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Claudia Knöfel

Alexis

Weihnachtsmann in Not

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Alexis

Band 2

Weihnachtsmann in Not

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Text: Claudia Knöfel

Illustrationen: Raimund Schüller, Lohmar

Foto der Autorin: Fotoshop Schallenberg, Niederkassel-Rheidt.

Hintergrund des Covers: Jacquard-Gewebe MUSEE DU TISSU
von Kirkby House, mit freundlicher Genehmigung von
THE ROMO GROUP München.

Alle Rechte vorbehalten!

1. Auflage

© Herbst 2010

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

info@ratio-books.de (bevorzugt)

Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

eISBN 978-3-939829-95-9

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Inhaltsverzeichnis

Einige Begriffe aus dem Weihnachtshimmel zum besseren Verständnis

Die Geschichte von …

… Alexis, jeder Menge Kuhmist, den Freuden und Leiden des Spielens und gaaaanz schweren Jungs

… einem Weihnachtsmann in Not

… Alexis, einem königlichen Dampfschiff, schniefenden Rentieren, Engländern mit eigenartigen Weihnachtsbräuchen und einem verstopften Kamin

… Alexis, einem Tagträumer, Onkel Pösel, fiesen Schutzteufelchen und den Spätfolgen der Säkularisation im Rheinland

… Alexis und den Nuckelflaschen

… Alexis, einer Pandemie, einem heiß ersehnten Teddy, einem Krieger ohne Streitaxt und ‘nem heiseren Nikolaus

Anmerkungen

Einige Begriffe aus dem Weihnachtshimmel zum Verständnis:

Backhimmel:

Besteht aus ganz vielen Backstuben, die aneinander gereiht, die Erde wie ein Äquator umspannen. Seit 1937 unter der Leitung des Krummziebel Josef, ein begnadeter Wiener Zuckerbäcker und Pokerspieler. Wurde aus der Hölle verbannt.

Bescherungspläne:

Riesige Teigplatten aus Lebkuchen, auf denen die Provinzen mit den zuständigen Weihnachtsengeln vermerkt sind.

Fegefeuer:

Nicht nur höllischer Brandherd, sondern auch Kneipe auf halbem Weg zur Hölle. Liegt an der großen Himmelstreppe. Hier zockt der Krummziebel Josef gelegentlich mit einigen Teufeln.

Himmelstreppe:

Treppe zwischen Himmel und Erde, hat abermillionen Stufen und wird ungern gereinigt.

Pfefferminzbonbons:

Dopingmittel für Rentiere

Qualitätsprüfung:

Jede neue Plätzchensorte wird vom Nikolaus höchstpersönlich auf Aussehen und Geschmack geprüft. Ein Grund dafür, warum der ehemalige Bischof von Myra zur Vollschlankheit neigt.

WCCB:

World-Christmas-Center-Bureau

Logistisches Zentrum der WGVHS. Hier werden die Bescherungspläne ausgearbeitet. Centermanagerin ist Liselotte von der Pfalz (1652-1722), die einzige Frau im Weihnachtshimmel, die was zu sagen hat.

WGVHS:

Weihnachtsgeschenkeverteilungshauptstelle

Himmlische Behörde und Logistikzentrum. Von hier aus werden die Weihnachtsgeschenke für alle Welt auf die Schlitten bzw. in die Wolken geladen.

WGVRL:

Weihnachtsgeschenkeverteilungsrichtlinien

Ergänzende Anweisungen zur Weihnachtsverfassungsordnung. Sie regeln die Verteilung der Weihnachtsgeschenke und sind für alle Weihnachtsengel bindend.

WVO:

Weihnachtsverfassungsordnung

Gesetzmäßiger Rahmen. Verstöße dagegen können mit Suspendierung geahndet werden.

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Die Geschichte von Alexis, jeder Menge Kuhmist, den Freuden und Leiden des Spielens und gaaaanz schweren Jungs

Mes amis, Ihre Neugier soll gestillt werden. Ich will Ihnen verraten, was ich erlebte, nachdem man im Jahre 2004 vergessen hatte, mich wieder in den Himmel zu befördern.

Knüpfen wir also just an der Stelle an, an der Sie mich auf einem Südtiroler Berghang in der Sonne sitzend verlassen haben. Wie gesagt, ich war ausgesprochen hungrig. In der Nähe erklang ein mehrstimmiges Glockengeläut. Ich folgerte daraus, wenn hier oben Kühe weideten, dann war bestimmt ein Bergbauernhof in der Nähe. Also machte ich mich auf die Suche, und schon bald hatte ich die friedlich grasende Herde gefunden. Ich erwog kurz, eine Kuh zu melken, unterließ dieses Vorhaben aber in meinem und im Interesse des Rindviehs.

