselig gewesen, und die Landschaft draußen machte denselben Eindruck, wurde aber immer wieder von Lichterreihen aufgelockert, wenn der Zug durch Ortschaften und Bahnhöfe sauste.

Ein Zugbegleiter riss wie ein Dschinn die Tür zum Gang auf und fragte: »Tee gefällig?« Mrs McGillicuddy hatte bereits in einem großen Warenhaus Tee getrunken und momentan keine weiteren Bedürfnisse. Der Zugbegleiter ging den Gang hinab und wiederholte in regelmäßigen Abständen seine monotone Frage. Mrs McGillicuddy sah mit zufriedener Miene zu ihren diversen im Gepäcknetz ruhenden Paketen hoch. Die Handtücher waren äußerst preiswert und genau das gewesen, was sich Margaret gewünscht hatte, mit dem Weltraumgewehr für Robby und dem Kaninchen für Jean war sie zufrieden, und die Abendjacke war genau das Richtige für sie selbst, warm, aber modisch. Dasselbe galt für den Pullover für Hector … sie freute sich über ihre wohldurchdachten Erwerbungen.

Ihr entspannter Blick kehrte zum Fenster zurück, kreischend brauste ein Zug in Gegenrichtung vorbei, ließ die Scheiben erklirren und Mrs McGillicuddy hochschrecken. Der Zug ratterte über ein paar Weichen und passierte einen Bahnhof.

Dann verlangsamte er plötzlich das Tempo, vermutlich vor einem Signal. Ein paar Minuten lang kroch er noch dahin, blieb dann stehen, nahm aber sogleich wieder Fahrt auf. Ein weiterer Zug nach London fuhr an ihnen vorbei, allerdings nicht so schnell wie der erste. Ihr Zug beschleunigte wieder. Da näherte sich ihnen auf fast beängstigende Weise ein zweiter, in dieselbe Richtung wie sie fahrender Zug. Beide Züge fuhren eine Weile nebeneinander her, mal holte der eine etwas auf, mal der andere. Mrs McGillicuddy sah aus dem Fenster in die Abteile des anderen Zuges. Meist waren die Rouleaus herabgezogen, aber dann und wann konnte sie Reisende sehen. Der andere Zug war nur schwach besetzt, und viele Abteile waren leer.

Als die beiden Züge gerade den Eindruck erweckten stillzustehen, schnellte drüben ein Rouleau hoch. Mrs McGillicuddy sah in das nur wenige Meter entfernte beleuchtete Erste-Klasse-Abteil.

Plötzlich rang sie nach Luft und lehnte sich vor.

Mit dem Rücken zum Fenster und zu ihr stand dort ein Mann. Er hatte die Hände um den Hals einer vor ihm stehenden Frau gelegt, und langsam und grausam erdrosselte er sie. Ihre Augen quollen hervor, ihr Gesicht war dunkelrot und verzerrt. Während Mrs McGillicuddy noch wie gebannt zusah, trat das Ende ein; der Körper erschlaffte und entglitt den Händen des Mannes.

In diesem Moment verringerte Mrs McGillicuddys Zug die Geschwindigkeit wieder, und der Nachbarzug beschleunigte. Er überholte und war nach wenigen Augenblicken außer Sicht.

Mrs McGillicuddy griff instinktiv nach der Notbremse, aber dann zögerte sie. Welchen Sinn hatte es schließlich, ihren Zug zum Halten zu bringen? Die merkwürdigen Umstände und die aus nächster Nähe gesehene Gräueltat lähmten sie. Irgendetwas musste sie unverzüglich unternehmen – aber was?

Die Tür ihres Abteils wurde aufgezogen, und ein Schaffner sagte: »Ihre Fahrkarte, bitte.«

Mrs McGillicuddy drehte sich ungestüm zu ihm um.

»Eine Frau ist erdrosselt worden«, sagte sie. »In dem Zug, der uns eben überholt hat. Ich habe es gesehen.«

Der Schaffner sah sie ungläubig an.

»Wie meinen Sie, Madam?«

»Ein Mann hat eine Frau erdrosselt! In einem Zug. Ich habe es gesehen – da draußen.« Sie zeigte auf das Fenster.

Der Schaffner wirkte äußerst ungläubig.

»Erdrosselt?«, fragte er argwöhnisch.

»Jawohl, erdrosselt! Ich sage Ihnen doch, ich habe es gesehen. Sie müssen sofort etwas unternehmen!«

Der Schaffner räusperte sich nachsichtig.

»Madam, meinen Sie nicht, dass Sie vielleicht ein Nickerchen gemacht und – ähm –«, er verstummte taktvoll.

»Ich habe allerdings ein Nickerchen gemacht, aber wenn Sie glauben, ich hätte geträumt, dann irren Sie sich. Ich sage Ihnen doch, ich habe es gesehen.«

Der Blick des Schaffners fiel auf die offene Zeitschrift auf dem Sitz. Die aufgeschlagene Seite zeigte ein Mädchen, das erdrosselt wurde, während ein Mann in der Tür stand und das Paar mit einem Revolver bedrohte.

Der Schaffner sagte begütigend: »Wäre es nicht denkbar, Madam, dass Sie eine spannende Geschichte gelesen haben, eingenickt und dann ein wenig verwirrt aufgewacht sind –«

Mrs McGillicuddy fiel ihm ins Wort.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagte sie. »Ich war so hellwach wie Sie. Und ich habe durch das Fenster in das Abteil eines neben uns fahrenden Zuges gesehen, und dort hat ein Mann eine Frau erdrosselt. Und jetzt möchte ich von Ihnen wissen, was Sie zu tun gedenken.«

»Also – Madam –«

»Irgendetwas werden Sie doch tun, hoffe ich.«

Der Schaffner seufzte widerstrebend und sah auf die Uhr.

