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Aber laßt euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das gehe euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten, von euch im voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abgegrenzten Rahmens an, ihr hättet ja schon die Photographien mit den Leichenhaufen ausgestanden und euer Pensum an Mitschuld und Mitleid absolviert. Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.

Ruth Klüger, weiter leben

Anhang

In diesen Text haben viele Bücher, Aufsätze und Filme direkt oder indirekt Eingang gefunden; sie werden zitiert oder erwähnt.

Verwendete Literatur

Auschwitz – Ein Gang durch das Museum, Krajowa Agencja Wydawnicza, Katowice 1981.

Bader, Katarina: Jureks Erben, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.

Birenbaum, Halina: Die Hoffnung stirbt zuletzt, Reiner Padligur Verlag, Hagen 1989.

Borowski, Tadeusz: Bei uns in Auschwitz [1963], btb, München 2008.

Chládková, Ludmila: Ghetto Theresienstadt, Naše Vojsko, Prag 1991.

Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein [1947], Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1964.

Höß, Rudolf: Kommandant in Auschwitz (hrsg. von Martin Broszat) [1958], dtv, München 1994.

Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusion der Vergangenheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2010.

Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen [1996], Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998.

Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen [1947], Reclam Leipzig, Leipzig 1975.

Klüger, Ruth: weiter leben [1992], dtv, München 1994.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? [1947], dtv, München 1992.

Martel, Yann: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.

Rosenthal, Gabriele (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen [1997], Psychosozial-Verlag, Gießen 1999.

Sebald, W. G.: Austerlitz [2001], Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003.

Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.

Timm, Uwe: Von Anfang und Ende, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.

Weiss, Peter: Meine Ortschaft, in: Atlas – Zusammengestellt von deutschen Autoren, dtv, München 1968.

Filme

Am Ende kommen Touristen, D 2007

Harlan – Im Schatten von Jud Süß, D 2009

Korczak, Pl/D/GB 1990

Schindlers Liste, USA 1993

Shoah, F 1985

Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (Fragment), D 1944/45

Aufsätze

Volkhard Knigge: Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010).

Online-Dossier »Geschichte und Erinnerung« der Bundeszentrale für politische Bildung (26.08.2008):

Christoph Classen: Medien und Erinnerung

Michael Elm: Erinnerung ohne Zeugen

Wolfgang Meseth: Holocaust-Erziehung und Zeitzeugen

Juliane Wetzel: Holocaust-Erziehung

Harald Welzer: Unser Papa war in Stalingrad

Harald Welzer: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis (21.06.2010)

Artikel

Simon Rothöhler: Das Pop-up-Fenster neben dem Zeitzeugen, taz, 22. März 2012.

Christian Staas: Was geht uns das noch an?, Zeit-Magazin 45/2010.

Ich danke den Archiven in Yad Vashem, Auschwitz und Theresienstadt sowie der Theresienstädter Initiative; außerdem meiner Familie für die offenen Gespräche, Barbara Schäfer für die Betreuung des Radio-Features und dem Künstlerhaus Ahrenshoop für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

Über das Buch

Philip Meinholds siebzigjährige Mutter äußert überraschend den Wunsch, gemeinsam mit ihren drei Kindern und den älteren der Enkel nach Auschwitz zu fahren. Sie selbst galt nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als »Jüdischer Mischling zweiten Grades«, ihre Verwandten wurden deportiert, dennoch hatte Philip Meinhold sich selbst bis dato stets als Angehöriger des »Täter­volkes« verstanden.

Der Besuch von Auschwitz ist für ihn der Anlass, sich mit seinem eigenen Umgang mit dem Holocaust und der Familienvergangenheit auseinanderzusetzen - und er muss feststellen, dass jedes Familienmitglied seine ganz eigene Haltung dazu hat. Dieses Buch ist eine sehr persönliche Erkundung der eigenen Geschichte, des Umgangs mit der NS-Zeit siebzig Jahre danach – und der Frage, was Auschwitz mit jedem von uns zu tun hat.

