Charles Dickens


Eine Geschichte aus zwei Städten

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-82-8


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Kapitel 15 - Die Fußtritte verhallen für immer



Durch die Straßen von Paris rasseln die Karren des Todes hohl und rau. Ihrer sechs führen den Wein des Tages nach der Guillotine. Alle die menschenfresserischen und unersättlichen Ungeheuer, die je der Phantasie entsprangen, sind verschmolzen in der einen Wesenheit Guillotine. Und doch konnte selbst in Frankreichs abwechslungsreichem Boden und Klima kein Grashalm, kein Blatt, keine Wurzel, kein Zweig, kein Pfefferkorn sicherer seine Reise finden als die Saat, die diese Schrecken veranlaßt hat. Ist die Menschheit einmal mit solchen Hämmern formlos geschlagen, so wird sie stets dieselben verzerrten Gestalten wieder annehmen. Streu' aufs neue den Samen ungezügelter Habsucht und Bedrückung aus, und er wird zuverlässig in seiner Art die nämlichen Früchte bringen.

Sechs Karren rollen durch die Straßen. Wandle sie, o mächtige Zauberin Zeit, wieder um in das, was sie waren, und sie stellen sich vielleicht dar als die Prachtwagen absoluter Monarchen, die Karossen großer Herren, die Putztische flunkernder Mätressen, die Kirchen, die nicht meines Vaters Haus sind, sondern Räuberhöhlen, die Hütten von Millionen hungernder Bauern! Nein; der große Magier, der majestätisch die von dem Schöpfer gesetzte Ordnung ausführt, ist nicht rückhaltig mit seinen Wandlungen. "Bist du durch den Willen Gottes in diese Gestalt versetzt", sagen die Seher in Tausendundeiner Nacht zu dem Verzauberten, "so bleibe darin; trägst du sie aber nur als Folge einer Beschwörung, so nimm dein früheres Aussehen wieder an!" Unwandelbar und hoffnungslos rollen die Karren dahin.

Während die unheimlichen Näher der sechs Todesfuhren sich drehen, scheinen sie eine lange krumme Furche durch die Volksmassen in den Straßen zu pflügen. Rechts und links werden Gesichterreihen aufgewühlt, und die Pflüge gehen stetig fort. Die regelmäßigen Bewohner der Häuser sind an das Schauspiel so gewöhnt, daß viele Fenster leer stehen oder die dahinter Sitzenden ihre Handarbeit nicht unterbrechen, während ihre Augen die Gesichter auf den Karren mustern. Hier und da hat ein Hausbesitzer Gäste, die das Spektakel mit ansehen wollen; er deutet mit der Selbstgefälligkeit eines legitimierten Raritätenvorzeigers bald auf diesen, bald auf jenen Karren und scheint ihnen zu erzählen, wer gestern und wer vorgestern dagesessen hat.

Von den Fahrenden blicken einige auf diese Dinge und auf alles, was um sie vorgeht, mit einem teilnahmlosen Starren, während andere noch einiges Interesse für das Leben und Treiben der Menschen verraten. Einige, die mit gesenkten Häuptern dasitzen, brüten in stummer Verzweiflung vor sich hin, andere sind auf ihre äußere Erscheinung so sorgfältig bedacht, daß sie der Menge Blicke zuwerfen, wie sie solche auf Bildern und in Theatern gesehen haben. Mehrere schließen die Augen und suchen ihre irren Gedanken zusammenzuhalten. Nur einer, ein kläglich aussehendes Geschöpf, ist so verstört und trunken von Entsetzen, daß er singt und zu tanzen versucht. Aber niemand von der ganzen Schar läßt durch einen Blick oder eine Gebärde einen Appell an das Mitleid des Volkes ergehen.

Eine Wache von Berittenen zieht den Karren voraus, und oft erheben sich Gesichter zu ihnen und stellen Fragen an sie. Die Fragen scheinen immer die gleichen zu sein; denn stets erfolgt darauf ein Drängen des Pöbels nach dem dritten Karren hin. Die Reiter vor dem Karren deuten häufig mit ihren Säbeln nach einem Mann auf demselben. Jedermann will wissen, welcher es ist: er steht hinten in dem Karren, hat den Kopf gesenkt und unterhält sich mit einem einfachen Mädchen, das seitwärts sitzt und seine Hand festhält. Die Szene um ihn her ist ihm gleichgültig; er spricht ohne Unterlaß mit dem Mädchen. Da und dort erhebt sich in der langen Straße von St. Honoré ein Geschrei gegen ihn: wenn es anders einen Eindruck auf ihn macht, so entlockt es ihm bloß ein ruhiges Lächeln und ein Schütteln des Kopfes, das ihm das lose Haar tiefer ins Gesicht wirft. Er kann seinem Gesicht nicht leicht beikommen, da seine Arme gebunden sind. Auf den Stufen einer Kirche steht das Gefängnisschaf und erwartet die Karren. Er sieht in den ersten hinein – nicht da; in den zweiten – nicht da. Schon fragt er sich selbst: "Hat er mich geopfert?" Aber wie er den dritten erblickt, klärt sich sein Gesicht auf.

