Geleitwort

Professor Hans Heimann (1922–2006) ist eine bis heute prägende Persönlichkeit nicht nur für die Tübinger Psychiatrie, sondern auch für die Psychiatrie einschließlich ihrer angrenzenden Fachgebiete im deutschsprachigen aber auch im europäischen Raum. Diese internationale Wirkung ist bei Prof. Hans Heimann schon biographisch angelegt. Er wurde in Biel im Kanton Bern im Grenzgebiet zwischen deutsch und französisch sprechender Schweiz geboren, hat in Genf und Bern Medizin studiert, seine psychiatrische Weiterbildung in Bern erhalten. Es folgten längere Studienaufenthalte in Paris und in den USA. Nach seiner Rückkehr habilitierte er sich 1953 und wurde in Bern Oberarzt. 1964 wechselte er an die psychiatrische Universitätsklinik in Lausanne und wurde 1974 als Nachfolger Walter Schultes nach Tübingen berufen. Hans Heimann war sowohl Mitglied als auch Vorsitzender mehrerer Fachgesellschaften: der AMP (heutige AMDP), AGNP, DGPN (heutige DGPPN) und insbesondere Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft europäischer Psychiater (AEP), der er von 1989 bis 1990 auch als Präsident vorstand.

Das wissenschaftliche Arbeiten von Hans Heimann war aber nicht nur international, sondern auch in hohem Maße interdisziplinär. Seine 300 Publikationen reichen von forschungsmethodischen Arbeiten mit psychopathologischen, psychophysiologischen, psychopharmakologischen Ansätzen zu Analysen des mimischen Gesichtsausdrucks, von Hypnose- und Schlafaspekten des Zeitempfindens bis hin zu historischen Arbeiten über wichtige Persönlichkeiten in der Psychiatriegeschichte. Diese Publikationen waren ebenso wie seine Vorträge auch immer durchdrungen von philosophischen, ethischen und religiösen Aspekten. Mit seiner integrativen Persönlichkeit ist es Hans Heimann gelungen, wissenschaftliches Arbeiten unter Einbindung angrenzender Fächer mit großer Effizienz zu befördern und auch entscheidend an der Einwerbung substanzieller, langfristig angelegter Drittmittel-Förderungsprojekte durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie zu psychiatrischen Fragestellungen mitzuwirken. Nicht zuletzt belegt die Funktion von Hans Heimann als Herausgeber der Zeitschrift Confinia Psychiatrica. Grenzgebiete der Psychiatrie von 1958–1980 diese große Bedeutung von Hans Heimann für eine interdisziplinär ausgerichtete Psychiatrie. Hans Heimann war allerdings nicht nur ein hervorragender klinischer Psychiater und Wissenschaftler, sondern, so berichten Kollegen, die ihn persönlich gekannt haben, ein feinsinniger, warmherziger und geselliger Mensch, der die angenehmen Seiten des Lebens, insbesondere literarische, musische und sportliche Interessen durchaus zu schätzen wusste. Dies hat er im Vorwort seines Buches »Anhedonie – Verlust der Lebensfreude« genau auf den Punkt gebracht, in dem er daran erinnert, »dass wir als Psychiater und Therapeuten hinsichtlich unserer eigenen Verwirklichung von Lebensfreude angesprochen sind, wenn wir unseren Patienten Strategien zu ihrer Wiedergewinnung vermitteln wollen.«

Hans Heimann hat somit auf klinischer, psychiatrischer, wissenschaftlicher, aber auch menschlicher Ebene Maßstäbe gesetzt, die wir hier in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen auch in Zukunft beibehalten und weiterentwickeln wollen.

Tübingen, im Herbst 2012

Prof. Dr. Andreas Fallgatter

Einführung

Matthias Bormuth und Frank Schneider

Hans Heimann (1922–2006) ist vielen vor allem als experimenteller Psychopathologe bekannt, der in den Tübinger Jahren versuchte, die subjektive Evidenz einer empirischen Kontrolle zu unterwerfen. In den 1970er Jahren war die heutige Dominanz der biologischen Psychiatrie noch nicht absehbar. Die verstehende Psychopathologie, die anthropologische Psychiatrie und die Psychoanalyse waren stärker etablierte Methoden, ohne dass man immer ausreichend über ihre erkenntnistheoretischen Grenzen nachdachte. In jener Zeit wies Heimann mit der ihm eigenen polemischen Note im Heidelberger Vortrag Psychopathologie als Erfahrungswissenschaft – gleichsam in der Höhle des Löwen – auf die unaufhebbare Vagheit der hermeneutischen Zugänge hin. Angestachelt von der damals nicht selten spürbaren Ignoranz gegenüber den empirischen Methoden zitierte er Kants deutlichen Vorbehalt gegen die »Metaphysik«, d. h. ein Denken, das beansprucht, jenseits der sinnlichen Erfahrung sichere Evidenzen geben zu können:

»Ist sie Wissenschaft, wie kommt es, daß sie sich nicht, wie andere Wissenschaften, in allgemeinen und dauernden Beifall setzen kann? Ist sie keine, wie geht es zu, daß sie doch unter dem Schein einer Wissenschaft unaufhörlich großtut, und den menschlichen Verstand mit niemals erlöschenden, aber nie erfüllten Hoffnungen hinhält?« (Heimann 1982 u. Kant 1783/1983, S. 113)

Diese Absage an die unkritisch verwandte Methode des Verstehens war begleitet von der Apologie des erklärenden Zugangs zum Menschen, den Heimann gegenüber dem pauschalen Vorbehalt des kruden Positivismus rechtfertigte. Zugleich belegen seine weiteren Arbeiten zur psychiatrischen Anthropologie und Methodenlehre eindrücklich, dass er nicht ein methodischer Parteigänger war, sondern um der vielfältigen Einsicht in den kranken Menschen willen ebenso später die Vertreter der biologischen Psychiatrie auf die Notwendigkeit eines mehrdimensionalen Ansatzes hinwies. So resümiert der Nachruf, den Gerhard Buchkremer und Heimanns langjähriger Oberarzt Henner Giedke nach dessen Tod im Juli 2006 für den Nervenarzt verfassten:

»Bedeutend war er als Forscher und Ideengeber, beeindruckend und wirkungsvoll als akademischer Lehrer und Therapeut, der sowohl die geistes- als auch die naturwissenschaftlichen Seiten unseres Faches in nachhaltiger und sehr persönlicher Weise zu Geltung zu bringen vermochte.« (Buchkremer und Giedke 2007, S. 594)

An diese zweifache Perspektive seines Wirkens erinnerte auch das kurze Portrait Psychiatrie als Passion. Hans Heimann zum Gedächtnis (Bormuth 2007), indem es exemplarische Details seiner anthropologischen und methodischen Gedanken hervorhob, die zugleich die Person Heimanns ahnen lassen.