»Wir kommen in genau sieben Minuten in Brackhampton an. Ich werde Ihre Angaben dort melden. In welche Richtung fuhr der besagte Zug denn?«

»In unsere natürlich. Glauben Sie vielleicht, ich hätte das alles sehen können, wenn ein Zug in Gegenrichtung an uns vorbeigebraust wäre?«

Der Schaffner sah aus, als traue er Mrs McGillicuddy zu, alles Mögliche zu sehen, wenn die Phantasie mit ihr durchging. Aber er blieb höflich.

»Sie können sich auf mich verlassen, Madam«, sagte er. »Ich werde Ihre Aussage weitergeben. Dürfte ich Sie noch um Ihren Namen und Ihre Adresse bitten – nur für den Fall …«

Mrs McGillicuddy diktierte ihm die Adresse, unter der sie in den nächsten Tagen zu erreichen sein würde, sowie ihre schottische Heimatadresse, und er notierte sich beide. Dann entfernte er sich mit der Miene eines Mannes, der seine Pflicht getan und ein lästiges Mitglied der reisenden Öffentlichkeit erfolgreich abgewimmelt hat.

Mrs McGillicuddy runzelte die Stirn; sie war nicht ganz zufrieden. Ob der Schaffner ihre Erklärung wirklich weitergab? Oder hatte er sie nur beschwichtigen wollen? Sie konnte sich denken, dass viele ältere Frauen auf Reisen steif und fest behaupteten, sie hätten kommunistische Verschwörungen aufgedeckt, würden von Mördern bedroht, hätten fliegende Untertassen und geheime Raumschiffe gesehen und müssten Mordfälle melden, die nie passiert waren. Wenn der Mann sie als eine von denen abtat …

Der Zug verlangsamte sein Tempo, fuhr über Weichen, und rechts und links zeigten sich erste Lichter einer größeren Stadt.

Mrs McGillicuddy öffnete ihre Handtasche, zog, da sie nichts Besseres finden konnte, eine Quittung heraus, kritzelte mit dem Kugelschreiber eine kurze Notiz auf die Rückseite, steckte sie in einen zufällig vorhandenen Briefumschlag, klebte ihn zu und beschriftete ihn.

Der Zug kam an einem vollen Bahnsteig zum Halten. Die übliche allgegenwärtige Stimme hob an:

»Auf Gleis 1 ist der Zug aus London eingefahren, der um 17 Uhr 38 nach Milchester, Waverton, Roxeter und Chadmouth weiterfährt. Der Anschlusszug für Reisende nach Market Basing steht abfahrbereit auf Gleis 3, der Personenzug nach Carbury auf Nebengleis 1

Mrs McGillicuddy ließ ihren Blick unruhig suchend über den Bahnsteig schweifen. So viele Reisende und so wenige Gepäckträger. Ah, da stand einer! Sie rief ihn herrisch herbei.

»Träger! Bitte bringen Sie das hier unverzüglich ins Büro des Bahnhofsvorstehers.«

Sie gab ihm den Briefumschlag und einen Shilling.

Danach sank sie seufzend wieder in die Polster. Nun hatte sie getan, was sie konnte. Einen Augenblick lang bereute sie den Shilling … ein Sixpence-Stück hätte es eigentlich auch getan …

Dann vergegenwärtigte sie sich die Szene, deren Zeugin sie eben geworden war. Grässlich, einfach grässlich … Sie war eine Frau mit starken Nerven, aber sie erschauerte. Wie seltsam – wie absurd, dass so etwas ihr zustieß, Elspeth McGillicuddy! Wenn in jenem Abteil nicht zufällig das Rouleau hochgeschnellt wäre … aber das war eben das Werk der Vorsehung.

Die Vorsehung hatte es so bestimmt, dass sie, Elspeth McGillicuddy, Zeugin des Verbrechens werden sollte. Sie presste entschlossen die Lippen aufeinander.

Rufe erklangen, Pfiffe ertönten, Türen wurden zugeschlagen. Langsam verließ der Zug den Bahnhof von Brackhampton. Eine Stunde und fünf Minuten später hielt er in Milchester.

Mrs McGillicuddy suchte ihre Pakete und ihren Koffer zusammen und stieg aus. Auf dem Bahnsteig hielt sie Ausschau nach einem Gepäckträger und wiederholte ihr früheres Urteil: Nicht genug Gepäckträger. Die wenigen in Sicht schienen mit Postsäcken und Gepäckwägelchen ausgelastet. Von Reisenden wurde heutzutage allem Anschein nach erwartet, ihre Koffer selbst zu schleppen. Sei dem, wie es wolle, sie konnte ihren Koffer, den Regenschirm und all die Pakete nicht schleppen. Sie würde warten müssen. Zu guter Letzt bekam sie einen Gepäckträger.

»Taxi?«

»Ich denke, ich werde abgeholt.«

Vor dem Bahnhof von Milchester kam ein Taxifahrer, der den Ausgang nicht aus den Augen gelassen hatte, auf sie zu und sprach sie im weichen Dialekt der Gegend an.