Der alpine Stützpunkt des hiesigen Bergbauern erwies sich als eine etwas größere Holzhütte mit angrenzendem Stall. „Hallo, jemand daheim?“, rief ich. Aber außer dem Knurren meines Magens erhielt ich keine Antwort. Ich ging um das Haus herum und warf einen Blick in den Stall. Doch hier gackerten nur ein paar Hühner, sonst hieß mich niemand willkommen. Ich marschierte wieder zurück und stellte fest, dass die Eingangstür zur Wohnhütte nur angelehnt war. Also praktisch eine Aufforderung zum Eintreten. Die Anzahl der Räume war begrenzt. Neben einer großen Küche und zwei Schlafräumen gab es nur noch die Speisekammer. Halleluja! Endlich konnte ich mir den Bauch vollschlagen. Und welche Wonnen erwarteten mich hier! Geräucherte Schinken, die von der Decke baumelten, eine Kette aus Würsten, ein Fässchen mit frischer Rahmbutter, ein dicker Laib Käse und wunderbares Brot. Die Speisen verströmten einen allzu verlockenden Duft. Das war wahrlich der Himmel auf Erden! Bald saß ich in der Stube und pries die Südtiroler Gastfreundschaft. Köstlich, vor allem der Wein, mit dem ich die Bissen hinunterspülte. Ich wollte mir gerade noch ein Schlückchen aus der bouteille genehmigen, als ich hörte, dass ein Wagen vor der Hütte hielt. Stimmen näherten sich und die Tür ging auf. Eine junge Frau mit Kopftuch und Schürze kam herein, gefolgt von zwei Schäferhunden. Ich stand auf. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Alexis der Große und eigentlich ein Weihnachtsengel, den man vergessen hat, in den Himmel zurückzuschicken. Und Sie sind bestimmt die Bäuerin?“ Die Frau starrte mich an. Ihr Blick wanderte von den Brotkrümeln auf dem Tisch zu der Weinflasche und dann zu mir. Dann wandte sie sich zur Tür und rief laut: „Luuudwig, kummst ‘nauf?“

Jetzt, wo ich Mensch war, konnte ich es so oft und so laut sagen, wie ich wollte, ohne dass mir der Nikolaus die Flügel stutzte: „Merde, merde, merde!“ Das passte hundertprozentig. Denn nachdem die Dame ihren Gatten gerufen hatte, ein stämmiger Herr übrigens, mit dem ich ungern meine Kräfte gemessen hätte, forderte dieser umgehend die Bezahlung des üppigen Mahls, das ich genossen hatte. Ich war nicht gewillt, meinen bescheidenen Bestand an Bargeld herauszurücken, und so beschloss die Familie einstimmig – mittlerweile waren noch zwei Schulbuben und ein greiser Herr ohne Zähne angerückt – dass ich mir mein Essen verdienen sollte.

So kam es, dass ich eine Betätigung verrichten durfte, deren Arbeitsablauf ich nur zu gut kannte: Stallausmisten. Nur, dass es sich hier nicht um himmlische Rentierexkremente handelte, sondern um weitaus intensiver duftenden Kuhmist. Und das unter der scharfen Bewachung des zahnlosen Alten, der auf einer Bank vor dem Kuhstall saß und eine Mistgabel im Anschlag hielt. Da ich nicht die geringste Lust hatte, den schönen Tag in dieser stinkenden Umgebung zu vergeuden, griff ich zu einer List. Ich ließ die Forke fallen und legte in einer dramatischen Geste die Hand auf mein Herz. Dann sank ich röchelnd zu Boden. Der Greis kam in den Stall, besah sich die Lage – und ging zur Stallwand, wo Eimer standen. Alsdann goss er mir einen Kübel eiskalten Wassers ins Gesicht. Das reichte! Ich sprang auf, packte den Greis und hob ihn über die Absperrung in die Futterrinne. Dann gab ich Fersengeld und rannte, von den bellenden Hunden gefolgt, davon. Als ich endlich im Tal angekommen war, sah ich reichlich lädiert aus. Die Kleidung war zerrissen und schmutzig. Überall an meinem Körper fühlte ich Stacheln. Denn die einzige Möglichkeit, die ich gesehen hatte, den geifernden Bestien zu entkommen, war die, in ein Brombeergestrüpp zu hechten. Ich war völlig fertig.