"Welches ist Evrémonde?"! fragt ein Mann hinter ihm.

"Der dort hinten."

"Dessen Hand das Mädchen hält?"

Der Mann ruft: "Nieder mit Evrémonde. Zur Guillotine mit allen Aristokraten! Nieder mit Evrémonde!"

"Pst! Pst!" flüstert ihm der Spion schüchtern zu.

"Warum, Bürger?"

"Er geht hin, um seine Vergehen mit seinem Leben zu sühnen. In fünf Minuten hat er gebüßt. Laß ihn im Frieden."

Da der Mann zu schreien fortfährt: "Nieder mit Evrémonde!", so wendet ihm für einen Augenblick Evrémonde das Gesicht zu. Er sieht den Spion, betrachtet ihn aufmerksam und fährt weiter.

Die Uhren schlagen drei; die in dem Volkshaufen gepflügte Furche wendet um, und die aufwärts gerichteten Gesichter ziehen den letzten Karren nach, der Guillotine zu. Um das Gerüst her sitzt wie in einem öffentlichen Belustigungsgarten auf Stühlen eine Anzahl emsig strickender Weiber. Auf einem der vordersten Stühle steht die Rache und sieht sich nach ihrer Freundin um.

"Therese!" ruft sie mit ihrer schrillen Stimme. "Wer hat sie gesehen? Therese Defarge!"

"Sie hat sonst nie gefehlt" sagte eine von den Strickerinnen.

"Nein, und wird auch heute nicht fehlen", versetzt die Rache ärgerlich. "Therese!"

"Lauter!" bemerkt das Weib.

Ja! Lauter, Rache, viel lauter; und doch wird sie dich kaum hören. Noch lauter, Rache, und einen kleinen Fluch oder so etwas dazu; es wird sie kaum herbringen. Schick' die Weiber aus, um die Zögernde auf und ab zu suchen; die Sendlinge sind zwar vor dem Schrecklichsten nicht zurückgescheut, werden aber kaum aus freien Stücken dahin gehen wollen, wo sie sie finden können!

"Wie fatal!" ruft die Rache, auf dem Stuhl mit dem Fuße stampfend, "und die Karren sind schon alle da! Evrémonde wird abgefertigt sein im nächsten Augenblick, und sie fehlt. Seht da ihr Strickzeug in meiner Hand und ihren Stuhl, den ich ihr reserviert habe. Ich möchte weinen vor Verdruß und Ärger."

Während die Rache von ihrem erhöhten Standpunkt herabsteigt, um ihren Unmut in der gedachten Weise austoben zu lassen, beginnen die Karren ihre Ladungen abzusetzen. Die Priester der Guillotine sind in ihrem Ornat und bereit. Ritsch! – Ein Kopf wird in die Höhe gehalten, und die Strickerinnen, die kaum die Augen erhoben und nach ihm hingeschaut hatten, als er noch denken und sprechen konnte, zählen Eins.

Der zweite Karren entleert sich und fährt weiter. Der dritte kommt heran. Ritsch! – Und die Strickerinnen, die sich keinen Moment in ihrer Arbeit stören lassen, zählen Zwei.

Der vermeintliche Evrémonde steigt ab, und nach ihm wird die Näherin heruntergehoben. Er hat beim Aussteigen ihre ungeduldige Hand nicht losgelassen und hält sie noch immer, wie er ihr versprochen. Er gibt ihr eine Stellung, daß sie der unheimlichen Maschine, die stets auf- und niedergeht, den Rücken zuwende; sie sieht zu ihm auf und dankt ihm.

"Ohne Euch, mein teurer Fremder, wäre ich nicht so gefaßt, denn ich bin von Natur ein furchtsames armes Geschöpf. Ich hatte nicht vermocht, meine Gedanken Dem zuzuwenden, der in den Tod gegangen ist, damit wir heute in ihm Trost und Hoffnung finden. Wahrhaftig, Euch hat der Himmel mir zugesendet."

"Oder Euch mir", sagt Sydney Carton. "Haltet Eure Augen auf mich gerichtet, mein liebes Kind, und achtet nicht auf die andern Dinge."

"Ich habe keinen Sinn für sie, solange ich Eure Hand festhalte; und lass' ich sie los, so werden sie wohl rasch machen."

"Sie machen rasch; seid unbesorgt."

Die beiden stehen in dem schnell sich lichtenden Gedränge der Opfer, sprechen aber miteinander, als ob sie allein seien. Auge in Auge, Stimme gegen Stimme, Hand in Hand und Herz gegen Herz; die beiden Kinder der gemeinsamen Mutter, sonst so weit voneinander getrennt, haben sich zusammengefunden auf der dunklen Heerstraße, um miteinander einzugehen in die Heimat und in ihrem Schoße auszuruhen.