Sein menschenkundliches und erkenntnistheoretisches Bewusstsein entzündete sich zuerst in der Auseinandersetzung mit Karl Jaspers’ Einfluss auf die Psychopathologie. Der frühen Berner Studie zollte der berühmte Psychiater und Philosoph Karl Jaspers großes Lob, wie sein bislang unveröffentlichtes Schreiben an den damaligen Direktor der Waldau, Jakob Klaesi, eindrücklich dokumentiert:

»Ungemein erfreut hat mich die Arbeit Ihres 1. Assistenzarztes Dr. Heimann. Er hat in der Tat meine Psychopathologie in dem für mich entscheidenden Sinn aufgefasst als methodologische Bewusstheit. Dass nur auf diesem Weg wirklich unbefangene Erkenntnis und allseitige Offenheit für Erkenntnismöglichkeiten gewonnen wird, ist mir heute noch gewisser als in meiner Jugend. Bitte sagen Sie Herrn Dr. Heimann meinen herzlichen Dank.«

Diese Bitte wurde nicht erfüllt. Heimann selbst hat erst in den letzten Lebensjahren, als die Edition der psychiatrischen Korrespondenzen von Jaspers einsetzte, von dieser hohen Wertschätzung beglückt erfahren. Wir haben uns entschlossen, mit diesem gedanklich und sprachlich großartigen Text die ausgewählten Schriften zur psychiatrischen Anthropologie zu eröffnen.

Unabhängig von Jaspers’ Methodenlehre beeinflusste Heimann vor allem die klinische Perspektive, die Wilhelm Griesinger, von Tübingen ausgehend, für die akademische Psychiatrie entfaltete. Dessen mehrdimensionale Sicht, die für eine pragmatisch orientierte Psychiatrie bis heute leitend ist, erhielt in Heimann einen ihrer gedanklich profiliertesten Vertreter. Seine Tübinger Antrittsvorlesung Psychiatrie und Menschlichkeit von 1974 wie die Überlegungen, die 1990 unter dem Titel Die Psychiatrie im Konzert der medizinischen Fächer seine Amtszeit abschlossen, bezeugen dies beredt. Immer wieder hat er auch dazwischen auf Griesinger hingewiesen (Heimann 1984, 1988). Auch die späte Vorlesung Die Medizin im Nationalsozialismus ist von methodischen Einsichten geprägt, die die grundsätzliche Bedeutung der persönlichen Einstellung für jeden methodischen Zugang unterstreichen. Zuletzt ist es seine Arbeit Psychiatrie und Anthropologie in Geschichte und Gegenwart, die in ihren an Kants Menschenkunde anknüpfenden Einsichten den philosophischen Spannungsbogen der psychiatrischen Anthropologie schließt, der in der Jaspers-Studie seinen Anfang nahm. Alle diese Arbeiten sammelt diese Ausgabe unter der Maßgabe, dass es sich um klassische Einsichten handelt, d.h. Erkenntnisse, die noch heute trotz gewandelter Rahmenbedingungen neu zum eigenen Nach- und Weiterdenken herausfordern können.

Blickt man von Griesinger her auf die spätere, eigentliche Tübinger Tradition der verstehenden Psychiatrie, wie sie im 20. Jahrhundert Robert Gaupp und sein damaliger Oberarzt Ernst Kretschmer pointierten, so stand Heimann bei aller Sympathie in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihren Vertretern. Angesichts von deren zweifelsohne originellen, aber teilweise unkritisch erhobenen Ansprüchen der hermeneutischen Evidenz versuchte Heimann schon in den Jahrzehnten vor dem Tübinger Ordinariat, das geisteswissenschaftliche und psychodynamische Denken in der Psychiatrie auf andere Weise nutzbar zu machen. Zum einen fungierte er seit 1958 über fast 25 Jahre als Herausgeber der Zeitschrift Confinia Psychiatrica. Grenzgebiete der Psychiatrie. Zum anderen verfasste er selbst verschiedene kasuistische und programmatische Pathografien, die sich dem Verhältnis von Kunst und Krankheit im Werk religiöser Gründergestalten und Propheten widmeten. Sie stehen in der Nachfolge von Jaspers’ weithin beachteter Studie Strindberg und van Gogh (Jaspers 1926) und deren Vorläufer, William James’ glanzvoller Gifford-Lecture Die Vielfalt der religiösen Erfahrung (James 1902/1997). Seine pathografischen Untersuchungen unterliegen weder einem psychologischen oder biologischen Reduktionismus noch immunisiert Heimann die spekulativen Aussagen der psychisch auffälligen Gläubigen grundsätzlich gegen empirische Kritik.

