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JAN BEINSSEN

 

HERZ AUS STAHL

PAUL FLEMMINGS FÜNFTER FALL

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (2. Auflage 2010)

© 2009 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer

Umschlaggestaltung: Anna Ponton unter Verwendung einer Fotografie von Norbert Treuheit

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-391-1

 

Für Uwe

 

 

Wer vor der Vergangenheit flieht,

verliert das Rennen.

T.S. Eliot

 

 

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

Der Autor

 

Prolog

Der Sommer verabschiedete sich mit einem angenehm warmen Tag. Im Radio war bereits das Tief Karla angekündigt worden, doch das kümmerte Paul Flemming wenig, als er sich im Strom vieler Hundert gut gelaunter Menschen treiben ließ und die wunderbare Atmosphäre des Trempelmarktes genoss. Weite Teile der Nürnberger Altstadt hatten sich in den größten Floh- und Trödelmarkt Deutschlands verwandelt. Kaum eine Nische, die nicht mit Ständen aus Holz und Segeltuch und einfachen Auslagen aus Decken und Laken besetzt war. Hobbytrödler und professionelle Ramschhändler standen dicht an dicht an den Straßenrändern. Ihre Angebote ließen keine Wünsche offen. Paul registrierte im Vorbeischlendern eine zerbeulte Tuba, eine hüfthohe Chinavasenimitation und eine reichlich zerlesene Sammlung von Tim & Struppi-Heften. Ein Trödler hatte sich auf mehr oder weniger originell bedruckte Klobrillen spezialisiert, der nächste hatte ausgediente Vogelkäfige neben kühner Erotikmalerei arrangiert.

Alle zwanzig, dreißig Meter buhlten Straßenmusiker um Spenden, und die Leute ließen gern eine Münze springen. Imbissstände verbreiteten Duftwolken von indischem Curry, chinesischen Süßsauerpfannen und natürlich Original Nürnberger Rostbratwurst. Kinder lachten, Liebespaare schmusten, die Sonne strahlte – und über allem thronte die stolze Silhouette der Kaiserburg.

Ja, dachte sich Paul, so gefällt mir meine Stadt! Er war bester Dinge. An einer mobilen Weinbar besorgte er sich einen Chianti. Den gab es zwar nur aus dem Plastikbecher, aber er schmeckte Paul wie ein Prädikatswein, genossen auf einer italienischen Piazza. Nach ein paar Schlucken erschien Paul das muntere Treiben sogar noch angenehmer. Ungern dachte er daran, dass er seine Trempelmarktrunde allmählich beenden musste. Seine Eltern, die heute zu Besuch waren und die er vor einer halben Stunde mit einer Tasche voller Schnäppchen zum Kaffeetrinken geschickt hatte, warteten auf ihn. Also machte Paul in einem sehr weiten Bogen kehrt, freute sich, als ihm eine schöne Unbekannte zulächelte, zog das letzte Stück des Weges bis zur Pegnitz noch ein wenig mehr in die Länge und blieb vor dem Starbucks beim alten Fleischhaus stehen.

Das Starbucks war gerammelt voll wie meistens, aber seine Mutter sah Paul, kaum dass er eingetreten war. Hertha, die einzige ältere Dame zwischen Teenagern, diskutierte gestenreich mit einer überfordert wirkenden jungen Frau an der Kasse. Um was auch immer es gehen mochte, Hertha schien als Siegerin aus dem Disput hervorzugehen, denn plötzlich hielt sie einen Becher Kaffee in der Hand, ohne dafür einen Geldschein über die Theke gereicht zu haben. Paul tippte ihr auf die Schultern und nickte ihr freundlich zu. Doch Herthas kleine dunkle Augen, die unter ihrer tiefschwarz gefärbten Dauerwellenpracht beinahe untergingen, sahen ihn ernst an.

»Gut, dass du da bist. Hermann möchte dich sprechen«, sagte sie. Es klang in Pauls Ohren mehr wie eine Drohung als wie eine freundliche Aufforderung. Sein Vater saß im einige Stufen tiefer liegenden Parterrebereich des Cafés, obwohl es draußen einladend sonnige Plätze mit Pegnitzblick gab. Hermanns volle Lippen wiesen bogenförmig nach unten, was Paul als ein weiteres Warnsignal wertete. Mit der unbeschwerten Lebensfreude war es für heute vorbei, ahnte er.

Hermann zog eine große Stofftasche hervor und leerte deren Inhalt mit vorwurfsvollem Schweigen auf den Tisch. Zum Vorschein kamen allerlei angestoßene und abgenutzte Fotoutensilien, steinalte Objektive ebenso wie beschädigte Blitzlichtgeräte und eine Handvoll kleiner Kameras. Alles Dinge, die Paul heute erstanden und seinen Eltern anvertraut hatte. Hermann wiegte mürrisch sein schlohweißes Haupt, während er fragte: »Was willst du damit anfangen? Dauernd kaufst du auf den Flohmärkten Dinge, die niemand mehr gebrauchen kann, und weil du in deiner Nürnberger ­Wohnung keinen Platz dafür hast, stellst du den Krempel am Ende doch nur wieder bei uns unter!«

