Anna Ruhe

SEELAND

Per Anhalter zum Strudelschlund

Illustriert von Max Meinzold

image

 

Anna Ruhe wurde 1977 in Berlin geboren. Nach einem
Abstecher an die englische Küste verdiente sie sich ihr
Grafikdesignstudium als Fotoassistentin. Seitdem arbeitet sie als
Corporate Designerin und ist Mitgründerin einer Softwarefirma.
Spannende Geschichten hatte sie schon immer im Kopf, mit
dem Schreiben begann sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder.
Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin. »Seeland« ist ihr Debüt.

Max Meinzold, geboren 1987, ist freischaffender Grafikdesigner
und Illustrator. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen
Science-Fiction, Fantasy und der Kinder- und Jugendliteratur. Für
seine moderne, innovative Buchgestaltung wurde er bereits für
zahlreiche Preise nominiert. Er lebt und arbeitet in München.

 

Für Luk und Milo

 

 

 

 

 

image

1. Auflage 2015
© Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Illustrationen: Max Meinzold, München
ISBN 978-3-401-80455-2

www.arena-verlag.de
www.annaruhe.de

»Der einzige Weg, einen
Freund zu haben, ist der,
selbst einer zu sein.«

Ralph Waldo Emerson

AUF-WASSER

1

Max spähte hinauf zu den dichten Wolken, die der Sonne den Blick auf Bittie Cross verwehrten. Unter seinen Füßen quietschten die Sohlen seiner Turnschuhe. Er presste entschlossen die Lippen aufeinander und lief den Fußweg neben der Steinmauer entlang, vorbei an einem verrotteten Schuppen. Biccas Haus lag schon weit zurück und vor ihm schlängelte sich die einzige Straße, die durch das Dorf führte. Hier fuhr so gut wie nie ein Auto vorbei, aus keinem Fenster drang Musik und die leer gefegten Gehsteige erinnerten an eine Geisterstadt. In Bittie Cross war es still. Stiller als still.

Ein bisschen mies kam sich Max ja schon vor. Ihm war klar, dass es nicht sehr nett war, einfach so abzuhauen, und Bicca sollte sich wirklich nicht dafür verantwortlich fühlen, wenn er sich aus dem Staub machte. Seine Großmutter konnte schließlich nichts dafür, dass jeder ohne Hörgerät oder künstliche Zähne in Bittie Cross an Langeweile starb.

Der nächste Linienbus fuhr erst wieder nachmittags und so entschied sich Max, den ausgetretenen Schleichweg am See zu nehmen, um dort die Zeit totzuschlagen. Er führte ein Stück durch den Wald, am Rand des Dorfes entlang. Dick wuchs das Moos an den Stämmen und am Boden durchbrachen die Wurzeln den Sand. Nirgends lag auch nur eine Tüte oder ein leer getrunkener Pappbecher herum.

Hier ist es so idyllisch wie auf einem Friedhof, schoss es Max durch den Kopf. Keine Ahnung, warum seine Mutter glaubte, in Bittie Cross mehr Erfolg mit ihrer Malerei zu haben. Welcher Fischer gab schon Geld für Bilder mit leeren Vasen und Kannen in Neonfarben aus? Er wollte nicht ihre Bilder schlechtmachen. Ihm gefiel, was seine Ma malte. Aber wo sollte sie die hier schon ausstellen? Außerdem verdiente man als Kellnerin in einer der Dorfkneipen ganz bestimmt noch weniger als in einem Londoner Café. Sie bräuchte nur eine zweite Chance, war ihr einziges, völlig unlogisches Argument dagegen und bei Oma Bicca fiel ja auch die Miete weg.

Genervt stieß Max die Luft zwischen seinen Lippen hindurch. Egal. Er für seinen Teil würde einfach wieder zurück nach London fahren und seinen Vater suchen. Den Mann, von dem angeblich keiner wusste, wo er steckte. Wenn das mal stimmte. Ab heute würde er der Sache selbst auf den Grund gehen. Jetzt hatte er seine Adresse und das veränderte alles. Ganz sicher. Außerdem konnte seine Mutter ihn nicht ernsthaft zwingen, mit ihr in dieses Nest zu ziehen. London war sein Zuhause, seit er denken konnte, und in Bittie Cross gab es außer ein paar Wiesen und einer ach so malerischen Steilküste gar nichts: kein Kino, keinen Fußballplatz, nicht mal Internet. Und wer bei Bicca einen Fernseher suchte, schaute wortwörtlich in die Röhre.

Bislang hatte Max seine Großmutter ja immer ganz gern besucht, auch wenn in dem Steinhaus die Wasserleitungen rumorten, es manchmal eiskalt durch die Fenster zog und die Heizung nur sporadisch ansprang. Solange es sich um einen Besuch handelte, konnte man es in Bittie Cross schon aushalten. Aber hier wohnen? Für immer? Das war echt etwas anderes. Nicht mal die Touristen, die brav jedes Dorf in Cornwall abklapperten, kamen hierher. Und in den letzten drei Wochen hatte er wirklich genug Landluft geschnuppert.

Über Max raschelten die Blätter im Wind und der Himmel blitzte kaum durch die Baumkronen hindurch. Plötzlich stolperte er über eine dieser bescheuerten Wurzeln und landete fluchend auf allen vieren. Mist! Jetzt war auch noch sein rechtes Hosenbein zerrissen und das Knie darunter brannte. Als er sich wieder hochrappelte, stockte er. Da war noch jemand, ebenfalls auf dem Boden. Ungefähr zehn Schritte von ihm entfernt lagen zwei dünne Beine mitten auf dem Pfad. Den Rest des Körpers bedeckte ein Busch am Ufer.

