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Für Astrid

DAS TAGEBLATT Neunjähriger Detektiv schnappt Juwelendieb!

Geroldsfingen. Ein mutiger Grundschüler erledigt die Arbeit der Polizei! In den Sommerferien legte der neunjährige Max Bergmann einem Juwelendieb das Handwerk. Der dreiste Einbrecher hatte die Bewohner von Burg Geroldseck tagelang in Angst und Schrecken versetzt – lesen Sie den ganzen Artikel auf Seite 14.

Kapitel 1 Der größte Held der Welt!

»… den ganzen Artikel auf Seite 14.« Herr Brömmer blättert die erste Seite so vorsichtig um, als ob die Zeitung neu wäre. Dabei ist sie schon vier Wochen alt!

Dass Lehrer auch immer übertreiben müssen! Bei dem lahmen Tempo schnappt Max ja locker den nächsten Verbrecher, bevor Herr Brömmer auf Seite 14 angekommen ist. Am liebsten würde er aufspringen, zum Lehrerpult rasen und die Zeitung schnell vorblättern. Denn der lange Artikel ist das Beste überhaupt!

»… Seite 3 …«

Hilfe!

Jetzt streicht Herr Brömmer die Seiten auch noch glatt!

Max rutscht so ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her, als hätte sein Hintern Feuer gefangen. Er schielt zu Laura. Die sitzt neben ihm und guckt gespannt zu Herrn Brömmer. Auch die anderen in der ersten Reihe starren alle zum Lehrerpult. Den Rest der Klasse kann Max nicht sehen, schließlich hat er am Hinterkopf keine Augen. Aber er hat Ohren. Und die hören: nichts. In der 4b ist es so still, dass man eine Maus pupsen hören könnte.

Vor Freude bekommt Max eine Gänsehaut. Genau so hat er sich diesen ersten Schultag vorgestellt: dass Herr Brömmer den Zeitungsartikel über die aufregende Verbrecherjagd mitbringt. Und vorliest. Und dass dann alle in der neuen Klasse Max cool finden und nicht mehr daran denken, dass Ole Schröder ihn vor den Sommerferien einen Opa genannt hat. Bloß weil seine Mama in einem Altersheim arbeitet und Max deswegen mit ihr dort wohnt. Aber nach der Sache mit dem Einbrecher ist er ein bisschen berühmt – und berühmte Leute können wohnen, wo sie wollen!

»… Seite 7 …«

Ach herrje. Hoffentlich schläft Herr Brömmer beim Blättern nicht noch ein! Max unterdrückt ein lautes Seufzen. Dann dreht er sich unauffällig um und wirft einen Blick in die letzte Reihe. Dort hockt Ole Schröder mit seinen Kumpels. Und macht ein Gesicht, als hätte er eben einen ganzen Sack Zitronen gefuttert.

Das kann Max gut verstehen. Bestimmt hat sich Ole über die Sommerferien massenhaft fiese Opa-Wörter ausgedacht und sich schon darauf gefreut, sie an Max auszuprobieren – und dann das: Der Opa ist ein Meisterdetektiv! Und wird auch noch in der Zeitung gelobt!

Dass Ole und seine Kumpels jetzt nicht vor Freude jubeln, ist so klar wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Und genauso klar ist, dass Max sich nicht mehr vor ihnen fürchten muss. Denn Leute, die in der Zeitung gelobt werden, werden nicht fies behandelt. Das haben Max’ Freunde gesagt. Und weil Vera, Horst und Kilian zusammen über zweihundert Jahre alt sind, haben sie mit dem Leben viel Erfahrung – und deswegen garantiert recht!

Max will sich gerade unauffällig nach vorne zurückdrehen, da hebt Ole Schröder den Kopf und guckt ihm genau in die Augen. Zu gerne würde Max ihn jetzt schadenfroh angrinsen. Aber in seinem Kopf hört er die Stimme von Horst, und die Stimme sagt streng: Im Fußball wie im Leben muss man jedem eine zweite Chance geben!

Also holt Max tief Luft und nickt Ole so freundlich zu, wie er nur kann. Doch der guckt, als hätte Max ihm noch eine Zitrone in den Mund gestopft.

Pffff.

Manche Leute wollen aber auch keine zweite Chance haben!

Und weil Max in so einem Fall nichts machen kann, zuckt er bloß mit den Schultern und kehrt der letzten Reihe wieder den Rücken zu.