Paul ließ sich neben seinem Vater nieder und nahm ein verbogenes Stativ in die Hände. Krempel? Er würde es Raritäten nennen! Zugegeben, auf dem Trempelmarkt gab er jedes Mal mehr Geld aus, als er sich eigentlich erlauben konnte. Paul, der Fotograf, konnte die Finger nicht von antiquierten Kameraausrüstungen lassen, genauso wenig hatte er aber eine Verwendung für sie. »Du hast ja recht«, sagte er zerknirscht und legte das Stativ beiseite. »Ich werde mich das nächste Mal zurückhalten.« Sein Blick fiel auf einen der Fotoapparate, und er hob ihn mit liebevoller Vorsicht an: Das war nun wirklich ein besonderes Stück. Reichlich verschrammt und für den Laien eher unscheinbar, doch Paul wusste die verborgenen Qualitäten dieses kleinen Wunders der optischen Technik sehr wohl zu würdigen. Diese Minox war nur zwei Finger breit und nicht länger als eine Zigarettenschachtel. Fotoapparate dieses Modells arbeiteten mit dem seltenen 8 x 11-Filmformat. Eine Kleinstbildkamera, die sich in Kinofilmen der sechziger Jahre als Spionagekamera einen Namen gemacht hatte. Während Paul noch über dieses Meisterwerk der technischen Miniaturisierung nachsann und die millimetergenaue Maßarbeit bewunderte, fuhr ihm mit einem Mal der Schreck durch die Glieder.

Hertha, die sich mit ihrem Kaffeebecher zu ihnen gesellt hatte, bemerkte Pauls plötzliches Zusammenzucken. »Was ist denn?«, erkundigte sie sich besorgt. »Hat dich etwas gestochen?«

Paul atmete tief ein und dann wieder aus. »Puh! Das war knapp.« Er presste die Minox fest an sich, bevor er sie erneut eingehend betrachtete.

»Was ist denn, Bub?«, drängte Hermann und schaute nun selbst mit gewisser Neugierde auf die kleine Kamera in Pauls Hand. »Stimmt etwas nicht mit dem Ding? Ist doch wahrscheinlich sowieso längst im Eimer.«

Paul sah seinen Vater geistesabwesend an: »Um ein Haar hätte ich sie geöffnet – nicht auszudenken!«

Hertha verlor das Interesse. »Ich hole mir inzwischen ein Stück Kuchen«, sagte sie und stand wieder auf.

»Meine Güte«, sagte Paul, »da ist noch ein Film drin. Hätte ich die Kamera geöffnet, hätte das Tageslicht sämtliche Aufnahmen unbrauchbar gemacht.«

»Ein Film. Soso.« Hermann richtete seine Aufmerksamkeit auf das Sportprogramm, das in einem an der Wand befes­tigten Fernseher lief.

»Ich werde ihn natürlich entwickeln«, sagte Paul mit beinahe kindlicher Freude über seine Entdeckung.

»Wofür soll das gut sein?«, fragte Hermann, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lassen.

»Um zu sehen, was auf diesen Fotos drauf ist.«

»Was soll da schon Großartiges drauf sein?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber es ist doch interessant, das herauszufinden. Wer weiß, wie alt die Kamera ist und wie lange dieser Film schon da drin steckt. Das können leicht zwanzig Jahre sein, vielleicht auch dreißig. Dieses Gerät hat schon so einiges hinter sich.«

»Ach was. Da wird auch nichts anderes drauf sein als das Übliche: Kinder am Strand, der achtzigste Geburtstag von Onkel Willi und die Konfirmation vom kleinen …«

»Vom kleinen …?«

»Vom kleinen … – Paule!«

»Sehr witzig«, sagte Paul bissig. »Ich werde auf jeden Fall mal einen Blick auf die Negative werfen. Vielleicht gibt es ja doch eine nette Überraschung.«

Hechelnd schmiegte sich Pudeldame Bella, die am Tischbein angeleint war, an Pauls Hosenbein. Wenigstens eine, die in dieser Familie zu mir hält, dachte er und tätschelte die betagte Hündin. Dann stand er auf, verabschiedete sich mit flüchtigem Gruß von seinem Vater und ging mit der Minox in der Hand die Stufen zur Kuchentheke hinauf.

»Tschüss, Mutti!«, sagte er.

Hertha, die etwas ratlos über der Auslage mit Cupcakes und Muffins brütete, sah ihren Sohn fragend an: »Du gehst schon wieder?«

»Ja, ich muss los«, sagte Paul eilig.

Hertha deutete auf die Minikamera: »Und den Rest nimmst du nicht mit?«

»Ich hole es mir demnächst mal bei euch ab«, versicherte Paul wenig glaubhaft. »Ich muss bei mir erst Platz dafür schaffen. Also – bis bald!«

»Einen Augenblick noch.« Hertha blickte sich verstohlen um, fischte dann einen Schein aus ihrer Geldbörse und steckte ihn Paul zu. »Aber psst! Du weißt ja …«

»Ich weiß«, bestätigte Paul geknickt. »Kein Wort darüber zu Vati. Er möchte, dass ich mir endlich einen anständigen Job suche und nicht länger auf eure Almosen angewiesen bin.«

Hertha zwinkerte ihm versöhnlich zu: »Du weißt doch, dass er es nicht so meint. Lass dich bald mal bei uns in Herzogen­aurach blicken.«

 

Zwar war auf den Straßen und Plätzen noch immer sehr viel los. Den kurzen Fußweg bis ins Burgviertel legte Paul jedoch zurück, fast ohne es zu merken. Er war ganz mit der angenehmen Vorstellung beschäftigt, wie er seinem überraschten Vater die – selbstverständlich lohnenden – Fotos aus der Minox präsentierte. Dann dachte er darüber nach, wie er den Teleskop-Schnellaufzug überlisten könnte, mit dem sich der Film in der Kamera vorwärts, aber eben auch wieder zurück transportieren ließ. Das Ding hakte nämlich, wie Paul schon bei seiner ersten flüchtigen Prüfung festgestellt hatte. Er würde wohl das Messinggehäuse auseinanderschrauben und sich langsam herantasten müssen.

