Cover

Über dieses Buch:

Man wird doch wohl noch träumen dürfen! Das tut Frau Hasemann ausgiebig: von einem wunderbaren Familienurlaub mit ihrem Mann, ihrer Tochter Julia und deren Freund. Zwei Wochen Provence – das wird herrlich! Frau Hasemann sieht sich durch Lavendelfelder spazieren, malerische Märkte erkunden und ihre Lieben mit Picknicks am Strand verwöhnen. Womit sie ganz sicher nicht gerechnet hat: dass es schon bei der Frage, wie man von Hamburg nach Fréjus kommt, erste Spannungen gibt. Dass diese in der Villa Rosalie immer weiter zunehmen. Und dass dann auch noch ein Überraschungsgast auftaucht, der Frau Hasemann unsanft an ihre wilde Vergangenheit erinnert …

Über die Autorin:

Silke Schütze, geboren 1961, lebt in Hamburg. Nach ihrem Studium der Philologie arbeitete sie unter anderem als Pressesprecherin, Chefredakteurin und Produzentin. Silke Schütze hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht und hält Schreiben für die zweitschönste Sache der Welt. 2008 wurde sie vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.

Silke Schütze veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romanbiographie »Die Sängerin von Berlin« (auch bekannt unter dem Titel »Henny Walden – Memoiren einer vergessenen Soubrette«) sowie – für alle Leser mit feinem Humor – die Familie-Hasemann-Abenteuer »Frau Hasemann feiert ein Fest«, »Herr Hasemann auf Wolke 7« und »Frau Hasemann findet das Glück«, die es auch in gesammelter Form gibt: »Eine Familie zum Verlieben«

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Originalausgabe Januar 2015

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München, unter Verwendung einer Illustration von Veer.com/Qjun.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-725-0

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Silke Schütze

Die Hasemanns auf großer Fahrt

Roman

dotbooks.

KAPITEL 1
Julia Hasemann lässt eine Bombe platzen

Ausgerechnet an einem Sonntag ließ Julia Hasemann die Bombe platzen.

Sie saß neben ihrem Freund Emerald im lichtdurchfluteten Esszimmer ihrer Eltern. Julias Mutter hatte bereits die Dessertschüssel abgeräumt und brachte gerade ein Tablett mit gefüllten Espressotassen aus der Küche. Sie strahlte über das ganze Gesicht, denn Josefine Hasemann war glücklich. Was für ein schöner Sonntag: Julia war zu Hause! Es fiel Frau Hasemann immer noch ein wenig schwer, dass ihre Tochter mittlerweile in einer Hamburger WG lebte. Und sie nahm es zugegebenermaßen nicht richtig ernst: eine WG! Das war ja nur ein Zimmer in einer Wohnung, die man sich mit anderen jungen Leuten teilte. Etwas völlig Provisorisches! Ein Zuhause, da war sich Frau Hasemann absolut sicher, das hieß zusammenleben mit mindestens einem anderen Menschen, den man von Herzen liebte. Den eigenen Mann beispielsweise, die eigene Frau oder das eigene Kind. Zwar liebt Julia ihren Freund sicherlich – aber: Wie junge Menschen eben lieben, dachte Frau Hasemann und schob dem attraktiven, dunkelhäutigen Tänzer die Zuckerschale hin. Das konnte morgen schon wieder vorbei sein, und dann würden Emmi, wie Emerald gerufen wurde, oder Julia kurzerhand ausziehen aus der WG. Keiner von beiden würde davon sprechen, dass sie ihr »Zuhause« verließen. Sie würden eben einfach ausziehen – aus einem Zimmer und einem Lebensabschnitt, der wichtig gewesen war, aber kein Fundament für etwas Größeres. Und dann würde der nächste Student, die nächste Lebenskünstlerin in der WG auftauchen und einen makrobiotischen Joghurt in den geteilten Kühlschrank stellen und sich im zusammen genutzten Badezimmer einen Platz für das eigene Duschgel erkämpfen. Nein, ein Zuhause, das hieß ein gemeinsames Schlafzimmer, das bedeutete gemeinsame Wäsche in der gemeinsamen Waschmaschine und gemeinsame Erinnerungen, die an all dem hingen, was man gemeinsam erlebt oder angeschafft hatte. Ein Ort, an dem man nicht nur Zeit verbrachte, sondern zu dem man zurückkehren konnte.