Philip Meinhold, 1971 in Westberlin geboren, machte eine Ausbildung zum Buchhändler, absolvierte die Berliner Journalisten-Schule und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2002 erschien sein Debütroman »Apachenfreiheit«, 2009 der Roman »Fabula rasa«. Meinhold veröffentlichte Erzählungen und Kolumnen in diversen Anthologien und erhielt verschiedene Literaturpreise und Stipendien, so etwa den Walter-Serner-Preis, den Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis und das Alfred-Döblin-Stipendium. Er lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Berlin.

Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de
© Verbrecher Verlag 2015

Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Herstellung: Christian Walter

ISBN: 978-3-95732-088-9
ISBN Epub: 9783957320933
ISBN Mobipocket: 9783957320940

Der Verlag dankt Nina Pagel und Michel Bakker.

Philip Meinhold

ERBEN DER ERINNERUNG

Ein Familienausflug nach Auschwitz




Für Inge

Meinhold,Erben_Stammbaum

Eins

Es ist ein merkwürdiger Wunsch, den meine Mutter kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag da äußert. Ich habe sie gefragt, was für Wünsche oder Pläne sie für ihr Leben noch habe, sie antwortet: »Ich möchte mit meinen drei Kindern und den großen Enkeln gerne nach Auschwitz fahren.« Andere würden vielleicht von einer Kreuzfahrt sprechen, einer Reise nach Indien, darüber, ihre Memoiren schreiben zu wollen – meine Mutter möchte nach Auschwitz.

Mein erster Gedanke: Sie hofft auf ein ergreifendes Erlebnis mit uns. Ich bin peinlich berührt, frage nicht weiter nach, lasse den Satz in der Luft hängen, als hätte ich nichts gehört. Ich tue die Äußerung ab als spontane Idee meiner Mutter, bin mir nach ein paar Wochen nicht mal mehr sicher, ob sie selbst noch daran denkt.

Aber ich vergesse den Wunsch nicht, von Zeit zu Zeit fällt er mir ein, bis ich irgendwann denke: Na gut, wenn sie das will – das lässt sich ja machen.

Mein Bruder sagt: »Da kommt die Lehrerin durch, die ihren Enkeln noch etwas mit auf den Weg geben will.« Meine Schwester findet, es sei eine sehr weise Idee: Unsere Mutter wolle mit uns und ihren Enkeln nach Auschwitz fahren in dem Wissen, wie knapp es gewesen ist; wie leicht es hätte sein können, dass wir nicht dort stehen ...

Und so schenken wir ihr diese Fahrt zum Geburtstag. Statt uns wie sonst an Weihnachten oder auf Familienfeiern zu treffen, fahren wir zu siebt nach Auschwitz: unsere Mutter Ingeborg, meine Geschwister Anne und Robert, ihre jeweils ältesten Kinder Milan, Jonas, Jaci – drei Generationen einer deutschen Familie im Alter von fünfzehn bis zweiundsiebzig.

Meine Mutter ist Jahrgang 1937, hat erst spät das Begabten­abitur gemacht und studiert – nach einem Leben als Hausfrau und Mutter. Mit Mitte fünfzig wurde sie Lehrerin an einer Grundschule in Berlin, mittlerweile ist sie pensioniert. Ihr Mann, mein Vater, starb vor sechs Jahren. Während ihres Studiums ist sie 1990 schon einmal in Auschwitz gewesen. Damals, erzählt sie, sei ihr der Gedanke gekommen, mit ihren Kindern nach Auschwitz zu fahren, und inzwischen seien die Enkelkinder so groß, dass sie ebenfalls mitkommen könnten.