Zuhause, in seinem Loft am Weinmarkt, überlegte er das erste Mal, ob er nicht doch klein beigeben und seinen Vater recht behalten lassen sollte, denn in seinem längst zur ­Rumpelkammer degradierten Fotolabor fehlte es an praktisch allem, was man zur Entwicklung eines klassischen Negativfilms brauchte. Die meisten noch vorhandenen Chemikalien hatten ihr Verfallsdatum deutlich überschritten, die Schale für das Fixierbad war heruntergefallen und hatte ein Leck, und die Birne des Vergrößerungsapparats war durchgebrannt.

»Na toll!«, resümierte Paul wenig begeistert, als er über den vor ihm liegenden Arbeitsaufwand nachdachte. »Und das alles für ein paar öde Urlaubsbilder.«

Doch wenn ihn etwas anspornte, dann Hermanns Zweifel am Sinn seines Tuns. Paul setzte sich noch einmal in seinen Renault und startete zur Einkaufstour in den Fachhandel.

 

Es war spät geworden, als sich Paul nach stundenlanger Vorbereitungsarbeit ein rauchiges Dunkles aus dem Forchheimer Land aus dem Kühlschrank nahm und endlich sein Labor in rotes Licht tauchte. Nun konnte er beginnen, das Innere der Kamera zu erkunden. Er löste die winzigen Schrauben, legte den Transportschacht für den Film frei und hob die kleine Rolle schließlich vorsichtig aus ihrer Verankerung.

Um aus dem belichteten Film ein Negativ zu entwickeln, musste Paul das schmale Band aufrollen und in die Entwicklungsspule einführen. Aber beim ersten fehlgeschlagenen Versuch überkam ihn erneut das Gefühl, er sollte sein kindisches Vorhaben einfach aufgeben. Urlaubsfotos – noch dazu von wildfremden Leuten! Er machte sich doch nur lächerlich.

Paul trank sein Bier zur Hälfte aus und nahm einen neuen Anlauf. Dass der Film so stark verklebt war, sprach für sein fortgeschrittenes Alter. Er musste also scharf aufpassen, dass sich beim Auseinanderrollen die chemische Beschichtung nicht löste und der Film zerstört wurde. Aber selbst ohne vom Schlimmsten auszugehen, musste er sich klar machen, dass sich von einem Standardfilm mit sechsunddreißig Aufnahmen nach so langer Zeit im besten Fall vierzehn oder fünfzehn verwertbare Fotos retten ließen.

Pauls Rauchbier ging zur Neige, als er den Filmstreifen endlich komplett in die Entwicklungstrommel eingeführt hatte. Er schaltete das Deckenlicht wieder ein und stellte den Wecker, der ihm das Ende der Entwicklungszeit anzeigen sollte. Inzwischen war es nach Mitternacht. Draußen nahte das Tief Karla mit einem dumpfen Donnergrollen.

 

Aus dem Grollen war bald ein Gewitter geworden, das sich direkt über der Stadt entlud. Zwar konnte Paul die Blitze in der dunklen Abgeschiedenheit seines Labors nicht erkennen, doch die Paukenschläge des Donners ließen die Geräte auf der Arbeitsplatte erzittern.

Der Negativstreifen war fertig. Paul hielt ihn gegen das Licht einer Tischlampe und kräuselte angesichts der vielen Schlieren und ausgefransten Ränder skeptisch die Stirn. Die Negative einzuscannen und am Computer nachzubearbeiten, hatte in diesem Stadium noch wenig Sinn. Stattdessen würde er all seine Entwicklungskünste aus den Zeiten vor Einzug der Digitalfotografie aufbringen müssen, um aus diesem jämmerlichen Streifen noch etwas herauszukitzeln: einzelne Stellen aufhellen, teilweise abwedeln und hin und wieder mit einem Extraschuss Licht nachhelfen …

Das erste Foto nahm unter der Vergrößerungslampe Gestalt an. Zwar waren die Konturen schwach, aber Paul erkannte doch, dass es sich um das Bild einer Frau handelte. Die Haare waren lang, der Mund zu einem Lächeln geöffnet. Im Hintergrund konnte man eine Anrichte mit Blumenvase erahnen, ein Sofa und mehrere Bilder an der Wand – eine Wohnung. Die der Frau? Paul legte das belichtete Fotopapier ins Entwicklungsbad. Nachdem der Schwarzweißabzug das Optimum an Sättigung und Schärfe erreicht hatte, nahm er ihn mit einer Gummilippenzange vorsichtig heraus und ließ ihn ins Stopperbad gleiten.

Er wartete eine Weile und hielt ihn dann unters Licht. Tatsächlich stellte das stark lädierte Bild eine Frau dar. Und tatsächlich hatte sie lange, gewellte Haare. Aber der Mund – der zeigte kein Lächeln. Die Frau schrie. Um Hilfe? Paul war verblüfft. Und die Augen … auch an den Augen sah man der Unbekannten an, dass sie nicht glücklich war, als dieses Foto entstand. Sie hatte Angst.