Max spürte seinen Herzschlag am Hals pulsieren. Während er zögernd auf die zwei Beine zuging, plätscherte irgendetwas im See hinter den Sträuchern. Als er nur noch einen Schritt entfernt stand, räusperte er sich. Sofort kam Bewegung in den Körper. Max atmete erleichtert aus – immerhin war dieser Jemand am Leben.

Ein Mädchen kroch unter dem Uferbusch hervor und baute sich vor ihm auf, während sie den Sand von ihrer ausgebeulten Jeans klopfte. Das T-Shirt unter ihrer grünen Kapuzenjacke war vor Dreck schon ganz starr und der Blumenaufdruck darauf etwa so modern wie Biccas Nachthemden. Das glatte rotbraune Haar auf ihrem Kopf reichte ihr gerade bis unter die Ohren. Komischer Haarschnitt, dachte Max. Außerdem glänzte es im Licht, als wäre es feucht. Sie war dünn und ziemlich groß, zumindest für ein Mädchen.

»Was glotzt du so?«, blaffte sie und warf dabei den Kopf nach hinten. Die Sommersprossen auf ihrer hellen Haut lagen so dicht beieinander, als hätte sie jemand mit Farbe bespritzt.

»Ich glotze überhaupt nicht. Ist nur komisch, wenn sich jemand einfach so unter einen Busch legt.«

Statt einer Antwort hievte das Mädchen einen Eimer mit Wasser und ein kleines Fangnetz hinter den Sträuchern hervor und stellte beides mitten auf den Weg. »Nicht dass es dich was angeht, aber ich fange Kaulquappen!« Sie funkelte ihn aus ihren dunklen Augen an.

Aha. Kaulquappen. Was man halt so machte in einem Kaff wie Bittie Cross. »Na dann noch viel Spaß damit. Darf ich mal vorbei?«

Das Mädchen hob eine Augenbraue »Also, so viel steht mal fest, von hier bist du nicht. So wie du aussiehst, tipp ich mal auf London. Stimmt’s?« Sie grinste spöttisch, während sie seine Kleider und die zerrissene Jeans musterte. »Bist du etwa hingefallen? Ist ja auch eine echt gefährliche Gegend hier, was?«

»Oh Mann, lass mich einfach in Ruhe.«

Sie gluckste immer noch, als Max sich an ihr vorbeidrückte. »Pass auf, dass dich auf dem Weg kein Grashalm attackiert!«, rief sie ihm hinterher.

Max verdrehte nur die Augen und ging weiter. Weil er nicht wirklich wusste, wohin er eigentlich sollte, lief er zur Bushaltestelle. Er lehnte sich gegen das Schild mit den Abfahrtszeiten, das ihm nur sagte, was er bereits wusste: In den nächsten vier Stunden hielt hier kein einziger Bus.

Über ihm schwebten die grauen Wolken wie eine zu niedrige Zimmerdecke und natürlich fing es jetzt auch noch an zu nieseln. Max zog sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Wie sollte er nur die nächsten Stunden rumkriegen? Im Haus seiner Großmutter zu warten, wäre zu riskant. Seine Ma war zwar gerade in den Nachbardörfern auf Jobsuche, doch Bicca würde merken, dass er irgendwas vorhatte. Mit ihrem sechsten Sinn spürte sie immer sofort, wenn etwas nicht mit ihm stimmte. Dann quetschte sie einen so lange aus, bis sie mit der Antwort zufrieden war. Und sie anzulügen, das wusste Max jetzt schon, würde er sowieso nicht schaffen. Sobald Bicca ihn über ihre dicke Hornbrille hinweg ansah, würde er ihr alles gestehen. Keine Ahnung, wie sie das anstellte. Seine Großmutter war eigentlich in einem Alter, in dem die meisten schusselig wurden, aber Bicca war eben Bicca. Und gemütlich zu Hause auf dem Sofa rumhängen, bis der Bus kam – das konnte er mit ihr direkt vergessen.

Es regnete immer stärker, bis das Wasser nur noch so vom Himmel hinabstürzte. Natürlich gab es in diesem Kaff nicht mal eine überdachte Bushaltestelle. Max’ Pullover hing schwer und nass an ihm herunter. Er spurtete los. Vor dem verfallenen Schuppen gab es einen Brunnen mit einem Blechdach darüber. Max setzte sich auf den Steinrand – hier war es zwar nicht bequem, aber wenigstens trocken.

In seiner Hosentasche beulte sich der dicke Briefumschlag. Vorsichtig zog Max ihn hervor und strich mit dem Finger darüber. Er fühlte sich seltsam weich an, fast ein bisschen klebrig. Das war kein normales Papier, sondern ein hauchdünnes Gummimaterial. Die Adresse seines Dads schimmerte bläulich, wie eine Tätowierung, die jemand mit Nadel und Tinte in das Material gestochen hatte. Mortensen Hickmans, stand da. Holdeener Steg 71543, Distrikt Emptern, Milmar.

Der Umschlag stammte aus Biccas Haus. Genauer gesagt, hatte ihn Max heute Morgen auf dem Boden des Raumes gefunden, der an diesem ganzen verdammten Umzug schuld war: dem Atelier seiner Mutter, in dem schon Dutzende Farbeimer, Pinsel und zerschnittene Pappkartons darauf warteten, einen Platz zu bekommen.

Erst hatte Max den Umschlag nur aufheben und auf den Tisch zurücklegen wollen, aber dann war ihm der Name seines Vaters aufgefallen und er hatte für einen Moment das Atmen vergessen. Mortensen Hickmans, dieser völlig Fremde, der sich kurz vor seiner Geburt aus dem Staub gemacht hatte und von dem seither jedes Lebenszeichen fehlte. Normalerweise dachte Max nur wenig über seinen Vater nach. Jemanden, den man nicht kannte, vermisste man für gewöhnlich auch nicht. Doch plötzlich wirbelten tausend Fragen in seinem Kopf herum.