"Wackerer, edler Freund, wollt Ihr mir noch eine letzte Frage erlauben? Ich bin so gar unwissend, und ein Umstand beunruhigt mich – noch ein wenig."

"Sprecht."

"Ich habe ein Bäschen, eine einzige Verwandte, eine Waise wie ich, und ich liebe sie zärtlich. Sie ist fünf Jahre jünger als ich und lebt auf einem Bauernhofe im Süden. Die Armut hat uns getrennt, und sie weiß nichts von meinem Schicksale – denn ich kann nicht schreiben –, und wenn ich's auch könnte, wie sollte ich's ihr beibringen? Es ist besser so, wie es ist."

"Ja, ja, es ist besser so."

"Ich habe mir im Herfahren Gedanken gemacht, und ich beschäftige mich noch damit, während ich Kraft hole aus der Seelenstärke, die aus Eurem wohlwollenden Antlitze spricht – ob sie wohl noch lange leben und vielleicht alt werden wird, wenn die Republik wirklich den Armen zugute kommt und dafür sorgt, daß sie weniger hungern und überhaupt weniger leiden müssen?"

"Wie kommt Ihr auf dies, meine sanfte Schwester?"

"Glaubt Ihr" – die nicht klagenden Augen, die so viel Standhaftigkeit ausdrücken, füllen sich mit Tränen, und die Lippen öffnen sich bebend etwas weiter –, "die Zeit werde mir dann lang vorkommen, wenn ich auf sie warte in dem besseren Land, wo wir beide, wie wir hoffen, einen barmherzigen Schutz gefunden haben werden?

"Unmöglich, mein Kind; dort gibt es keine Zeit und keine Sorge mehr."

"Ihr werdet mir zum großen Troste. Ich bin so unwissend. Darf ich Euch jetzt küssen? Ist der Augenblick gekommen?"

"Ja."

Sie küßt seine Lippen und er die ihrigen. Sie segnen einander feierlich. Die freie Hand zittert nicht, nachdem er sie losgelassen hat, und in den holden, strahlenden Mut des geduldigen Gesichts mischt sich kein unedler Zug. Sie geht unmittelbar vor ihm hin – es ist vorbei. Die strickenden Weiber zählen Zweiundzwanzig.

"Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und an mich glaubt, der wird nimmer mehr sterben."

Gemurmel vieler Stimmen. Viele Köpfe richten sich mehr in die Höhe; von dem äußeren Rande der Volksmasse drängen Fußtritte näher heran, so daß es massenhaft sich vorwärts arbeitet wie eine ungeheure, alles mit sich fortreißende Woge. Dreiundzwanzig.

Man sagte an jenem Abend in der Stadt von ihm, nie habe man dort ein friedvolleres Menschenantlitz gesehen. Ja, viele wollten sogar eine prophetische Erhabenheit darin erkannt haben.

Eines der denkwürdigsten Schlachtopfer der Revolution – eine Frau – hatte nicht lange vorher am Fuße des Schafotts um die Erlaubnis gebeten, die Gedanken niederzuschreiben, die sie erfüllten. Hätte er den seinigen – sie waren prophetisch – Ausdruck leihen wollen, so würden sie folgendermaßen gelautet haben.

"Ich sehe Barsad und Cly, Defarge, die Rache, den Geschworenen, den Richter und lange Reihen von neuen Unterdrückern, die aus dem Untergang der alten hervorsprossen, unter diesem vergeltenden Instrument fallen, ehe es seinem gegenwärtigen Gebrauch entzogen wird. Ich sehe eine schöne Stadt und ein prächtiges Volk aus diesem Abgrunde sich erheben; und in seinen Kämpfen um wahre Freiheit, in seinen Triumphen und Niederlagen durch eine lange Reihe von Jahren hindurch sehe ich das Böse dieser Zeit und der vergangenen, aus der es naturgemäß hervorwuchs, allmählich sich sühnen und untergehen.

Ich sehe die Leben, für die ich das meinige opferte, im Frieden und Wohlstand, nützlich und glücklich verrinnen in jenem England, das mein Auge nicht mehr schauen wird. Ich sehe sie mit einem Kind auf ihrem Schoße, das meinen Namen trägt. Ich sehe ihren Vater, alt und gebeugt, aber sonst vollkommen genesen, wie er prunklos und getreu die Pflichten seines Berufes gegen jedermann übt. Ich sehe, wie zehn Jahre später der wohlwollende alte Mann, der so lange ihr Freund war, ruhig in die Ewigkeit eingeht zu seinem Lohn, nachdem er sie mit seinem ganzen Besitztum bereichert hat.