»Seite 14.« Herr Brömmer hat es geschafft. Er schüttelt die Zeitung zurecht, und dann liest er endlich, endlich los: »Einst hausten auf Burg Geroldseck gefürchtete Ritter, deren Tagewerk aus Rauben und Stehlen bestand. Heute leben dort die rüstigen Bewohner eines Seniorenheims. Doch jüngst kehrte das Verbrechen auf die stolze Burg zurück: Ein dreister Einbrecher schlug gleich mehrfach zu (wir berichteten). Die Kriminalpolizei um Kommissar Moser tappte mit ihren Ermittlungen im Dunkeln. Nur ein neunjähriger Junge verfolgte die richtige Spur und stellte den Verbrecher. ›Was für ein Glück, dass Max mit seiner Mutter zu uns gezogen ist‹, sagte eine Burgbewohnerin zu unserem Reporter, ›sonst müssten wir weiter in Angst und Schrecken leben!‹«

So feierlich, wie Herr Brömmer den Zeitungsartikel vorliest, klingt er noch viel besser, als Max ihn in Erinnerung gehabt hat. Und je länger er zuhört, desto mehr hat er das Gefühl, einer aufregenden Geschichte zu lauschen. Einer, wie sie normalerweise bloß den erfundenen Menschen in Büchern oder Filmen passiert!

Das hat Vera also gemeint, als sie gesagt hat, dass sich Berühmtsein ein bisschen unecht anfühlt. Und wenn sich jemand damit auskennt, dann sie. Denn Vera war nicht einfach nur eine berühmte Schauspielerin – sie war so berühmt, dass ihr Gesicht sogar an Baustellenzäunen klebte!

Das weiß Max von Kilian. Und so beeindruckt, wie Kilian geklungen hat, muss es etwas ganz Besonderes sein, wenn die Leute so verrückt nach dir sind, dass sie dein Gesicht an Baustellenzäune kleben.

Ob sie das mit berühmten Detektiven auch machen?

»Der Einbrecher«, liest Herr Brömmer in Max’ Gedanken rein, »hatte es vor allem auf Schmuck abgesehen. Doch …«

»Eine von den beklauten Omas war meine!«, ruft Laura.

»Oh«, sagt Herr Brömmer und lässt die Zeitung sinken. »Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich! Der ganze Schmuck war weg! Sogar die Sachen, die ich mal kriegen soll!« Laura klingt immer noch sehr empört. »Meine Oma hat sich so erschrocken, dass sie ins Krankenhaus musste. Aber zum Glück ist jetzt alles wieder da!«

Laura lächelt Max an. Und dieses Lächeln macht, dass Max sich wie ein Held fühlt. Ach was! Wie der größte Held der Welt!

Wer braucht da noch einen Baustellenzaun?

»Wo waren wir? … Der Einbrecher … Schmuck …«, murmelt Herr Brömmer und schüttelt erneut die Zeitung zurecht. Dann liest er weiter vor: »Doch Max Bergmann stoppte den dreisten Juwelendieb. Bei seinen heimlichen Ermittlungen wurde er von drei Bewohnern des Seniorenheims unterstützt. Fragt man Vera Hasselberg, Horst Dobberkau und Professor Kilian von Hohenburg, alle drei über siebzig, dann ist

Max der mutigste Junge in ganz Geroldsfingen.«

»Mumienfreund!«

Wie ein Pfeil kommt das gezischte Wort von hinten angesaust und bohrt sich in Max’ Rücken. Max zuckt zusammen. Aber er bleibt stocksteif auf seinem Platz sitzen und starrt cool nach vorne. Er weiß, auch ohne sich umzudrehen, wer den Pfeil abgeschossen hat: Ole Schröder.

»Grufti!«

»Pipibeutelträger!«

Und natürlich müssen die Kumpels von Ole

gleich hinterherzischen.

»Faltensammler!«

»Dinositter!«

Na super. Jetzt werden Ole und seine Kumpels doch noch all die fiesen Opa-Wörter los, die sie sich für Max ausgedacht haben. Und leider sind die anderen aus der Klasse über die Sommerferien nicht taub geworden. Das Kichern wird immer lauter und das Grinsen um Max herum immer breiter. Selbst Laura grinst! Und Herr Brömmer ist so mit Vorlesen beschäftigt, dass er nichts von dem gemeinen Zischen mitkriegt.

»Doofer Angeber!«

»Kackdoofer Lehrerliebling!«

»Genau! Lehrerliebling!«

Wenn Herr Brömmer doch bloß die Zeitung weglegen würde!

Sofort!

Aber Herr Brömmer hört Max’ Gedankenbefehle nicht. Er liest und liest. Und als er endlich mit Vorlesen fertig ist, guckt er fröhlich in die Klasse und sagt: »War das nicht toll von Max?«

Diesmal ist die Stille in der 4b nicht zum Aushalten. Sie ist noch schlimmer als das gemeine Zischen aus der letzten Reihe.