Der Briefumschlag war bereits geöffnet gewesen. Eine Brille mit schwerem Metallgestell steckte darin. Und ein ausgeblichenes Farbfoto. Auf einer blühenden Wiese unter einem Apfelbaum stand ein Mann und hielt seine Mutter im Arm. Sie trug ein Kleid, das an eine Spitzengardine erinnerte, und sah unheimlich glücklich aus.

Über den kantigen Gesichtszügen des Mannes wuchs schwarzes, üppiges Haar. Ein gut aussehender Typ, der so breit lachte, dass er sich dabei fast in die Ohren biss. Als Max das Foto umgedreht hatte, war ihm ganz flau geworden. Hochzeit, Lynn & Mortensen stand in blauer Tinte darauf. Bislang existierte in seinem Kopf nur eine vage Vorstellung von seinem Vater, die er sich aus den ausweichenden Erzählungen seiner Mutter zusammengereimt hatte. Warum verheimlichte sie ihm dieses Bild?

Er ähnelte ihm, seinem Vater – mit den schwarzen, dichten Haaren, die sich kaum bändigen ließen, und den buschigen Augenbrauen. Genau wie er war auch Mortensen nicht besonders groß. Ob Max selbst später mal so aussehen würde? Bisher war ihm sein Aussehen immer recht durchschnittlich vorgekommen. Das einzig Besondere an ihm waren seine verschiedenfarbigen Augen. Das linke war grün, während das rechte einen leichten Blauschimmer hatte.

Behutsam drehte Max den Umschlag in seinen Händen. Das war alles, was von seinem Vater übrig war. Na ja, fast. Bis auf diese seltsame Brille. Als Max nach ihr griff, musste er grinsen. Dick und rund wie Bullaugen waren die Gläser. Entweder war Mortensen echt altmodisch oder halb blind. Auf dem Foto mit seiner Mutter trug er allerdings keine Brille.

Das zerkratzte klobige Metallgestell lag schwer auf Max’ Nase. Wozu brauchte man diese extradicken Brillengläser? Er sah durch die Brille genau so scharf wie ohne sie.

Was für ein albernes Ding. Aber vielleicht konnte er seinen Vater bald selbst fragen, was es damit auf sich hatte. Wenn er erst einmal in London war, würde er ihn sicher finden...

Plötzlich rannte das Mädchen von eben direkt auf den Brunnen zu. Ihr Haar klebte in nassen Strähnen an ihren Wangen und aus dem Eimer in ihrer Hand schwappte das Wasser. Fluchend zwängte sie sich neben Max unter das Blechdach auf den Brunnen. Hastig nahm er die Brille wieder ab.

»Mistwetter!« Mit ihrem roten Halstuch wischte sie sich über ihr nasses Gesicht. »Bist du eigentlich dieser Max, Biccas Enkel?«

»Woher weißt du das?«

Das Mädchen zuckte nur die Schulter. »Hier weiß jeder alles.«

»Aha. Und wer bist du?«

»Emma Leeves.«

»Ich hab dich hier noch nie gesehen.«

»Wir sind erst seit letztem Winter in Bittie Cross. Wir wohnen in dem Cottage am Ortsausgang.«

»In der alten Bruchbude?«

Emma schnaubte bloß und schüttelte genervt den Kopf. Die Unterhaltung schien für sie beendet. Über ihnen trommelte der Regen auf das Blechdach, als wollte er mit aller Kraft die unangenehme Stille übertönen.

2

Was war das da eigentlich gerade auf deiner Nase?« Emma sah Max schräg von der Seite an. »Ist das gerade schick in London, mit einem Uralt-Sehgestell für Halbblinde durch die Gegend zu rennen?«

»Das geht dich gar nichts –« Noch bevor Max zu Ende sprechen konnte, hatte Emma ihm schon die Brille aus der Hand gerissen und hielt sie sich vors Gesicht.

»Sieht ja komisch aus.«

»Gib sie sofort zurück!« Max versuchte, ihr die Brille wieder abzunehmen. Doch jedes Mal, wenn er danach griff, zog Emma sie nur weiter weg. Schließlich sprang sie auf und Max blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. »Du musst dich hier ja echt zu Tode langweilen, so nervig, wie du drauf bist.«

Emma schien ihn gar nicht richtig zu hören. »Das ist überhaupt keine richtige Brille! Wer braucht so was?«

Max verfolgte Emma, aber sie war immer einen Schritt voraus, während sie um den Brunnen herumliefen. Jetzt reichte es! Entschlossen zog Max an ihrer Jacke, damit sie endlich stehen blieb.

»Hey, spinnst du …« Der Ruck bremste Emma mitten in der Bewegung, sie taumelte seitwärts Richtung Brunnenrand – während die Brille mit Schwung durch die Luft flog. Im nächsten Moment war ein dumpfes, klatschendes Geräusch zu hören.

Gleichzeitig beugten sich beide über den Rand und starrten ins Dunkle.

»’tschuldigung«, nuschelte Emma schließlich kleinlaut.

Max kochte. »Verdammt! Die Brille gehört mir nicht mal. Danke! Echt, vielen Dank!«

»Warum hast du auch so an mir gezogen? Ich hätte sie dir schon wieder zurückgegeben.«

»Klar, jetzt bin ich auch noch selbst schuld!«

Emma seufzte und sah hinunter in den Brunnen. »Was meinst du, wie tief es da runtergeht?«

Max lugte in die Dunkelheit. Am Grund war es so finster, dass er nicht mal erahnen konnte, wo die Brille gelandet war. »Keine Ahnung. Fünf oder zehn Meter. Ist doch auch egal.«

»Warte kurz, bin gleich wieder da.«

Bevor er auch nur den Kopf heben konnte, rannte Emma schon davon. Als sie wenige Minuten später wieder zurückkam, holperte eine Schubkarre vor ihr her. »Glück gehabt«, rief sie mit einem triumphierenden Lächeln. »Mein Dad schließt den Schuppen sonst immer ab. Los, fass mal mit an.«

»Was soll das denn jetzt werden?«, fragte Max und starrte misstrauisch zur Strickleiter, die Emma aus der Schubkarre wuchtete.