Ich sehe, daß ich mir ein Heiligtum erbaut habe in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Nachkommen auf Generationen hinein. Ich sehe sie, wie sie als eine alte Frau bei jeder Wiederkehr dieses Tages mir eine Träne weiht. Ich sehe, wie sie nach vollbrachtem Laufe an der Seite ihres Gatten in ihrem letzten Erdenbette ruht, und weiß, daß keines das andere in seinem Herzen mehr ehrte und heiliger hielt, als beide mich ehrten und heilig hielten.

Ich sehe das Kind, das auf ihrem Schoß ruhte und meinen Namen trägt, zum Manne gereift, wie er sich aufwärts schwingt auf dem Pfad, der vordem der meinige war. Ich sehe ihn meinen Namen herrlich machen durch das Licht des seinigen und sehe, wie die Flecken, die ich ihm anheftete, verblichen sind. Ich sehe ihn zuvörderst unter gerechten Richtern und geehrten Männern – sehe, wie er einen Knaben meines Namens mit dem goldigen Haar und der Stirn, die ich kenne, zu diesem Platz bringt – er ist jetzt schön anzusehen und zeigt keine Spur mehr von der Entstellung der Vergangenheit –, und höre, wie er mit weicher, bebender Stimme dem Kleinen meine Geschichte erzählt.

Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteil wurde."

 

 

Inhalt




Erstes Buch


Kapitel 1 - Die damalige Zeit

Kapitel 2 - Der Postwagen

Kapitel 3 - Nächtliche Schatten

Kapitel 4 - Die Vorbereitung

Kapitel 5 - Die Weinschenke

Kapitel 6 - Der Schuhmacher


Zweites Buch

Kapitel 1 - Fünf Jahre später

Kapitel 2 - Ein Spektakel

Kapitel 3 - Eine getäuschte Erwartung

Kapitel 4 - Glückwünsche

Kapitel 5 - Der Schakal

Kapitel 6 - Hunderte von Leuten

Kapitel 7 - Ein vornehmer Herr in der Stadt

Kapitel 8 - Ein vornehmer Herr auf dem Lande

Kapitel 9 - Das Gorgonenhaupt

Kapitel 10 - Zwei Zusagen

Kapitel 11 - Ein Kameradschaftsbild

Kapitel 12 - Der Mann von Zartgefühl

Kapitel 13 - Der Mann ohne Zartgefühl

Kapitel 14 - Der ehrliche Gewerbemann

Kapitel 15 - Strickzeug

Kapitel 16 - Noch mehr Strickzeug

Kapitel 17 - Ein Abend

Kapitel 18 - Neun Tage

Kapitel 19 - Ein ärztliches Gutachten

Kapitel 20 - Eine Bitte

Kapitel 21 - Widerhallende Fußtritte

Kapitel 22 - Immer höhere See

Kapitel 23 - Feuer hoch!

Kapitel 24 - Hin nach dem Magnetfelsen


Drittes Buch

Kapitel 1 - Ins Geheimnis

Kapitel 2 - Der Schleifstein

Kapitel 3 - Der Schatten

Kapitel 4 - Windstille im Gewitter

Kapitel 5 - Der Holzspalter

Kapitel 6 - Triumph

Kapitel 7 - Ein Klopfen an die Tür

Kapitel 8 - Eine Handvoll Karten

Kapitel 9 - Das Spiel geordnet

Kapitel 10 - Der Körper des Schattens

Kapitel 11 - Dämmerung

Kapitel 12 - Dunkelheit

Kapitel 13 - Zweiundfünfzig

Kapitel 14 - Ausgestrickt

Kapitel 15 - Die Fußtritte verhallen für immer



 

 




Erstes Buch


Ins Leben zurückgerufen

Kapitel 1 - Die damalige Zeit



Es war die beste und die schönste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis. Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, die Periode glich der unsrigen so wenig, daß ihre lärmendsten Tonangeber im Guten wie im Bösen nur den Superlativgrad des Vergleichens auf sie angewendet wissen wollten.

Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem mächtigen Kieferwerk und eine Königin mit einem einfachen Gesicht. Den Thron von Frankreich zierte ein Herrscherpaar von ganz den nämlichen Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es der königlichen Umgebung, Mundschenk, Truchseß und so weiter, klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.

Es war das Jahr unsere" Herrn Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade geistiger Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag zurückgelegt, auf dessen erhabenes Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt halten, daß London und Westminster von der Erde verschlungen werden würden. Sogar der Hahnengassengeist war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem er seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letztabgelaufenen Jahr noch getan, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im irdischen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen und haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluss auf das menschliche Geschlecht geübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.

Mit Frankreich, das, was geistige Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt ist als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und hurtig bergab, indem es Papiergeld machte und es verjubelte. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Belustigungen, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der unter strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Staub knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Junge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der bäuerlichen Gehöfte von ländlichem Staub bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnersteigen dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution herbeizuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit; aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser, denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.