Frau Hasemann sah zu ihrem Mann hinüber und lächelte noch breiter. Gerd erwiderte ihren Blick und lächelte zurück. Ob er ihre Gedanken lesen konnte? Wohl kaum. Frau Hasemann hatte im Lauf der Jahre gelernt, dass ihr Gemahl die Zeitung, komplizierte Gebrauchsanweisungen und sogar Gedichte lesen konnte, aber das Innenleben seiner Frau erfasst er doch eher intuitiv als konkret. Nein, Herr Hasemann lächelte einfach, weil er diesen Tag genauso genoss wie sie.

Es war aber auch alles zum Freuen: Das Essen war wunderbar gewesen, der Braten zart, das Gemüse knackig. Man hatte endlich wieder einmal Zeit gehabt, in Ruhe gemeinsam zu essen und zu erzählen. Emmi hatte sich gerade erfolgreich von einer Oberschenkelzerrung erholt und berichtet, wie froh er sei, jetzt wieder voll einsatzfähig zu sein. Innerlich schüttelte Frau Hasemann den Kopf. Im Fall von Emmi bedeutete »voll einsatzfähig«, dass er in einem abenteuerlichen Kostüm im Musical König der Löwen über die Bühne wirbelte. Das war sicher vieles … aber es fiel ihr doch schwer, dies als einen ernstzunehmenden Beruf zu akzeptieren. Julia dagegen sprach von der Idee, vielleicht ein eigenes kleines Modeatelier aufzumachen. Allerdings hatte Frau Hasemann auch das kleine Wörtchen »vielleicht« bemerkt, das dafür sorgte, dass sie dem Thema – anders als vor kurzem am Telefon – keine größere Aufmerksamkeit mehr widmete. Das Kind hatte Träume, die sollte man ihm lassen. Stattdessen hatte Frau Hasemann ihre selbstgezüchteten Tomaten präsentiert, bevor Gerd alle mit einer kleinen Geschichte aus dem Kollegenkreis amüsierte. Die dickliche Vertriebsleiterin Monika Wernerowski hatte nämlich alle damit überrascht, dass sie knallfall kündigte, um mit einem amerikanischen Gospelchor auf Europatournee zu gehen.

»Das ist nicht dein Ernst!« Frau Hasemann schüttelte erstaunt den Kopf.

»Sie hat uns ein Video vorgespielt, das war schon irre«, lachte Herr Hasemann und spürte dabei in sich ein erstaunlich warmes Verständnis für die verborgenen Lebensträume der Vertriebsleiterin, die ihm immer langweilig vorgekommen war. »Da stand die Wernerowski mit 50 anderen Wuchtbrummen im lila Gewand und schmetterte Gospels. Das klang gar nicht mal so schlecht.« Herr Hasemann summte wie zur Bestätigung ein paar Takte von Oh, Happy Day. Emmi nickte, schnippte schnalzend mit den Fingern und sang leise eine zweite Stimme.

»Die Wernerowski?«, fragte Frau Hasemann noch einmal nach.

»Ach, Mama, nun sei nicht so.« Julia sah ihren Vater nachdenklich an. »Als ich damals am Girl’s Day bei dir in der Firma war, hat Frau Wernerowski mir den Apfel geschenkt, den sie dabeihatte. Wusstest du, dass sie täglich einen Apfel isst?«

Gerd Hasemann schüttelte den Kopf.