»Der Brunnen wurde schon vor Ewigkeiten stillgelegt.« Sie knotete die Strickleiter an einem der Metallringe des Brunnens fest und ließ sie hinabfallen. Prüfend rüttelte sie an den Seilen.

»Du willst jetzt nicht ernsthaft da runterklettern?«, stieß Max ungläubig hervor.

»Wieso nicht?«

»Das ist viel zu gefährlich! Was, wenn du abrutschst?«

Aber Emma ignorierte Max, klemmte sich eine Taschenlampe in ihren Hosenbund und stieg rückwärts auf die schlingernde Leiter.

»Bist du verrückt? Das kannst du nicht machen!« Reflexartig griff Max nach den Seilen der Strickleiter, unsicher, ob sie Emma halten würden. »Sei vorsichtig!« Entweder war sie lebensmüde oder total irre.

»So tief ist der Brunnen auch wieder nicht. Mach dir nicht gleich ins Hemd, Großstadtjunge.«

Bevor Max noch etwas sagen konnte, war Emma schon losgeklettert. Max umklammerte die Seile und starrte über den Brunnenrand. Wenige Augenblicke später hörte er ein schmatzendes Geräusch, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

»Emma?«

»Alles klar! Es ist nass, es ist stinkig, aber ziemlich überschaubar hier unten!«

Von oben konnte Max dem Schein der Taschenlampe folgen, mit der Emma den Brunnengrund absuchte.

Max unterdrückte einen erleichterten Seufzer und beugte sich noch weiter vor. »Pass auf, dass du nicht auf die Brille trittst!«

»Echt? Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen«, hallte ihre Stimme zu ihm empor.

»Und?«

Emma jubelte. »Jep! Hab sie.«

»Super, dann komm wieder hoch!«

»Ja, gleich. Warte mal kurz!« Max folgte dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe. Plötzlich hörte er einen gedämpften Schlag und der Schein erlosch.

»Was war das?«, rief Max. »Alles okay bei dir?«

Emma gab keine Antwort.

»Emma?!« Max starrte in die Dunkelheit. »Wenn das ein Witz sein soll, ich find’s nicht lustig! Echt nicht!«

Nichts.

Panik stieg in ihm auf. Ohne lange nachzudenken, griff Max nach der Strickleiter und kletterte hinab. Sofort stieg ihm ein modriger Geruch in die Nase. Die Mauern um ihn herum waren mit Moos bewachsen. Er schlingerte bei dem Versuch, Emma irgendwo in der Finsternis unter sich zu entdecken. In seiner Aufregung verfehlte er eine Sprosse und rutschte ein gutes Stück die Strickleiter hinab.

Am Ende der Leiter spürte Max kaltes Wasser an seinem Schuh. Schnell verdrängte er jede Vorstellung an alles, was hier unten wohl leben mochte. Einfach nicht dran denken. Erst als er bis zu den Oberschenkeln in der dunklen Brühe versank, spürte er den Grund unter seinen Füßen. Selbst seine direkte Umgebung erkannte er nur schemenhaft, also tastete sich Max vorsichtig an den klammen Mauern des Brunnens entlang.

Von Emma keine Spur.

»Das ist echt der Wahnsinn!«, drang plötzlich ihre gedämpfte Stimme zu ihm herüber.

Max zuckte kurz zusammen, als die Taschenlampe wieder den Brunnen erhellte und ihm direkt ins Gesicht schien.

»Los, komm her, das musst du dir angucken!«, rief Emma ihm entgegen.

In dem Moment, als das Licht ihn nicht mehr blendete, entdeckte Max, weshalb Emma so aufgeregt war. Dort war ein breiter Spalt in der Mauer.

»Sag mal, spinnst du?«, stieß er atemlos aus. »Wieso hast du nicht geantwortet? Ich hab gedacht, dir ist hier unten sonst was passiert!«

»Ich bin nur auf den Stein dahinten geklettert. Dann hat er nachgegeben und auf einmal war da dieses Loch. Jetzt komm schon!«

Mit Mühe quetschte sich Max Emma hinterher, die bereits im Spalt verschwunden war, und fand sich mit einem Mal in einem düsteren Gang wieder. Sie standen nun nicht mehr bis zu den Oberschenkeln im Wasser, sondern nur noch in einer Pfütze, dafür tropfte es jetzt von der Decke. Emma ließ den Lichtpunkt der Taschenlampe über die dunklen Felsmauern wandern. Vor ihnen erstreckte sich ein Gang wie eine kugelrunde Röhre ins schwarze Nichts. Ein schimmliger Geruch hing in der Luft.

»Was glaubst du, wohin das führt?« Emmas Stimme klang wie elektrisiert vor Aufregung.

»Keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich will raus aus diesem Loch.« Max wartete erst gar nicht auf eine Reaktion. Kurzerhand nahm er Emma die Brille ab und drückte sich durch den Spalt zurück in den Brunnen.

»Bist du nicht wenigstens ein bisschen neugierig, wo der Gang hinführt?«, rief Emma ihm hinterher.

Max schüttelte entschlossen den Kopf. London. Er würde zurück nach London gehen. »Nein.«

»Vielleicht ist das ja ein Geheimgang!«

»Von mir aus kann dein Tunnel nach Atlantis führen. Ich bin echt nicht scharf drauf, durch schleimige Gänge zu marschieren.« Max griff nach der Leiter und machte sich an den Aufstieg.

