Wolf W. Lasko

Nietzsche: Rock
dein Schicksal

Inhalt

Prolog

Wille zum selbstbewussten Übermenschen

Wille zum Übermenschen

Determiniert von biologisch verankerten Begabungen und Talenten?

Determiniert von sozialen Prägungen: Herkunft, Erziehung und Bildung

Evolutionsglaube

Glauben an jenseitige „Hinterwelten“

Glauben an die Autorität geltender Sittengesetze

Glauben an den allgemeinen Fortschritt zum Besseren

Unreflektierte Nachfolge anderer Menschen und Vorbilder

Glauben an eine göttliche Allmacht aus dem Jenseits

Weitere Denkfalle: Genies, Heilige, Gurus, Stars und andere Lichtgestalten

Weitere Denkfalle: Nietzsches Gebrauch des Begriffs „Züchtung“ für Menschen und Übermenschen?

Wille zum rücksichtslosen Entwerten

Umwerten von menschlichen Werten und die Frage nach Freiheit und Verantwortung

Entwertung von Moralen

Neubewertung von Bewusstsein und Ich

Entwerten von Wirklichkeit und die Illusion der Wahrheit

Entwertung des materiell-biologischen Fortschrittsglaubens und heutige Chancen und Grenzen der Genetik

Entwertung von Standpunkten und Perspektiven

Kritik und Entwertung des Gottesglaubens

Entwerten von Religion-Christentum-Kirche und Glauben

Entwertung von Kultur und Kunst durch den demokratischen Staat und den sozialen Fortschritt

Entwertung von Idealismus und Positivismus

Wille zum machtvollen Leben

Musik, Kunst und Zeitgeist im 19. Jahrhundert

Tanz, Leichtigkeit und Spiel

Verwirklichen des eigenen Selbst durch Denken und Gedankenexperimente

Die Lust, zu wandern und zu philosophieren

Die Lust am Schreiben und am Geschriebenen

Nietzsche, der Künstler und Wissenschaftler

Der erste wirkungsvolle psychologisierende Philosoph

Das Vermächtnis von Nietzsches Sprache und Stil

Die Rolle von Krankheit, Einsamkeit und tragische Erleiden in Nietzsches Leben und in seiner Philosophie

Elitäre Perspektiven auf Gesellschaft, Kultur und Kunst

Epilog

Danke

Über den Autor

FAT

Fatum u. Geschichte
(1862)

HOM

Homer und die klassische Philologie
(1869)

TRA

Die Geburt der Tragödie
(1871/72, 1874/78, Neuausgabe 1886)

BIL

Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten
(Vorträge, 1872)

FÜN

Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
(MS für Cosima Wagner, 1872)

PHI

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
(1873, Nachlass)

DAV

David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller
(1873)

LÜG

Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn
(1873, Nachlass)

HIS

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
(1873/74)

ERZ

Schopenhauer als Erzieher
(1874)

BAY

Richard Wagner in Bayreuth
(1876)

MEN I

Menschliches, Allzumenschliches
(1878; Bd. 1, Ausgabe von 1886)

MEN II, Mei

Menschliches, Allzumenschliches,
Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche
(1879); Bd. 2, 1. Abtg. (1886)

MEN II, Wan

Menschliches, Allzumenschliches,
zweiter Nachtrag: Der Wanderer und sein Schatten
(1880); Bd. 2, 2. Abtg. (1886)

MOR

Morgenröte
(1881, 2. Ausg. 1887)

FRÖ

Die fröhliche Wissenschaft
(1882, erweitere Ausgabe 1887)

ZAR I–IV

Also sprach Zarathustra
(I u. II 1883, III 1884, IV 1885)

JEN

Jenseits von Gut und Böse
(1886)

GEN

Zur Genealogie der Moral
(1887)

WAG

Der Fall Wagner
(1888)

ANT

Der Antichrist
(1888)

GÖT

Götzen-Dämmerung
(1888)

ECC

Ecce Homo
(1888, publ. 1908)

CON

Nietzsche contra Wagner
(1888)

DIT

Dionysos–Dithyramben
(1884–88)

Die Nietzsche-Zitate wurden dem 2001 im Deutschen Taschenbuch Verlag, München, erschienenen Buch ‘Das Lexikon der Nietzsche-Zitate’ von Johann Prossliner entnommen.

Prolog

„Ich will nicht, dass man mir etwas nachmache; ich will,
dass jeder sich etwas vormache“.