Es ist anzustreben, diese umfangreichen Arbeiten, deren Argumentationen auch von seinem profunden theologischen und philosophischen Wissen zeugen, einmal gesammelt abzudrucken. Sie gehören auf eigene und besondere Weise zu Heimanns psychiatrischer Anthropologie. Gleich den hier abgedruckten, mehr programmatischen Studien zur klinischen Menschenkunde bezeugen sie, wie sehr Heimann die geisteswissenschaftliche Methode beherrschte und seinen Einsichten mit körnigen Begriffen Ausdruck zu verleihen wusste. Entscheidend war für ihn die skeptische Überzeugung, dass der methodische Zweifel an den subjektiven Einsichten begründet ist und ein notwendiges Korrektiv alles Verstehens in der Psychiatrie darstellt. Kants eindrückliches Bekenntnis zum nötigen Selbstzweifel und die Warnung, diese sich und anderen zu verdecken, wäre ganz im Sinne von Heimann:

»Was kann den Einsichten nachteiliger sein, als [...] Zweifel, die wir wider unsere eigene [sic!] Behauptungen fühlen, zu verhehlen, oder Beweisgründen, die uns selbst nicht genugtun, einen Anstrich von Evidenz zu geben?« (Kant 1787/1983, S. 638)

Den skeptischen Zweifel, der scheinbare Gewissheiten auflöst, schätzte Heimann auch als Leser klassischer Literatur. Dies kann man besonders aus seiner tiefen Affinität zu dem Berner Landsmann und Schriftsteller Robert Walser schließen. Dabei muss der subversive Blick, mit dem Walser – über lange Jahre in der psychiatrischen Klinik Waldau in stationärer Behandlung – auch die psychiatrische Institution betrachtete, ihm aus der Sicht des Tübinger Ordinariats teilweise ungemütlich erschienen sein. Heimanns unerfüllt gebliebener Wunsch, das Symposium 2002 mit einem Vortrag über Robert Walser abzuschließen, ließ sich zehn Jahre später verwirklichen. So bietet der Schweizer Walser-Kenner Bernhard Echte mit Robert Walsers Blick auf psychiatrische Probleme zum Abschluss des Bandes eine dichterische Menschenkunde. Dieser germanistische Kontrapunkt ist aus psychiatrischer Perspektive nicht unumstritten. Auf dem Tübinger Gedächtnissymposiums »Psychiatrische Anthropologie – Zur Aktualität von Hans Heimann« stieß Echtes abschließendes Resümee auch auf deutlichen Widerspruch, der es als teilweise verkürzte und ungerechte Kritik an den gegenwärtigen Standards psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung bezeichnete. Wir als Herausgeber stimmen diesen Vorbehalten zu und begrüßen zugleich, dass ein solcher Diskurs möglich war. Hans Heimann markierte zu seiner Zeit, wie Matthias Bormuth im Beitrag Freiheit und Fragment andeutet, die antipsychiatrische Kritik an der inhumanen klinischen Praxis scharf als vereinfachende Sicht, die der Komplexität der Realität nicht gerecht werde. Zugleich läuft die Untersuchung seiner in diesem Band abgedruckten Aufsätze auf die für Heimann zentrale Überzeugung zu, dass die psychiatrisch Tätigen sich beständig der Grenzen des eigenen Wissens bewusst sein müssen, um ihre Deutungsmacht gegenüber den Hilfesuchenden nicht zu missbrauchen. In diesem Sinne gibt Frank Schneider in Erinnerung und Verantwortung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft einen Abriss der Bemühungen, die – nicht zuletzt durch Überlegungen von Heimann angestoßen, der von 1983 bis 1984 selbst ihr Präsident war – in den letzten Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zur beginnenden Aufarbeitung ihrer Institutionsgeschichte im Nationalsozialismus führte. Im Anschluss eröffnet Michael Schmidt-Degenhard als Heidelberger Psychopathologe eine Perspektive des Verstehens als klinische Praxis. Diese hatte er erstmals im Jahr 2002 zu Ehren von Hans Heimann vorgestellt und ergänzte sie nun um persönliche Erinnerungen. Zuletzt führt Klaus Podoll mit Die Waldau als Wiege der Pathografie in die methodischen Überlegungen ein, die Heimann in Verbund mit Theodor Spoerri nach Walter Morgenthalers frühen Arbeiten dort für die Entfaltung des pathografischen Genres anstellte. Einleitend stehen die beiden kleinen Arbeiten, die 2007 an Person und Werk von Hans Heimann erinnerten.

Der alle Studien verbindende Horizont ist nach Heimann die Psychiatrische Anthropologie heute, d. h. die an die pragmatischen und kritischen Überlegungen Kants anschließende Frage »Was ist der Mensch«, betrachtet aus der Sicht der klinischen Psychiatrie (Heimann 1994). Vielleicht ist das beste Zeichen für die Güte seiner Denkwege, dass aus ihrem Muster keine eindeutige schulische Zugehörigkeit erschlossen werden kann. Die biologische Psychiatrie verdankt ihm so gut wie die hermeneutisch orientierten Psychiater wichtige methodische und anthropologische Einsichten, die ihn zu einem alle Schulen undogmatisch übergreifenden Theoretiker der Psychiatrie machen. Sein Anliegen war seit den Berner Anfängen, die verstehende Evidenz als auch die biologische Empirie in einem begrifflichen Rahmen kritisch einzuordnen. Nur so lasse sich ihr jeweils begrenzter Sachgehalt erkennen und die Voraussetzung schaffen, um ihre unterschiedlichen Perspektiven zum Nutzen des Patienten zu verknüpfen.

Im Epilog auf die Confinia Psychiatrica sprach Heimann von der »Lücke«, die das Ende der Zeitschrift im fachlichen Diskurs hinterlassen werde. Zugleich äußerte er die »Hoffnung«, dass das interdisziplinäre Denken einmal »in neuer Form in das geistige Leben« eintreten werde. Wir würden uns freuen, wenn die Texte von und zu Hans Heimann, die psychiatrische Community anregen könnten, die Möglichkeit unterschiedlicher Zugänge zum Menschen neu zu bedenken. Denn in einer Forschungslandschaft, die weitgehend von naturwissenschaftlicher Empirie geprägt ist, während das kulturwissenschaftliche Denken eine marginale Erscheinung geworden ist, drohen die begrifflichen Horizonte der Psychiatriegeschichte sich weitgehend aufzulösen. Eine gedankliche Öde wäre die Folge. Dabei nötigt sie als »empfangene Verlassenschaft«, um Hegels provozierenden Ausdruck für das philosophische Erbe zu gebrauchen, sie als Ideen- und Theoriegeschichte für heutige und kommende Forschergenerationen präsent zu halten, gerade dann, wenn man sich von ihren Fehlern und Täuschungen befreien will.