Paul rieb sich grübelnd das Kinn. Mit einem solchen Bild hatte er nicht gerechnet. Was sollte ihm der Gesichtsausdruck dieser Frau sagen? Er verzichtete darauf, sich ein zweites Bier zu holen, und machte sich an die Entwicklung des nächsten Bildes. Wieder dauerte es eine Weile, bis sich Konturen auf dem Papier abzeichneten. Paul ließ das Foto in den Bädern schwimmen und hielt es dann ins Licht. Auch auf dieser Aufnahme war die Frau zu sehen, eindeutig zu erkennen an ihren langen Haaren. Aber das Gesicht war diesmal vom Fotografen abgewandt. Die krumme Körperhaltung der Unbekannten schien zu besagen, dass sie sich vor etwas schützen oder flüchten wollte. Das Bild war verschwommen, wahrscheinlich die Folge ihrer hektischen Bewegungen.

Wieder ließ ein Donnerschlag das Labor erzittern. Paul konnte es kaum erwarten, die nächste Aufnahme dieses seltsamen Films zu sehen. Belichtung, Entwicklungs- und Fixierbäder, unters Licht. Diesmal lag die Frau am Boden. Arme und Beine waren ausgestreckt. Die Haare verteilten sich in alle Richtungen. Das Gesicht war zur Seite gedreht.

Das dunkle Rinnsal entdeckte Paul erst auf der fünften Aufnahme. Es mäanderte wie ein Bächlein über den Boden und mündete in einen kleinen See am Rand des Bildes. Seinen Ursprung nahm es an der Schläfe der Frau. Auch wenn es nur eine Schwarzweißaufnahme war, wusste Paul: Was da floss, war Blut.

»Mein Gott!« Er stieß sich mit beiden Händen von der Arbeitsplatte ab. Auf was war er da gestoßen? Auf einen üblen Scherz? Auf Szenenfotos eines Theaterstücks? – Oder auf die Dokumentation einer realen Bluttat? Paul schüttelte es bei diesem furchtbaren Gedanken.

Er sah auf die Uhr – schon nach zwei, mitten in der Nacht. Egal, er musste etwas unternehmen! Er lief in sein Atelier, nahm das Telefon von der Ladestation auf der Fensterbank und tippte mit zittrigen Fingern die Handynummer von Kriminaloberkommissarin Jasmin Stahl.

 

1

»Darf ich dich zu Rinderfiletspitzen vom Grill auf Weinschaum mit frittierter Roter Bete und Bauchstecherla einladen?«, fragte Jan-Patrick. Seine Augen funkelten erwartungsvoll.

»Wenn du mir verrätst, was Bauchstecherla sind, vielleicht«, gab sich Paul wählerisch.

»Na, du bist mir ja ein Franke!«, tadelte ihn sein Lieblingskoch. »Das ist eine alte fränkische Beilage: Kartoffeln kochen und grob reiben. Dazu Gries, Milch, Mehl. Ordentlich würzen mit Salz, Pfeffer und Muskat. Kneten, rollen, in Scheiben schneiden und in Butterschmalz ausbacken. Alles klar?«

Paul nickte zögerlich und lehnte sich auf seinem Stammplatz im Goldenen Ritter zurück. »Hast du vielleicht auch etwas Leichteres? Nur eine Kleinigkeit?«

Der kleingewachsene Küchenchef strich sich mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. »Eigentlich ist ja jetzt Pilzsaison. Da bietet sich der Klassiker Pfiffer in Rahmsoße an, oder wie wäre es mit gegrillter Polenta an Balsamico-Egerlingen …«

»Nein, nein. Wirklich bloß einen Snack, bitte«, wehrte Paul ab.

»In Ordnung. Was hältst du dann von einem winzigen Stückchen Kürbis-Käse-Kuchen und einem Viertel Franken-Hausschoppen dazu?« Paul willigte ein, und der Wirt wollte bereits gehen, als ihm noch etwas einfiel: »Ach, sag mal, Paul, was ist eigentlich aus dieser Sache mit dem alten Film ­geworden?«

»Alter Film?«

»Ja, du weißt schon, von dem du mir neulich erzählt hast.«

»Ach, der Film aus der Minox«, begriff Paul. »Neulich ist gut! Da war ja noch Sommer! Inzwischen haben wir Oktober und Herbst.«

»Ja, und? Was ist nun daraus geworden?«, hakte Jan-Patrick nach.

»Also, das ist eine ziemlich langwierige Angelegenheit«, setzte Paul an. »Der Film war ja schon sehr alt. Stammte wahrscheinlich noch aus den späten siebziger Jahren und …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment erschien Marlen, die Kellnerin, an seinem Tisch und erkundigte sich freundlich:

»Hat der Herr schon gewählt?«

»Das hat er«, antwortete Jan-Patrick an Pauls Stelle. »Ich übernehme das selbst.«

Marlen tänzelte weiter, nicht ohne Paul vorher einen schelmischen Blick zugeworfen zu haben. Dieser schaute ihr mit offenem Mund nach. »Sag mal, Jan-Patrick, es sieht ja ganz so aus, als wäre deine Marlen …«

» … in anderen Umständen«, ergänzte der Koch und nickte grinsend. »Ja, das ist sie in der Tat. Die nächste Generation wird den Goldenen Ritter endlich zu dem machen, was er längst sein sollte: ein Sterne-Lokal!«

»Aber das heißt ja, sie ist schwanger!«, stieß Paul geradezu panisch aus.