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Soviel sportlichen Ehrgeiz hatte ich nicht mehr entwickelt, seitdem der Graf d‘Anjou mich im Jahre 1640 in flagranti bei seiner Gattin entdeckt hatte. Damals flüchtete ich über den Balkon der Pariser Stadtvilla, der vier Stockwerke über der Rue de Bourbon lag. Ein nervenaufreibendes Unterfangen, wie ich Ihnen versichere. Denn während ich mich zur winterlichen Mittagsstunde völlig bar jeder Kleidung an den Vorsprüngen des Gebäudes entlanghangelte und die Schwindel erregende Aussicht genoss, sann über mir der gekränkte Graf mit einer Muskete ballernd auf Rache. Wie durch ein Wunder erreichte ich den Boden zwar körperlich einigermaßen intakt, aber mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die sich in zwei Fraktionen spaltete: einmal in die, die mich bei meiner Klettertour anfeuerte, und eine andere, die den düpierten Graf lauthals unterstützte. Und, wie gesagt, ich war völlig nackt. Ich erinnere mich, dass ich mir von einem Karren eine überaus schmutzige Decke griff, die ich hastig um mich schlang, bevor ich mich eilenden Schrittes entfernte, verfolgt von rohem Gelächter.

Doch zurück zu meinem heutigen Abenteuer. Mehr tot als lebendig erreichte ich schließlich ein kleines Dorf. Zu meiner Freude bemerkte ich, dass an den Straßen Säcke mit Altkleidern standen. Schnell waren eine passable Jeans und ein Pullover gewählt und dann ging ich in eine kleine Kirche, in der ich meine neuen Kleidungsstücke anprobierte. Sie passten perfekt. Anschließend marschierte ich zur Hauptstraße, wo ich nach Sitte der Tramper den Daumen ausstreckte und so auf einen gütigen Autofahrer hoffte, der mich mitnahm.

Sechs Monate später saß ich im traditionsreichen Spielkasino von Monaco, vor mir lag ein ansehnliches Häuflein Jetons. „Rien ne va plus!“, rief der Croupier. Die Kugel rollte. Dann ein Klackern. „Neuf!“ Mein amerikanischer Tischnachbar atmete zischend aus. Mit zitternden Händen holte er seine Geldbörse aus der Hosentasche und warf dem Croupier mit vorgetäuschter Lässigkeit ein paar Dollarscheine über den Tisch. Viel war es nicht, was er gegen das bunte Plastikgeld eintauschte. Der Mann hatte wirklich eine ausgesprochene Pechsträhne. Ich dagegen hatte Glück. Nein, das war es eigentlich nicht. Es war Können. Ich beherrschte ein bestimmtes System für das Roulette bis zur Perfektion, jedenfalls schien das so. Max, der hinter mir stand, flüsterte mir diskret ins Ohr: „Monsieur le Baron, Sie sollten das Spiel beenden. Die Direktion ist ausgesprochen misstrauisch!“ Das stimmte. Zwei unauffällige Männer in dunklen Anzügen, wahrscheinlich Security-Leute, hatten sich auf die mir gegenüberliegende Seite gestellt und beobachteten die Vorgänge am Tisch. Die Situation wurde langsam brenzlig. Ich beschloss, die „Glückssträhne“ zu unterbrechen, und setzte fünfhundert Euro auf die Dreißig. Der Croupier warf die Kugel in den Kessel. „Rien ne va plus!“ Und dann : „Zero!“ Der Amerikaner neben mir stöhnte, schnappte sich den verbliebenen Jeton und stand auf. Sofort war der Platz wieder besetzt. „Sie sollten noch drei, vier Mal setzen und dann versuchen zu verschwinden. Ich lenke von Ihnen ab!“ Wenn Max das sagte, dann konnte ich mich darauf verlassen, dass es so die beste Lösung war. Auch wenn mir die Entscheidung nicht leicht fiel, ich beschloss, in den nächsten Minuten achtzig Prozent meines Plastikgeldes zu verlieren.

Ich vertraute Max bedingungslos. Er war mein Ratgeber, mein Kammerdiener, Finanzminister und Privatsekretär. Nebenbei war er auch Mathematik-Professor und hatte sich dieses geniale Roulette-System ausgerechnet, mit dem es möglich war, jede Spielbank zu knacken.

Damals, an jenem Frühlingstag in den Südtiroler Alpen, hatte ich ihn kennengelernt. Nachdem ich mich neu eingekleidet hatte, war ich nach Meran getrampt. Zunächst nährte ich noch die Hoffnung, ich würde meine himmlischen compagnons unterwegs treffen. Doch je weiter sich der Tag seinem Ende zuneigte, desto mehr wuchs in mir die Gewissheit, dass ich meine Freunde so schnell nicht wiedersehen würde. Mein Magen war mittlerweile wieder ziemlich leer. Also beschloss ich, das mir verbliebene Startkapital von 1,20 EUR gewinnbringend einzusetzen, organisierte mir in einer Eisdiele drei Pappbecher und eine Kaffeebohne und verschwand zum Training in einen Hinterhof.