»Langweiler.« Emma schob sich ebenfalls zurück in den Schacht und Max konnte spüren, wie sie sich hinter ihm an die Leiter hängte. Gott sei Dank. Nur raus hier!

Max hatte etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als es einen plötzlichen Ruck in den Seilen gab. Hektisch versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, doch es war zwecklos. Im nächsten Moment rutschte er an der Mauer des Brunnens entlang und fiel klatschend zurück ins Wasser, wobei er halb auf Emma landete.

Prustend und spuckend versuchte Max, wieder auf die Beine zu kommen. Er schmeckte fauliges Wasser. T-Shirt, Pullover, Jeans – alles klebte nass an ihm. Verdammter Mist! »Emma? Alles okay?«

»Ja, geht schon.« Neben ihm ruderte Emma mit ihren Armen ziellos im Wasser herum – wahrscheinlich auf der Suche nach der Taschenlampe.

»Warum hast du nicht einfach gewartet, bis ich oben bin?«, wetterte er und wischte sich irgendetwas Schleimiges aus den Haaren.

»Normalerweise hält so eine Strickleiter auch locker zwei Leute aus.«

»Normalerweise?« Max betastete sein schmerzendes Knie. »Machst du so was öfter, oder was?«

Plötzlich wurde die Dunkelheit von einem Lichtstrahl durchschnitten. Emma nestelte an der Taschenlampe herum. »Super, geht noch!«

Echt super. Max blickte in den hellen Kreis über ihren Köpfen. »Hallo!«, rief er, so laut er konnte. »Wir sind hier unten. Haaalooo!«

»Hör schon auf damit.« Emma leuchtete ihn an. »Da oben ist doch niemand, wer soll dich denn hören? Bei dem Wetter kommt hier so schnell keiner vorbei.«

3

Nachdem sich Emma und Max eine Zeit lang nur ratlos angeschwiegen hatten, drückte sich Max kurz entschlossen wieder durch den Spalt.

»Was hast du denn jetzt vor?«

Max straffte seine Schultern. »Was wohl? Nach einem Ausgang suchen!«

»Ach was. Auf einmal hast du nichts mehr gegen den Tunnel?«

»Ist ja nicht so, als hätten wir eine Wahl. Hier versauern will ich jedenfalls nicht.«

Emma kicherte. »Wer weiß? Vielleicht führt uns der Gang ja geradewegs in die Kanalisation. Du weißt schon, zu Ratten, Spinnen und –«

»Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Dass ein Trinkwasserbrunnen keinen Tunnel hat und schon gar keinen, der in die Kanalisation führt, davon hat sogar der Großstadtjunge schon gehört.« Max stapfte durch das dunkle Wasser. »Aber vielleicht ist es ja wirklich ein alter Geheimgang …«

»Genau.« Hinter ihm drückte sich Emma durch den Spalt und ließ das Licht ihrer Taschenlampe über die Wände tanzen. »Wenn wir Glück haben, kommen wir einfach an einer anderen Stelle in Bittie Cross wieder raus. Und wenn nicht, gehen wir zurück und sind auch nicht schlechter dran als jetzt.«

Sie tasteten sich an den glitschigen Mauern entlang. An einigen Stellen hatte Max das Gefühl, er würde einen Berg hinabsteigen, so abschüssig verlief der Gang. Das Wasser ging ihm inzwischen wieder bis zu den Knien und er spürte eine leichte Strömung. Wo kam sie her? Offenbar war der Tunnel nicht nur mit dem Brunnenschacht verbunden.

»Mist!« Direkt vor Max’ Füßen ging es plötzlich mindestens zwei Meter steil bergab. Unten schwappte das schwarze Wasser an die Felswände.

»Hier geht’s nicht weiter, das Wasser wird zu tief«, sagte Max mit einem Seufzen. »Drehen wir um.«

»Wieso? Kannst du nicht schwimmen?«, fragte Emma.

»Schwimmen? Da durch? Spinnst du jetzt total?!«

Statt einer Antwort drückte sich Emma einfach an ihm vorbei. Die Taschenlampe klemmte sie sich zwischen die Zähne, bevor sie über die Kante ins Wasser rutschte und keine Sekunde später mit kräftigen Bewegungen losschwamm.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Doch Emma paddelte einfach weiter.

»Bleib hier! Das fass ich jetzt nicht!« Max griff sich an die Stirn und verfolgte ungläubig, wie sich Emmas Kopf von ihm entfernte. Sie macht mich wahnsinnig! Wenn er nicht allein im Dunkeln Wurzeln schlagen wollte, musste er ihr wohl oder übel folgen. Max vergewisserte sich, dass Mortensens Brille gut verpackt im Umschlag lag, und rutschte widerwillig ins Wasser.

Emma schwamm schnell. Mit zusammengekniffenen Lippen versuchte Max, hinter ihr zu bleiben und sich nicht vorzustellen, was möglicherweise noch in dieser Brühe herumschwamm. Noch nie in seinem Leben war ihm so kalt gewesen, dass er mit den Zähnen klappern musste. Jetzt schlugen sie im Eiltempo aufeinander.

Wie weit Emma voraus war, verriet nur der wackelnde Lichtpunkt an der Mauer. Plötzlich spürte Max, wie die Strömung um ihn herum zunahm. Das Wasser rauschte immer steiler nach unten und zog ihn mit sich. Mit aller Kraft ruderte er gegen das Reißen an. Vergeblich versuchte er, an der glitschigen Tunnelwand Halt zu finden, aber der Strom ließ ihm keine Chance. Max erhaschte einen letzten Blick auf den Lichtpunkt von Emmas Taschenlampe, dann drückte ihn der Sog gurgelnd unter die Wasseroberfläche. Sein Rücken und seine Arme schrammten über Felswände. Um ihn herum war nichts als rasendes Sprudeln.