Ihre Großmutter war Jüdin, eine geborene Lachmann, Tochter eines jüdischen Fleischermeisters, selbst Mutter dreier Kinder: meines Großvaters Herbert, seiner Schwester Trude, seines jüngeren Bruders Günther. Alle drei Kinder wurden christlich erzogen, galten aber nach der nationalsozialistischen Rassendoktrin als »Mischlinge ersten Grades«. Tante Trude verlor 1943 ihre Arbeitsstelle als Filialleiterin bei einer Süßwarenfirma und musste zum Arbeitsdienst in die Fabrik; Onkel Günther, der eine Jüdin geheiratet hatte, wurde mit seiner Frau Margot nach Theresienstadt deportiert und später weiter nach Auschwitz. Auch die Großmutter meiner Mutter kam nach Theresienstadt. Alle drei haben überlebt.

Der Vater meiner Mutter wurde nicht deportiert. Zwar galt auch er als »Halbjude«, verlor seine Arbeitsstelle bei der Deutschen Reichsbank, später die bei einer arisierten jüdischen Bank; er durfte bei Fliegeralarm nicht in den Luftschutzbunker, erhielt die geringste Zuteilung an Lebensmitteln – doch vor dem KZ bewahrte ihn im Gegensatz zu seinem Bruder die Hochzeit mit einer »arischen« Frau.

Obwohl ich diese jüdische Familienvergangenheit nie besonders wahrgenommen habe, mich als Deutscher und damit in der Nachkommenschaft der Täter fühle, habe ich mich doch immer für das Jüdische interessiert (wobei ich mit »dem Jüdischen« nichts Religiöses meine; mein Interesse war genauso unspezifisch wie das Wort): Ich bin nach Israel gereist, habe mit Anfang zwanzig bei der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau in New York hospitiert, und noch heute gibt es nichts, was mir so sehr das Blut in den Adern beschleunigt wie eine Diskussion über Israel. Dies alles ist kein bewusstes Handeln, im Sinne von: Meine Vorfahren waren Juden – ich stelle diese Affinität einfach fest.

Einmal saß ich nachts mit meiner Schwester in einer Kreuzberger Kneipe, und wir diskutierten über den Nahostkonflikt. Gerade hatte der »Zweite Libanonkrieg« zwischen Israel und der Hisbollah begonnen. Der Konflikt war in allen Medien. Meine Schwester fragte mich: »Und, wie findest du diesen Krieg?«

Ich ahnte, worauf die Frage hinauslief. Es war die vermeintlich neutrale Eröffnung eines Gesprächs, in der bereits alles enthalten war, was gleich folgen würde. Denn natürlich lautete die eigentliche Frage, die sich hinter der gestellten verbarg: »Und, wie findest du die Angriffe Israels?«

Ich sagte: »Ich kann das verstehen.«

Meine Schwester, mit herausfordernder Offenheit: »Inwiefern?«

Ich sagte, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen; dass es umgeben sei von Ländern, die es vernichten wollten. Es gehe um die Existenz ihres Staats.

»Ich glaube nicht, dass man mit Kriegen Konflikte löst«, antwortete meine Schwester. Das schüre nur wieder neuen Hass. Israel habe das Trauma des Holocaust nicht überwunden, und solange man ein Trauma nicht verarbeitet habe, könne das zu einem Wiederholungszwang führen.

Sie sprach mit warmer, weicher Stimme, ganz ruhig und unaufgeregt, ich dagegen konnte meine Aufregung und Aggression regelrecht körperlich spüren wie ein Prickeln unter der Haut. Vielleicht gerade, weil ich versuchte, meine Wut nicht zu zeigen. Was sie glaube, was bei uns los wäre, wenn Deutschland von Terroristen aus einem Nachbarland mit Raketen beschossen würde, fragte ich, ohne dass dieses Land etwas dagegen mache? Wenn in unseren Bussen ständig Selbstmordanschläge stattfinden würden?