(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Ein Vademecum für Nietzsche-Liebhaber

„Vade mecum“ heißt zu Deutsch „Geh mit mir“. Dieses Buch ist eine Einladung zu einem abwechslungsreichen Spaziergang durch individuelle Nietzsche-Landschaften mit einem neuen, systematisierenden Blick:

1. Sich erkennen (Wille zu persönlichem Wachstum)

2. Hindernde Werte entwerten (Wille zum Ballastabwerfen)

3. Sich neu erschaffen (Wille zu einem bejahenden Leben)

und kann ein gedanklich begeisternder Wegbegleiter, privat aber auch im beruflichen Alltag sein. Etwa bei der Zusammenarbeit mit Führungspersönlichkeiten und Managern der Wirtschaft trat klar zutage, welche enorm aktuelle – philosophische und praktische – Denkimpulse dieses Denkgenie aus dem vorletzten Jahrhundert auch dem modernen Unternehmertum zu bieten hat. Der „aristokratische Rebell“1 und konsequente Querdenker Friedrich Nietzsche passt vielleicht nicht unbedingt in unsere wohlstandsorientierte Öffentlichkeit, zu den auf Konsum und virtuelle Ablenkung programmierten Bevölkerungsmassen oder zu den Polit-Beamten hier in Deutschland und anderswo im Westen. Eher zu verorten sind seine durchaus noch zeitgemäßen Ideen vermutlich in einer unternehmerisch geprägten Gedankenwelt von Individualisten, die mit offenem Geist und starkem, schöpferischem Veränderungswillen in ihren wirtschaftlichen Wirkungsbereichen etwas bewegen wollen. Menschen, die Neues gestalten, die Eigenes verwirklichen und damit bei ihrem eigenen Selbst anfangen. Solche zeitgenössischen Querdenker sind – akademisch betrachtet – erfahrungsgemäß ganz überwiegend die reinsten Amateure. Also Mitmenschen, die das Philosophieren oder gar die Poesie um ihrer selbst willen lieben – und diese Begeisterung nicht zu ihrem Broterwerb gemacht haben. Für professionelle Amateure2 im Wortsinne jedoch, die sich unbefangen, mit gesundem Menschenverstand und mit Begeisterung der Gedankenwelt und den sprachlich mitreißenden Texten Friedrich Nietzsches nähern und die darangehen, sich lustvoll in seine philosophischen Provokationen zu vertiefen – kurz: für Dilettanten (der Wortstamm bedeutet ja „sich erfreuen“) ist dieses Buch geschrieben.

Avanti Dilettanti

Ein Dilettant3 ist bekanntlich intrinsisch gesteuert; Dilettanten tun eine Sache aus eigenem Antrieb, um ihrer selbst willen, aus Interesse, Vergnügen plus Leidenschaft. Der Ehrgeiz des Autors von „Nietzsche: Rock dein Schicksal“ war es also nicht, eine neue Nietzsche-Interpretation für Kathedergelehrte und Geistesoder Sozialwissenschaftler zu verfassen - Nietzsche selbst hat sein ursprüngliches wissenschaftliches Fach, die Altphilologie, bereits in seiner akademischen Leipziger und Basler Zeit mit scharfsinniger Logik höchst kritisch betrachtet als Spezialistentum, das oftmals die große Linie des Gesamtwerks aus dem Blick verliert. Dilettanten, die sich ihre literarische Neugier für den unmittelbaren Zugang zu seinen Werken bewahrt haben, ticken anders.

Der Appell des Buches lautet also: Lesen Sie dilettantisch! Lassen Sie sich spontan ein auf begeisternde Aphorismen Nietzsches und Zitate aus seinen Werken.

Nietzsches Werke kann man wissenschaftlich sezieren – oder sich einfach für sie begeistern

Friedrich Nietzsche zählt unbestritten zu den bedeutendsten – eindrucksvollsten, eigenwilligsten, zum eigenen Denken inspirierensten – Philosophen und Denkern der Moderne. Der Geist seiner Werke bewegt bis heute unzählige geistig neugierige Menschen. Dahinter mag Begeisterung für sein Pionierdenken, aber auch starkes wissenschaftliches Engagement und forscherischer Ehrgeiz stehen. Nietzsches literarisches Werk wird unter verschiedenen Aspekten logisch seziert und geistvoll mit der übrigen wissenschaftlichen Sekundärliteratur verglichen. Mit überbordender Lust an wissenschaftlicher Differenzierung werden seine Schriften biografisch analysiert und akribisch unterschieden nach den frühen, den unausgereiften und den späteren Phasen und Höhepunkten seines philosophischen Schaffens. Und es wird spekuliert, wo etwa der Beginn seiner geistigen Umnachtung zu verorten sei, als ihm dann bereits der Wahn die Feder geführt hatte. Da gibt es tiefgründige geisteswissenschaftliche Untersuchungen darüber, welche historischen und zeitgenössischen Geistesgrößen auf welche Weise Nietzsches Denken positiv oder negativ beeinflusst und geprägt haben und welche Denker er gar völlig ignorierte.