»Sind Sie Mrs McGillicuddy? Nach St. Mary Mead?«

Beides treffe zu, sagte Mrs McGillicuddy. Der Gepäckträger wurde angemessen, wenn auch nicht reichlich entlohnt. Das Auto fuhr mit Mrs McGillicuddy, ihrem Koffer und ihren Paketen in die Nacht hinaus. Sie mussten vierzehn Kilometer weit fahren. Mrs McGillicuddy saß kerzengerade im Auto, außerstande, sich zu entspannen. Sie fieberte danach, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Endlich bog das Taxi in die vertraute Dorfstraße ein und hielt vor seinem Ziel; Mrs McGillicuddy stieg aus und ging über den Backsteinweg zum Haus. Als eine ältere Hausangestellte öffnete, deponierte der Fahrer das Gepäck im Flur. Mrs McGillicuddy trat in die Diele, wo ihre Gastgeberin, eine zerbrechliche alte Dame, sie an der offenen Salontür erwartete.

»Elspeth!«

»Jane!«

Sie küssten sich, und ohne Umschweife brach es aus Mrs McGillicuddy heraus:

»O Jane!«, rief sie. »Ich habe gerade einen Mord gesehen!«

Zweites Kapitel

I

Gemäß den ehernen Prinzipien ihrer Mutter und Großmutter – dass nämlich nichts eine wahre Lady schockieren oder überraschen könne – zog Miss Marple nur die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf und sagte:

»Äußerst betrüblich, Elspeth, und ganz sicher äußerst ungewöhnlich. Am besten erzählst du es mir auf der Stelle.«

Genau das hatte Mrs McGillicuddy vor. Sie ließ sich von ihrer Gastgeberin ans Kaminfeuer bringen, setzte sich, zupfte die Handschuhe von den Fingern und stürzte sich in eine lebhafte Erzählung.

Miss Marple war ganz Ohr. Als Mrs McGillicuddy endlich Atem schöpfen musste, sagte sie mit entschlossener Stimme:

»Liebes, ich glaube, es ist das Beste, wenn du erst einmal nach oben gehst, deinen Hut ablegst und dich frisch machst. Dann essen wir zu Abend – wobei wir das alles mit keinem Wort erwähnen wollen. Nach dem Essen erörtern wir dann die Angelegenheit von allen Seiten.«

Mrs McGillicuddy war mit diesem Vorschlag einverstanden. Die beiden Damen aßen zu Abend und unterhielten sich unterdessen über Gott und die Welt, wie sich diese im Dorf St. Mary Mead darboten. Miss Marple ließ sich über das allgemeine Misstrauen dem neuen Organisten gegenüber aus, schilderte den jüngsten Skandal um die Frau des Apothekers und erwähnte kurz die Spannungen zwischen der Lehrerin und dem Village Institute. Dann sprachen sie über Miss Marples und Mrs McGillicuddys Gärten.

»Pfingstrosen sind rätselhafte Pflanzen«, sagte Miss Marple, als sie die Tafel aufhoben. »Entweder gedeihen sie – oder nicht. Aber wenn sie einmal eingewurzelt sind, begleiten sie dich praktisch durchs ganze Leben, und heutzutage gibt es wirklich die herrlichsten Arten.«

Sie machten es sich wieder am Kamin gemütlich, Miss Marple holte zwei alte Waterford-Gläser aus einem Eckschrank und zauberte aus einem anderen Schrank eine Flasche hervor.

»Du bekommst heute Abend keinen Kaffee, Elspeth«, sagte sie. »Du bist überreizt (und wer wäre das nicht?) und liegst sonst die ganze Nacht wach. Ich verordne dir daher ein Glas von meinem Schlüsselblumenwein und später vielleicht noch ein Tässchen Kamillentee.«

Mrs McGillicuddy fügte sich diesen Anordnungen, und Miss Marple schenkte den Wein ein.

»Jane«, sagte Mrs McGillicuddy, nachdem sie anerkennend daran genippt hatte, »du glaubst doch hoffentlich nicht, ich hätte alles bloß geträumt oder es mir eingebildet?«

»Beileibe nicht«, sagte Miss Marple herzlich.

Mrs McGillicuddy seufzte erleichtert auf.

»Der Schaffner hat mir nämlich kein Wort geglaubt«, sagte sie. »Er war sehr höflich, aber trotzdem –«

»Ich fürchte, unter diesen Umständen kann man ihm das nicht verübeln, Elspeth. Es klingt wie – und war ja auch – eine äußerst unwahrscheinliche Geschichte. Und du warst ihm wildfremd. Nein, ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass du alles so gesehen hast, wie du es schilderst. Es ist sehr außergewöhnlich – aber keineswegs unmöglich. Ich erinnere mich an meine eigene Faszination, als mal ein Zug neben meinem langfuhr, und wie lebhaft und nah alles war, was in den ein oder zwei Abteilen vor sich ging. Ich weiß noch, ein kleines Mädchen spielte mit einem Teddybär, und auf einmal bewarf sie damit einen dicken Mann, der in der Ecke saß und schlief, und er schreckte hoch und war ganz empört, und alle anderen Reisenden mussten schmunzeln. Ich sehe das alles heute noch vor mir und hätte hinterher genau beschreiben können, wie jeder Einzelne aussah und was er anhatte.«

Mrs McGillicuddy nickte dankbar.

»Genau so war es.«

»Der Mann kehrte dir den Rücken zu, sagst du. Du hast sein Gesicht also nicht gesehen?«

»Nein.«

»Und die Frau? Kannst du die beschreiben? War sie jung oder alt?«

»Eher jung. Zwischen dreißig und fünfunddreißig, schätze ich. Genauer kann ich es nicht sagen.«

»Hübsch?«

»Auch das weiß ich nicht. Ihr Gesicht war ja ganz verzerrt und –«

Miss Marple unterbrach sie schnell:

»Natürlich, das kann ich mir denken. Was hatte sie an?«

»Sie trug irgendeinen Pelzmantel, einen hellen Pelz. Keinen Hut. Und sie hatte blonde Haare.«

»Und du kannst dich an kein auffälliges Merkmal des Mannes erinnern?«

Mrs McGillicuddy überlegte sorgfältig, bevor sie antwortete.