Meine Schwester kritisierte die Angriffe Israels, ich verteidigte sie vehement. Meine Schwester mutmaßte, dass mein gereiztes Verhalten an meiner jüdischen Abstammung liege – ich war verwundert über diese Erklärung und unterstellte ihr meinerseits, dass ihre Kritik nur ein verdrängtes Schuldgefühl sei. Die anhaltende Aggression gegen die Opfer, denen man die an ihnen begangene Schuld nicht verzeihen könne. Die Täter-Opfer-Inversion als eine der gängigen Reaktionen der Kinder und Enkel.

Was hatte meine Urgroßmutter damit zu tun, die ich nie kennengelernt hatte? War ich in den Augen meiner Schwester ebenfalls traumatisiert? Und wenn sie im Unterschied zu mir Israel kritisierte, hatte sie ihre Traumatisierung dann überwunden?

Meine Schwester und ich unterstellten einander als Antrieb, was wir uns gegenseitig vorwarfen zu verdrängen.

Ich bin das jüngste von uns drei Geschwistern, meine Schwester ist sieben Jahre älter, mein Bruder neun, beide haben Patchwork-Familien: Mein Bruder hat drei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen, meine Schwester vier Kinder, von denen keine zwei das gleiche Elternpaar haben (ein Kind hat ihr Mann mit in die Ehe gebracht, zwei Kinder sie, eines haben sie gemeinsam). Meine Schwester wohnt in Hamburg, der Rest von uns in Berlin – es ist nicht einfach, einen Termin für unsere Reise zu finden.

»Aber lass uns nicht im November fahren«, sagt meine Schwester.

»Wieso nicht?«, frage ich.

»Da ist es zu trist.«

Aber soll es denn fröhlich sein?, denke ich.

Wir einigen uns schließlich auf ein Wochenende im Juni 2010 – fast auf den Tag genau siebzig Jahre, nachdem die ersten Häftlinge nach Auschwitz kamen. Ich buche Flüge nach Krakau und ein Appartement, ich reserviere in der Gedenkstätte eine deutschsprachige Führung für uns. Ich kaufe einen Reiseführer.

Ich überlege, ein Radio-Feature über unsere Reise zu machen, und biete es im Vorfeld verschiedenen Sendern an. Zuerst ist es nur der Gedanke des Journalisten und Autors in mir, der in allem und jedem ein Thema sieht, der das Leben als Steinbruch fürs Schreiben begreift. Doch bald merke ich, dass dieses Feature auch ein Vorwand ist; ein Trick, um mich mit diesem Thema zu beschäftigen, mir die Zeit dafür zu nehmen. Ich bin fast vierzig – was ich über den Nationalsozialismus gelesen, gelernt und gesehen habe, ist zu einem soliden Grundwissen verschmolzen: Mit dreizehn habe ich »Das Tagebuch der Anne Frank« gelesen, mit zwanzig »Schindlers Liste« gesehen, ich hatte das Thema dreimal im Geschichtsunterricht, war in Sachsenhausen und Buchenwald. Und doch habe ich das Gefühl, mich auf diese Reise vorbereiten zu müssen. Ich lese die Erinnerungen von Auschwitz-Überlebenden wie Ruth Klüger, Primo Levi und Imre Kertész, ich sehe Claude Lanzmanns zehnstündigen Dokumentarfilm »Shoah«. Ich stelle fest, wie schwer es ist, sich wirklich auf das Thema einzulassen; dass Einlassen etwas anderes meint, als im Fernsehen eine Dokumentation oder einen Spielfilm zu sehen und sich betroffen zu fühlen. Wir sind an die Wahrnehmung des Holocaust gewöhnt, wir können das fast nebenbei. Vielleicht, denke ich, fehlt uns die Neugier dabei; der Versuch, von eingeübten Wegen abzuweichen; die Auseinandersetzung mit uns selbst.