Einerseits verdienen die Leistungen solcher Nietzschekenner und Experten hohen Respekt. Andererseits stellt man sich gelegentlich die Frage: Handelt es sich da nicht ganz oft um wilde und üppige Spekulationen, um Glasperlenspiele im akademischen Elfenbeinturm? Interpretieren solcherlei Sekundärschriften nicht nur manche herausgepickten Details, nur einen ganz geringen, vielleicht auch zweitrangigen Bruchteil von Nietzsches Gesamtwerk? Wird da nicht manchmal auch Tertiär-Literatur über die gängige Nietzsche-Sekundärliteratur verfasst – Interpretationen, die schließlich zu staubtrockenen Hyperanalysen über Nietzsches Gesamtwerk führen, ohne dessen Vielfalt und Widersprüchlichkeiten wirklich gerecht zu werden?

Lesen Sie Nietzsche

Wenn der Leser die akademische Brille absetzt, dann verschwindet damit der Effekt, dass er sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Dann erschließt sich unmittelbar und einfach Nietzsches überwältigende, magische und philosophisch so moderne Gedankenwelt. 1. Sich erkennen (Wille zu persönlichem Wachstum), 2. Hindernde Werte entwerten (Wille zum Ballast abwerfen),3. Sich neu erschaffen (Wille zu einem bejahenden Leben).

Bei dieser Herangehensweise wird auf einen Blick das Verbindende sichtbar, der Sesam öffne dich durch die systemische Trilogie „erkennen – entwerten – neu erschaffen“: Die Kernbotschaften treten unmittelbar zu Tage. Eine davon tönt wie ein Grundakkord durch Nietzsches gesamtes Werk. Sie steht in „Die fröhliche Wissenschaft“ und lautet: „Du sollst der werden, der du bist.“ Das bedeutet: Am Beginn steht die Aufforderung und Herausforderung, sich anzustrengen. Der Lohn dafür ist eher ein mysteriöses Versprechen. Es steht in „Zarathustra Vorrede“: und lautet: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“

Erkennen, entwerten, neu erschaffen

Um die Geburt tanzender Sterne in Nietzsches Werken zu beobachten, empfehlen sich also drei gedankliche Arbeitsschritte: erkennen – entwerten – neu erschaffen. Aus diesen drei Blickwinkeln ist das Buch mit seinen drei Teilen verfasst. Gemeinsam ist allen drei Teilen der Begriff „Wille“. Dieser nächste Schlüsselbegriff schafft einfache und überzeugende Wegmarkierungen, die durch das Gesamtwerk des Philosophen geleiten können, so komplex und vielschichtig sein Denken und Schreiben auch ist.

Wille zum selbstbewussten Übermenschen: erkennen

Es ist der Appell an den Einzelnen: Schaffe dir ein Bewusstsein für vorhandene Prägungen. Und: Mensch, entwickle dich, geh über dich hinaus. Das ist mit „Übermensch“ gemeint. Das Wort ist ein Weckruf, nicht geistig abzusacken, hinzufallen oder zu stagnieren. Gefordert ist der Einzelne vielmehr, eigenen Willen aufzubringen, um an sich zu arbeiten, sich aus seinen Konditionierungen herauszuarbeiten, sich dafür anzustrengen, Energie und Kraft da hineinzustecken. Das setzt voraus: sich der aktuellen eigenen Persönlichkeit überhaupt erst einmal bewusst zu werden und zu erkennen, dass zumeist andere – andere Menschen und andere Ideen – bisher Regie über das eigene Leben geführt haben und es weitgehend gestalten. Das meint, nicht in der einschläfernden Komfortzone des Gewohnten zu verharren, wo die Anpassung regiert. Sich nicht der Alltagsroutine mit ständiger medialer Ablenkung vom wirklichen Leben auszuliefern. Sondern den Autopiloten abzuschalten, das Steuer zu übernehmen und den Kurs der Fahrt im Leben selbst zu bestimmen.