Angesichts der Versuchung, sich in der Forschung und Praxis der suggestiven Macht der Bilder zu ergeben, d.h. sie naiv als Ausdruck der psychopathologischen Realität wahrzunehmen, stellen Heimanns sprachlich klare und gedanklich anspruchsvolle Studien eine notwendige Herausforderung dar. Er war ohne Zweifel ein großer Freund der »diskursiven Deutlichkeit«, die Kant gleichrangig neben die »Deutlichkeit durch Anschauung« stellte. Im berühmten Diktum der Kritik der reinen Vernunft heißt es: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kant 1787/1983, S. 16 u. 98). In diesem Sinne gehörte Heimann zu jener deutschen Tradition in der Psychiatrie, von der Nancy Andreasen als Herausgeberin des American Journal of Psychiatry vor wenigen Jahren – ernüchtert von ihrem Enthusiasmus über den rein biologischen Fortschritt – sagte, dass ihre philosophische Begrifflichkeit für die angloamerikanische Debatte nötig sei, gleichsam als umgekehrter »Marshallplan« (Andreasen 2007).

Man kann resümieren: Als empirischer Psychopathologe, der Heimann mit Enthusiasmus und Ernst in den Tübinger Jahren war, und als klinischer, vor allem biologischer Forscher, der sich an deren Ende von den anschaulichen Möglichkeiten der Bildgebung und biologischen Psychiatrie begeistert zeigte, blieb er zugleich – eingedenk seiner frühen Schweizer Erfahrungen mit der Psychoanalyse und der Anthropologischen Psychiatrie – ein kritischer Sympathisant der hermeneutischen Verfahren. Voraussetzung für die fruchtbare Koexistenz der natur- wie kulturwissenschaftlichen Methoden war, dass man beide immer wieder vergleichend auf den diskursiven Prüfstand stellte, um in einer begrifflich offenen Streitkultur jeweils anmaßenden Ansprüchen vorzubeugen und nicht das eigentliche Ziel der Psychiatrie aus dem Auge zu verlieren: das theoretisch vielfältige Wissen um den psychisch Kranken und sein praktisches Wohlergehen.

Abschließend bleibt uns nur, unseren Dank an all jene auszudrücken, die das Werden dieses Bandes beförderten. Wir danken deshalb vor allem Andreas Fallgatter, der als Ärztlicher Direktor der Tübinger Klinik von Anfang an die Idee unterstützte, ein Gedächtnis-Symposium für Hans Heimann in Tübingen zu veranstalten. Ohne sein Engagement und jenes seiner Sekretärin, Frau Andrea Heberle, wäre die Veranstaltung und damit die Sammlung der Vorträge zu Hans Heimann, die in dem neuen, dem Andenken Alois Alzheimers gewidmeten Hörsaal der Psychiatrischen Universitätsklinik gehalten wurden, so nicht möglich gewesen. Die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Universitätsklinikums Aachen und das Institut für Philosophie der Universität Oldenburg unterstützten ebenfalls die Tübinger Veranstaltung.

Da der Kohlhammer-Verlag bereit war, den Band in sein Programm aufzunehmen, danken wir besonders Dr. Ruprecht Poensgen. Die Zusammenarbeit mit ihm und seinem Lektor, Herrn Tillmann Bub, war, gerade auch in Hinblick auf die knappe Publikationsfrist, jederzeit sehr erfreulich. Herzlichen Dank schulden wir auch der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), die den Druck des Sammelbandes mit Texten von und zu Hans Heimann unterstützte. Auch sind wir der Berliner Ludwig Sievers Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der freien Berufe sehr dankbar, dass sie den Druck des wissenschaftlichen Bandes mit einem finanziellen Zuschuss unterstützte. Zuletzt gebührt den Verlagen Dank, die uns gestatteten, manchmal frei von Gebühren, die vormals in ihren Zeitschriften abgedruckten Aufsätze hier erneut der interessierten Öffentlichkeit vorstellen zu können.

Wir widmen das Buch Annemarie Heimann, die ihren Mann über sechs Jahrzehnte auf allen Wegen begleitete. Im Gespräch mit ihr finden die persönlichen Linien des Gedächtnisses an Hans Heimann eine bewegende Ergänzung.

Oldenburg und Aachen, im Herbst 2012

Matthias Bormuth

Frank Schneider

Literatur

Andreasen N (2007) DSM and the Death of Phenomenology in America. An Example of Unintended Consequences. Schizphr Bull 33:108–112.

Bormuth M (2007) Psychiatrie als Passion. Hans Heimann zum Gedächtnis. Nervenheilkunde 26:1136–1143.

Buchkremer G, Giedke H (2007) Hans Heimann (1922–2006). Nervenarzt 78:594–596.

Hegel GWF (1993) Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung. Orientalische Philosophie. Hamburg: Meiner.

Heimann H (1980) Epilog. Confinia Psychiatrica 23:275.

Heimann H (1984) Wilhelm Griesinger und die moderne Psychiatrie. Spectrum 5:187–197.

Heimann H (1988) Wilhelm Griesinger und Lehre und Forschung in der modernen Psychiatrie. Fundamenta Psychiatrica 2:124–129.

James W (1902/1997) Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, Frankfurt/M.: Insel.

Jaspers J (1926) Strindberg und Van Gogh. Eine vergleichende pathographische Studie unter Heranziehung von Hölderlin und Swedenborg. Berlin: Springer.

Kant I (1783/1983) Prolegomena zu einer jeden künftigen Meaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Weischedel W (Hrsg.) Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 105–264.

Kant I (1787/1983) Kritik der reinen Vernunft. In: Weischedel W (Hrsg.) Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Teil I: Nachrufe auf Hans Heimann

Nachruf: Hans Heimann (1922–2006) 1

Henner Giedke und Gerhard Buchkremer

Im Alter von 84 Jahren ist Prof. Hans Heimann am 28. Juli 2006 in seinem Tübinger Haus gestorben. Er war von 1974 bis 1990 Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Tübingen und eine der bestimmenden Persönlichkeiten der damaligen Psychiatrie. Bedeutend war er als Forscher und Ideengeber, beeindruckend und wirkungsvoll als akademischer Lehrer und Therapeut, der sowohl die geistes- als auch die naturwissenschaftlichen Seiten unseres Faches in nachhaltiger und sehr persönlicher Weise zu Geltung zu bringen vermochte.