Kurz öffnete sich das Wasser wieder über ihm und er schnappte verzweifelt nach Luft. Er hing in einer Felsrinne, durch die das Wasser wie in einer steilen Rutsche nach unten schoss. Für einen Moment konnte er sich daran festklammern, doch die Wasserströmung war viel zu stark. Noch ehe er begriff, was mit ihm geschah, befand er sich im freien Fall. Es rauschte und wirbelte um ihn herum – und dann schoss Max erneut tief ins Wasser.

Luft!!! Panisch kämpfte sich Max dahin, wo er oben vermutete. Gab es überhaupt noch ein Oben? Da durchstieß er die Wasseroberfläche. Gierig und keuchend sog er die Luft ein. Sein Kopf dröhnte, als hätte er einen Schlag abbekommen. Ein Rauschen klang in seinen Ohren, während er hektisch um sich blickte.

Hinter ihm toste ein Wasserfall. Darüber wölbte sich eine Höhlendecke aus hellem Stein. Es war warm und viel heller als eben im Tunnel. Das Wasser, in dem er schwamm, schimmerte türkis und war glasklar. Es sah aus wie ein riesiger unterirdischer See.

Max hörte seinen Namen. Er paddelte einmal um seine eigene Achse und entdeckte Emma auf einem Felsvorsprung neben dem Wasserfall.

»Bist du okay?«, rief sie.

»Sieht so aus.« Mit langen Zügen schwamm er am Wasserfall vorbei und kletterte neben Emma auf den Felsen. »Wahnsinn! Was ist das? Wo sind wir hier?«

Emma zog die Schultern hoch. »Na ja. In einer Grotte unter der Erde?«

»Ich glaub das nicht«, stieß Max hervor. »Wusstest du, dass es so was hier gibt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber immerhin müssen wir nicht verhungern.« Sie grinste schief und zeigte hinter sich. Auf dem Felsvorsprung wuchsen eigenartige Pilze. Die kräftigen Stiele unter riesigen Schirmen waren größer als alles, was Max jemals gesehen hatte.

Mit der Handfläche strich er über die glitschige Oberfläche. »Dann gibt es heute wohl rohen mutierten Champignon ohne alles.« Er stand auf. »Im Ernst, wo sind wir hier nur gelandet?« Schnell hatte er den kleinen Felsvorsprung umrundet. Er suchte die Höhlenwand hinter sich ab, in der Hoffnung, dort irgendeinen Gang zu finden. Aber da war nichts.

Von der Höhlendecke ergoss sich das Wasser aus dem Tunnel in den See. Die Tunnelöffnung befand sich sicherlich zehn Meter hoch über ihren Köpfen und die Felswand war steil und glatt – keine Chance, an ihr hinaufzuklettern. Außerdem war die Strömung viel zu stark, um dagegen anzuschwimmen.

Es gab keine Möglichkeit, den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückzugehen.

Max schluckte. »Und jetzt? Hier kommen wir nie mehr raus.« Mutlos kickte er gegen einen der Felsen hinter sich – und fuhr erschrocken zurück: Der Felsen knisterte leise und begann plötzlich zu leuchten. Auch Emma klappte der Mund auf. Nach einem Moment schlug sie mit der Handfläche zaghaft gegen die Höhlenwand und genau dort, wo ihre Hand lag, breitete sich ein kreisrunder leuchtender Fleck aus.

Max zog seine Augenbrauen so eng zusammen, dass sie beinahe eine durchgehende Linie bildeten. Leuchtende Steine? Ernsthaft?

»Darum ist es hier unten so hell. Irre! Vielleicht sind das irgendwelche Edelsteine?« Emma legte den Kopf in den Nacken und blickte fasziniert zur Höhlendecke hinauf.

»Was auch immer es ist, wir haben jetzt echt andere Probleme.«

Emma seufzte. »Okay. Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg zurück in den Tunnel. Ich meine, irgendeinen Sinn muss der Gang doch gehabt haben. Niemand baut einfach so einen unterirdischen Tunnel, der zu einer Grotte führt, aus der man dann nicht mehr herauskommt. Vielleicht führt ja irgendwo wieder eine Treppe nach oben.«

»Warum nicht gleich ein Fahrstuhl.« Max verdrehte die Augen. »Mal im Ernst, siehst du hier irgendwo eine Treppe?«

Emma schüttelte nur den Kopf. »Wahrscheinlich müssen wir weiter in die Grotte hineinschwimmen, um mehr zu sehen. Ich brauch nur eine Minute, ich bin von dem Wasserstrudel noch fix und fertig.«

Max setzte sich wieder neben Emma auf den Felsvorsprung und sah zu, wie sie ihre Beine ins Wasser baumeln ließ.

»Ich war noch nie in meinem ganzen Leben an einem so schönen Ort«, sagte sie nach einigen Minuten. Sie lächelte verträumt, während sie auf die klare Oberfläche starrte. »Wie toll das Wasser schimmert und leuchtet!«

Max richtete seinen Blick skeptisch zu den Riesenpilzen über ihnen. »Wir sind irgendwo tief unter der Erde und haben keine Ahnung, wie wir hier wieder rauskommen sollen. Ich kann mir echt Schöneres vorstellen.«

»Jetzt bleib mal locker. Wir finden schon wieder zurück. Wenn man hier reinkommt, kommt man auch wieder raus. Und bis dahin kannst du dir auch mal eine Sekunde lang diese irre Höhle angucken!« Je lauter Emma wurde, desto stärker hallten ihre Worte durch die Grotte.