»Er war groß gewachsen – und dunkel, glaube ich. Er trug einen dicken Wintermantel, sodass ich seine Statur nicht recht beurteilen kann.« Niedergeschlagen fügte sie hinzu: »Eine große Hilfe ist das nicht gerade.«

»Es ist besser als nichts«, sagte Miss Marple. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Und du bist überzeugt davon, dass das Mädchen wirklich – tot war?«

»Ja, da bin ich ganz sicher. Ihre Zunge trat heraus und – ich möchte lieber nicht darüber sprechen …«

»Natürlich nicht, natürlich nicht«, sagte Miss Marple hastig. »Morgen früh sind wir sicher klüger.«

»Morgen früh?«

»Es steht bestimmt in der Zeitung. Nach dem Angriff und der anschließenden Ermordung hatte der Mann eine Leiche am Hals. Was wird er getan haben? Wahrscheinlich hat er den Zug so schnell wie möglich verlassen – ach, hast du zufällig gesehen, ob es ein D-Zug-Wagen mit Seitengang war?«

»Nein, war es nicht.«

»Das deutet auf einen Nahverkehrszug hin. Der wird mit ziemlicher Sicherheit in Brackhampton gehalten haben. Nehmen wir an, der Mann steigt in Brackhampton aus, nachdem er die Leiche auf einen Eckplatz gelehnt und vielleicht noch den Pelzkragen hochgeschlagen hat, um ihr Gesicht zu verdecken. Ja – so könnte es gewesen sein. Trotzdem müsste die Leiche natürlich nach kurzer Zeit entdeckt worden sein – daher bin ich sicher, dass die Nachricht, man habe in einem Zug eine ermordete Frau entdeckt, morgen in der Zeitung stehen wird – wir werden sehen.«

II

Aber in der Morgenzeitung stand nichts.

Nachdem sich Miss Marple und Mrs McGillicuddy davon überzeugt hatten, aßen sie schweigend ihr Frühstück. Beide dachten nach.

Nach dem Frühstück machten sie einen Rundgang durch den Garten. Sonst war das für beide ein fesselnder Zeitvertreib, aber heute waren sie nur mit halbem Herzen bei der Sache. Miss Marple wies zwar auf einige neue und seltene Pflanzen hin, die sie für ihren Steingarten erworben hatte, tat dies aber auf fast zerstreute Weise. Und Mrs McGillicuddy konterte nicht mit einer Liste ihrer eigenen Neuerwerbungen in jüngster Zeit, wie es sonst ihre Art war.

»Der Garten ist nicht mehr, was er einmal war«, sagte Miss Marple, immer noch geistesabwesend. »Dr. Haydock hat mir das Bücken oder Knien ausdrücklich untersagt – und was kann man ohne Bücken oder Knien schon erledigen? Gewiss, ich habe den alten Edwards – aber der ist so rechthaberisch. Und die ganzen Gelegenheitsarbeiter kommen nur auf dumme Gedanken, trinken eine Tasse Tee nach der anderen und rühren keinen Finger – kein Mensch weiß mehr, was echte Arbeit ist.«

»Wem sagst du das?«, sagte Mrs McGillicuddy. »Es ist mir zwar nicht direkt verboten, mich zu bücken, aber ehrlich gesagt, besonders nach dem Essen – und seit ich zugenommen habe« – sie sah an ihren üppigen Proportionen hinab – »bekomme ich davon immer Sodbrennen.«

Beide schwiegen, dann blieb Mrs McGillicuddy stehen und baute sich vor ihrer Freundin auf.

»Nun?«, fragte sie.

Es war nur ein geringfügiges Wörtchen, aber Mrs McGillicuddys Betonung verlieh ihm eine Bedeutung, die Miss Marple genau verstand.

»Ich weiß«, sagte sie.

Die beiden Damen sahen sich an.

»Ich glaube, wir sollten zur Polizeiwache hinuntergehen und Sergeant Cornish verständigen«, sagte Miss Marple. »Er ist intelligent und geduldig, und wir kennen uns sehr gut. Ich glaube, er wird uns anhören und die Information an die zuständigen Stellen weiterleiten.«

Und so unterhielten sich Miss Marple und Mrs McGillicuddy eine gute Dreiviertelstunde später mit einem aufgeweckten und ernsten Mann zwischen dreißig und vierzig, der sich aufmerksam anhörte, was sie zu sagen hatten.

Frank Cornish empfing Miss Marple zuvorkommend und sogar respektvoll. Er rückte den beiden Damen die Stühle zurecht und fragte: »Nun, was können wir für Sie tun, Miss Marple?«

»Ich möchte Sie bitten, sich die Geschichte meiner Freundin Mrs McGillicuddy anzuhören«, sagte Miss Marple.

Und Sergeant Cornish hatte zugehört. Nach dem Ende der Schilderung schwieg er einige Augenblicke.

Dann sagte er:

»Das ist ja eine ungeheuerliche Geschichte.« Während Mrs McGillicuddys Darstellung hatte er sie unauffällig in Augenschein genommen.

Insgesamt war er angenehm überrascht. Eine vernünftige Frau, die einen Vorgang zusammenhängend wiedergeben konnte; soweit er bislang beurteilen konnte, keine Frau, die zur Hysterie neigte oder zu viel Phantasie hatte. Außerdem schien Miss Marple daran zu glauben, dass ihre Freundin die Ereignisse wahrheitsgetreu wiedergab, und er kannte Miss Marple nur zu gut. Jedermann in St. Mary Mead kannte Miss Marple; auf den ersten Blick verhuscht und flatterig, aber in Wirklichkeit mit allen Wassern gewaschen.