Es geht also zuerst einmal darum, überhaupt den Einfluss fremder Konditionierungen auf das eigene Denken und Fühlen als blockierende Denkfallen zu erkennen. Wer in ihnen gefangen ist, verpasst individuelles Wachstum über sich selbst hinaus. Eine Veränderung in diese Richtung muss bewusst entschieden und gewollt sein. Den hohen Anspruch an den Einzelnen und die entsprechende Herausforderung fasst Nietzsche, wie gesagt, in den prägnanten Satz: „Du sollst der werden, der du bist.“4 Es kommt auf das Werden-Wollen an, gegen alle inneren Widerstände, gegen den inneren Schweinehund. Nietzsche nennt es innere Zucht, und Lehrer oder Erzieher sind in seiner uns etwas altertümlich anmutenden Sprache dann auch Züchter oder Zuchtmeister. „Der Schläfer muss erwachen“ (Dune – Der Wüstenplanet).

Überprüfen, was wertlos geworden ist: entwerten

Der nächste Arbeitsschritt ist: das, woraus die eigene Persönlichkeit – Nietzsche nennt es die „erste Natur“ – besteht, rigoros auf das zu überprüfen, was an ihr noch wertvoll und was nicht mehr hilfreich ist; in Frage zu stellen, welche Werte das eigene Selbst ausmachen. Es geht somit um Prägungen, die wir – meist unbewusst und unreflektiert – bereits als Kinder, Heranwachsende und später als erwachsene Zeitgenossen erfahren, aufgegriffen, verinnerlicht und stabil in unsere Person integriert haben. In Frage gestellt werden damit nachhaltige Einflüsse von Eltern, Geschwistern und nahen Verwandten, des sonstigen sozialen Milieus, in dem wir aufwachsen sind, Einwirkungen von Lehrern und Peergroups, von Stars, Idolen, anderen verehrten Vorbildern und vor allem auch von all dem, was als „Zeitgeist“ unser Denken, Fühlen und Tun, unsere Anhaftungen und Ablehnungen prägt und sich schließlich als Ich, als Individualität, als Glaube, Überzeugung, Vorurteil und Haltung in unserer Persönlichkeit verfestigt hat. Es geht darum, radikal zu überprüfen: Will man diese Werte überhaupt behalten? Nützen sie zu einem kraftvollen eigenen Leben? Oder engen sie ein, begrenzen sie, sind sie für unser kreatives Wachstum eher förderlich oder hinderlich? Nietzsche sagt dazu: „Überzeugungen sind Gefängnisse“5 Wer im Gefängnis alter Werte einsitzt, kann nur herauskommen, wenn er weiß, dass er durch Gitterstäbe schaut. Und erst dann kann man zum Entfesslungskünstler werden und in den Widerstand gehen. Widerstand wogegen? Gegen die Konditionierungen oder Fallen, die das Leben uns stellt. Wer sich also von belastenden Konditionierungen wie einem erdachten Gott oder Ersatzgöttern, wer sich von überkommenen moralischen Werten frei machen will, der muss zu einem geistigen Hochleistungskämpfer werden. Denn unsere „erste Natur“, wie Nietzsche es nennt, ist widerspenstig und hält uns zäh im Kreise des Gewohnten fest. Was kann und soll also kritisch reflektiert und schließlich verändert und entwertet werden? Und dies immer wieder aufs Neue, denn wir sind ja ständig neuen äußerlichen Konditionierungen ausgesetzt, die im Zweifel machtvoll erneute Anpassungen an unsere Umwelt und in unserem Leben erzwingen?

Eigene Werte herauszufinden setzt voraus, damit zu beginnen, den vollen Krug der Werte und Konditionierungen Glas für Glas so weit zu entleeren, dass Neues darin Platz hat. Uns leer zu machen von nutzlos gewordenen Werten, um erleichtert und befreit davon Neuland zu betreten. Die Reise in diese geistigen Terrains der Entwertung verschafft überraschende Einsichten darin, wie wir Dingen Sinn gegeben haben, die letztlich sinnlos sind, wie sich bei näherer Betrachtung moralische Werte und Wahrheitsideen bestenfalls als Wahrscheinlichkeiten entpuppen oder sich in Nichts auflösen und so fort. Die Kette der Entwertung kann lang, die einzelnen Glieder können zahlreich sein. Mancher in diesem Umdenk-Prozess kehrt vielleicht früh wieder zurück in gewohnte Komfortzonen und vertraute Glaubenswelten, verfällt erleichtert wieder in den alten moralischen Trott und ist dankbar für all die Ablenkungen durch die Massenmedien, die ihn heutzutage wirkungsvoll vom kritischen Denken abhalten.