In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, nicht aufs Land zu ziehen, ohne daß sie vorher ihre Einrichtung in einem Speditionsgeschäft geborgen hatten. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als "Kapitän" anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihn ritterlich durch den Kopf und spornte sein Roß weiter. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Führer schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den andern vieren, "weil ihm die Munition ausgegangen war", und nun erst konnte der Wagen mit Behaglichkeit geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber standhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg. Musketiere zogen nach St. Giles, um nach Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in der gleichen Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein andermal sein Amt Samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dem Dutzend nach Leuten die Hand brandmarkte, morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab, und dann wieder einen trotzigen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, in die Ewigkeit beförderte.

Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endeten in dem lieben alten Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Kieferwerke und jenes Paar einfacher schöner Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesenheiten, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.

Kapitel 2 - Der Postwagen



Es war die Doverstraße, die an einem Freitag des November spät abends vor der ersten der Personen lag, mit denen unsere Erzählung zu schaffen hat, und auf derselben Straße wackelte auch die Postkutsche von Dover Shooter's Hill hinan. Die Person stampfte gleich den übrigen Personen neben dem Wagen im Schlamm bergan – nicht weil den Umständen nach ein Spaziergang besonderes Vergnügen gewährte, sondern weil die Steigung so jäh, das Pferdegeschirr so lästig, der Schmutz so tief und die Kutsche so schwer war, daß die Rosse schon dreimal hatten halten müssen und außerdem einmal sogar die meuterische Absicht verraten hatten, mit Sack und Pack wieder nach Blackheath umzukehren. Doch kannten Zügel und Peitsche, Postknecht und Schaffner gemeinsam jenen Kriegsartikel, der die Annahme verbot, daß es mit Verstand begabte Tiere gäbe; und obgleich dieser Satz eher eine schonende Behandlung begründen sollte, hatte man doch durch die gegenwärtige erzielt, daß das Gespann kapitulierte und zu seiner Pflicht zurückkehrte.

Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen arbeiteten sich die Pferde durch den tiefen Straßenschlamm, indem sie zwischenhinein zappelten und strauchelten, als wolle bei ihnen alles aus den Gelenken gehen. Sooft der Kutscher sie mit einem behutsamen "Oha!" haltmachen ließ, schüttelte das nächste Handpferd ungestüm den Kopf und das dahinter befindliche Geschirr, gleichsam um mit ungewöhnlicher Emphase anzudeuten, daß die Kutsche da nicht hinaufzubringen sei. Und wenn das Roß in solcher Weise rasselte, fuhr der Passagier, wie ängstliche Reisende zu tun pflegen, zusammen und zeigte eine traurige Miene.

Auf allen Taleinschnitten lag ein qualmender Nebel, der sich in seiner Trübseligkeit bergan wälzte wie ein böser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie finden zu können. Er war feucht und ungemein kalt und bewegte sich in langsam aufeinanderfolgenden kleinen Wellenzügen, denen eines faulen Seestriches nicht unähnlich, durch die Luft. Sein Gewölk ließ das Licht der Kutschenlaternen nur auf ein paar Schritte unterscheiden, und der Dampf der sich abmühenden Pferde ging darin auf, so daß man meinen konnte, die abgehetzten Tiere seien die Quelle des ganzen Nebelmeeres.

Außer den gedachten Reisenden schritten noch zwei andere neben der Kutsche her. Alle drei waren bis über die Ohren verhüllt und trugen Stulpenstiefel. Keiner davon hätte nach dem Augenschein sich ein Urteil über das Aussehen des andern bilden können, und jeder war gegen die Geistesaugen seiner beiden Mitpassagiere ebenso verhüllt wie gegen ihre leiblichen. In jenen Tagen hütete man sich wohl vor allzu schneller Vertraulichkeit, da jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Räuber oder der Verbündete von Räubern sein konnte. Mit Charakteren der letzteren Gattung traf man besonders leicht zusammen, denn jedes Posthaus, jede Schenke konnte jemanden aufweisen, der im Solde des "Kapitäns" stand, mochte es nun der Wirt selbst oder irgendein unscheinbarer Stallbediensteter sein. So dachte auch der Lenker der Doverpost an jenem Freitagabend des Novembers Siebzehnhundertfünfundsiebzig, während er, Shooters Hill hinanholpernd, in seinem Kasten hinten auf dem Wagen stand, sich die Füße klopfte und weder Auge noch Hand von der Truhe vor ihm verwandte, in der auf einem Unterbau von Stutzsäbeln ein geladener Musketon und sechs oder acht geladene Reiterpistolen lagen.

Die Doverpost befand sich wie gewöhnlich in der angenehmen Lage, daß der Wagenführer die Reisenden und jeder Reisende seine Mitpassagiere und den Wagenführer, kurz, einer den andern beargwöhnte und der Postillion sich auf niemand als auf seine Pferde verlassen mochte, obschon auch er, sofern das liebe Vieh in Frage kam, es mit gutem Gewissen auf beide Testamente hätte beschwören können, daß es nicht für eine solche Reise paßte.