Er räusperte sich. »Sie könnten sich natürlich geirrt haben«, sagte er, »ich sage wohlgemerkt nicht, dass dem so war, aber es ist nicht auszuschließen. Die beiden könnten sich einfach nur herumgebalgt haben – es muss nicht Ernst gewesen oder gar tödlich ausgegangen sein.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte Mrs McGillicuddy verbissen.

»Und davon lässt du dich auch nicht abbringen«, dachte Frank Cornish, »selbst wenn es nicht den Anschein hat, so fürchte ich doch, du könntest recht haben.«

Laut sagte er: »Sie haben es den Bahnbeamten gemeldet, und Sie sind zu mir gekommen und haben es mir gemeldet. So gehört es sich, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich dem nachgehen werde.«

Er stockte. Miss Marple nickte sanft und zufrieden. Mrs McGillicuddy war weniger zufrieden, sagte aber nichts. Sergeant Cornish richtete sich an Miss Marple, weniger weil er ihren Rat brauchte, sondern weil er auf ihre Vorschläge gespannt war.

»Angenommen, alles hat sich so zugetragen«, sagte er, »was ist Ihres Erachtens mit der Leiche geschehen?«

»Ich sehe nur zwei Möglichkeiten«, sagte Miss Marple, ohne zu zögern. »Die wahrscheinlichere lautet natürlich, dass die Leiche im Zug zurückgelassen wurde, aber das ist inzwischen fast auszuschließen, denn dann wäre sie bis zum späten Abend gefunden worden, entweder von einem Mitreisenden oder vom Bahnpersonal am Zielbahnhof des Zuges.«

Frank Cornish nickte.

»Ansonsten konnte der Mörder die Leiche nur aus dem Zug auf die Gleise stoßen. Dann müsste sie noch irgendwo unentdeckt an der Strecke liegen – obwohl mir das unwahrscheinlich vorkommt. Aber eine andere Möglichkeit, wie er sie hätte loswerden können, fällt mir nicht ein.«

»Man liest manchmal von Leichen in Schrankkoffern«, sagte Mrs McGillicuddy, »aber heutzutage reist ja niemand mehr mit Schrankkoffern, nur noch mit Handkoffern, und da passt eine Leiche nicht hinein.«

»Ja«, sagte Cornish. »Ich stimme Ihnen beiden zu. Falls es eine Leiche gibt, müsste sie inzwischen gefunden worden sein oder sehr bald entdeckt werden. Ich halte Sie über alle Entwicklungen auf dem Laufenden – obwohl ich annehme, dass Sie davon aus der Zeitung erfahren werden. Natürlich ist nicht völlig auszuschließen, dass die Frau diesen brutalen Angriff überlebt hat. Sie könnte den Zug noch selbständig verlassen haben.«

»Kaum ohne Unterstützung«, sagte Miss Marple. »Und wenn, wäre es aufgefallen. Ein Mann, der eine Frau stützt und sie als krank ausgibt.«

»Stimmt, so etwas fällt auf«, sagte Cornish. »Ebenso, wenn in einem Abteil eine bewusstlose oder kranke Frau gefunden und in ein Krankenhaus gebracht wird; auch das wird aktenkundig. Ich glaube, ich kann Ihnen versichern, dass Sie schon in Kürze davon hören werden.«

Aber der Tag verging und der nächste auch. Am Abend des zweiten Tages erhielt Miss Marple eine Notiz von Sergeant Cornish.

»Hinsichtlich der Angelegenheit, in der Sie mich zu Rate gezogen haben, sind umfangreiche Ermittlungen angestrengt worden, jedoch ohne Erfolg geblieben. Es wurde kein Frauenleichnam gefunden. Kein Krankenhaus hat eine Frau wie die beschriebene behandelt, auch wurde keine Frau unter Schock oder mit unerklärlichen Unpässlichkeiten beobachtet, die in Begleitung eines Mannes einen Bahnhof verlassen hätte. Seien Sie versichert, dass wir nichts unversucht gelassen haben. Ich nehme an, Ihre Freundin ist Zeugin der geschilderten Szene geworden, die jedoch weit harmloser war, als es für sie den Anschein hatte.«

Drittes Kapitel

I

»Weit harmloser? Dummes Zeug!«, sagte Mrs McGillicuddy. »Es war Mord!«

Sie sah Miss Marple trotzig an.

»Nur zu, Jane«, sagte Mrs McGillicuddy. »Sag ruhig, dass das Ganze ein Irrtum war! Sag ruhig, dass ich mir alles nur eingebildet habe! Das denkst du doch jetzt, oder?«

»Jeder kann sich mal irren«, begütigte Miss Marple. »Jeder, Elspeth – auch du. Ich glaube, das sollten wir nicht vergessen. Trotzdem glaube ich immer noch, dass du dich nicht geirrt hast … Du brauchst zwar zum Lesen eine Brille, aber deine Weitsichtigkeit ist hervorragend – und das Gesehene hat dich sehr mitgenommen. Als du hier ankamst, standest du ganz eindeutig unter Schock.«

»Ich werde es niemals vergessen«, sagte Mrs McGillicuddy und schüttelte sich. »Wenn ich doch bloß wüsste, was ich jetzt noch tun kann!«

Miss Marple sagte bedächtig: »Ich glaube nicht, dass du jetzt noch irgendetwas unternehmen kannst.« (Hätte Mrs McGillicuddy auf den Tonfall ihrer Freundin geachtet, wäre ihr vielleicht die leise Betonung des du aufgefallen.) »Du hast gemeldet, was du gesehen hast – dem Zugpersonal und der Polizei. Nein, du kannst nichts mehr tun.«

»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Mrs McGillicuddy, »denn du weißt ja, ich möchte gleich nach Weihnachten nach Ceylon reisen – zu Roderick, und das ist ein Besuch, den ich auf keinen Fall verschieben möchte – ich freue mich schon so lange darauf. Andererseits würde ich ihn natürlich verschieben, wenn es meine Pflicht wäre«, fügte sie gewissenhaft hinzu.