Max’ Wangen pochen und brennen, als wäre er kopfüber in einen Brennnesselhaufen gefallen. Was bedeutet: Sein Gesicht leuchtet mal wieder so knallrot wie eine Tomate. Und genau das dürfen Ole und seine Kumpels auf keinen Fall sehen, denn dann kommen die erst richtig in Fahrt!

Schön ein- und ausatmen. Konzentrieren und die Füße fest auf den Boden. Das ist ein alter Schauspieler-Trick. Das beruhigt.

Vera!

Also atmet Max ein und aus.

Ein und aus.

Und weil das Konzentrieren mit geschlossenen Augen besser geht, macht er seine zu. Jetzt noch die Füße fest auf den Boden … Und ein und aus … Und konzentrieren …

Tatsächlich. Max spürt, wie sein Gesicht langsam kühler wird. Veras Trick funktioniert von Mal zu Mal besser!

»Auch du, Max!«

Erschrocken reißt Max die Augen auf. Vor ihm steht Herr Brömmer und wedelt mit einem Buch herum.

»Schläfst du? Hefte raus, habe ich gesagt. Ich bin gespannt, ob du in Rechtschreibung genauso gut bist wie im Einbrecher-Fangen.« Herr Brömmer zwinkert Max zu.

Jetzt aber schnell!

Bevor Max wieder rot werden kann, holt er sein Deutschheft aus dem Ranzen und schlägt es auf.

»Für das Übungsdiktat habe ich euch einen schönen Text mitgebracht, passend zu Max’ Abenteuer. Seid ihr bereit?« Herr Brömmer schlägt das Buch auf und räuspert sich. »Überschrift: Emil und die Detektive.«

»Streber!«

»Großmaul!«

»Vollhonk!«

Der nächste Pfeilhagel aus der letzten Reihe

prasselt auf Max nieder. Er zieht den Kopf ein

und beugt sich tief über sein Heft. Vera hätte ihm für heute Morgen lieber einen Ritterschild mitgeben sollen! Und keine Schauspieler-Tricks!

Kapitel 2 Eine zweite Chance

Leute, die in der Zeitung gelobt werden, werden nicht fies behandelt.

Wer das behauptet, war nie mit Ole Schröder und seinen Kumpels in einer Klasse!

Max kann gar nicht so viel ein- und ausatmen, wie er eigentlich müsste, um sich auch nur ein klitzekleines bisschen zu beruhigen. Er glüht vor Enttäuschung wie ein Toaster auf Stufe fünf. Bestimmt schießt gleich Rauch aus seiner Nase!

Zum Glück ist dieser elende erste Schultag fast vorbei. Bloß die letzte Stunde muss Max noch hinter sich bringen, dann kann er sich zu Hause abkühlen.

»Und jetzt wollen wir uns mal anschauen, wo ihr eure Sommerferien verbracht habt.« Herr Brömmer geht zum Kartenständer hinüber und entrollt die riesige Weltkarte. »Na, wo seid ihr hingefahren?«

»Nach Italien!«

»An den Bodensee!«

»Nach Frankreich!«

»In den Schwarzwald!«

Alle aus der 4b rufen wild durcheinander. Nur Max sitzt still an seinem Platz und starrt auf die vielen bunten Flecken auf der Weltkarte. Und je länger er starrt, desto mehr verwandelt sich die glühende Enttäuschung in glühende Wut. Da gibt es tausend Millionen Schulen auf der Welt – und in welche 4b gehen Ole und seine Kumpels?!

Richtig.

Von so viel Ungerechtigkeit platzt Max beinahe der Kopf. Er ballt die Fäuste und knirscht so laut mit den Zähnen, dass Laura ihn erstaunt anguckt. Soll sie doch! Die wird schließlich nicht Oma genannt. Die muss sich schließlich nicht in jeder Pause verstecken, damit sie Ole und seinen Kumpels nicht in die Hände fällt.

Max braucht bloß an sein Versteck zu denken, und schon knirschen seine Zähne von alleine wieder los. Wenn das mit Ole so weitergeht, wird er auch noch den Rest vom Schuljahr auf dem Mädchenklo hocken!

Aber das ist nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste ist: Max hätte es wissen müssen. Er hätte wissen müssen, dass dieser erste Schultag viel zu gut anfängt. Und dass das TOTAL VERDÄCHTIG ist und man sich AUF GAR KEINEN FALL zu viel Hoffnung machen darf!