Verheiratet mit der Ärztin Dr. Annemarie Heimann, war er Vater von fünf Kindern, ein warmherziger, gläubiger, geselliger Mensch, der gerne aß und trank und Pfeife rauchte. Er liebte Literatur und Musik, spielte Cembalo, fuhr Ski und segelte – bevorzugt von seinem Haus am Neuenburger See aus.

Hans Heimann wurde in Biel, im Kanton Bern geboren, im Grenzgebiet zwischen deutsch und französisch sprechender Schweiz, der Heimatstadt auch von Robert Walser, eines der Dichter, die er überaus schätzte. Er war der älteste von drei Geschwistern, sein Vater war Notar, seine Mutter Geschäftsfrau. Nach dem Abitur in Biel studierte er Medizin in Genf und Bern und erhielt seine psychiatrische Weiterbildung ab 1948 bei Jakob Klaesi und Max Müller in der Bernischen Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Waldau, wie sie damals genannt wurde, der jetzigen Universitätsklinik für Psychiatrie. Parallel dazu unterzog er sich einer psychoanalytischen Ausbildung (wenngleich ohne formellen Abschluss). In der Waldau wohnte er, wie es üblich war, mit seiner Familie auf dem Klinikgelände, in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Kranken, die oft schon seit Jahren in der Anstalt waren. Das hat sein Verständnis und seine Einstellung zu den Patienten und ihren Krankheiten und zur sozialen Dimension der Psychiatrie in ganz anderer Weise geprägt als es in der deutschen Universitätspsychiatrie möglich gewesen wäre.

Im Jahr 1953 habilitierte er sich und wurde Oberarzt. Nach Anregungen, die er bei längeren Studienaufenthalten in Paris und den USA erhalten hatte, richtete er in der Waldau ein psychophysiologisch orientiertes medizinisch-psychologisches Labor ein. Die darin begonnene Arbeit führte er ab 1964 an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Lausanne unter deren Direktor Christian Müller weiter – als Leiter der von ihm aufgebauten Forschungsabteilung für Psychopathologie – bis er 1974 auf den seit zwei Jahren von Reinhart Lempp kommissarisch verwalteten Lehrstuhl in Tübingen berufen wurde, als Nachfolger Walter Schultes. Auch nach seiner Emeritierung blieb Hans Heimann therapeutisch und wissenschaftlich aktiv, bis ihn eine lange, schwere Parkinson-Erkrankung immer mehr daran hinderte. Er hat an diesem Leiden schwer getragen, gewann seine schwankende Zuversicht aber immer wieder zurück. Bis zum letzten Tag wurde er in bewundernswerter Weise von seiner Frau gepflegt.

Heimanns erste Publikation befasste sich mit Karl Jaspers’ Einfluss auf die Psychopathologie (Heimann 1950). In einem Brief an Klaesi schrieb Jaspers, dass es ihn »ungemein gefreut« habe, dass Klaesis »erster Assistenzarzt« seine Allgemeine Psychopathologie »in dem für mich entscheidenden Sinn aufgefasst [habe,] als methodologisches Bewusstsein«. Aus heutiger Sicht erstaunt es, dass Jaspers nicht Heimann direkt anschrieb, sondern seinen Chef Klaesi und dass Klaesi seinem 28-jährigen Assistenten nichts von dem für Jaspers ungewöhnlichen Lob erzählte. Heimann erfuhr davon erst in seinem neunten Lebensjahrzehnt von Matthias Bormuth, der die medizinischen Korrespondenzen Jaspers’ herausgibt. Bormuth (Bormuth 2006, 2007) hat das in einer umfangreichen und feinsinnigen Würdigung Hans Heimanns mitgeteilt.

Reflexion der psychiatrischen Methodologie blieb ein Schwerpunkt in Heimanns wissenschaftlichen Interessen. Er wurde nicht müde, zu betonen, dass die von dem Philosophen Wilhelm Windelband unterschiedenen Verfahren, das nomothetische, naturwissenschaftlich gesetzgebende und das idiographische, individualisierend beschreibende (ebenso wie das häufig als Gegensatz gesehene »Verstehen« und kausale »Erklären«) für die wissenschaftliche Psychiatrie keine Gegensätze darstellten, sondern, im Gegenteil, beide unverzichtbar seien und dass sich die auf beide Weisen gewonnenen Ergebnisse allgemeiner Kritik zu stellen hätten, mit dem Ziel intersubjektiver Verifizierbarkeit. Diese Einstellung findet sich nicht nur in seinen methodologischen Arbeiten (hervorzuheben ist der Psychopathologieartikel in Psychiatrie der Gegenwart, Heimann 1979), sondern auch in denen zur biologischen Psychiatrie und zu philosophischen, ethischen und religiösen Fragen, wobei er sich gern an historischen Vorläufern orientierte, insbesondere an Wilhelm Griesinger, Eugen Bleuler und Emil Kraepelin. Alle drei Themenkomplexe beschäftigten ihn sein Leben lang. Heimanns Publikationsliste umfasst rund 300 Titel.2

Die erste große Arbeit auf biologischem Gebiet war seine Habilitationsschrift, eine vergleichend psychopathologisch-elektroenzephalographische Untersuchung an Gesunden über die Wirkung des Scopolamins, das damals noch ein gebräuchliches Beruhigungsmittel war. Fortgesetzt wurde diese experimentelle Psychopathologie mit der Untersuchung von Halluzinogenen, z. T. in Selbstversuchen. Daraus ergaben sich Studien zur Zeitwahrnehmung und zur quantitativen Analyse mimischer Bewegungen (die Jahre später, u. a. zusammen mit seinem Schüler Frank Schneider mit moderner Technik wieder aufgenommen wurden). Arbeiten über Schlaf, Schlafentzug und Hypnose, zur Psychopharmakologie, zur Neuro- und Psychophysiologie endogener Psychosen, zur Behandlung Alkoholkranker und psychopathologische Analysen zeigen die Breite seiner Interessen allein auf biologisch-psychiatrischem Gebiet.