»Das würdest du bestimmt, Elspeth, aber wie gesagt, ich glaube, du hast dein Möglichstes getan.«

»Jetzt ist es Sache der Polizei«, sagte Mrs McGillicuddy. »Und wenn sich die Polizei dumm stellen will –«

Miss Marple schüttelte energisch den Kopf.

»O nein«, sagte sie, »die Polizei stellt sich nicht dumm. Und das macht die Sache gerade so interessant, findest du nicht auch?«

Mrs McGillicuddy sah sie leicht begriffsstutzig an, und Miss Marple sah sich wieder einmal in ihrer Auffassung bestätigt, dass ihre Freundin eine Frau mit strengen Grundsätzen und ohne jede Phantasie war.

»Ich wüsste ja zu gern, was sich wirklich zugetragen hat«, sagte Miss Marple.

»Sie ist ermordet worden.«

»Gewiss, aber wer hat sie ermordet und warum, und was ist mit der Leiche geschehen? Wo ist sie jetzt?«

»Das soll gefälligst die Polizei herausfinden.«

»Ganz recht – und sie haben es nicht herausgefunden. Nicht wahr, das bedeutet doch, dass der Mann umsichtig vorgegangen ist – sehr umsichtig sogar. Weißt du, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie er sie beseitigt hat«, sagte Miss Marple und zog die Stirn in Falten. »Da bringt er in einem Anfall blinder Leidenschaft eine Frau um – es kann nicht vorsätzlich geschehen sein; niemand bringt eine Frau bewusst unter solchen Umständen um, wenige Minuten, bevor der Zug in einen großen Bahnhof einfährt. Nein, sie müssen sich gestritten haben – Eifersucht – etwas in der Art. Er erdrosselt sie – und dann steht er wie gesagt mit einer Leiche da und kommt kurz darauf an einem Bahnhof an. Was konnte er anderes machen als, wie ich schon sagte, die Leiche in eine Ecke lehnen, als schliefe sie, ihr Gesicht verbergen und so schnell wie möglich aussteigen. Ich sehe keine andere Möglichkeit – und doch muss es eine gegeben haben …«

Miss Marple hing ihren Gedanken nach.

Mrs McGillicuddy musste sie zweimal ansprechen, bevor sie reagierte.

»Du wirst langsam taub, Jane.«

»Ein bisschen, kann sein. Die Menschen artikulieren ihre Worte nicht mehr so deutlich wie früher. Aber ich habe dich nicht überhört, sondern nur nicht zugehört, fürchte ich.«

»Ich wollte nur wissen, welche Zugverbindungen es morgen nach London gibt. Wäre dir der Nachmittag recht? Ich möchte zu Margaret, und sie erwartet mich erst zum Tee.«

»Elspeth, würde es dir wohl etwas ausmachen, mit dem Zug um 12.15 zu fahren? Wir könnten früher zu Mittag essen.«

»Natürlich, und –« Aber Miss Marple ließ ihre Freundin nicht zu Wort kommen:

»Und ob es Margaret wohl etwas ausmachen würde, wenn du nicht zum Tee kämest – sondern erst gegen sieben?«

Mrs McGillicuddy sah ihre Freundin neugierig an.

»Was hast du vor, Jane?«

»Ich schlage vor, Elspeth, dass wir gemeinsam nach London reisen und dann in dem Zug, mit dem du neulich hergekommen bist, bis nach Brackhampton fahren. Du kannst dann aus Brackhampton nach London zurückfahren, und ich würde genau wie du neulich hierher zurückkehren. Die Fahrkarten gehen selbstverständlich auf meine Kosten«, betonte sie unmissverständlich.

Mrs McGillicuddy überhörte die finanzielle Seite.

»Um Himmels willen, was erwartest du denn, Jane?«, fragte sie. »Doch nicht etwa noch einen Mord?«

»Natürlich nicht«, sagte Miss Marple schockiert. »Aber ich muss gestehen, ich würde mir unter deiner Führung gern den – das – das richtige Wort ist in diesem Fall gar nicht so einfach – das Terrain des Verbrechens ansehen.«

Und so kam es, dass der 16.50 aus Paddington am Tag darauf mit Miss Marple und Mrs McGillicuddy abfuhr, die sich auf zwei Eckplätzen erster Klasse gegenübersaßen. Paddington war noch voller gewesen als am vergangenen Freitag – bis Weihnachten waren es ja jetzt auch nur noch zwei Tage –, aber im Zug war es vergleichsweise friedlich, zumindest in den hinteren Wagen.

Diesmal holten sie keinen anderen Zug ein und wurden auch ihrerseits nicht eingeholt. Ab und zu sauste ein Zug Richtung London an ihnen vorbei. Zweimal sausten Züge mit hoher Geschwindigkeit in die andere Richtung an ihnen vorbei. Ab und zu sah Mrs McGillicuddy unsicher auf die Uhr.

»Schwer zu sagen, wann – wir waren gerade durch einen Bahnhof gekommen, das weiß ich noch …« Aber sie durchquerten immerzu Bahnhöfe.

»In fünf Minuten müssten wir in Brackhampton ankommen«, sagte Miss Marple.