Und so stelle ich mir dieses Feature auch als Anlass vor, um ins Gespräch zu kommen: Das Mikrofon in der Hand wird es uns erlauben, Gespräche zu führen, die wir sonst nicht führen würden; ich werde Fragen stellen, die ich sonst nicht stellen würde. Die Familie ist einverstanden. Als der erste Sender absagt, bin ich enttäuscht: Beiträge über Auschwitz habe man schon genug im Programm, auch mit jungen Leuten, vielen Dank und viel Glück …

Ich habe das Gefühl, dass ohne dieses Vorhaben der Fahrt etwas fehlt, das sich mit gutem Willen nicht ersetzen lässt. Wir würden nach Auschwitz fahren, uns hinterher unterhalten, unsere Mutter würde ein bisschen was aus ihrer Kindheit erzählen. Aber würden wir uns wirklich damit auseinandersetzen? Warum fällt es so schwer, über die Familiengeschichte zu reden? Warum haben wir es bisher so selten getan?

Schließlich findet sich doch ein Sender, der Interesse zeigt, und ich beginne, meine Familienmitglieder zu interviewen.

Zwei

Die meisten Fakten und Anekdoten, die mir meine Mutter erzählt, habe ich schon mal gehört. Aber so lange geredet habe ich mit ihr noch nie über unsere Familiengeschichte. Es ist, als hätten wir die einzelnen Puzzlesteine genommen und zum ersten Mal zusammengefügt. Das Bild einer Kindheit entsteht. Unruhig sei es gewesen, erzählt meine Mutter, und das habe zum einen am Krieg gelegen, mit seinen Bombenangriffen und den Nächten im Bunker, zum anderen an der Verfolgung, die sie zwar spüren, jedoch nicht benennen konnte.

Ab und zu seien jüdische Verwandte und Bekannte ihres Vaters zu ihnen gekommen und hätten bei ihnen übernachtet. Auch die Großmutter, Onkel und Tante. Dann habe sie im Bett gelegen und den Gesprächen gelauscht: »Hast du was, von diesem oder jenem gehört?«, »Wie geht es denen?«, »Haben sie geschrieben?« Auch von Transporten habe sie wohl etwas gehört, aber sie konnte sich da nicht viel zusammenreimen. »Ich weiß nur, dass man mich mal gefragt hat, was das intensivste Gefühl meiner Kindheit war«, erzählt sie, »und da habe ich geantwortet: Angst.« Sie habe viel Angst gehabt – nicht nur vor Schlägen, Hunger oder Dunkelheit, sondern ganz allgemein. Dass das mit der Verfolgung zusammenhängen musste, werde ihr aber erst heute klar. Sie sagt: »Mein Vater war voller Angst, meine Mutter war voller Angst und meine jüdische Großmutter auch. Ich denke, das teilt sich dann irgendwie mit.«

Durch das Haar meiner Mutter ziehen sich graue Strähnen, durch ihr Gesicht unzählige Fältchen. Sie ist 72 Jahre alt, verwitwet, hat sechs Enkelkinder – und doch bekomme ich in diesem Moment ein Gefühl für das kleine Mädchen, das sie damals war. Ein Gefühl für ihre Ängstlichkeit und Unsicherheit, die sie häufig hinter einer resoluten, schroffen Art verbirgt. Ein Gefühl für die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

Meine Mutter gehört der Generation der Kriegskinder an, jenen zwischen 1929 und 1945 geborenen Mädchen und Jungen, deren Kindheit von Bomben, Hunger, Nächten im Bunker, Evakuierung und Tod bestimmt waren. Wenn sie von damals erzählt, verschwimmen die Erinnerungen an die Verfolgung mit jenen an den Krieg. Beides ist unauflöslich miteinander verwoben. Zum sowieso schon vorhandenen Hunger kam die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln aufgrund der jüdischen Herkunft des Vaters; zu den Nächten im Luftschutzkeller die Angst um den Vater, der nicht mit in den Bunker durfte.