Julia fuhr fort: »Ich fand sie echt witzig. Sie sagte nämlich: Ein Apfel am Tag, und der Arzt fährt nach Prag.« Nachdem sich das Gelächter am Tisch gelegt hatte, sagte sie: »Ich find’s jedenfalls toll, wie sie ihr Leben umkrempelt. Ein echtes Vorbild.«

In der diesen Worten folgenden Stille erkannte Herr Hasemann, dass er oft viel weniger von seinen Mitmenschen wusste, als er dachte. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Julia überhaupt wusste, wer die Wernerowski war, geschweige Grund dafür hatte, sie witzig zu finden. Hatte er die Kollegin in all den Jahren jemals einen Apfel essen sehen? Er erinnerte sich an diverse Weihnachtsfeiern, bei denen sie am selben Tisch saßen, könnte aber nicht einmal beschwören, ob die Vertriebskollegin – so wie er jedes Jahr – die Ente genommen hatte. Liebevoll sah Gerd Hasemann zu seiner Tochter hinüber. Er mochte es sehr, wenn sie ihn durch eine Bemerkung wie diese zum Nachdenken brachte.

Frau Hasemann hörte dagegen in Julias Worten einen nicht ausgesprochenen Vorwurf. Nicht, dass Frau Hasemann jemals daran gedacht hätte, ihr Leben umzukrempeln und mit einer Elefantenherde in lila Zirkuszelten auf die Bühnen dieser Welt zu trampeln und dabei zu singen. Aber diese Worte von Julia – »ein echtes Vorbild« –, das war etwas, das jede Mutter dieser Welt eigentlich gerne aus dem Mund ihrer Tochter hören und sich damit gemeint fühlen wollte. Selbstkritisch dachte Frau Hasemann darüber nach, in was sie für ihre Tochter wohl ein echtes Vorbild sein könnte. Sie organisierte den Haushalt perfekt, sie kochte gut – wenn man Gerds Urteil glauben wollte, sogar sehr gut, aber ihr Mann war natürlich nicht objektiv. Sie war seit über 20 Jahren erfolgreich verheiratet, arbeitete ehrenamtlich bei den Landfrauen und half zu Stoßzeiten in der Friedhofsgärtnerei aus. Konnte man darauf als Tochter stolz sein?

Frau Hasemann gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Licht unter den Scheffel stellten. Sie wusste sehr wohl, welche Bedeutung man ihr in der Familie und im Dorf beimaß. Hatte Julia letztlich nicht ausdrücklich sie am Telefon verlangt, weil, wie sie sich ausdrückte, »Papa doch sowieso nicht weiß, wovon ich rede«? Und tatsächlich hätte Gerd Hasemann wohl kaum anderthalb Stunden am Telefon mit Julia verbracht, um sich ihre Zukunftspläne als Designerin anzuhören.

Dennoch, die Worte »ein echtes Vorbild« hinterließen bei Frau Hasemann einen bitteren Nachgeschmack. Ausgerechnet die Wernerowski! Und Gerd schien das Geschunkel auch noch großartig zu finden. Sie warf einen kritischen Blick hinüber zu ihrem Mann. Der hatte die Wernerowski augenscheinlich längst vergessen und schenkte sich zur Feier des Tages ein kleines Gläschen Altländer Apfelbrand ein. Als er den Blick seiner Frau auf sich spürte, zwinkerte er ihr schelmisch zu: »Das räumt den Magen so schön auf.«