In der Tür erschien ein Schaffner. Miss Marple sah ihre Freundin fragend an. Mrs McGillicuddy schüttelte den Kopf. Es war ein anderer Schaffner. Er knipste ihre Fahrkarten, ging weiter und schwankte etwas, als sich der Zug in eine langgezogene Kurve legte, wobei er an Geschwindigkeit verlor.

»Wir erreichen anscheinend Brackhampton«, sagte Mrs McGillicuddy.

»Ja, das ist wohl der Stadtrand«, sagte Miss Marple.

Draußen glitten Lichter vorbei, Gebäude, und hin und wieder konnte man einen Blick auf Straßen und Straßenbahnen erhaschen. Sie wurden noch langsamer und fuhren über Weichen.

»Wir sind gleich da«, sagte Mrs McGillicuddy, »und ich finde nicht, dass diese Reise das Geringste genützt hat. Oder ist dir etwas aufgefallen, Jane?«

»Leider nicht«, sagte Miss Marple mit unsicherer Stimme.

»Eine traurige Geldverschwendung«, sagte Mrs McGillicuddy, wenn auch weniger missbilligend, als wenn sie ihre Fahrkarte aus eigener Tasche hätte bezahlen müssen. In diesem Punkt war Miss Marple jedoch unnachgiebig geblieben.

»Nichtsdestoweniger sieht man doch gern mit eigenen Augen, wo etwas geschehen ist«, sagte Miss Marple. »Dieser Zug hat ein paar Minuten Verspätung. War deiner am Freitag pünktlich?«

»Ich glaube, ja. Ich habe nicht weiter darauf geachtet.«

Der Zug fuhr langsam in den belebten Bahnhof von Brackhampton ein. Der Lautsprecher erwachte heiser zum Leben, Türen gingen auf und zu, Menschen stiegen ein und aus und wuselten über den Bahnsteig. Es war ein einziges großes Gewimmel.

»Kein Problem für einen Mörder«, dachte Miss Marple, »hier im Gedränge zu verschwinden, den Bahnhof mitten in diesem Menschenauflauf zu verlassen oder sich sogar ein anderes Abteil zu suchen und mit demselben Zug bis an sein eigentliches Ziel zu fahren. Einfach ein Reisender unter anderen. Aber eine Leiche kann sich nicht in Luft auflösen. Die Leiche muss irgendwo sein.«

Mrs McGillicuddy war ausgestiegen und sprach jetzt vom Bahnsteig aus durchs offene Fenster.

»Pass auf dich auf, Jane«, sagte sie. »Hol dir bloß keine Erkältung. Das Wetter ist in dieser Jahreszeit tückisch, und du bist nicht mehr die Jüngste.«

»Ich weiß«, sagte Miss Marple.

»Wir sollten uns wegen der Geschichte keine grauen Haare wachsen lassen. Wir haben getan, was wir konnten.«

Miss Marple nickte und sagte:

»Bleib nicht in der Kälte stehen, Elspeth. Sonst holst du dir die Erkältung. Trink lieber im Bahnhofsrestaurant einen schönen heißen Tee. Du hast noch Zeit, dein Zug nach London zurück fährt erst in zwölf Minuten.«

»Das ist eine gute Idee. Auf Wiedersehen, Jane.«

»Auf Wiedersehen, Elspeth. Ich wünsche dir ein fröhliches Weihnachtsfest. Hoffentlich ist Margaret wohlauf. Viel Spaß auf Ceylon; grüß den lieben Roderick von mir – falls er sich überhaupt an mich erinnern kann, was ich bezweifeln möchte.«

»Natürlich erinnert er sich an dich – sehr gut sogar. Du musst ihm mal in der Schule geholfen haben – hatte das nicht irgendwie mit Geld zu tun, das aus einem Schließfach verschwunden war? Das hat er jedenfalls nicht vergessen.«

»Ach, das!«, sagte Miss Marple.

Mrs McGillicuddy wandte sich ab, ein Pfiff ertönte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Miss Marple sah zu, wie der stämmige, gedrungene Körper ihrer Freundin in der Ferne verschwand. Elspeth konnte guten Gewissens nach Ceylon reisen – sie hatte getan, was zu tun war, und war aller Verantwortung ledig.

Miss Marple lehnte sich nicht zurück, als der Zug Fahrt aufnahm. Sie blieb aufrecht sitzen und dachte angestrengt nach. Sie mochte beim Sprechen wirr und weitschweifig klingen, aber ihr Verstand arbeitete messerscharf. Sie musste ein Problem lösen, das Problem ihres weiteren Vorgehens; und komischerweise appellierte dieses Problem an ihr Pflichtgefühl wie zuvor an das von Mrs McGillicuddy.

Mrs McGillicuddy hatte gesagt, sie beide hätten getan, was sie konnten. Auf Mrs McGillicuddy mochte das zutreffen, aber bei sich selbst war Miss Marple nicht so sicher.

Manchmal musste man seine besonderen Gaben zum Einsatz bringen … Aber das war vielleicht überheblich … Was konnte sie schließlich noch machen? Die Worte ihrer Freundin fielen ihr wieder ein: Du bist nicht mehr die Jüngste.

Sachlich wie ein General, der einen Feldzug plant, oder wie ein Wirtschaftsprüfer, der die Bücher einer Firma durchgeht, wog Miss Marple Für und Wider ihres weiteren Vorgehens ab. Auf der Habenseite fand sich schließlich Folgendes:

  1. Meine lange Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.

  2. Sir Henry Clithering und sein Patensohn (heute bei Scotland Yard, glaube ich), der bei dem Fall in Little Paddocks so entgegenkommend war.