Max seufzte. »Irre Höhle, ist echt super hier...«

Emma warf ihm einen Seitenblick zu. »Mach dir nicht so viel Stress. Wahrscheinlich suchen nach dir eh schon alle und du bist schneller wieder zu Hause, als du glaubst. Da hab ich es leichter. Ich kann hierbleiben, solange ich will.« Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte ins Wasser. So wirklich glücklich schien sie der Gedanke nicht zu machen.

»Und was ist mit deinen Eltern? Machen die sich keine Sorgen, wenn du plötzlich verschwindest?«

»Nö, nicht so schnell. Mein Vater ist froh, wenn er seine Ruhe hat. Der rennt ganz sicher nicht sofort los, wenn ich mal nicht gleich auftauche.«

»Und deine Mutter?«

Emma schüttelte nur den Kopf und presste ihre Lippen aufeinander. »Die ist genug mit sich selbst beschäftigt.«

Max starrte vor sich hin. Die Gischt vom Wasserfall wirbelte herum und hinterließ kleine Spritzer auf ihren Beinen. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. Was konnte er dazu auch sonst sagen?

Emma zuckte nur mit den Achseln und schwieg. Max hatte plötzlich das Bedürfnis, sie aufzuheitern. Auch wenn er nur ihretwegen in dem ganzen Schlamassel steckte, gefiel es ihm nicht, dass sie so traurig aussah. Also griff er in seine Hosentasche und setzte sich Mortensens Brille wieder auf die Nase. Mit aufgerissenen Augen blickte er durch die dicken und viel zu großen Gläser zu ihr herüber.

Emma lächelte. »Steht dir total gut.«

»Na ja … Die funktioniert nicht mal. Hat zwar extrafette Gläser, trotzdem sieht man genauso viel wie vorher.« Max hob die Schultern. »Blöd, dass wir ausgerechnet wegen so einem nutzlosen Ding hier festsitzen.«

»Verrätst du mir jetzt, woher du die hast?«

»Hab sie in Biccas Haus gefunden.« Max holte den Umschlag hervor und hielt ihn Emma entgegen. »Hast du so was schon mal gesehen? Das Wasser hat ihm überhaupt nichts ausgemacht. Innen ist es total trocken.«

Emma strich vorsichtig mit ihrem Finger über die Adresse auf dem gummiartigen Material. »Echt komisch«, stimmte sie zu und zog den Umschlag wie einen Kaugummi auseinander, bis die Buchstaben kaum noch zu erkennen waren.

4

Psst!« Max legte einen Zeigefinger auf seinen Mund. Aus der Ferne erklang plötzlich ein leises Brummen und Wellen schlugen in immer kürzeren Abständen an den Felsvorsprung unter Max und Emma. Auch Emma hatte sich aufgerichtet und lauschte. Das Geräusch wurde immer lauter. Soweit Max sehen konnte, gab es hier nirgendwo eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Mit dem Rücken zur Höhlenwand beobachteten sie regungslos ein flackerndes Licht, das aus der Tiefe der gigantischen Höhle auf sie zukam.

Schließlich konnten sie eine Art Floß ausmachen. Es erinnerte Max an ein Schlauchboot, nur dass es anscheinend aus Metall bestand. Auf dem glänzenden Deck stand in einem seltsamen Anzug ein Mann, der wie einer dieser Gondolieri aus Venedig eine lange Stange hinter sich hielt, mit der er zu steuern schien. Auf einmal erstarb das Brummen, das Boot wurde langsamer und der Mann legte die Stange beiseite. Er schaute in ihre Richtung – offenbar hatte er sie ebenfalls entdeckt.

Instinktiv hielt Max die Luft an. Auch Emma schien ausnahmsweise mal kein passender Satz einzufallen. Sie saßen unschlüssig nebeneinander, während das Floß immer weiter auf sie zutrieb. Der Mann sah nicht einmal bedrohlich aus, nur sehr ungewöhnlich. Unter einem braunen, eng anliegenden Overall trat sein Bauch wie eine halbierte Kugel hervor. Der Anzug erinnerte Max ein wenig an die Neoprenanzüge von Surfern. Als das Floß so nah gekommen war, dass es ihren Felsvorsprung berührte, stopfte Max Mortensens Brille schnell wieder in den Umschlag zurück. »Ähm … hallo«, stieß er hervor.

»Tag auch!«, antwortete der Mann. »Was macht ihr denn hier?«

»Wir haben uns verirrt«, erklärte Emma. »Können Sie uns bitte sagen, wie wir zurück nach Bittie Cross kommen?«

»Bittie-was?«

»Nach Bittie Cross. Wir sind durch einen Tunnel gekommen, der in dem Wasserfall hier endet.« Emma zeigte hinauf zur Decke. »Wissen Sie, ob es hier irgendwo eine Treppe gibt?«

Der Mann sah sie völlig irritiert an. »Entschuldigung. Wo wollt ihr hin?«

»Nach Bittie Cross. Es muss direkt über dieser Höhle liegen«, wiederholte sie langsam.

»Über uns?« Er lachte auf, als hätte ihm gerade jemand einen richtig guten Witz erzählt. »Davon habe ich ja noch nie gehört! Und das muss was heißen, ich kenne mich in der Gegend nämlich ziemlich gut aus.« Mit geübten Bewegungen machte er das Floß an einem Stein fest und sprang dann zu Emma und Max auf den Felsvorsprung. »Lasst mich erst mal kurz an die Arbeit, Kinder.« Er bückte sich zum Boot und zerrte eine große Kiste hinter sich her. Mit einem langen Messer begann er, einen Riesenpilz nach dem anderen anzuschneiden, und ließ die Stücke in der Kiste verschwinden.

»Und jetzt mal Klartext, ihr zwei: Wo sind eure Eltern?«

Emma runzelte verständnislos die Stirn. »Zu … Hause?«

»Und euer Flosyn?«

image

»Unser was, bitte?«, fragte Max.