Trotzdem hat Max genau das gemacht. Ganz fest hat er darauf gehofft, dass in der neuen Klasse jetzt alles besser wird. Viel besser als in seiner alten.

Von wegen.

Max guckt zum Lehrerpult. Dort liegt die Zeitung. Schön ordentlich zusammengefaltet liegt sie da, so als ob Herr Brömmer den Artikel nie vorgelesen hätte. Am liebsten würde Max aufspringen, sich den Zeitungsartikel schnappen und ihn zerknüllen und zerfetzen.

Und in der nächsten Pause im Mädchenklo runterspülen!

»So. Schluss für heute.« Herr Brömmer rollt die Weltkarte wieder ein. »Und bevor ihr gleich alle losrennt wie die Verrückten, hier noch mal eine Erinnerung: Morgen findet das Fußball-Testtraining statt. Jeder, der sich für die Schulmannschaft qualifizieren will, muss zeigen, was er kann. Am Schwarzen Brett hängt die Liste, in die tragt ihr euch bitte ein.«

Kaum ist Herr Brömmer mit Reden fertig, da gongt es auch schon – und keiner hört ihm mehr zu. Alle aus der 4b springen auf und stürmen laut schnatternd aus dem Klassenzimmer. Alle, bis auf Max. Der bleibt stocksteif auf seinem Platz sitzen. Aber nicht, weil er sich vor Ole und seinen Kumpels fürchtet. Sondern weil gerade ein kleines Wunder passiert ist.

Fußball. Testtraining. Schulmannschaft.

Für diese drei Worte könnte Max Herrn Brömmer knutschen! Denn wenn Max etwas kann, dann kicken! Und gleich morgen wird er es Ole und seinen Kumpels beweisen – und sich endlich ihren Respekt verdienen!

Als hätte jemand seinen Akku neu aufgeladen, springt Max vom Stuhl und ruft: »Angriff!«

»Wieso redest du mit dir selbst?« Laura streckt ihren Kopf ins Klassenzimmer. »Ziemlich gruselig, wenn du mich fragst. Wir hatten mal einen Nachbarn, der hat dauernd mit sich selbst geredet, und dann musste er ins Krankenhaus, weil er sich für eine Schneegans gehalten hat. Der wär beinahe aus dem dritten Stock gefallen, weil er fliegen wollte!«

Holen Mädchen beim Reden eigentlich auch mal Luft?

»Ich hab ein Notizbuch, in dem sammel ich solche Geschichten. Kann ich später als Reporterin bestimmt gut gebrauchen. Den Artikel über dich fand ich ganz okay, aber ich hätte ihn viel spannender geschrieben.« Und dann klappt Laura ihren Mund so plötzlich zu, wie sie ihn aufgemacht hat. Sie schaut Max an, als ob er jetzt mit Reden dran wäre.

»Äh …«, sagt Max. »Ganz schön krass.«

»Was?«, fragt Laura und schüttelt ungeduldig ihre roten Locken.

»Das mit dem Huhn?«, sagt Max vorsichtig.

»Welches Huhn?« Laura runzelt die Stirn. »Was ist? Kommst du jetzt mit?«

»Wohin denn?«, fragt Max so cool und lässig wie möglich. Laura soll schließlich nicht merken, dass er sich über ihre Frage freut. Denn Mädchen bilden sich schnell was ein und denken dann, dass man sie toll findet. Oder noch schlimmer: dass man in sie verliebt ist.

»Zum Schwarzen Brett, natürlich! Eintragen fürs Testtraining.« Laura rollt mit den Augen. »Oder kannste nicht kicken?«

Was soll Max jetzt antworten? Soll er Laura verraten, dass er fast drei Jahre als Stürmer gespielt hat? Dass er in seiner alten Mannschaft sogar der Torschützenkönig gewesen ist?

Doch so viel, wie Laura redet, erzählt sie das bestimmt herum – und dann erfahren auch Ole und seine Kumpels davon. Und genau die will Max beim Testtraining überraschen!

Deswegen zuckt er mit den Schultern und sagt: »Na ja, schon …«

Das war nicht gelogen! Nur die Wahrheit ein bisschen löchrig ausgedrückt.

»Aha«, sagt Laura. »Dann vielleicht besser nicht.«

Damit dreht sie sich um und marschiert aus dem Klassenzimmer.

Na, die wird sich morgen aber wundern!

Kapitel 3 Frau Blösemanns Stimme

Max ist doch keine Ziege!