  3. David, der zweite Sohn meines Neffen Raymond, der meines Wissens für British Railways arbeitet.

  4. Griseldas Sohn Leonard, der in Sachen Landkarten so bewandert ist.

Miss Marple prüfte diese Aktivposten und billigte sie. Sie alle waren nötig, um die Posten der Sollseite auszugleichen – vor allen Dingen ihre körperliche Hinfälligkeit.

»Es ist ja nicht so«, dachte Miss Marple, »als könnte ich nach Lust und Laune umherstreifen, Erkundigungen einziehen und Dingen auf den Grund gehen.«

Ja, Alter und körperliche Schwäche waren ihre größten Hemmschuhe. Für ihr Alter mochte ihre Gesundheit zwar ausgezeichnet sein, trotzdem war sie alt. Und wenn Dr. Haydock ihr schon die Gartenarbeit strikt untersagt hatte, würde er es kaum gutheißen, wenn sie sich vornahm, einen Mörder aufzuspüren. Denn das hatte sie letztlich vor – und genau das war der wunde Punkt: Während ihr die Aufklärung von Mordfällen bisher gewissermaßen in den Schoß gefallen war, würde sie diesmal ganz bewusst die Initiative ergreifen. Und sie war nicht sicher, ob sie das wollte … Sie war alt – alt und müde. Im Moment, am Ende eines anstrengenden Tages war ihr der Gedanke zuwider, überhaupt ein Projekt in Angriff zu nehmen. Sie wollte bloß noch nach Hause fahren, sich mit einem leckeren Abendessen auf dem Tablett vor den Kamin setzen, ins Bett gehen, am Tag darauf im Garten werkeln und hier und da ein wenig herumschnippeln, ohne sich zu überanstrengen …

»Ich bin zu alt für solche Abenteuer«, sagte sich Miss Marple, schaute gedankenverloren aus dem Fenster und betrachtete die geschwungene Linie eines Bahndamms …

Eine Kurve …

Eine schwache Erinnerung ging ihr durch den Kopf … kurz nachdem der Schaffner ihre Fahrkarten geknipst hatte …

Es war möglich. Nur möglich. Aber es erlaubte eine ganz neue Sicht der Dinge …

Miss Marples Wangen röteten sich. Plötzlich fiel alle Müdigkeit von ihr ab.

Gleich morgen früh schreibe ich an David, beschloss sie. Im selben Moment fiel ihr ein weiterer wertvoller Aktivposten ein.

»Natürlich. Meine treue Florence!«

II

Miss Marple machte sich methodisch an die Vorbereitung ihres Feldzuges und stellte die Weihnachtszeit in Rechnung, die definitiv ein Verzögerungsfaktor war.

Sie schrieb ihrem Großneffen David West und kombinierte die weihnachtlichen Glückwünsche mit einer dringenden Bitte um Informationen.

Glücklicherweise wurde sie wie schon in früheren Jahren zum Weihnachtsessen ins Pfarrhaus eingeladen und konnte dort den jungen Leonard, der über die Feiertage seine Eltern besuchte, nach Landkarten ausfragen.

Leonards Leidenschaft waren Karten aller Art. Warum die alte Dame sich nach der Karte einer ganz bestimmten Gegend im Großmaßstab erkundigte, kümmerte ihn nicht weiter. Er ließ sich gern des Langen und Breiten über Landkarten aus und schrieb ihr genau auf, was für ihre Zwecke am besten geeignet sei. Aber das war noch nicht alles. Er stellte fest, dass sich genau diese Karte in seiner Sammlung befand, und lieh sie ihr. Miss Marple versprach, sie sehr sorgfältig zu behandeln und so schnell wie möglich zurückzugeben.

III

»Karten«, sagte Leonards Mutter Griselda, die zwar einen nahezu erwachsenen Sohn hatte, aber immer noch zu jung und blühend für das baufällige alte Pfarrhaus aussah. »Was will sie denn mit Karten? Ich meine, wofür braucht sie die?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der junge Leonard, »ich glaube, das hat sie gar nicht genau gesagt.«

»Da fragt man sich doch …«, meinte Griselda. »Es kommt mir verdächtig vor … In ihrem Alter sollte die gute Seele derlei Dinge langsam lassen.«

Leonard fragte, was für Dinge, und Griselda meinte:

»Ach, ihre Nase überall reinstecken. Warum Karten, frage ich mich.«

Schon bald darauf erhielt Miss Marple einen Brief ihres Großneffen David West. Er schrieb sehr herzlich:

»Liebe Tante Jane,

was führst Du diesmal im Schilde? Hier hast Du die erbetenen Angaben. Nur zwei Züge kommen überhaupt in Frage – der um 16.33 und der um 17.00. Der erste ist ein Bummelzug und hält in Haling Broadway, Barwell Heath, Brackhampton und Market Basing. Der 17.00 ist der Wales-Express nach Cardiff, Newport und Swansea. Der erste könnte unterwegs von dem 16.50 überholt werden, kommt jedoch laut Fahrplan fünf Minuten früher in Brackhampton an. Der zweite überholt den 16.50 kurz vor Brackhampton.

Darf ich hinter Deiner Anfrage einen saftigen Dorfskandal wittern? Warst Du zum Einkaufsbummel in London und hast auf der Rückfahrt gesehen, wie sich die Frau des Bürgermeisters in einem vorbeifahrenden Zug dem Amtsarzt in die Arme warf? Aber warum spielt es dann eine Rolle, welcher Zug es war? Vielleicht ein Wochenende in Porthcawl? Vielen Dank für den Pullover. Genau so einen hatte ich mir gewünscht. Was macht Dein Garten? Liegt momentan im Winterschlaf, könnte ich mir denken.

Liebe Grüße,

David«

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