»Na, sicher ist sie das«, bestätigte der Küchenchef voller Stolz. »So ist das, wenn man ein Kind erwartet.«

»Du hast mir bisher gar nichts davon erzählt«, sagte Paul, noch immer überwältigt von dieser Neuigkeit.

»Nun, es hat sich wohl nicht ergeben.«

»Aber wir sehen uns fast jeden Tag. Und wie Marlen in diesem Kleid aussieht, ist sie mindestens im elften Monat.«

»In einer Schwangerschaft gibt es nur neun Monate, mein Lieber. Außerdem wollte ich dich nicht frustrieren.«

»Was soll denn das nun wieder heißen?«, empörte sich Paul.

»Na ja«, druckste Jan-Patrick herum. »Deine Katinka ist weit weg in Berlin, und vor Ort läuft es für dich in Liebesdingen auch nicht so toll, wie man hört. Also habe ich mir gedacht, dass ich unser trautes Glück lieber für mich behalte.«

»Verräter«, entfuhr es Paul.

Jan-Patrick hob den Zeigefinger. »Keine unüberlegten Beleidigungen. Für einen Mann jenseits der vierzig wird es höchste Zeit, sich um die Zukunft zu kümmern, ob er nun aussieht wie George Clooney oder nicht. Daran solltest du vielleicht auch einmal denken.«

»Ja, ja, ja. Blabla.«

»Anstatt herumzumotzen, sollten wir mit einem Glas Schampus auf die frohe Botschaft anstoßen.«

»Champagner? Lassen Sie gleich drei Kelche kommen!«, mischte sich eine dritte Stimme ein.

»Blohfeld!«, stieß Paul überrascht aus. »Was machen Sie denn hier?«

»Wahrscheinlich das gleiche wie Sie – essen und trinken«, antwortete der hagere Neuankömmling flapsig und wandte sich an den Wirt: »Kann ich gleich bestellen? Ich hätte gern einen großen Burger mit Pommes.«

Jan-Patrick versuchte sich vor dem Polizeireporter aufzubauen, der ihn um Haupteslänge überragte: »Sie wissen genau, dass es bei mir kein Fast Food gibt, Sie Ignorant.«

»Soll ich Ihnen mal was verraten?«, fragte Blohfeld blasiert und hob seine schmale Himmelfahrtsnase ein weiteres Stück nach oben. »Bei uns zuhause gab es früher oft Spiegelei auf Brot mit gebratener Wurst dazu, eine ganz einfache Mahlzeit. Das Gleiche servieren Sie hier für teures Geld, nur ein wenig anders präsentiert. Ein Ei in einem Plastiksäckchen mit Trüffelöl und Gänseleberfett pochiert, die Wurst zu Mousse püriert und das Brot fein zerbröselt und knusprig frittiert. Und das Ganze dann für dreißig Euro. Ist es nicht so?«

Jan-Patrick lief puterrot an, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und davoneilte.

»Das ging schneller, als ich dachte«, sagte Blohfeld zufrieden und setzte sich neben Paul.

»Ich verstehe nicht.«

»Ganz einfach. Ich wollte mit Ihnen unter vier Augen sprechen.« Paul wusste noch immer nicht, worauf der ­Reporter hinaus wollte. Doch dann sprach Blohfeld endlich offen: »Es geht um den Film aus der Kamera vom Trempelmarkt.«

»Wie kommt ihr jetzt plötzlich alle auf diesen Film?«, wunderte sich Paul. »Die Sache liegt Wochen zurück. Wahrscheinlich bin ich einem makabren Scherz aufgesessen, jedenfalls habe ich nie wieder etwas von der Polizei gehört.«

Blohfeld zwinkerte ihm zu. »Aber ich.«

»Was haben Sie gehört?«, fuhr Paul auf.

»Dass die Sache recht vielversprechend ist. Da lässt sich einiges draus machen.«

»Was sollen die Anspielungen? Rücken Sie schon raus mit den Neuigkeiten. Und überhaupt: Von wem kommen Ihre Informationen denn eigentlich?«

»Ich habe meine Quellen.« Blohfeld ließ sich nicht in die Karten gucken. »Jedenfalls scheinen die Schnarchnasen im Polizeilabor endlich weitergekommen zu sein.«

»Ich bitte um Klartext.«

»Die Jungs vom Labor hatten offenbar ihre liebe Not damit, weitere Einzelheiten aus dem beschädigten Filmmaterial herauszukitzeln, und ganz fertig sind sie wohl immer noch nicht. Auch die Altersbestimmung war nicht so einfach. Schließlich haben sie das Material auf die erste Hälfte der Achtziger datiert.«

Paul fragte sich, warum er das alles von Blohfeld erfuhr und nicht von Jasmin Stahl, der er seine Entdeckung anvertraut hatte. War sie zum Schweigen verpflichtet oder war Paul ihr inzwischen so gleichgültig, dass sie sich nicht mehr bei ihm meldete? Ihr persönlicher Kontakt war in letzter Zeit ja ohnehin fast eingeschlafen. Man munkelte, sie hätte jetzt einen festen Freund …

»Hören Sie mir überhaupt zu, Flemming?«, unterbrach Blohfeld seine Ausführungen.

»Sicher!« Paul nickte eifrig. »Erzählen Sie weiter.«

Blohfeld sah ihn missmutig an. »Na gut. Aufgrund der Hinweise, die die Fotos lieferten, ließ sich ein möglicher Tathergang rekonstruieren. Auch das Opfer konnte mittlerweile identifiziert werden.«

»Es gab also ein echtes Opfer?«, fragte Paul erschüttert. Die bis eben noch lockere Atmosphäre war wie weggeblasen.