»Na, euer Flosyn!«, wiederholte der Mann und zeigte auf das Metallfloß, das schaukelnd im Wasser lag. »Womit seid ihr sonst hergekommen?«

Emma warf Max einen ungläubigen Seitenblick zu. »Wie gesagt, wir sind durch den Wasserfall von da oben gekommen.«

Der Mann verschränkte die Arme. »Ihr wollt mir wirklich weismachen, dass ihr von oberhalb der Höhle kommt?«

»Genau«, antwortete Emma. »Wir suchen einfach nur den Weg zurück.«

Er kratzte sich am Kinn. »Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung. Wenn man die Orientierung verloren hat, ist man manchmal ein bisschen verwirrt. Wir finden schon den Weg zurück in euer Pittie Ville.«

»Bittie, Bittie Cross«, berichtigte ihn Emma.

»Wie auch immer. Wie heißt ihr überhaupt?«

»Ich heiße Max und das ist Emma.«

»Ich bin Ziggy. Ihr habt wirklich Glück, dass ich heute zur Pilzernte hergekommen bin. Wenn ihr wollt, kann ich euch mit nach Eldena nehmen und ihr zeigt mir auf einer Karte, wo genau euer Dorf liegen soll.« Er winkte die beiden zu sich auf das Flosyn. »Wenn ihr ein bisschen zusammenrückt, passt ihr da neben die Kiste.«

Emma stellte sich so nah neben Max, dass sich ihre Arme leicht berührten. »Wir kennen den doch gar nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und ich glaub, er spinnt ein bisschen.«

Max flüsterte zurück: »Vielleicht kann er uns trotzdem helfen. Außerdem sind wir ja zu zweit.«

»Na los, ich hab nicht ewig Zeit. Wollt ihr nun mitfahren oder nicht?«

Zögernd stiegen sie auf die Plattform des eigenwilligen Floßes, das bei der kleinsten Bewegung sofort hin und her schwankte. Es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu behalten.

»Ihr tut ja gerade so, als würdet ihr das erste Mal mit einem Flosyn fahren. Setzt euch lieber, bevor ihr wieder ins Wasser fallt.« Er nahm die Stange auf und sofort ertönte wieder ein Brummen. Schwerfällig nahm das Flosyn Fahrt auf.

»Echt nett von Ihnen, dass Sie uns mitnehmen«, sagte Emma. »Ach, Kinder, das versteht sich doch von selbst. Ich bin schon gespannt, von wo ihr wirklich herkommt. So ganz erklären kann ich mir das alles ja nicht.« Geschickt steuerte er das Flosyn um den Wasserfall herum. Schnell nahmen sie Fahrt auf und glitten sanft auf dem Wasser dahin.

»Die Höhle ist riesig«, flüsterte Emma Max zu und zeigte in die Ferne, wo zwei große Tunnel ins Dunkle führten.

»Ich weiß nicht, ob es so schlau war, sich von der Stelle am Wasserfall wegzubewegen«, murmelte Max zurück.

Ziggy räusperte sich. »Wie ihr beide es ohne Flosyn über die langen Wasserstraßen geschafft habt, ist mir wirklich ein Rätsel. Das ist es ein gutes Stückchen Fahrt und dazwischen gibt es keinen einzigen Ort. Bislang dachte ich immer, dass Eldena den Cidumhöhlen am nächsten liegt.« Ziggy schien mehr mit sich selbst zu sprechen und erwartete offensichtlich keine Antwort von den beiden. Als es ein wenig dunkler wurde, stieß er mit seinem Fuß gegen eine Art Lampe: ein rundes Drahtgeflecht umgab einen kleinen Felsbrocken, der nach dem Stoß zu leuchten begann.

Den Blick nach vorn tuckerten sie dahin. Die Felswände entfernten sich immer weiter von ihnen, bis sie bald nichts anderes als Wolken und Wasser umgab – so, als wären sie auf offenem Meer. Aber Wolken? In einer Höhle? Die Decke war so weit entfernt, dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte. Über ihnen erstreckte sich ein dichter hellgrauer Himmel. Das Licht schien irgendwie gedämpft … und es warf keine Schatten.

Max drehte sich zu Ziggy. »Wieso ist es hier so hell?«

»Ja, also … lernt ihr Kinder heutzutage denn gar nichts mehr in der Schule? Wegen der Lumiroks natürlich.«

Emma und Max blickten sich ratlos an. »Lumiroks?«

Ziggy rieb sich über die Stirn, als hätte er es mit zwei Idioten zu tun. »Na, die glühenden Steine.«

»Äh … klar, natürlich. Wie machen die Steine das denn?«

Ziggy sah Max jetzt an, als wäre ihm spontan ein zweiter Kopf gewachsen. »Na, man bringt sie zum Glühen. Für Wärme und Licht. Du weißt schon … indem man sie in Schwingung versetzt.«

Schwingung, glühende Steine … Max schwirrte der Kopf. Was war das hier? Oder war dieser Kerl wirklich ein Spinner? Er öffnete den Mund einige Male und schloss ihn dann wieder. Wahrscheinlich machte es keinen Sinn, jetzt noch mehr Fragen zu stellen.

Brummend glitten sie weiter. Das Licht wurde allmählich schummrig, als würde es dämmern. Nach ein paar Minuten schlug Ziggy mit seiner Stange gegen zwei trichterförmige Steine, die vorne am Floß befestigt waren und daraufhin wie zwei Scheinwerfer einen Lichtkegel auf das Wasser vor ihnen warfen.

»Guck mal, da!« Emma zeigte auf ein paar Lichter, die ihnen aus der Ferne entgegenleuchteten.

»Ist das Eldena?«, fragte Max.