Andererseits beschäftigte er sich zeitlebens mit den Grundlagen der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten. Seine Antrittsvorlesung hielt er über Prophetie und Geisteskrankheit und schrieb verschiedene Arbeiten über die Beziehungen zwischen Religion und Psychiatrie, so dass ihm 1958, zusammen mit seinem Freund Theodor Spoerri (1924–1973, seit 1970 Ordinarius für Psychiatrie in Bern) vom Karger-Verlag die Herausgeberschaft der Zeitschrift Confinia Psychiatrica – Grenzgebiete der Psychiatrie übertragen wurde. Dieses in vieler Hinsicht auf ihn zugeschnittene, fächerübergreifende Organ, das ihm sehr am Herzen lag, wurde zu seinem Bedauern 1980, mit dem 23. Jahrgang, eingestellt. Rückblickend hat er es als »ein Stück interdisziplinärer Psychiatriegeschichte« bezeichnet.

Hans Heimann war sich sowohl als Methodiker wie als religiöser Mensch stets der Grenzen des wissenschaftlich Erfassbaren bewusst. Er stand nie in der Gefahr der Einseitigkeit, war weltoffen, lebenszugewandt und undogmatisch. Diese Worte, die er in seiner letzten Publikation (Heimann 1998), für Ernst Kretschmer, seinen Vorvorgänger auf dem Tübinger Lehrstuhl, fand, gelten auch für ihn selbst. Und wie Kretschmer, auf den das Wort von der mehrdimensionalen Psychiatrie zurückgeht, praktizierte er dieses Konzept im Denken und Handeln. Auf der Basis seiner schweizerischen Erfahrungen förderte und initiierte er sozialpsychiatrische Einrichtungen und solche für die Behandlung Suchtkranker (worauf sein Schüler Karl Mann in einem Nachruf besonders hingewiesen hat) sowie die damals in Deutschland erst Fuß fassende kognitive Verhaltenstherapie (zusammen mit Friederike T. Zimmer) und hielt am Elektrokrampf als einer bewährten Behandlung schwer depressiver, therapieresistenter Patienten fest, wozu in der Zeit seines Tübinger Beginns Mut gehörte.

Hans Heimanns Sache war nicht der große Auftritt. Seine Wirkung entfaltete sich v. a. im Gespräch, in der kleinen Runde, in der Diskussion und in Gremien. Immer ein aufmerksamer Zuhörer, überraschte er durch pointierte, hintersinnige Bemerkungen. Er wusste ein Klima zu schaffen, in dem die Diskussion gedieh und zum Nachdenken angeregt wurde. Das galt auch für die Atmosphäre und die Kollegialität in seiner Klinik, die von Heimann in derselben Weise gepflegt wurden, wie es (nach Rainer Tölle 1997) seit jeher Tübinger Stil gewesen war.

Vielfältig aktiv war Hans Heimann in verschiedenen Fachgesellschaften. So war er u.a. Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Methodik in der Psychiatrie (AMP, der heutigen AMDP) und von 1970–1972 deren Vorsitzender. Von 1975–1979 präsidierte er der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) und war später Ehrenmitglied. Von 1983–1985 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN, heute DGPPN). Der schweizerischen und der französischen Psychiatrie seit jeher verbunden, war er Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Europäischer Psychiater (AEP) und von 1989–1990 ihr Präsident. Weitere Ehrungen erfuhr er durch die Berufung in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, der ältesten naturwissenschaftlich-medizinischen Gelehrtengesellschaft Deutschlands und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse im Jahr 1991.

Literatur

Bormuth M (2006) Life conduct in modern times. Karl Jaspers and Psychoanalysis., Dordrecht: Springer.

Bormuth M (2007) Psychiatrie als Passion. Hans Heimann zum Gedächtnis. Nervenheilkunde 26:1136–1143.

Heimann H (1950) Der Einfluss von Karl Jaspers auf die Psychopathologie. Mschr Psychiat Neurol 120:1–19.

Heimann H (1979) Psychopathologie. In: Kisker KP, Meyer J-E, Müller C, Strömgren E (Hrsg) Psychiatrie der Gegenwart. Berlin, Heidelberg, New York: Springer. S 1–42.

Heimann H (1998) Ernst Kretschmer. In: Schliack H, Hippius H (Hrsg) Nervenärzte. Biographien. Stuttgart, New York: Thieme. S 102–110.

Tölle R (1997) Die Tübinger Schule: Ursprung der Mehrdimensionalen Psychiatrie. In: Wiedemann G, Buchkremer G (Hrsg) Mehrdimensionale Psychiatrie. Stuttgart, Jena, Lübeck, Ulm: Fischer. S 1–10.

Psychiatrie als Passion

Hans Heimann zum Gedächtnis3

Matthias Bormuth

Psychiatrie als interdisziplinäre Wissenschaft

Hans Heimann erteilte in der Tübinger Antrittsvorlesung »Psychiatrie und Menschlichkeit« 1974 (Heimann 1976), allen Versuchen, das »Ganze des Menschseins« in einseitigen Theorien abbilden zu wollen, eine klare Absage.

Damals provozierte ihn besonders das antipsychiatrische Postulat, psychische Krankheit sei Ausdruck einer gestörten Gesellschaft und der Psychiater ihr Vertreter. Der neu Berufene antwortete mit der Rede, die Wilhelm Griesinger 1866 zur Eröffnung der ersten psychiatrischen Universitätsklinik an der Berliner Charité gehalten hatte. Er tat dies in der für sein historisches Bewusstsein typischen Weise, klassische Aussagen in ihrer zeitübergreifenden Bedeutung sprechen zu lassen: »Sollte man nicht gerade die Irrenärzte für verrückt erklären, ... die überall nur geistige Abnormitäten sehen, die am Ende noch jede Originalität und das Genie selbst für Wahnsinn erklären wollen? Es ist recht gut, diese Frage aufzuwerfen, um sie sogleich zu beantworten. Nicht alle diese Individuen sind schon geisteskrank oder gehirnkrank; bei vielen bleibt es ihr Leben lang bei den Dispositionen, und es muss noch anderes hinzutreten, bis die Disposition zur Krankheit wird« (Griesinger 1872).