"Oha!" rief der Postillion. 

"So recht. Jetzt nur noch einen Zug, und ihr seid droben. Hol' euch der Teufel dafür, denn ich habe Not genug gehabt, euch hinaufzubringen. Joe!" 

"Holla!" entgegnete der Wagenführer. "Wieviel Uhr schätzt Ihr, Joe?" 

"Gut zehn Minuten über elf."

"Oh, Mord und Tod", rief der Postknecht ärgerlich, "und noch nicht einmal auf dem Shooter. Zu – hü! Vorwärts mit euch!"

Das emphatische Pferd, das in einem Akt der entschlossensten Verneinung von der Peitsche erreicht worden war, fing wieder kräftig an zu klettern, und die drei andern Rosse folgten seinem Beispiel. Noch einmal arbeitete sich die Doverpost vorwärts, und die Stulpstiefel der Reisenden klatschten nebenher. Sie hatten mit dem Wagen haltgemacht und demselben treulich Gesellschaft geleistet. Wäre einem von den dreien der vermessene Gedanke gekommen, den andern den Vorschlag zu machen, sie wollten in Dunkel und Nebel ein wenig vorausgehen, so hätte er sich damit sicher der Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.

Der letzte Anlauf brachte den Postwagen auf die Höhe des Berges. Die Pferde hielten wieder an, um sich zu verschnaufen, und der Wagenlenker stieg ab, um für die kommende Bergsenkung den Radschuh einzulegen und den Passagieren den Kutschenschlag zu öffnen.

"Pst, Joe!" sagte der Postillion in warnendem Ton, indem er von seinem Bock niederschaute.

"Was wißt Ihr, Tom?"

Beide lauschten.

"Ich höre ein Pferd uns nachtraben, Joe."

"Und ich sag', es galoppiert, Tom", versetzte der Wagenlenker, indem er seinen Schlag losließ und hurtig nach seinem Platz hinaufkletterte. "Meine Herren, in des Königs Namen, geschwind eingestiegen!"

Der für unsere Geschichte vorgemerkte Passagier stand eben auf dem Kutschentritt und wollte hinein; die beiden andern hielten sich dicht hinter ihm und waren im Begriff, ihm zu folgen. Der erstere blieb halb in, halb außer der Kutsche auf seinem Tritt, das andere Paar drunten auf der Straße. Sie alle blickten lauschenden Ohrs von dem Postillion auf den Wagenführer und von dem Wagenführer auf den Postillion. Beide gaben ihnen die Blicke zurück, und selbst das emphatische Pferd spitzte die Ohren und schaute rückwärts, ohne einen Widerspruch zu erheben.

Die Stille, die auf das Aufhören des Rädergerassels und Rossegestampfs folgte, machte das Schweigen der Nacht nur um so eindrucksvoller. Das Schnauben der Pferde teilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als befände sie sich in einem Zustand von Aufregung. Die Herzen der Passagiere klopften vielleicht hörbar laut. Jedenfalls erzählte die stille Pause sehr verständlich von Leuten, die außer Atem waren, aber gleichwohl keine Luft einzuziehen wagten und unter beschleunigtem Herzschlagen dessen harrten, was da kommen sollte.

Man hörte, daß ein Pferd in wütendem Galopp den Berg hinaufjagte.

"Oho!" brüllte der Wagenlenker, so laut er konnte, in die Nacht hinaus. "Ihr dort – halt! – oder ich gebe Feuer!"

Der Hufschlag hielt plötzlich inne, und mit Not kämpfte sich die Stimme eines Mannes durch den Nebel: Ist das die Dover-Post?"

"Was kümmert's Euch, wer wir sind?" entgegnete der Wagenlenker. "Wer seid Ihr?"

"Ich frage, ob dies die Dover-Post ist."

"Wozu braucht Ihr dies zu wissen?"

"Ich will zu einem ihrer Passagiere."

"Wie heißt der Passagier?"

"Mr. Jarvis Lorry."

Der Reisende auf dem Tritt ließ sogleich merken, daß dies sein Name sei. Der Wagenlenker, der Postillion und die beiden andern Passagiere betrachteten ihn mißtrauisch.

"Bleibt, wo Ihr seid", rief der Wagenlenker der Stimme im Nebel zu, "denn wenn mir aus Versehen etwas passiert, so könnt' ich's Eurer Lebtage nicht wieder gutmachen. Der Gentleman namens Lorry soll unumwunden antworten."

"Was gibt's!" fragte darauf der Passagier mit leiser, unsicherer Stimme. "Wer will etwas von mir? Ist es Jerry?"