Missmutig starrt er auf die fünf Salatblätter, die drei Karottenstückchen und die neun Maiskörner. Wenn es nach ihm ginge, würde er überhaupt kein Grünzeugs essen. Sondern nur die leckeren Fleischbällchen, die Schwarzwurscht-Karle gerade fürs Abendessen in den Rittersaal bringt.

Wie herrlich die duften! Max saugt die Fleischbällchenluft ein, bis seine Lungen beinahe platzen. Warum wollen Mütter bloß immer, dass man zuerst ein paar Vitamine isst? Und warum können Vitamine nicht schmecken wie Fischstäbchen oder Fleischbällchen oder Pommes?

Schnell checkt Max die Lage im Rittersaal.

Nur mampfende Omas und Opas.

Keine Mama weit und breit.

Bestimmt ist sie schon drüben im Schwesternbüro und bereitet sich auf die Nachtschicht vor. Was bedeutet: Sie kommt heute Abend nicht mehr in den Rittersaal.

Max könnte jetzt ganz leicht mogeln und das Ziegenfutter am Salatbuffet stehen lassen.

Aber halt! Er muss morgen fit sein! Und dafür braucht sein Körper eine Menge Vitamine. Das sagt Horst bei jedem Essen. Und Fakt ist: Horst kennt sich mit Fitsein supergut aus, denn er war früher mal ein Fußballtrainer in der Ersten Bundesliga. Sogar Deutscher Meister ist er mit seiner Mannschaft geworden!

Max seufzt. Dann packt er noch eine Tomatenscheibe und einen Paprikastreifen auf seinen Teller.

»Hau dir ordentlich Soße drauf.« Schwarzwurscht-Karle zwinkert Max zu und deutet auf die Krüge mit den Salatsoßen. »Damit rutscht das trockene Zeugs leichter runter!«

Schwarzwurscht-Karle ist nicht nur der beste Koch der Welt, sondern auch der netteste!

Max greift sich einen der großen Holzlöffel und ertränkt das Grünzeugs in weißer Salatsoße. Hoppla! Fast hätte er gekleckert. Doch geistesgegenwärtig schleckt er den Stiel vom Holzlöffel ab, bevor die Salatsoße auf den Boden tropfen kann.

»REGEL NUMMER 33!«, donnert da eine Stimme los. »Keine Soßenlöffel ablecken!«

Max wirbelt herum – und der Soßensee auf seinem Teller schwappt gefährlich hin und her.

»Vorsicht! Oder willst du mich auch noch vollsauen?!«

Vor Max steht die Oberschwester Cordula. Und wer jetzt denkt, dass Schwestern immer freundlich und hilfsbereit sind – tja. Der irrt sich gewaltig!

Die Oberschwester Cordula ist ungefähr so freundlich und hilfsbereit wie ein gereizter Drache. Nur dass sie keinen Schatz bewacht, sondern die Omas und Opas von Burg Geroldseck. Die sollen nämlich alle hundert Jahre alt werden! Und damit sie niemand dabei stört, hat die Oberschwester Cordula jede Menge Regeln erfunden. So viele, dass Max mindestens drei Leben braucht, um sich alle zu merken!

»Den Löffel ablecken gehört sich nicht! Das ist allerstrengstens verboten!« Und schon reißt die Oberschwester Cordula Max den Holzlöffel aus der Hand. Wie feiner Regen sprühen die weißen Soßentröpfchen durch die Luft.

Und landen auf dem Boden.

»Da hast du’s! Was für eine Sauerei! Schau genau hin! Darauf könnte jemand ausrutschen! Und sich einen Oberschenkelhalsbruch holen! Jawohl! Einen Oberschenkelhalsbruch!« Die Oberschwester Cordula funkelt Max an.

»Es gibt hier keine Ausnahmen! Auch nicht für dich, Freundchen!

Verstanden?«

Zum Glück ist das nicht der erste Föhn, den Max von der Oberschwester Cordula verpasst kriegt. Mittlerweile hat er schon ein bisschen Übung im Drachenbändigen. Rasch senkt er den Kopf und starrt auf das ertränkte Grünzeugs. Gereizten Drachen darf man nicht in die Augen gucken!

»Ob du das verstanden hast?!«

»Ja«, sagt Max zerknirscht zu dem ertränkten Grünzeugs. Dann huscht er schnell zwischen den Tischen Nr. 5 und Nr. 6 hindurch zum Tisch Nr. 7. Dort ist Max vor dem gereizten Drachen sicher. Denn am Tisch Nr. 7 sitzen Vera, Horst und Kilian – und vor denen hat selbst die Oberschwester Cordula Angst!

Weil die drei sich von nichts und niemandem etwas gefallen lassen.