***

Herr Hasemann setzte das Glas an seine Lippen und kippte es in einem Schwung. Als er die angenehme Schärfe des Alkohols in seiner Kehle spürte, strahlte er über das ganze Gesicht und blickte zufrieden von einem zum anderen. Sonntag war immer ein Familientag gewesen. Seitdem Julia nach Hamburg gezogen war, vermisste Gerd Hasemann dieses Familiengefühl manchmal. Natürlich würde er das nie laut sagen, und selbstverständlich war es immer »Hasenpieps«, wie Gerd Hasemann seine Frau Josefine zärtlich nannte, die zu solchen Essen einlud. Aber wenn dann ein Auto aus Hamburg am Sonntagmittag vor dem Gartentor parkte, freute sich Gerd genauso wie seine Frau. Sie wussten nie, mit welchem Wagen Julia und Emmi kommen würden. Die beiden fanden den Besitz eines Autos in der Großstadt unnötig: Julia erledigte fast alle Wege mit dem Fahrrad, Emmi war ein offensiver Verteidiger des öffentlichen Nahverkehrs, und beide verfügten über ein den Eltern Hasemann unbekanntes, weitverzweigtes Freundesnetz, das offensichtlich nichts Schöneres kannte, als ihnen für die knapp zweistündige Fahrt nach Kiekeby ihre Autos zu überlassen. Diesmal war es ein knallroter Smart, der Gerd Hasemann unwillkürlich an eine große Boje erinnerte; es hätte ihn nicht verwundert, wenn Emmi das kleine Auto am Gartenzaun vertäut hätte. »Der ist von Micha«, wurde er kurz informiert. »Fährt sich wie ein Autoscooter. Muss ich nicht jeden Tag haben … aber so für zwischendurch ist er super.«

Innerlich schüttelte Gerd Hasemann den Kopf, denn diese Abneigung der jungen Generation, sich für feste Lebensformen zu entscheiden, erschien ihm doch mitunter ein wenig pubertär. Irgendwann gab es doch im Leben eines Mannes den Zeitpunkt, an dem er sich entschied, wie er seine Zukunft verbringen wollte. Gerd Hasemann hatte sich mit Ende 20 für Hasenpieps, ein Haus in Kiekeby, einen Beruf als Bauingenieur und einen Opel entschieden, derzeit einen Vectra. Mit allem war er bisher optimal gefahren.

Aber vielleicht war er gerade ein bisschen ungerecht? Gerd Hasemann musterte Emmi verstohlen. Der blendend aussehende junge Mann hatte sich offenbar auch entschieden, nämlich für seine Tochter Julia. Das konnte für einen jungen Tänzer, ständig umgeben von bildhübschen Kolleginnen und Sängerinnen, nicht einfach sein. Wenn er, Gerd Hasemann, statt der Wernerowskis dieser Welt solche Zauberwesen hinter der Bühne um sich hätte …

Schuldbewusst sah er zu seiner Frau hinüber, die gerade mit Emmi scherzte. Natürlich würden ihn solche Verlockungen nicht vom Weg abbringen. Ihn doch nicht! Und Emmi sicher auch nicht. Der war wirklich ein toller junger Mann, dachte Gerd. Sein offenes Wesen und sein verschmitzter Charme hatten nicht nur Julia, sondern auch deren Mutter im Sturm erobert. Und ihn selbst, das wusste Gerd Hasemann, auch.

So weit, so gut, aber wie würde es weitergehen? Emmi war schon 25, und Tänzer hatten doch ein schnelles Verfallsdatum. War die gerade auskurierte Verletzung ein Warnschuss gewesen? Herr Hasemann konnte sich nicht vorstellen, dass Emmi mit über 40 noch über eine Bühne hopsen wollte, gezwängt in ein enges Trikot mit Leopardenfellmuster. Und wenn doch? Es gab ja jede Menge alter Männer, die nicht aufhören konnten. Die Zeitungen und Online-Portale waren voll mit peinlichen alten Sängern, Politikern und Unternehmern. Gefärbte Koteletten, operierte Tränensäcke, offensichtliche Toupets … Gerd Hasemann kniff die Augen kritisch zusammen, als ob Emmi vor ihm spontan vergreisen würde. Ein Seitenblick auf seine Tochter beruhigte ihn jedoch wieder. Sein kleines Mädchen! Beide waren noch jung genug, um sich auszuprobieren. Und – und das beruhigte Herrn Hasemann unendlich –: Julia war so praktisch! Eine gute, vernünftige Tochter. Eine, die komplikationsfrei durch die Schule und ihre Schneiderlehre gesegelt war. Obwohl sein Hasenpieps stets mit besorgt gerunzelter Stirn die Schrecken von Julchens Pubertät in der Erinnerung heraufbeschwor, konnte sich Gerd Hasemann an nicht allzu viel Ärger mit seiner Tochter erinnern. Zugeben, er hätte Julia lieber in einer hübschen kleinen Änderungsschneiderei am Marktplatz von Kiekeby als in der Kostümabteilung beim Musical-Theater in Hamburg gesehen. Aber er wollte da nicht päpstlicher als der Papst sein. Und dass Julia einen dunkelhäutigen Tänzer als vermutlich künftigen Schwiegersohn angeschleppt hatte, da war Gerd Hasemann farbenblind. Emmis Hautfarbe störte ihn, den eingefleischten Werder-Bremen-Fan, wesentlich weniger als dessen ebenso unverbrüchliche wie unverständliche Loyalität zum Hamburger Sportverein. Andererseits, wer dieser Gurkentruppe derart beständig anhing, war ein treuer Charakter …