Einer müsse schließlich auf die Wohnung aufpassen, erklärte die Mutter den Kindern, wenn der Vater während des Fliegeralarms zu Hause blieb. – »Keine Angst, unser Haus steht bestimmt noch«, trösteten die Kinder die Mutter, wenn sie nach einem Luftangriff wieder nach Hause gingen. Dann vor, bis zur Ecke und durch die Bäume gespäht: Kein Rauch, keine Flammen – ein Glück: das Haus steht!

Eine Geschichte, die meine Mutter immer wieder erzählt: Wie sie mit Mutter und Bruder nach überstandenem Fliegeralarm am Wäldchen entlang nach Hause geht, als die Flieger plötzlich umdrehen und noch einmal zurückkehren. Ihre Mutter, die sich mit den beiden Kindern auf den Boden wirft und sie mit ihrem Körper bedeckt.

Was soll man empfinden, wenn zu der Angst vor den Luftangriffen der Alliierten die Angst davor kommt, dass die Deutschen siegen? Die Angst um die Großmutter, den Vater, den kleinen Bruder, sich selbst. Das alles nicht ausgesprochen oder erklärt, sondern als diffuses Gefühl, das sie begleitete. Oder muss ich schreiben: begleitet?

In seinem Buch »Austerlitz« erzählt W.G.Sebald die Geschichte eines Mannes, der als Vierjähriger mit den Kindertransporten von Prag nach England kommt und der Zeit seines Lebens seine jüdische Herkunft verdrängt. Seine Mutter wird nach Theresienstadt deportiert, später weiter nach Osten, die Spur seines Vaters verliert sich in Frankreich. Er selbst wird zu einem Mann ohne Wurzeln und ohne Geschichte, der sich fremd in der Welt fühlt und nicht weiß, warum. Allem, was ihn auf die Fährte seiner Herkunft bringen könnte, weicht er aus: »Ich las keine Zeitungen, weil ich mich, wie ich heute weiß, vor unguten Eröffnungen fürchtete, drehte das Radio nur zu bestimmten Stunden an, verfeinerte mehr und mehr meine Abwehrreaktionen und bildete eine Art von Quarantäne- und Immunsystem aus, durch das ich gefeit war gegen alles, was in irgendeinem, sei es noch so entfernten Zusammenhang stand mit der Vorgeschichte meiner auf immer engeren Raum sich erhaltenden Person.«

Erst als er im Alter von fast sechzig Jahren im Radio zwei Frauen über die Kindertransporte reden hört, offenbart sich ihm seine Vergangenheit. Alle verdrängten Bilder sind wieder da. Es ist eine Geschichte, wie man der Vergangenheit auszuweichen versucht und sie doch ein Leben lang mit sich herumträgt.

Auch im Leben meiner Mutter sind die Spuren der Vergangenheit präsent: in dem Bedürfnis nach Struktur und festen Terminen, die sie wie ein Sicherheitsnetz in ihren Alltag spannt; in der Art, wie sie sich um Freunde und Familie kümmert: um die depressive Freundin in der Psychiatrie, die 83-jährige Schwägerin, die keine Kinder hat, um die eigenen Kinder und Enkel. Familiärer Zusammenhalt sei in der Kindheit unserer Mutter eine Frage des Überlebens gewesen, sagt meine Schwester. Wenn ihre Mutter, unsere Großmutter, nachts die jüdischen Verwandten aufnahm, weil in deren Nachbarschaft mal wieder ein Transport abging, dann war klar, dass man diese nicht im Stich lassen könne. Dass man der Familie half, war Gesetz.

Was sich noch verwenden lässt, hebt sie auf: gebrauchtes Geschenkpapier, Bindfäden, leere Gläser; manchmal bringt sie vom Friedhofskompost Blumen mit oder Haushalts­gegenstände vom Müll. Sie wohnt alleine in der Vierzimmerwohnung, in der wir früher zu fünft gewohnt haben, und erklärt, dass sie dringend einmal ausmisten müsse. Aber sie kann sich von den Dingen nicht trennen.

Die Bedeutung, die das Thema »Essen« in ihrem Leben hat.