Weil die drei die Wilde Sieben sind.

Falsch. Die drei plus Max!

Denn seit der Sache mit dem Einbrecher gehört Max voll und ganz zur Wilden Sieben dazu. Und darauf ist er verdammt stolz.

Von wegen Mumienfreund! Ole Schröder hat ja keine Ahnung!

Okay, Vera, Horst und Kilian sind alt und schrumpelig – aber doch bloß von außen! Innen drin sind sie die coolsten und besten Freunde, die man sich wünschen kann!

»Wollt ihr, dass ich verhungere, oder was?! Euer Schneckentempo hält man ja im Kopf nicht aus!« Kilian sitzt an seinem Platz und fuchtelt aufgebracht mit Messer und Gabel herum.

Oh, oh!

Obwohl Rennen im Rittersaal allerstrengstens verboten ist, rast Max die letzten Meter zu seinem Stuhl. Wenn Kilian Hunger hat, muss man sich beeilen! Sonst kriegt er furchtbar schlechte Laune. Und so grimmig, wie er den Fleischbällchenberg auf seinem Teller anstarrt, ist es gleich so weit.

»Wo bleibt denn Vera? Zuspätkommen sieht ihr gar nicht ähnlich …« Horst stellt gleichzeitig mit Max seinen Teller auf Tisch Nr. 7 ab und guckt sich suchend im Rittersaal um.

»Also, ich warte nicht mehr! Guten Appetit euch beiden.« Kaum hat Kilian zu Ende gesprochen, schaufelt er sich eine riesige Portion Fleischbällchen in den Mund.

Der hat’s gut! Der hat keine Mama, die ihn zwingt, Ziegenfutter zu essen. Und schon gar kein Testtraining, für das er fit sein muss.

Seufzend spießt Max den Paprikastreifen auf seine Gabel.

»Das nächste Mal solltest du lieber von der roten Paprika nehmen. Die hat viel mehr Vitamin C als deine grüne da!« Horst strahlt Max an, dann beißt er krachend von einer Karotte ab.

Dass er nicht aussieht wie ein Kaninchen! Wo er doch ständig Grünzeugs futtert! Aber Horst sieht aus wie ein Boxer, der jeden Tag einen halben Ochsen verschlingt.

Max guckt zu Kilian. Der futtert NIE Grünzeugs und sieht aus wie eine Bohnenstange.

Das soll einer verstehen!

»Und, Max?«, fragt Horst und schnappt sich die nächste Karotte. »Wie war dein erster Schultag?«

Max zuckt zusammen. Das Thema hat ihm gerade noch gefehlt! Am liebsten würde er diesen elenden ersten Schultag auf der Stelle vergessen.

»War ganz okay …«, murmelt er und schiebt mit der Gabel die neun Maiskörner durch die Salatsoße.

»Wieso nur ganz okay? Hast du deiner neuen Klasse nicht erzählt, dass wir den Einbrecher geschnappt haben?« Kilian ist am Boden seines Fleischbällchenbergs angekommen und überhaupt nicht mehr schlecht gelaunt. »Dieser Ole Schröder hat doch sicher Bauklötze gestaunt!«

Als sie Oles Namen hören, knirschen Max’ Zähne wieder los. Schnell gibt er ihnen die Tomatenscheibe zum Zermalmen. Und dann eins von den Salatblättern.

»Hallo? Jemand zu Hause?« Kilians Gabel wedelt vor Max’ Gesicht herum. »Oder muss man dir heute jedes Wort aus der Nase ziehen?«

Okay, okay. Dann wird Max eben von dem Riesenreinfall erzählen. Er schluckt das Salatblatt runter und holt tief Luft. »Herr Brömmer hat den Zeitungsartikel vorgelesen. Und jetzt halten mich alle für einen Streber und Angeber.«

»Wie bitte?!« Kilian verschluckt sich fast an seinem vorletzten Fleischbällchen. »Diese Holzköpfe!«

»Oje.« Horst lässt seine angeknabberte Karotte sinken. »Das klingt schwer nach Eigentor … Aber nicht aufgeben, Max! Die Saison hat grade erst angefangen!«

Horst hat leicht reden! Der muss ja auch nicht jeden Tag mit Ole und seinen Kumpels in eine Klasse gehen! Und sich in den Pausen auf dem Mädchenklo verstecken!

Wenn das mit dem Testtraining morgen nicht klappt …

Max will gar nicht dran denken!

»Kopf hoch«, murmelt Horst und klopft Max tröstend auf die Schulter.