Was machst du dir Gedanken, rief Gerd Hasemann sich zur Ordnung. Julia würde in jedem Fall ihren Weg gehen, da war sich Herr Hasemann sicher. Einen eigenen Kopf hatte sie ja immer schon gehabt.

Als wollte sie dies unter Beweis stellen, räusperte sich Julia … und ließ mit fünf kleinen, harmlosen Worten eine Bombe platzen.

»Wir fahren übrigens nach Südfrankreich!«

Nach dieser Eröffnung herrschte einen Moment Stille. Dann folgte ein ohrenbetäubender Krach, denn Frau Hasemann hatte das Tablett mit den Espressotassen fallen gelassen.

KAPITEL 2
Herr Hasemann hat einen Plan

Alle sprangen auf. Plötzlich herrschte hektische Betriebsamkeit in dem vormals so friedlichen Esszimmer. Während Emmi Scherben aus der Kaffeebrühe zog und Julia ein Aufwischtuch aus der Küche holte, sahen Herr und Frau Hasemann einander an – und erkannten in den Gesichtszügen des anderen ihre eigenen Gedanken.

Herr Hasemann interpretierte Hasenpieps’ trauriges Lächeln zutreffend so: »Das hatten wir beide doch schon so lange vor.«

Frau Hasemann las in Gerds skeptischem Blick: »Wieso machen Julia und Emmi einfach das, was wir nicht geschafft haben?«

Herr und Frau Hasemann planten schon seit geraumer Zeit, zur Lavendelernte in die Provence zu fahren. Aber in diesem Frühjahr hatte es wieder nicht geklappt. In Gerds Firma war die EDV umgestellt worden. »Ein absoluter Alptraum«, wie alle Kollegen schon Monate vorher prophezeiten. Und Frau Hasemann hatte die Arbeitsintensität völlig unterschätzt, die das Projekt Unser Dorf soll schöner werden erforderte, das sie bei den Landfrauen betreute. Immerhin hatte sie den Slogan »Pieps, Pieps – Kiekeby« entwickelt, der darauf hinwies, dass im Ortsgebiet einige der sehr seltenen Zwergsumpfhühner brüteten.

Wir konnten uns eben nicht freimachen, hatte Herr Hasemann zu den aufgegebenen Urlaubsplänen gesagt. Aber stimmte das wirklich? Zwei Wochen hätten die anderen doch auch so weitermachen können, überlegte Frau Hasemann jetzt, während sie beobachtete, wie Julia die traurigen Überreste dessen, was einmal ihr Espresso-Service gewesen war, in eine Mülltüte warf. Andererseits, sagte sie sich, hätte ich Gerd nicht allein lassen können. Und auf den kann man in der Firma einfach nicht verzichten.