Als meine Finger wieder die Geschmeidigkeit früherer Jahrhunderte erreicht hatten, setzte ich mich in die Fußgängerzone, um die Passanten zum „Hütchen-Spiel“ einzuladen. Damit hatte ich bereits zu Richelieus Zeiten neben einigen anderen „Fingerfertigkeiten“ meinen Lebensunterhalt finanziert. Und auch diesmal merkte ich: Die Idioten sterben nicht aus. In kürzester Zeit hatte sich ein ansehnliches Häuflein Münzen vor mir angesammelt. Sie kennen sicher das Spiel: Unter einem der „Hütchen“, also in diesem Fall einem Becher, liegt die Kaffeebohne, der „Bankhalter“ vertauscht sehr rasch die Behältnisse, und der Herausforderer muss raten, unter welchem die Bohne liegt. Das sieht alles sehr einfach und einleuchtend aus, aber es ist ein Trick dabei, den ich natürlich nicht verraten werde, denn der Bankhalter gewinnt zu 99,99%, weshalb das Spiel auch in einigen Ländern verboten ist. Aber wie gesagt, das Interesse der Passanten war groß. Während ich gekonnt mit den Pappbechern jonglierte, beobachtete ich aus den Augenwinkeln einen heruntergekommenen Herrn mittleren Alters, der seinerseits meine Darbietung interessiert verfolgte. Ich war leicht beunruhigt. Was wollte der Typ von mir?

Mittlerweile war es Abend geworden, und so packte ich mein Zeug zusammen. Ich beschloss, mir endlich von meinem Gewinn eine Pizza und eine Flasche Chianti zu gönnen. „Ein Spiel noch?“, hörte ich plötzlich neben mir eine Stimme. Ich blickte auf und erkannte den Mann, der mich seit Stunden beobachtet hatte. Ein Polizist in Zivil? „Okay. Fünfzig Cent ist der Einsatz“, hörte ich mich sagen. Der Mann nickte. „Ich weiß.“ Also packte ich die Becher wieder aus. Um es kurz zu machen: In der nächsten halben Stunde verlor ich meine gesamte Tageseinnahme an den Fremden. Die Pizza entschwand in weiter Ferne. „Was halten Sie von einem guten Abendessen?“, fragte mein Herausforderer. „Scherzkeks!“, schnaubte ich verächtlich. Der Mann grinste. „Sie sind natürlich mein Gast!“

Und so kam es, dass ich im „Palace Merano“ Hühnchen mit Morcheln, frische Austern, eine Trüffelpastete und eine wunderbare Himbeercreme verdrückte. Zwar saßen wir nicht im eleganten Speisesaal, sondern im Mitarbeiterraum, was den Gaumengenuss aber nicht im Geringsten beeinträchtigte. Als ein Kellner, der ein Freund meines Gastgebers zu sein schien, eine Flasche Calvados vor uns hinstellte (vorzüglich übrigens!), erzählte mein Gastgeber seine Geschichte.

Er hieß Max Bauchleitner und kam aus Nürnberg. Schon in der Schule zeichnete sich sein mathematisches Genie ab und so wunderte es niemanden, dass er später Mathematik studierte, promovierte – und schließlich habilitierte. Er hätte das ordentliche und geachtete Leben eines Wissenschaftlers von Bedeutung führen können – er hatte bereits einige Auszeichnungen erhalten – aber er verspürte eine unbestimmte Lust nach Freiheit und Abenteuer. Das Leben, das er führte, erschien ihm trotz seiner beruflichen Anerkennung langweilig. Der Wendepunkt kam eines Tages, als er mit seiner Frau das Spielcasino in Baden-Baden besuchte. Er spielte nicht – er beobachtete nur. Sein Interesse galt dem Roulette. Nach welcher Gesetzmäßigkeit fiel die Kugel? Gab es ein System, mit dem man den Kessel überlisten konnte? Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Und so kam es, dass er von diesem Tag an regelmäßig ins Casino ging, sich Notizen machte und die Szenerie auf das Genaueste beobachtete.

Mit der Zeit entwickelte er ein System, mit dem er beim Roulette todsicher jedes Spiel gewann. Da seine Frau wenig Verständnis für sein Hobby aufbrachte, verließ er schließlich seine Familie und zog durch die Lande. Endlich Freiheit und Abenteuer.