Wozu Nietzsche aufruft, ist: sich das aufoktroyierte Wertesystem klarzumachen (inwieweit es überhaupt bewusst begriffen und reflektiert werden kann), es auf den intellektuellen und emotionalen Prüfstand zu stellen, die Herkunft persönlicher Werte herauszufinden, sie differenziert zu überprüfen und im Zweifel außer Kraft zu setzen. Als da sind: religiöse Glaubenstraditionen, wissenschaftliche Dogmen, psychologische und ethische Axiome, herrschende politische und gesellschaftliche Regeln, Gesetze und Verhaltensgrundsätze, Moralen und andere einflussreiche Prinzipien des sozialen Zusammenlebens.

„Umwerten aller Werte“6 ist ein weiteres Schlüsselwort von Nietzsches Philosophie und Moralkritik. Es ist auch der Ansatzpunkt zur Kritik bestehender „oberster Werte“ und von „Herrschafts-Gebilden“. Vereinfacht und zugespitzt gesagt: Nietzsche ermuntert zum hartnäckigen Entwerten und Zerstören überkommener, unglaubwürdig gewordener Denkweisen, speziell der christlichabendländischen. Der Weg dorthin führt von der bewussten Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis zur konsequenten willentlichen Selbstgestaltung.

Der Wille zu einem machtbewussten Leben:
neu erschaffen

Schließlich, und das ist keine Überraschung, geht es darum, trotz eines „letzten Wissens“ um die Sinnlosigkeit des Daseins sich selbst neu zu erschaffen, zum selbstbewussten Schöpfer des eigenen Lebens zu werden. Unabhängig davon, ob die Kräfte, die diesen Schritt bewirkt haben, ihrerseits selbst äußere Prägungen sein können – ein stetiger Kreislauf also des Wachrüttelns. Nietzsche macht deutlich: Diese Willensakte folgen einem Prozess der Entfesselung. Er fordert dazu auf, souverän die Macht über sein Leben zu ergreifen. Wer solcherart seine Komfortzone verlässt, sollte sich bei dem Umdenkprozess mit aller Entschlusskraft dem anvertrauen, was (vorübergehend) als wichtig und richtig erkannt ist. Das Buch befasst sich in seinen einzelnen Kapiteln mit der reichhaltigen Matrix von Empfehlungen, die Nietzsche – speziell unter kulturellen Aspekten – für das individuelle Tun bereithält. Es ist eine Ideenplattform der Entfesselung. Dabei muss man aber wissen, wie notwendig es ist, sich immer wieder aufs Neue zu erden, um nicht vom unterbewussten Chaos verschlungen zu werden. Der unbedingte „Wille zur Macht“ fordert – ohne Einschränkungen durch ein „hätte“, „würde“, oder „könnte“ – zum unbedingten Ja zum Leben auf. Es ist eine Haltung, die hinnimmt, was ist, so wie es ist. Nicht in fatalistischer Passivität, ganz im Gegenteil: Der Einzelne wird aufgefordert, immer wieder als Pionier in neue Werte-Welten aufzubrechen, um dort neue Tugenden (es gibt kein besseres als dieses altmodische Wort dafür) zu entdecken – und auch sie, wenn es an der Zeit ist, wiederum in Frage zu stellen. Eine solche Haltung zum Leben wird zu einem Geschenk des Einzelnen – an sich selbst.

Kamel, Löwe und Kind

Den gesamten Prozess der individuellen Wahrheits- und Selbstfindung (erkennen, entwerten, neu erschaffen) fasst Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ in einem großartigen Bild von den Verwandlungen des Geistes zusammen:„… wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“

Der Geist des Kamels bedeutet – in Demut und Folgsamkeit, Genügsamkeit und Selbstverleugnung –, den mit allen aufgezwungenen Werten belasteten Weg in die Wüste zu gehen. Das Tragetier verkörpert das Vermögen, sich anzupassen an (extrinsische) widrige äußere Umstände. Und dazu gehört auch die subjektive Last, darunter zu leiden. Dieser Weg führt, so Nietzsche, direkt in die Wüste der Einsamkeit.