»Nach dem, was ich erfahren habe, ja«, bestätigte der Reporter mit ernster Miene. »Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Kapitalverbrechen aus dem Herbst 1985. Die Getötete hieß Lisa Grötsch, Küchenaushilfe, zweiundzwanzig Jahre alt. Sie wurde erschlagen.«

»Das ist ja schrecklich«, stammelte Paul ergriffen. Er ließ die Worte des Reporters auf sich wirken. Dann blickte er auf und sagte: »Vielleicht kann der Film ja dazu beitragen, den Täter zu finden? Wenn dieser kaltblütige Kerl seine eigene Bluttat fotografiert hat, führt die Kamera mit etwas Glück auf seine Spur!«

Blohfeld sah Paul an, als hätte er mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun: »Da kommen Sie mit Ihrer großartigen Trempelmarkt-Entdeckung aber leider fast ein Vierteljahrhundert zu spät.«

»Was soll das nun wieder bedeuten?«, fragte Paul, erahnte aber bereits die Antwort.

»Der Täter wurde längst gefasst. Kurz nach der Tat. Er wurde rechtskräftig verurteilt und saß bis vor wenigen Jahren in Haft.«

»Ach so«, sagte Paul matt.

»Genau: Ach so. Außerdem war es wahrscheinlich nicht er selbst, der die Bilder gemacht hat, sondern ein Komplize.«

»Ja, aber dann könnte die Polizei doch versuchen, diesen zweiten Mann anhand der Kamera zu identifizieren«, nahm Paul einen neuen Anlauf.

»Das könnte sie versuchen. Aber es würde nicht viel bringen. Denn Fotos zu machen, gilt nicht als Beihilfe zum Mord. Die einzige Straftat, die man ihm heute noch nachweisen könnte, wäre wahrscheinlich unterlassene Hilfeleistung – und die wäre verjährt.«

Paul sah Blohfeld niedergeschlagen an und kam erneut ins Grübeln. Er hatte also einen Film entdeckt, der einen Mord dokumentierte. Der Täter war längst gefasst, die Tat also gesühnt. Im Prinzip war die Story, die sich Reporter Blohfeld ausgemalt haben mochte, damit tot. Was, fragte sich Paul, wollte er dann von ihm?

Blohfeld schien seine Gedanken zu erahnen, denn ein angedeutetes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sagte: »Sie fragen sich bestimmt, warum ich Ihnen das alles erzählt habe.«

»Ins Schwarze getroffen.«

»Weil ich vorhabe, diese Bilder zu veröffentlichen.«

»Aber weshalb?«, fragte Paul entgeistert. »Sie haben doch selbst gesagt, die Angelegenheit ist erledigt. Verstaubte Geschichte.«

Der Reporter erhob verneinend den Zeigefinger: »Im Gegenteil! Die Leute sind ganz wild auf Kriminalgeschichte. Alte Verbrechen aufzurollen liegt absolut im Trend. Denken Sie nur an den Fall der Nitribitt. Frankfurter Edelprostituierte, 1957 mit einer Platzwunde am Kopf und Würgemalen am Hals tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Das ist bis heute der Sex-and-Crime-Skandal schlechthin. Unsere Leser mögen solche Storys – besonders wenn es frisches Material dazu gibt.«

»Aber die arme … – wie hieß sie noch?«

»Lisa Grötsch.«

»Ja. Die arme Lisa Grötsch war doch bestimmt keine Edelhure, die mit irgendwelchen wichtigen Politikern oder Großindustriellen ins Bett gestiegen ist, wie es bei Rosemarie Nitribitt vielleicht der Fall war.« Argwöhnisch sah er dem Reporter ins verschlagene Gesicht: »Sie wollen doch bloß die Sensationslust Ihrer Leser mit blutrünstigen Fotos anheizen, um die magere Auflage Ihres Boulevardblatts zu erhöhen.«

Blohfeld blieb gelassen, als er entgegnete: »Erstens, mein werter Flemming, leben Sie von den Fotoaufträgen dieses Boulevardblatts recht gut. Zweitens haben Sie recht. Die Polizei wird den Film voraussichtlich sehr bald in ihren Asservaten verschwinden lassen. Auf Nimmerwiedersehen. Sie könnten – als rechtmäßiger Besitzer der Kamera und des Films – auf deren Herausgabe pochen …«

»… und sie Ihnen überlassen?«

»Genau!«

»Vergessen Sie’s!« Paul war erbost über die Dreistigkeit des Reporters, den er doch eigentlich lange genug kannte, über dessen Skrupellosigkeit er sich aber immer noch wundern musste. »Ich werde ganz bestimmt nicht dabei helfen, dass Sie diese Bilder in die Hände kriegen und für Ihre Zwecke missbrauchen. Außerdem ist es ungewöhnlich blauäugig von Ihnen anzunehmen, dass die Polizei bei mir eine Ausnahme machen würde. Ich werde diesen Film mit Sicherheit nicht zurückbekommen. Warum auch?«

Blohfeld setzte einen Gesichtsausdruck auf, der die Bezeichnung Pokerface nicht zu scheuen brauchte. »Sie wären ein ziemlich mieser Profifotograf, wenn Sie die Negative nicht gescannt hätten, bevor Sie damit zur Polizei gegangen sind.«

Paul zuckte verärgert die Schultern. »Und wenn schon! Mein Entschluss steht fest: Sie bekommen dieses Material nicht!«

»Überlegen Sie es sich in aller Ruhe. – Sie wollen doch nicht die nächste Miete für Ihr schickes Loft schuldig bleiben …«

»Erpresser!«, fauchte Paul, der Blohfelds Spielchen gründlich satt hatte.