Sich der indirekten Provokation bewusst, traf Heimann mit dem Zitat das antipsychiatrische Ressentiment, das angesichts der rassenhygienischen Ideologie gegenüber erbgenetischen Bezügen psychischer Krankheit herrschte. Später legte er die heikle Dialektik ausdrücklich frei, die darin liegt, auf die nationalsozialistisch vereinseitigte These der Erblichkeit psychischer Krankheit mit der Antithese zu reagieren, sie sei allein soziales Konstrukt. Auch der antithetischen Pendelbewegung, die der verbrecherischen Instrumentalisierung der Naturwissenschaften folgte, alles objektivierende Denken in der Psychiatrie als Form der »Dehumanisierung« zu brandmarken, trat Heimann nüchtern entgegen (Heimann 1989 a). Ihm ging es um eine sachliche Synthese, die Gefahr meidend, einer extremen Gesinnung auch bei besten Absichten mit einer ebenso radikalen Lösung begegnen zu wollen. Eine einseitige Programmatik erlaube zwar mit entschiedenem Willen zu verstehen und zu handeln, sie reduziere aber die Komplexität des Menschlichen und seiner psychischen Pathologien auf inhumane Weise. Die konkrete Kritik, die Heimann in den Tübinger Anfängen gegenüber der antipsychiatrischen Utopie äußerte, hatte von der Struktur seines Vorbehaltes her ein klassisches Format, traf sie doch ebenso die übrigen Parteibildungen psychiatrisch Tätiger und Betroffener. Die Gefahr ideologischer Vereinseitigungen war und ist ein ubiquitäres Phänomen, vor der er ebenso zum Abschluss seiner Laufbahn im Blick auf den »psychiatrischen Patienten im Nationalsozialismus und heute« warnte: »Es ist die Verabsolutierung von Teilaspekten psychischer Störungen, die in die Irre führt und unsere Patienten gefährdet, seien es nun biologische, psychodynamische oder soziologische Konzepte« (Heimann 1989 a).

Positiv sprach sich Heimann deshalb für eine Psychiatrie aus, die auf rational begründeter Empirie und Interdisziplinarität fußen sollte und die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die individuell erlebte Krankheit als hohe Kunst betrachtete. Er gehörte zu dem wenigen Psychiatern, die in einer spezialistischen Wissenschaftslandschaft noch die persönliche Fähigkeit und Ausdauer besaßen, trotz einer notwendig reduktionistischen Forschung die unterschiedlichen Perspektiven auf den psychisch Kranken in rational plausiblen wie provisorischen Begriffen zu verknüpfen. Im Sinne Max Webers, der die »Voraussetzungslosigkeit« der empirischen Wissenschaften als einen unreflektierten Mythos entzauberte und deshalb postulierte, ihre mögliche »Wertfreiheit« liege in der Transparenz der leitenden Überzeugungen (Weber 1985 a), gab Heimann seinen Standpunkt wissenschaftlicher Redlichkeit zu erkennen: einen »Humanismus auf dem Boden der jüdischchristlichen und griechischen Tradition« (Heimann 1989a).

Nach der Emeritierung im Jahr 1990 blieb Heimann noch längere Jahre der Forschung verbunden. Aus seiner Feder stammen rund dreihundert Publikationen, von denen eine größere Auswahl anlässlich des Symposiums, das die Tübinger Klinik zum 80. Geburtstag im April 2002 ausgerichtet hatte, in kleiner Auflage erschien (Heimann 2002). Hans Heimann starb am 28. Juli 2006, im 85. Lebensjahr, erlöst von einem schweren Morbus Parkinson, der seinem steten Verlangen, lesend und im Gespräch Mensch und Welt weiter zu verstehen, immer engere Grenzen setzte. Sein Nachfolger im Amt, Gerhard Buchkremer, umriss im Namen der Mitarbeiter den wissenschaftlich weiten Horizont und die besondere Ausstrahlung der geistigen Person: »Professor Heimann war unser Lehrer, ein Wissenschaftler, kundig in der Religion, in der Geschichte der Seelenheilkunde, in der Psychoanalyse und in den wissenschaftlich fundierten modernen Therapieverfahren der Psychologie und Medizin. Er setzte sich ein für ein überprüfbares Vorgehen und eine klare Sprache der Wissenschaft, er lebte uns vor, wie der Arzt forscht und behandelt« (Buchkremer 2006).

Der Verfasser hatte das Glück, Hans Heimann in seinem letzten Lebensjahrzehnt sachlich und persönlich zunehmend nahe zu stehen. Anlass des Kennenlernens bildete eine Studie zur Psychoanalysekritik von Karl Jaspers (Bormuth 2002 a), geschrieben nach einigen Jahren psychiatrischer Praxis am Tübinger Graduiertenkolleg »Ethik in den Wissenschaften« und am nachmaligen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin unter dessen Direktor Urban Wiesing. Ihre interdisziplinäre Ausrichtung wurde nicht zuletzt durch das Interesse gefördert, das Heimann als erster Leser dieser Schrift dem Anliegen entgegenbrachte. Im Zuge der Gespräche erhielt der Verfasser immer wieder einige Aufsätze zu lesen, die Heimann aufgrund ihres methodischen und anthropologischen Charakters für bleibend wertvoll hielt. Nicht zufällig war ihre Entstehung zumeist mit besonderen Anlässen der öffentlichen Wahrnehmung verbunden, die grundlegende Einlassungen zum interdisziplinären Selbstverständnis der Psychiatrie erlaubten.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich vor allem auf diese Schriften und versucht, in einigen Facetten das grenzüberschreitende Denken von Hans Heimann ins Gedächtnis zu rufen. Seine außergewöhnlichen Positionen, mit ihren wissenschaftlichen Einsichten und persönlichen Werturteilen, könnten für die heutige Psychiatrie, die kaum mehr Zeit und Raum für die theoretische und anthropologische Reflexion findet, in ihrer eigenwilligen Irritationskraft von bleibendem Gewinn sein. Man wird, Heimann lesend, von ihm vor die bleibenden Probleme der Unvollkommenheit des Faches und des Menschen gestellt; der Gedanke der Passion behält bei ihm ein unzeitgemäß erscheinendes Recht. Seine Aufsätze sind teilweise unverhofft widerständig und geradezu subversiv, sie unterwandern in aller Vornehmheit der klaren Diktion das konventionelle Selbstverständnis der Psychiatrie. Auf Hans Heimann trifft die Selbstbeschreibung des Sokrates zu, er sei ein ruhig liegender Rochen, der bei Berührung plötzlich steche.