»Ach, Kopf hoch, Kopf hoch! Ich weiß genau, wie Max sich fühlt.« Grimmig sticht Kilian mit seiner Gabel in die Luft. »Isidor Schmidtke! Das war mein Ole Schröder! Wenn ich nur an diesen Isidor und seine Saubande denke! Alle Knöpfe von meiner guten Sonntagshose haben sie mir abgeschnitten! Und mich dann in einen Papierkorb gestopft!«

Max kann es nicht fassen. Ausgerechnet Kilian ist in seiner Klasse auch fies behandelt worden? Der baumlange Kilian, der als superschlauer Professor viele Studenten klüger gemacht hat? Der alles über Bienen und Skorpione und Vogelspinnen weiß? Der alle Dschungel dieser Welt kennt und manchmal eine echte Piratenpistole mit sich herumträgt?

Dieser Kilian wurde in einen Papierkorb gestopft?!

Das muss Max erst mal verdauen. Er kann sich Kilian überhaupt nicht als Schuljungen vorstellen. So streng, wie er oft ist, hätte Max sein Taschengeld darauf verwettet, dass er schon als Professor auf die Welt gekommen ist!

»Hier. Damit du groß und stark wirst und Ole eines Tages … äh … zur Vernunft bringen kannst. Mit Worten, versteht sich!« Umständlich legt Kilian sein letztes Fleischbällchen auf Max’ Teller.

Jetzt bleibt Max aber wirklich die Spucke weg. Und auch Horst vergisst vor lauter Schock, von seiner Karotte abzubeißen. Dass Kilian freiwillig was von seinem Essen abgibt, ist noch nie passiert!

Doch bevor Max sich für das Fleischbällchen bedanken kann, hört er Schritte hinter sich.

»Vera. Na endlich! Du glaubst gar nicht, was Max eben …« Erschrocken klappt Kilian den Mund zu.

»Um Himmels willen, Vera!« Horst springt von seinem Stuhl. »Bist du überfallen worden?«

Auch Max fährt der Schreck bis in den kleinen Zeh. So hat er Vera noch nie gesehen! So grau und müde. Mit wirren Haaren und unordentlichen Kleidern, als ob sie gerade erst aufgestanden wäre. Ihre grünen Augen strahlen und funkeln nicht wie sonst, sie blicken stumpf vor sich hin. Wie Glasscherben, die das Meer abgeschliffen hat.

Nicht einmal Lippenstift trägt Vera! Und ohne den geht sie sonst nie aus ihrer Wohnung!

Max schluckt. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.

Langsam lässt sich Vera auf ihren Stuhl sinken. Mit zitternder Hand greift sie nach Max’ Glas und trinkt seine Saftschorle in einem Zug aus.

»Mensch, Vera, was ist denn passiert? Du siehst ja furchtbar aus!«

Normalerweise hätte Vera Kilian für so einen Satz sofort angefaucht. Aber heute flüstert sie nur: »Ich habe letzte Nacht kein Auge zugemacht …«

»Wieso nicht?«, flüstert Max zurück. Von seinem eigenen Flüstern bekommt er eine Gänsehaut.

»Ich habe …« Vera holt tief Luft. Rasch blickt sie sich um. Dann rutscht sie mit ihrem Stuhl ganz nah an Tisch Nr. 7 heran und hält sich ihren Schal vor den Mund.

Hat sie etwa Angst, dass jemand von ihren Lippen lesen könnte?

Max wagt kaum zu atmen.

»Ich habe letzte Nacht die Stimme einer Toten gehört«, flüstert Vera hinter ihrem Schal.

Mit ihren Worten scheint ein Eishauch durch den Rittersaal zu wehen. Max kann richtig spüren, wie die Luft ein paar Grad kälter wird. Schaudernd umklammert er sein Besteck.

Doch Kilian lacht erleichtert auf. »Und ich dachte schon, es wäre was Schlimmes passiert. Dabei hast du bloß schlecht geträumt!«

»Ich war hellwach«, flüstert Vera. »Die ganze Nacht.«

»Und wen hast du gehört?«, flüstert Horst.

»Frau Blösemann.« Veras Stimme ist nicht mehr als ein Wispern. Und dieses Wispern macht den Namen zum gruseligsten Namen, den Max je gehört hat.

»Frau Blösemann?« Horst lehnt sich überrascht zurück. »Aber die ist doch tot!«

Jetzt blitzen Veras stumpfe Glasscherben-Augen auf. Wütend schnauzt sie Horst an: »Sag ich doch!«

»Das ist kompletter Unsinn!«, poltert Kilian los.

»Ist es nicht!«, faucht Vera.