Ein voll beladenes Tablett wurde plötzlich zwischen sie geschoben. »Meine Herren, Ihre Bestellungen«, kündigte Jan-Patrick förmlich an. Mit den Worten »Eine Kleinigkeit für dich« servierte er Paul ein köstlich duftendes Kürbisküchlein. Und mit der brummigen Bemerkung »Steak Hasché an Pommes de Terres für Sie« bekam Blohfeld einen riesigen, saftigen Burger aufgetischt, der mit knusprigen Kartoffelecken und diversen Soßen garniert war. »Und dazu drei Kelche vom besten Champagner des Hauses.«

Blohfeld sah den Küchenchef überrascht an. Eins zu null für Jan-Patrick, feixte Paul im Stillen. Doch dann setzte der Reporter ein breites Grinsen auf, schob den Teller beiseite und sagte: »Ich hab’s mir überlegt und hätte doch lieber etwas Saisonales. Haben Sie Waldpilze auf Ihrer Karte?« Gleichstand, dachte Paul.

 

Als Paul nach Hause ging, musste er noch einmal über Blohfelds unseriöses Ansinnen und die zweifelhaften Pläne zur Veröffentlichung der Mordfotos nachdenken. Waren die Leser seiner Zeitung wirklich so abgestumpft, dass sie sich nur mit dem Unglück anderer Leute ködern ließen? Wahrscheinlich ja, räumte Paul im Stillen ein. Bei ruhiger Überlegung muss­te er sich eingestehen, dass auch er gern mehr über diese Bluttat aus den achtziger Jahren erfahren wollte. Vor allem interessierte er sich dafür, was für ein Mensch der Täter war. Dieser Mann hatte seine Strafe abgesessen und lebte nun wieder unter ihnen, wahrscheinlich irgendwo in Nürnberg. Ob er oft an das brutale Verbrechen von damals dachte?, fragte sich Paul. Oder ob er inzwischen ganz damit abgeschlossen hatte und ein anderer Mensch geworden war?

Spontan kam Paul eine Idee – es war ein unvernünftiger Einfall, das wusste er nur zu gut. Unsinnig, und er konnte sich dabei eigentlich nur die Finger verbrennen. Dennoch wurde er den Gedanken nicht mehr los …

 

2

Der Tag, auf den Paul so lange gewartet hatte, hätte ihn mit Euphorie erfüllen sollen. Doch alles, was er empfand, war eine wirre Mischung aus Unsicherheit, vorsichtiger Neugier und – warum sollte er es leugnen? – sexueller Erwartung.

Seit ihrer Abfahrt in Berlin bewunderte er verstohlen die Schönheit seiner Begleiterin. Schön? Wenn er es einen Moment lang schaffte, sie neutral und nicht im Licht seiner Gefühle zu betrachten, musste er ihr eine taufrische Makellosigkeit wohl absprechen. Sie war – genau wie er – nicht jünger geworden. Das Haar war noch immer lang und blond, suggerierte Jugend. Auch ihre Gesichtszüge waren nach wie vor freundlich, jedoch scharf gezeichnet. Die Fältchen um ihre wasserblauen Augen verrieten Reife. Reife und Enttäuschung, dachte Paul. Es lag etwas Verletzliches in diesem Blick.

Die Grenze zwischen Thüringen und Bayern hatten sie hinter sich gelassen. Der Zug rumpelte durch eine Baustelle. Ein geöffneter Aktenordner, in dessen Inhalt Katinka bis eben vertieft gewesen war, fiel zu Boden; Paul beeilte sich, ihn aufzuheben.

»Danke«, sagte sie und schenkte ihm endlich das ersehnte Lächeln. »Danke auch dafür, dass du mich in Berlin abgeholt hast.«

Paul spürte, wie er errötete. Eine seltene Erfahrung. »Das war doch selbstverständlich. Die weite Fahrt in meinem klapprigen Renault wollte ich dir nicht zumuten. Und deinen Mini hat Hannah ja schon letzte Woche nach Nürnberg gebracht. Jedenfalls freue ich mich sehr, dass du zurückkehrst.«

Katinka Blohm hob die Brauen. »Wirklich?«

»Natürlich!«, beteuerte Paul und griff spontan nach ihrer Hand.

»Hannah meint aber …«

»Was deine Tochter darüber denkt, ist mir im Moment ziemlich egal«, stellte Paul fest. »Was zählt, ist einzig und allein die Tatsache, dass du heimkommst und wir eine neue Chance erhalten.«

»Keine übereilten Hoffnungen«, sagte Katinka in festem Ton und schob Pauls Hand beiseite. »Ich habe Berlin nicht dir zuliebe verlassen, sondern der Karriere wegen.«

»Ja«, sagte Paul zerknautscht. »Dein Ruf zur Leitenden Oberstaatsanwältin. Die jüngste in ganz Bayern.«

»In ganz Süddeutschland«, verbesserte ihn Katinka.

»Meinetwegen auch das. – Aber ein bisschen habe ich gehofft, dass ich auch zu deiner Entscheidung beigetragen hätte, der Hauptstadt den Rücken zu kehren.«

Katinka lächelte ihn an. »Vielleicht ein kleines bisschen.«

»Das hört sich an, als bekäme ich Bewährung«, schmeichelte sich Paul ein.