Mehrdimensionale Psychiatrie und methodische Reflexion

Der mehrdimensionale Ansatz seiner Psychiatrie verdankt sich nicht zuletzt, wie Heimann öfter unterstrich, den breiteren und undogmatischer behandelten Erfahrungen, die ihm während seiner klinischen und forschenden Tätigkeiten in der Schweiz zukamen. Dies betrifft vor allem die Tradition der sozial und psychotherapeutisch ausgerichteten Behandlung, die in Deutschland lange Zeit in periphere Institutionen verbannt blieb, sodass die diachrone und psychodynamische Verlaufsbeobachtung zurzeit seiner Berufung nur selten zum methodischen Spektrum der akademischen Kliniken gehörte. In Tübingen hat deshalb die sozialpsychiatrische und suchtklinische Perspektive durch ihn schon früh ebenso Impulse erhalten (Heimann 1976) wie das biologische und psychotherapeutische Vorgehen.

Am 25. April 1922 in der kleinen Stadt Biel am gleichnamigen See geboren, erhielt er seine schulische und medizinische Ausbildung in Bern und Genf. Die Assistentenjahre absolvierte Heimann bei Jakob Klaesi an der Berner Universitätsklinik Waldau, die in den Fünfzigerjahren Max Müller übernahm. Erst als Heimann mit dessen Nachfolger nicht zurecht kam, gab er die sichere Stellung in Bern auf und hatte das Glück, dass Max Müllers Sohn Christian ihm an der Universität Lausanne die Möglichkeit eröffnete, ein psychopharmakologisches Forschungslabor einzurichten, in dem die experimentelle Psychopathologie als metrisch objektivierendes Vorgehen ihr erstes Profil gewann. Zwei längere Auslandsaufenthalte, in Paris am Hospital St. Anne unter Pierre Pichot und in nordamerikanischen Forschungslabors erweiterten zu Anfang der Sechzigerjahre seinen wissenschaftlichen Horizont (Heimann 2002).

Die Leidenschaft für eine empirische Grundlagenforschung, die sich dem pragmatischen Horizont der therapeutischen Anwendung keineswegs verschloss, war von früh an verknüpft mit dem Interesse an der philosophisch und historisch fundierten Methodenreflexion. So ging die erste Arbeit, die Heimann nach der physiologisch ausgerichteten Dissertation (Heimann 1949) schrieb, dem Einfluss nach, den Karl Jaspers als psychiatrischer Methodenkritiker und Philosoph auf die Psychopathologie genommen hatte (Heimann 1950). Ihn faszinierten die begrifflichen Klärungen, die aufzeigten, welche Einsichten mit den verschiedenen Methoden jeweils zu erreichen seien und worin ihre spezifischen Grenzen lägen. Der inzwischen berühmt gewordene Existenzphilosoph, der 1948, was man ihm in Heidelberg verdachte, einem Ruf nach Basel folgte, machte im Falle Heimanns eine seltene Ausnahme. Ging Jaspers sonst kaum auf eingesandtes Schriftgut ein, schrieb er im Brief an Jakob Klaesi: »Ungemein gefreut hat mich die Arbeit Ihres ersten Assistenzarztes Dr. Heimann. Er hat in der Tat meine Psychopathologie in dem für mich entscheidenden Sinn aufgefasst als methodologisches Bewusstsein« (Bormuth 2006c). Heimann bekam den Brief erst im hohen Alter zu lesen, als der Verfasser ihn für die Edition der medizinischen Korrespondenzen von Jaspers vorbereitete.

Die duale Methodik des verstehenden und erklärenden Zuganges, von Jaspers im Blick auf Dilthey eingeführt, war auch für Heimanns 1952 erschienene Habilitationsschrift »Scopolaminwirkung. Vergleichend psychopathologischencephalographische Untersuchungen« (Heimann 1952) leitend. Im Laufe der Zeit näherte er beide Methoden im Anspruch einer empirischen Psychopathologie aneinander an; sowohl der erklärende wie der verstehende Zugang beruhten auf theoretischen Vorgaben und führten zu begrifflichen Einsichten, die intersubjektiv zugänglich seien. Er nahm stärker noch als in der frühen Arbeit Distanz zur strengen Verstehensgrenze, die Jaspers und nach ihm Kurt Schneider für die Heidelberger Schule postuliert hatten. Als er Mitte der siebziger Jahre für die Neuauflage der »Psychiatrie der Gegenwart« das Kapitel »Psychopathologie« (Heimann 1979) verfasste, stellte Heimann den methodologischen Gegensatz zwischen den naturwissenschaftlich objektivierenden und den geisteswissenschaftlich subjektiv argumentierenden Vorgehen als überholt dar. Man müsse das methodische Instrument der »Anschauung und Intuition«, das zum entscheidenden »Evidenzerlebnis« des Verstehenden führt, selbstkritisch benutzen. Dies meint, dass die subjektiv plausible Deutung nicht ungeprüft als wissenschaftliche Wahrheit zu nehmen sei:

»Das Verstehen wird aus einem unverbindlichen Spielen mit Möglichkeiten der Deutung zu strenger Wissenschaft erst in dem Augenblick, wo der Nachdenkende den Unterschied zwischen einleuchtend und wahr in seiner Tragweite erfasst und infolgedessen die Notwendigkeit einsieht und das Bedürfnis empfindet, jede – auch jede eigene – Vermutung auf ihre (logische und faktische) Stichhaltigkeit zu prüfen (sie zu verifizieren).«

Im Blick auf Kraepelin und Freud als genialen Theoretikern sah Heimann durchaus Möglichkeiten, pathophysiologische und psychologische Aspekte in der Psychiatrie zu integrieren, um zu einer »Naturgeschichte der psychischen Störungen« zu gelangen (Heimann 1980 b).