Der Professor und ich verstanden uns auf Anhieb und so war es kein Wunder, dass wir beschlossen, zunächst gemeinsam ein wenig von der Welt zu sehen. Ich erklärte ihm aber, dass für mich ein Leben auf der Straße nicht in Frage kam. Ein wenig Luxus sollte schon sein, schließlich hatte ich mir das nach all den arbeitsreichen Jahrhunderten im Weihnachtshimmel schon verdient. Übrigens hatte ich dem Professor die Wahrheit über mich erzählt, gewann aber den Eindruck, dass er mir nicht so recht glaubte. Ich denke, er stufte mich als entsprungenen Insassen einer Nervenklinik ein: vielleicht ein wenig seltsam, aber sonst okay.

Da Max Bauchleitner bereits mehrere Casinos in Europa um ihren wohlverdienten Gewinn gebracht hatte und in diesen Häusern deshalb gesperrt war, beschlossen wir, dass er mich als mein Kammerdiener begleiten sollte. Natürlich hatte ich neue Papiere bei meinem alten Kumpel Salvatore Rossi für ihn besorgt. Ich nahm den Namen „Eric de Rothschild“ an, den Professor nannte ich schlicht „Max“. Und so trampten wir zunächst nach Lugano, wo wir uns im Spielcasino ein wenig einarbeiteten. Ich saß am Roulettetisch, Max stand hinter mir und gab mir diskrete Anweisungen. Es klappte vorzüglich. Innerhalb eines Abend hatten wir dreißigtausend Fränklis erspielt und mieteten uns in der „Villa Castagnola“ ein, einer recht feudalen Herberge. Endlich konnte ich das Leben in vollen Zügen genießen! Tagsüber faulenzten wir, badeten im Pool, mieteten uns eine Yacht und ließen uns von hübschen Damen massieren. Das war überhaupt ein nicht zu unterschätzender Vorteil des Mensch-Seins, den ich im Himmel schon fast vergessen hatte: Ich konnte wieder unverbindliche, aber dafür durchaus befriedigende Kontakte zur Damenwelt pflegen. Abends erleichterten wir die Spielbank in der Regel um zehn- bis zwanzigtausend Franken. Immer nur kleine Gewinne einstreichen und das auch nicht jeden Abend, sonst würde die Spielleitung auf uns aufmerksam, verriet mir Max. Wir teilten die Gewinne. Das, was von meinem Anteil übrig blieb, spendete ich an Schulen, Kindergärten und Altenheime. Einmal Weihnachtsengel – immer Weihnachtsengel. Max schickte regelmäßig Geld nach Hause, schließlich wartete seine Ex-Frau auf ihren Unterhalt.

Nach drei Wochen hatten wir genug von der Schweiz. Also fuhren wir zunächst in meine Heimatstadt Paris und dann an die französische Riviera. In Monaco quartierten wir uns im „Hotel de Paris“ ein. Nach einem vorzüglichen Abendessen in der Altstadt begaben wir uns ins Casino, wo dann die oben erwähnte Situation eintrat: Wir fühlten uns beobachtet. Während Max rief: „Man hat mich bestohlen! Hilfe, Diebe!“, und eine leichte Panik ausbrach, verschwand ich im Gedränge, allerdings nicht ohne vorher meine Chips an der Kasse in Bargeld umgetauscht zu haben. Zum Glück war die Security nun anderweitig beschäftigt und man ließ mich in Ruhe ziehen. Max kam zwei Stunden später ins Hotel. Gespannt zählten wir unseren Reichtum: fast einhundertfünfzigtausend Euro! Wir teilten redlich und am nächsten Morgen machte ich mich auf, um einen Großteil des Geldes zu spenden. Nur – wir waren in Monaco, dem Staat, der die Super-Hyper-Milliardäre aus aller Welt geradezu magisch anzog. Und den paar eingeborenen Monegassen schien es auch nicht allzu schlecht zu gehen. Wem wollte ich da finanzielle Unterstützung angedeihen lassen? Ich entschloss mich also, das Geld in Frankreich zu verteilen und bestieg zu diesem Zweck den Autobus, der mich ins französische Hinterland bringen sollte.

In einem kleinen Kaff verließ ich den Bus. Ich wollte die Straße überqueren und übersah leider den mit Karacho von links ankommenden Ferrari. Ein Missgeschick mit Folgen. Und dann durchlebte ich auf der staubigen Straße in Saint-André-de-la-Roche ein déjà-vu: Meine Seele schwebte über meinem leblosen Körper. Ich sah den Notarzt inmitten einer Menschenmenge, der sich vergeblich bemühte, mich wieder ins Leben zurückzuholen.