"Die Stimme dieses Jerry gefällt mir gar nicht, wenn er wirklich so heißt", brummte der Wagenlenker vor sich hm. "Der Jerry ist heiserer, als mir lieb ist."

"Ja, Mr. Lorry."

"Was gibt's?"

"Man hat mich Euch mit einer Depesche nachgeschickt. Von T. und Co."

"Ich kenne diesen Boten, Schaffner", sagte Lorry, wieder auf die Straße hinaustretend, wobei ihm die beiden andern Passagiere, die nicht geschwind genug in die Kutsche kommen, den Schlag schließen und das Fenster aufziehen konnten, von hinten her hurtiger, als sich eben mit der Höflichkeit vertrug. Beihülfe leisteten. "Laßt ihn herankommen: es ist nichts Unrechtes."

"Ich will's hoffen, bin aber noch nicht so fest überzeugt davon", sprach der Wagenlenker rau vor sich hin. "He, Ihr!"

"Nun, was soll's?" entgegnete Jerry, noch heiserer als zuvor.

"Reitet im Schritt heran – habt Ihr mich verstanden? Und wenn Ihr an Eurem Sattel Halfter habt, so kommt mir ihnen mit der Hand nicht zu nahe; denn ich habe verteufelt hurtig etwas versehen, und wenn es geschieht, so nimmt es die Form des Bleis an. So, jetzt laßt mich Euch mustern."

Die Gestalt des Reiters kam langsam durch den wirbelnden Nebel gegen die Seite des Postwagens her, wo der Reisende stand. Dann machte der Fremde halt, blickte zu dem Schaffner auf und händigte dem Passagier ein Brieflein ein. Das Roß des Boten schnaubte mächtig, und Mann und Tier waren vom Huf bis zur Hutspitze mit Schmutz bespritzt.

"Schaffner", sagte der Passagier im Tone ruhiger Geschäftszuversicht.

Der wachsame Schaffner, der die Rechte am Schaft, die Linke am Lauf seines Musketons hatte und kein Auge von dem Reiter verwandte, antwortete kurz:

"Sir!"

"Es ist nichts zu befürchten. Ich gehöre zu Tellsons Bank. Ihr müßt Tellsons Bank in London kennen. Ich reise in Geschäftsangelegenheiten nach Paris. Hier ein Krone Trinkgeld. Darf ich dies lesen?"

"So macht nur rasch, Sir."

Er trat an die auf seiner Seite brennende Kutschenlaterne, öffnete das Schreiben und las, zuerst für sich, dann laut:

" 'Wartet in Dover auf Mamsell.' Ihr seht, dies ist nicht lang, Schaffner. Jerry, sagt, meine Antwort darauf sei: Ins Leben zurückgerufen."

Jerry richtete sich in seinem Sattel auf. "Das ist eine verwettert kuriose Antwort", sagte er in seinem heiseren Tone.

"Richtet da" aus, und man wird daraus ersehen, daß ich den Brief erhalten habe, ohne daß ich Euch eine schriftliche Antwort mitgebe. Jetzt macht, daß Ihr wieder zurückkommt. Gute Nacht."

Mit diesen Worten öffnete der Passagier den Wagenschlag und stieg ein. Diesmal halfen ihm seine Reisegefährten nicht, sondern taten, als ob sie schliefen, nachdem sie zuvor mit aller Behendigkeit Uhren und Börsen in ihren Stiefeln verborgen hatten. Ihr angeblicher Schlummer sollte sie wohl nur vor der Gefahr bewahren, zu einer andern Art von Tätlichkeit Anlaß zu geben.

Die Kutsche holperte wieder weiter, und da es jetzt bergab ging, wurde der Nebel immer dichter. Der Wagenführer legte den Musketon wieder in die Truhe, musterte ihren übrigen Inhalt, sah nach den Pistolen, die er noch als Zugabe in seinem Gürtel stecken hatte, und visitierte dann einen kleineren Behälter unter seinem Sitz, in dem sich einige" Schmiedegeräte, ein paar Fackeln und eine Zunderbüchse befanden. Er war nämlich mit solcher Sorgfalt ausgestattet worden, um für den hin und wieder vorkommenden Fall, daß die Kutschenlichter vom Sturm ausgeblasen würden, sich einschließen und unter Vermittlung von Stahl und Stein mit leidlicher Sicherheit und Gemächlichkeit, wenn's gut ging, binnen fünf Minuten ein Licht zustande bringen zu können.

"Tom!" flüsterte es über das Kutschendach herunter.

"He, Joe?"

"Habt Ihr gehört, was da ausgerichtet werden soll?"

"Ja, Joe."

"Was denkt Ihr Euch dabei, Tom?"

"Nichts, Joe."

"Wie das so seltsam zusammentrifft", sagte der Schaffner vor sich hin. "Mir geht es gerade ebenso."