Dem folgt die geistige Verwandlung zum Löwen. Gegenüber dem alten „Drachen“ des „Du sollst“ entfaltet er kritischen eigenen Willen, mit dem er sich überlegen Macht erkämpft. Der Einzelne gewinnt damit die souveräne Freiheit der Stärksten und seine individuelle Selbstbestimmung. Es ist eine machtvolle, zugleich jedoch auch höchst destruktive Denkhaltung des Zerstörens und Entwertens.

Die dritte Verwandlung, die zum Kinde – jeglichem Fatalismus und damit allem Nihilismus zum Trotze – führt schließlich zu einer neuen geistigen Unschuld, zum spielerischen Umgang mit der Welt und so zu einem unbedingten Ja zum Auf und Ab im eigenen Leben, zu einer vorbehaltslosen Liebe zum eigenen Schicksal, so wie es ist. Nietzsche nennt es amor fati.

Grenzgängertum

Kommen wir noch einmal auf die Denkstruktur, wie wir sie bei Nietzsche gefunden zu haben meinen, zurück: Bei den drei Denkschritten geht es wie gesagt generell darum, auferlegte, verinnerlichte Bewusstseinsgrenzen zu erkennen, sie dann willentlich zu sprengen, um frei zu werden, um Neuland zu entdecken und es mutig zu erschließen. Solcherlei Grenzgängertum, das hebt Nietzsche hervor, kann direkt ins Formlose, ins furchterregende Chaos führen. Es verlangt deshalb auch, dass der kühn mit seinem Denken experimentierende Philosoph – je nach persönlichem Temperament und Wagemut – dann zu einer angemessenen graduellen „Entsteigerung“ zurückfinden kann, also zurückkehrt aus solcher ekstatischen Verzückung in das Geformte und willentlich Kultivierte. Für Nietzsche ist das ein Grundprinzip der Kunst.

Die Absicht des Buches:
Ermutigung zum eigenen denkerischen Weg

„Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn“. Dieser mitreißende Appell Nietzsches ist Leitmotiv dieses Buches. Bei dessen Lektüre bilden die systematisch nach einzelnen Denkschritten und Themen geordneten Nietzsche-Zitate die Kernstücke. Diese Zitate erwiesen sich vielfach als mehrdeutig, passen also häufig auch zu anderen Kapiteln. Sie sind, wie die begleitenden Texte, Einstiege in Nietzsches Gedanken, also Denkimpulse, Ermunterungen zu einer radikalen eigenen Kreativität. Es kann Spaß machen, so die eigenen Werte aufzuspüren, sie gegeneinander abzuwägen, sich gedanklich für sie zu engagieren und auf diesem Weg zum eigenschöpferischen Handeln zu gelangen. (Eines versteht sich dabei von selbst: Nachdenken über eigene Werte ist ein höchst komplexer Vorgang, der nicht zwingend nach dem vorgeschlagenen Denkschema und den beschriebenen einzelnen Schritten „erkennen – entwerten – sich neu erfinden“ abläuft. Für den Verfasser hat sich allerdings diese Systematik bewährt, um sich Nietzsches Werke schrittweise zu erschließen). Der Appell „Werde, der du bist“ ist vor allem eine Botschaft an unternehmerische Menschen der Tat und damit eher nicht etwas für den braven Beamten im Menschen. Die Einladung, sich mit Vergnügen und schwindelfrei mit den denkerischen Provokationen Nietzsches zu befassen, dabei das Eigenschöpferische herauszufinden und den eigenen Weg zu beschreiten: Dazu zu ermutigen ist die eigentliche Intention dieses Buches.

In die Sprache unserer Zeit übersetzt, könnte der Appell auch klingen: Bewege deinen Geist, „rock“ dein eigenes Schicksal künftig selbst! Egal, was dich gerade von außen beeinflusst, erkenne es, besinne dich darauf, stelle es in Frage, be- und entwerte es im Zweifel und finde heraus, wohin du künftig wirklich selbst gehen willst. Und dann entwickle den Willen zum Tun, zum Machen – kurz: den Willen zur Macht.

Und nun: Viel Vergnügen beim Lesen.

1   Domenico Losurdo

2   Französisch „Liebhaber“

3   von Italienisch dilettare aus lateinisch delectare „sich erfreuen“

4   In seinem letzten autobiografischen Spätwerk lautet der Titel: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist.“

5   Aphorismus 40 in „Der Antichrist“

6   Untertitel von „Der Antichrist“ (1888)

Wille zum selbstbewussten Übermenschen

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“

(Zarathustra I, Vorrede 3)