Gerd Hasemann dagegen erinnerte sich angesichts der kaputten Espressotassen auf einmal an die geruhsamen Pausen, die sie im Betrieb hatten einschieben können – denn die EDV-Umstellung war im Endeffekt viel reibungsloser über die Bühne gegangen als erwartet. Aber in vorauseilender Pflichterfüllung hatte er damals darauf bestanden, seinen Urlaub erst einmal zu verschieben. Völlig vergeblich hatte er seine Arbeitskraft und auch sein Recht auf Erholung dem Büro zur Verfügung gestellt. Und jetzt würden Julia und Emmi durch die Lavendelhaine schlendern. Etwas, das er sich selbst fest vorgenommen hatte, mit Hasenpieps an seiner Hand.

Allerdings: »Die Lavendelernte ist doch längst vorbei«, platzte Gerd Hasemann zur allgemeinen und seiner eigenen Überraschung laut heraus.

Alle starrten ihn an.

Emmi verschloss die Mülltüte und erwiderte gelassen: »Wir fahren ja nicht zur Lavendelernte, sondern zu Raketes Geburtstag.«

***

»Rakete?«

Während Gerd Hasemanns Gesicht ein einziges Fragezeichen zu sein schien, löste der Name in Frau Hasemann Erinnerungen aus. Sie nahm Julia, die eben die letzten Tropfen aufgewischt hatte, das Putztuch ab und wischte überflüssigerweise noch einmal den bereits sauberen Boden. Dabei arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren, die jedes NSA-Datenspeicherarchiv vor Neid erblassen lassen würden.

»Rakete? War das nicht …?«

Julia Hasemann verdrehte die Augen. »Ja, Mama, du hast recht.« Sie wandte sich an Emmi. »Ich habe dir gesagt, die Frau hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.«

Verdutzt blinzelte Frau Hasemann ihre Tochter an. War etwa sie mit »die Frau« gemeint? Und wieso wurde nun schon zum zweiten Mal von Elefanten gesprochen? Frau Hasemann strich unauffällig über die kleine Rolle, die über ihrer Feiertagshose zu spüren war, und lobte sich dafür, dass sie statt einer Torte heute nur die große Obstschale als Dessert auf den Tisch gestellt hatte. Aber dieser Ton ihrer Tochter! Diese Frau? Elefant? Da konnte Julia ruhig 22 Jahre alt sein – Frau Hasemann würde sich keine Frechheiten bieten lassen. Mit blitzenden Augen konterte sie: »Ja, diese Frau erinnert sich tatsächlich an Rakete.« Ächzend ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen, während sie den feuchten, fleckigen Lappen festhielt, als würde sich dieser unerwartet in ein Rettungsboot verwandeln, das sie sicher durch die mit einem Mal stürmischen Wogen ihres Familienglücks bringen würde.

Emmi holte nach einem Blick des Einverständnisses mit Gerd Hasemann vier weitere kleine Gläser aus der Vitrine, während Julia die Plastiktüte schnell in die Küche brachte und dort in die Mülltonne stopfte. Alle setzten sich wieder, und Emmi schob jedem ein Glas Obstbrand zu.

Frau Hasemann trank das scharfe Getränk in kleinen Schlucken und sagte dazu in kleinen Abständen und mit unheilschwangerer Betonung. »Rakete … Rakete … ach, was hätte ich dafür gegeben, nie wieder an diesen Namen denken zu müssen.«

Julia stöhnte enerviert auf.

Emmi versuchte, indifferent in eine nicht näher definierbare Ferne zu schauen.

Frau Hasemann nickte Gerd zu, der ratlos von Julia zu ihrer Mutter sah und sich wunderte, woher plötzlich die Anspannung in die friedliche Sonntagsstimmung geflogen war. Aber seine Frau klärte ihn auf.

»Gerd, weißt du denn nicht mehr? Rakete ist der junge Mann, der Julia damals in Henstedt-Ulzburg zu seiner Poolparty eingeladen hatte. Unglaublich!« Frau Hasemann sah Emmi an, als würde er eine Mitschuld an den damaligen Vorkommnissen tragen. »Das Kind war damals gerade mal 14 Jahre alt.«

mütterlich