Katinka sah ihn seltsam melancholisch an. »Ja, Bewährung … Aber verspiel sie nicht gleich wieder.«

»Du meinst, indem ich mit Freunden aus meiner peinlichen Halbwelt herumhänge und mich meines fortgeschrittenen Alters unwürdig verhalte? Indem ich mich der Norm entziehe und einfach tue, wonach mir der Sinn steht?«, stichelte Paul.

Katinka stieg auf den scherzhaften Ton nicht ein. »Deine Freunde sind weder peinlich, noch entspringen sie irgendeiner Halbwelt.« Sie sah ihn intensiv an: »Aber wenn aus einer dieser Freundschaften Liebe wird, will ich nicht länger beteiligt sein.«

Daher wehte also der Wind! »Was hat dir Hannah denn so alles erzählt?«, fragte Paul kleinlaut.

»Nichts. Hannah ist dir gegenüber immer sehr loyal. Aber ich verfüge über den berühmten weiblichen Instinkt.«

»Soso. Und was sagt dir der Instinkt?«

»Dass ich nicht möchte, dass du dich weiter mit dieser Kommissarin triffst – Jasmin Stahl.«

»Eifersüchtig?«

»Hätte ich einen Grund dazu?«

Paul konnte in diesem Gespräch nur verlieren. Er lenkte Katinkas Aufmerksamkeit daher auf einige alte Zeitungsberichte, die er in den letzten Tagen kopiert und in einer Mappe zusammengestellt hatte.

Katinka ließ sich darauf ein und sah sich die Texte an. »Ach ja, davon habe ich gehört«, sagte sie, als sie aus der Lektüre wieder auftauchte. »Eine Schwurgerichtssache. Mitte der achtziger Jahre. – Stimmt es, dass du durch Zufall auf Fotos von der Tat gestoßen bist?« Paul bestätigte das und berichtete Ka­tinka auch gleich alle Einzelheiten, die er bisher über den Fall in Erfahrung gebracht hatte. Katinka hörte ihm geduldig zu. Als Paul geendet hatte, brachte sie ihm behutsam bei, dass er sich mit der Abgabe des Films und der Kamera an die Polizei zwar korrekt verhalten hatte, aber die seit mehr als fünfundzwanzig Jahren geschlossene Akte deshalb noch lange nicht wieder geöffnet werden müsste.

Paul stimmte ihr zunächst zu. Doch dann zog er einen Trumpf aus dem Ärmel, den er sich für den richtigen Moment aufgehoben hatte: »Ich habe mit ihm gesprochen«, sagte er und spürte, wie sein Herz schneller schlug.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte Katinka und sah ihn ahnungslos an.

»Mit dem Täter«, eröffnete Paul und war sich der Tragweite seiner Worte wohl bewusst.

»Du hast was?« Katinka lehnte sich in ihrem Sitz nach vorn. Der leichte Schleier, der meistens über ihren Augen lag und ihrem Ausdruck etwas Mildes, Sanftes verlieh, riss wie eine Wolkendecke auf und offenbarte ein klares, forderndes Blau.

»Ich habe mich mit Konrad Kleinschmidt getroffen«, erklärte Paul weniger selbstbewusst, als er es vorgehabt hatte. »Die Bilder hatten mir keine Ruhe gelassen, und da dachte ich …«

»Bist du von Sinnen?«, brauste Katinka auf. »Wie kommst du auf die abstruse Idee, dich mit einem Straftäter einzulassen?«

»Mit einem ehemaligen Straftäter«, korrigierte Paul und dachte an seine seltsame Begegnung mit Konrad Kleinschmidt zurück. Er war zu dessen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Stadtteil Steinbühl gefahren, nachdem es nicht schwer gewesen war, Kleinschmidts Adresse herauszufinden. Den vollständigen Namen hatte Paul in den alten Zeitungsartikeln gefunden, und die Anschrift stand im Telefonbuch. Es war so einfach gewesen, dass Paul bei seinem ersten Anlauf, Kleinschmidt zu besuchen, kalte Füße bekam und kurz vor dem Ziel kehrtmachte. Warum, fragte er sich plötzlich, lebte Kleinschmidt so ungeniert öffentlich in der Stadt, in der er zum Mörder geworden war? Warum versteckte er sich nicht, kürzte seinen Namen ab oder ließ zumindest die Straßenangabe aus dem Telefonbuch streichen? Doch wohl nur, weil er für seine Tat gebüßt und sie bereut hatte und deshalb das Recht in Anspruch nahm, als ganz normaler Bürger in sein Leben zurückzukehren und mit der Vergangenheit abzuschließen. Nein, bei seinem ersten Anlauf konnte Paul sich nicht dazu überwinden, Kleinschmidt noch einmal wegen der Tat zu behelligen.

»Ich habe mich schlau gemacht über ihn. Er ist wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden und wurde wegen guter Führung schon fünf Jahre vor Ablauf der Haftdauer entlassen«, versuchte er Katinka verständlich zu machen, warum er die Kontaktaufnahme mit Kleinschmidt gewagt hatte.

»Ja, ja, ich weiß. Nach fünfzehn Jahren konnte er nach Paragraf 57a die Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe zur Bewährung beantragen, da keine besondere Schwere der Schuld nachgewiesen werden konnte.« Sie sah ihn finster an: »Aber das ist noch lange kein Grund, sich mit einem Mörder zu treffen.«