»Ist es doch!«

»Nein!«

»Doch!«

Bevor sich die zwei weiter streiten können, platzt es aus Max heraus: »Wer ist denn diese tote Frau Blösemann?«

»Das war meine Nachbarin.« Vera streichelt Max über die Wange. Und obwohl Max es nicht so gern hat, wenn sie sich wie eine Oma benimmt, hält er dieses Mal still. Weil er weiß, dass es Vera beruhigt.

»Frau Blösemann war sehr alt. Sie ist im Schlaf gestorben«, erklärt Horst. »Als du mit deiner Mama hierhergezogen bist, war sie schon ein paar Wochen tot.«

»Und jetzt ist sie wieder da.« Vera presst die Lippen aufeinander.

Max fröstelt.

»Blödsinn!« Kilian haut mit der Faust auf den Tisch und funkelt Vera an. »Glaubst du etwa an Geister?«

Vera senkt den Blick und antwortet nicht.

»Max, gibt es Geister?«, fragt Kilian streng.

Max kratzt sich am Kopf. Was soll er denn jetzt sagen? Aber Kilians strenger Blick lässt bloß eine Antwort zu.

»Nein«, sagt Max folgsam. »Nur kleine Kinder glauben an Geister.«

»Sehr kleine Kinder.« Kilian nickt zufrieden. »Oder hast du schon mal einen Geist gesehen, Horst?«

»Hmm …«, macht Horst und wiegt den Kopf hin und her. »Meine tote Tante Gusta ist mir mal im Traum erschienen und hat mir gesagt, welchen Stürmer ich beim nächsten Spiel einwechseln soll. Der würde das entscheidende Tor schießen.«

»Und? Hat er?«, fragt Max aufgeregt.

»Nö.« Horst zuckt mit den Schultern. »Aber die Gusta hat auch zu Lebzeiten schon keine Ahnung vom Fußball gehabt.«

»Heiliger Bimbam!«, stöhnt Kilian und verzieht das Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hätte.

»Seid ihr taub?! Bei mir war es kein Traum!« Vera schnaubt wütend. »Ich habe wirklich Frau Blösemann gehört! Ihre Stimme kam aus der Wand!«

Max guckt auf die Wände vom Rittersaal. Auf die dicken grauen Mauersteine. Was die wohl schon alles gesehen und gehört haben, so alt, wie die sind? Vielleicht haben sie ja die Stimmen der Toten aufgesaugt? Oder die Toten sind in sie hineingefahren?

»Wie meinst du das?«, fragt Horst. »Sie kam aus der Wand?«

»Genau wie ich es sage. Vor dem Einschlafen habe ich noch gelesen, und da habe ich auf einmal Frau Blösemanns Stimme gehört. Sie kam direkt aus der Wand.«

»Und was hat sie gesagt?« Max’ Stimme ist zu einem Wispern zusammengeschrumpft, das fast so gruselig klingt wie das von Vera.

»Na, jetzt bin ich aber mal gespannt …«, brummelt Kilian und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Sie hat die ganze Zeit nur ein Wort gesagt.« Vera schüttelt sich. Dann flüstert sie: »Engelhart … Engelhart …«

Kapitel 4 Die Geisteroma

Schon Viertel nach zehn.

Jetzt aber schleunigst Licht aus!

Doch obwohl Max bloß seinen Zeigefinger ein kleines bisschen krümmen müsste, schafft er es nicht, die Lampe auf seinem Nachttisch auszuknipsen. Was, wenn diese tote Frau Blösemann auch Veras Freunde besucht? Oder wenn noch mehr tote Omas und Opas auf Burg Geroldseck herumspuken?! Vielleicht schweben sie ja als grüner Rauch in die Zimmer und kriechen den Schlafenden in die Nase, und die laufen dann wie Roboter durch die Gegend und stellen verbotene Sachen an. So wie in dem Gruselfilm, den Max nicht zu Ende gucken durfte!

Und jetzt ist Max der Dumme. Weil seine Mama wegen den gruseligen Szenen so ein Theater gemacht hat, weiß er nicht, wie die Leute in dem Film die Geister besiegt haben. Denn dass die Gruselfilme immer gut ausgehen – das hat Max längst kapiert!

Leider wollte seine Mama das überhaupt nicht kapieren. Und leider lässt sich auch mit den anderen Erwachsenen nicht vernünftig über Geister reden! Die einen sagen, dass es welche gibt (Vera), die anderen, dass nur sehr kleine Kinder und Schauspieler an so einen ausgemachten Blödsinn glauben (Kilian), und manche haben sich noch nicht entschieden (Horst). Wie soll man da wissen, was man glauben soll?