Sobald Jerry sich in Nacht und Nebel allein sah, stieg er ab, nicht nur, um es seinem Pferd leichter zu machen, sondern auch um sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen und aus seinem Hutstulp die angesammelte große Wassermenge zu schütteln. So stand er, die Zügel seines Tieres über den schwer besudelten Ärmel geschlungen, da, bis er von dem weiterrollenden Postwagen nichts mehr hörte und die Nacht wieder mäuschenstill geworden war. Dann wandte er sich, um zu Fuß bergab zu gehen.

"Nach dem Galopp von Temple Bar her mag ich mich deinen vier Beinen nicht mehr anvertrauen, alte Mähre, bis ich dich wieder in der Ebene habe", sagte der heisere Bote, sein Tier betrachtend. ""Ins Leben zurückgerufen". Das ist eine verteufelt kuriose Botschaft, und du könntest dich nicht auf viele dergleichen einlassen, Jerry. Laß dir sagen, Jerry, du kämest in eine verzweifelt schlechte Karriere, wenn das Ins-Leben-Zurückrufen zur Mode würde."

Kapitel 3 - Nächtliche Schatten



Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit hehren Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinander gehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns der Tod einflößt, hat in diesem Umstand seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlöslichen Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in die meinige übertragen habe. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir der innern Persönlichkeit nach ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebenso gut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders erging es den drei im engen Raum einer holperigen alten Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte aber dabei eine entschiedene Neigung, nicht viel Worte zu verschwenden und den Hutrand über den Augen aufgestülpt zu tragen. Freilich hatte er Augen, denen eine solche Dekoration recht gut stand: denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finsteren Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Hülle nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

"Nein, Jerry, nein", fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, "das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Handwerksmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen."

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmal den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er ein steifes schwarzes Haar, das sich überall borstig emporsträubte und fast bis zu seiner stumpfen Nase bergab wuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen; denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Laubfroschspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen, während sie für sein Roß Umrisse gewannen, die aus dessen Privatbesorgnissen entsprangen. Letztere mußten wohl sehr zahlreich sein: denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schulterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Und wem enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die die schimmernden Augen und die unsteten Gedanken an die Hand gaben?

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das ihrige tat, um ihn vor einem Zusammenstoß mit dem Nachbar oder vor einem Wurf in die Ecke zu bewahren, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitze nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die durch dieselben trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenübersitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel bezahlt, als Tellson trotz seiner ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewöhnt war. Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Betäubungsmittel genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Weg, jemanden aus dem Grabe herauszugraben.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht. Dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens sich voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern folgten der Reihe nach. Ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

"Wie lange schon begraben?"

Und jedesmal lautete die Antwort in der gleichen Weise:

"Fast achtzehn Jahre."

"Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?"

"Längst."

"Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?"

"So höre ich."

"Ich hoffe, dies hat noch einen Wert für Euch?"

"Ich weiß darauf nichts zu sagen."

"Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?"

Die Antworten auf diese Frage waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: "Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe." Ein andermal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und klang: "Nehmt mich zu ihr." Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: "Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht."

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel, oder wohl gar mit den Händen – um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so verfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch den Regen und Nebel, die seine Wangen feuchteten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für den Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die stoßweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurücksagen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstige Gesicht hervor, das er abermals anredete:

"Wie lange schon begraben?"

"Fast achtzehn Jahr."

"Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch."

"Weiß nicht."

Und er grub, grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder aufziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.

"Wie lange schon begraben?"

"Fast achtzehn Jahre."

"Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?"

"Längst."

Diese Worte klangen noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.

Er ließ das Fenster nieder und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits desselben sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.

"Achtzehn Jahre!" sagte der Passagier, zu der Sonne aufblickend. "Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!"

Kapitel 4 - Die Vorbereitung



Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Royal-George-Hotel den Kutschenschlag. Er tat dies mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel; denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.

Diesmal galt der Glückwunsch nur einem einzigen Passagier; denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, in den dichten, zottigen Umhüllungen, den niederhängenden Hutkrempen und den schmutzbespritzten Beinen den dazu gehörigen Hund vorstellen konnte.

"Geht morgen ein Paketschiff nach Calais, Kellner?"

"Ja, Sir, wenn das Wetter hält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Ein Bett, Sir?"

"Das werde ich heute Nacht nicht brauchen. Doch wünsche ich ein Schlafzimmer zu haben. Schickt mir einen Barbier."

"Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn's beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentleman und heiß Wasser auf Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel ab! Ihr werdet ein schönes Seekohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier auf Concord! Hurtig da, auf Concord."

Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen und ließ in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, die interessante Beobachtung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder herauskamen. Als daher zufällig ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin an unterschiedlichen Punkten des Weges zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer einherschlenderten, sahen sie einen Gentleman von etwa sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen, braunen Anzug mit breiten Ärmelaufschlägen und großen Taschen auftauchen, um unten sein Frühstück einzunehmen.

Selbigen Vormittag barg das Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war von dem Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen.