Cover

Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge I:
Das Mal der Zwillingsmonde

Roman

hockebooks

5

Ungeduldig und voller Sorge saß Tha-Ury im Mondlicht hinter einem der kleinen Fenster ihres Hauses. Angestrengt blickte sie den dunklen Weg entlang, der zu ihrem Haus führte, und wartete. So viel Schreckliches war seit dem Morgen geschehen und Ilahja war noch immer nicht zurück. Tha-Ury fürchtete, ihre Pflegetochter niemals wiederzusehen.

Am späten Vormittag war mehr als ein Dutzend Krieger in das Dorf gekommen. Auf ihren Rüstungen prangte das Wappen einer schwarzen Schlange mit grünem Kopf, die ihren Leib um ein blutiges Schwert wand. Jeder, der sie sah, wusste sofort, dass es sich bei ihnen um Angehörige des Schlangenordens, der am meisten gefürchteten und gehassten Einheit unter den Kriegern An-Rukhbars, handelte. Wo immer sie auftauchten, hinterließen sie eine Spur aus Tod und Verderben, und sie waren dafür bekannt, dass sie selbst die grausamsten Befehle rücksichtslos und ohne Gnade ausführten.

Im Zentrum des Dorfes stiegen sie von ihren Pferden, durchsuchten jedes Haus und trieben die Bewohner auf dem Dorfplatz zusammen. Als sie feststellten, dass alle arbeitsfähigen Männer und Frauen auf den Feldern bei der Ernte waren und sich nur noch die Alten und Kinder im Dorf befanden, befahl ihr Hauptmann einem der älteren Männer, die Krieger zu den Feldern zu führen. Doch bevor sie das Dorf verließen, ergriffen seine Krieger wahllos zwei ältere Mädchen und zwei Jungen und nahmen die verzweifelt schreienden Kinder mit sich, als sie ihrem Hauptmann folgten.

Bei dieser Erinnerung begann Tha-Ury unwillkürlich zu zittern. Ohnmächtig und hilflos mussten die Dorfbewohner mit ansehen, wie die Kinder fortgebracht wurden. Sie sollten nicht die Einzigen bleiben, die die Krieger verschleppten. Wieder dachte sie voller Sorge an Ilahja, doch die einsetzende Dunkelheit hielt sie davon ab, nach ihr zu suchen. Seit An-Rukhbar das Land beherrschte, wagten es nur noch wenige Menschen, sich des Nachts im Freien aufzuhalten, denn fremdartige und unheimliche Wesen strichen im Schutze der Dunkelheit durch das Land. Nur wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ, verließen die Bewohner der Dörfer in der Dunkelheit ihre Hütten.

Eine Bewegung im Mondlicht erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte die Dunkelheit auf dem Weg zu durchdringen. Das musste Ilahja sein. Tha-Urys Herz machte einen Sprung, als sie sie in Begleitung von Tassea endlich den schmalen Weg zu ihrer Hütte heraufkommen sah. Als die beiden Frauen nur noch wenige Schritte von dem kleinen Haus entfernt waren, öffnete sie die Tür und lief ihnen entgegen. Überglücklich schloss sie ihre Pflegetochter in die Arme. Tränen der Erleichterung liefen über ihre Wangen, als sie Ilahja fest an sich drückte und ihr liebevoll über das Haar strich. »Ich bin ja so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte sie mit zitternder Stimme. »So viele schreckliche Dinge sind geschehen. Aber kommt erst einmal herein.«

Ilahja setzte sich sofort erschöpft auf einen Stuhl, doch Tassea wollte ihren Mantel nicht ablegen, obwohl es sehr warm war und ihr Hund sich bereits schläfrig vor dem Herdfeuer zusammengerollt hatte. »Was ist passiert?«, fragte sie.

Mit Tränen in den Augen schilderte Tha-Ury die Ereignisse des Nachmittags. Dabei zitterte sie so stark, dass Ilahja sich erhob und sie tröstend in den Arm nahm.

»Vier Kinder?« Tassea war sichtlich entsetzt. »Und wie viele haben sie noch mitgenommen?«

»Acht!« Tha-Ury wischte ihre Tränen mit dem Ärmel fort. »Und sie haben eines der Felder niedergebrannt. Ihr Hauptmann soll gesagt haben, dass wir es nicht mehr brauchten, weil wir nun weniger Mäuler zu stopfen hätten.« Sie drückte Ilahja fest an sich. »Ach Kind, ich hatte ja solche Angst, dass sie dich auch …« Tha-Ury seufzte und verstummte.

»Der Schlangenorden!«, sagte Tassea kopfschüttelnd. »Ich habe schon Ähnliches aus anderen Dörfern gehört, aber zwölf Menschen aus einem einzigen Dorf, so viele haben sie noch nie geholt!«

»Warum haben sie das getan?«, fragte Tha-Ury traurig. »Wir haben doch nichts verbrochen. Und die Kinder …« Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie konnte nicht weitersprechen.

»Ich weiß es nicht.« Die Heilerin hob bedauernd die Schultern. »Ich weiß nur, dass die Krieger sie in die Festungsstadt bringen. Von dort ist noch kein Gefangener zurückgekehrt.«

»Mutter, was ist mit Kjelt, Nagika und Iowen?«, fragte Ilahja ängstlich.

»Ihnen geht es gut«, sagte Tha-Ury und streichelte beruhigend über Ilahjas Hand. »Aber wieso weißt du das nicht? Du warst doch den ganzen Tag über mit ihnen zusammen.«

»Ilahja ist krank.« Nur zu gern ergriff Tassea die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Die Zeiten waren hart und ungerecht. Und ebenso wie alle anderen war auch ihr Dorf der Willkür An-Rukhbars wehrlos ausgeliefert. Doch konnte man wirklich nicht dauernd darüber sprechen.

Mit wenigen Worten erzählte die Heilerin Tha-Ury, was am Morgen geschehen war, ohne jedoch den wahren Grund für Ilahjas Zusammenbruch zu nennen. Geduldig beantwortete sie jede Frage, umschrieb aber auch hier geschickt die wahren Gründe für Ilahjas »Krankheit«. Zuletzt gab sie noch einige Anweisungen und erklärte, dass Ilahja ihr Lager in den kommenden Sonnenläufen nicht verlassen dürfe und sich schonen müsse.

Als Tassea sich wenig später verabschieden wollte, bat Tha-Ury die Heilerin inständig, nicht noch einmal hinauszugehen und die Nacht lieber in ihrem Haus zu verbringen.

»Macht Euch um mich keine Sorgen«, sagte Tassea leichthin und deutete auf ihren Hund. »Brox wird mich beschützen. Ich bin oft im Dunkeln unterwegs. Die Kranken brauchen mich zu jeder Zeit.« Sie verabschiedete sich von Ilahja und machte einige Schritte auf die Tür zu. Dann richtete sie das Wort noch einmal an Tha-Ury. »Ich werde bald wiederkommen und nach Ilahja sehen. Bis dahin sorgt dafür, dass sie sich an meine Anweisungen hält.«

In den folgenden vier Sonnenläufen blieb Ilahja die meiste Zeit in ihrem Bett und schonte sich.

Gegen Mittag des fünften Sonnenlaufes hielt sie es schließlich nicht mehr aus, nur tatenlos im Bett zu liegen, und stand auf.

Eilig zog sie sich an und ging in die Küche, wo Tha-Ury gerade dabei war, in einem großen Kupferkessel das Mittagessen für die kommenden Sonnenläufe zu bereiten. Der herbe Geruch von gekochten Kohlrüben erfüllte den Raum und zog durch die weit geöffneten Fenster nach draußen.

Als Ilahja die Küche betrat, schaute Tha-Ury überrascht auf. »Solltest du nicht besser noch ein wenig im Bett bleiben?«, fragte sie besorgt.

»Aber ich fühle mich schon viel besser, Mutter«, erwiderte Ilahja wahrheitsgemäß. »Ich wollte fragen, ob ich dir etwas helfen kann?«

Doch Tha-Ury schüttelte energisch den Kopf. »Das brauchst du nicht, ich bin schon fast fertig«, sagte sie und lächelte dann vielsagend. »Aber Kjelt wird sich sicher freuen zu sehen, dass es dir wieder besser geht, wenn er heute Nachmittag kommt.«

Ilahja erschrak. »Kjelt kommt?«, fragte sie überrascht und Tha-Ury nickte. »Du freust dich ja gar nicht. In letzter Zeit bist du so abweisend zu Kjelt, das hat er wirklich nicht verdient.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Er liebt dich doch, Kind. Du kannst wirklich froh sein, dass er so viel Geduld mit dir hat. Ein anderer hätte dich schon längst verlassen … So schlecht, wie du ihn behandelst.«

»Ich weiß, Mutter, und ich liebe ihn doch auch. Wirklich!«, verteidigte sich Ilahja. »Es ging mir in letzter Zeit nur nicht gut.«

Draußen waren eilige Schritte zu hören. Kurz darauf klopfte jemand heftig an die Tür. »Ich gehe«, sagte Ilahja schnell. Froh, das Gespräch mit Tha-Ury nicht weiterführen zu müssen, beeilte sie sich die Tür zu öffnen.

Draußen stand, völlig außer Atem, ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen von etwa fünfzehn Sommern. Ilahja hatte sie schon häufig gesehen und wusste, dass sie Xara, die Schülerin von Tassea, war. Sie musste sehr schnell gelaufen sein, denn ihr hageres Gesicht mit dunklen, auffallend tief liegenden Augen war gerötet und auf ihrer Stirn glitzerten winzige Schweißtropfen.

»Gut, dass du schon aufgestanden bist«, sagte sie zu Ilahja. »Die Heilerin möchte dich sprechen. Kannst du gleich mitkommen?«

Ilahja war überrascht. Was konnte Tassea von ihr wollen? »Natürlich«, sagte sie. »Warte einen Moment, ich hole nur schnell meinen Mantel.«

Rasch ging sie in die Küche zurück, um sich von Tha-Ury zu verabschieden. Ihre Pflegemutter war jedoch überhaupt nicht damit einverstanden, dass Ilahja das Haus verließ, und erklärte Xara energisch, es sei wohl besser, wenn die Heilerin selbst ins Haus käme, um die Kranke zu besuchen. Ilahja hatte inzwischen ihren Mantel geholt und hörte Tha-Urys aufgeregte Worte. Eilig kehrte sie in die Küche zurück. »Mutter«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Es geht mir schon viel besser. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.« Sie ging zur Tür und gab Tha-Ury im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Gerade als sie die Tür hinter sich schließen wollte, fiel ihr noch etwas ein. »Falls ich noch nicht wieder zurück bin, wenn Kjelt kommt, sei bitte so lieb und richte ihm aus, dass ich mich schon viel besser fühle. Und sag ihm, dass ich mich freuen würde, wenn er mich ein anderes Mal besuchen kommt.«

Ihr Weg führte die beiden Mädchen mitten durch das Dorf. Die Vögel sangen hoch oben in den Bäumen und unzählige Bienen summten von Blüte zu Blüte. Nach den vielen eintönigen Sonnenläufen in ihrem Zimmer genoss Ilahja diesen herrlichen Frühlingstag besonders. Die Wärme der Sonnenstrahlen tat ihr gut. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und wandte ihr Gesicht der niedrig stehenden Sonne zu.

Als sie die Augen wieder öffnete, hielt sie erschrocken die Luft an. Unmittelbar vor ihr auf dem Weg stand Kjelt. Energisch versperrte er Ilahja den Weg, indem er sich direkt vor sie stellte. »Ilahja, ich denke, du bist krank«, sagte er vorwurfsvoll und Ilahja konnte ihm ansehen, dass er nicht so recht wusste, ob er über ihr unverhofftes Auftauchen zornig oder erleichtert sein sollte.

»Das war ich auch. Aber seit heute Morgen geht es mir schon viel besser«, erklärte Ilahja und bedachte ihren Gefährten mit einem liebevollen Blick. Zärtlich nahm sie seine Hand und sagte: »Es ist wirklich lieb von dir, Kjelt, dass du dich so um mich sorgst, doch ich bin sehr in Eile. Die Heilerin hat nach mir geschickt. Sie möchte mich noch einmal untersuchen.«

Kjelt löste seine Hand aus Ilahjas Griff und wandte sich an Xara, die ein paar Schritte voraus ungeduldig wartete. »Ist das so?«, fragte er misstrauisch und das Mädchen nickte stumm. Sie wollte auf keinen Fall in den Streit der beiden hineingezogen werden. »Wenn in meiner Familie jemand krank ist«, fuhr Kjelt fort und schaute Ilahja fragend an, »kommt die Heilerin immer zu uns ins Haus, um den Kranken zu versorgen. Es ist noch niemals vorgekommen, dass wir zu ihr gehen mussten.«

Er sprach es nicht direkt aus, doch Ilahja spürte, dass er auf eine Erklärung von ihr wartete. Doch so schnell fiel ihr keine passende Antwort ein. »Diesmal ist es eben anders«, erwiderte sie hilflos und machte einen vergeblichen Versuch, an Kjelt vorbeizutreten.

Dieser ergriff ihren Arm und hielt sie fest. »Einen Moment noch, Ilahja.« Seine Stimme klang scharf und so wütend, dass Ilahja es nicht wagte, weiterzugehen. »Du bist noch immer krank, also werde ich dich begleiten.« Ohne Ilahjas Zustimmung abzuwarten ging er los. Seine kräftige Hand hielt ihren Arm dabei noch immer fest im Griff und sie hatte große Mühe, den weit ausgreifenden Schritten ihres Gefährten zu folgen.

»Bitte, Kjelt, lass uns etwas langsamer gehen«, keuchte sie, während sie vergebens versuchte ihren Arm aus seiner Hand zu befreien. Ihr Rücken schmerzte von der Anstrengung und vor ihren Augen tanzten kleine schwarze Punkte. Kjelt antwortete nicht, schien aber zu merken, dass es Ilahja nicht gut ging, und verlangsamte seine Schritte. Bald darauf standen sie vor der Hütte der Heilerin.

Xara verschwand sofort hinter dem Haus.

Kjelt ließ Ilahja nun endlich los. »Setz dich dort hin«, befahl er unwirsch und deutete auf eine kleine hölzerne Bank vor dem Haus. »Ich werde jetzt hineingehen und ein ernstes Wort mit der Heilerin reden.«

Entschlossen drehte er sich um und wollte gerade an die Tür klopfen, als diese von innen geöffnet wurde und Tassea heraustrat. Sie schenkte Kjelts wütendem Gesichtsausdruck keine Beachtung, sondern reichte ihm zur Begrüßung die Hand. »Es ist wirklich nett von dir, Kjelt, dass du Ilahja hierher begleitest«, sagte sie freundlich, noch bevor Kjelt das Wort ergreifen konnte.

Dieser war sichtlich durcheinander und suchte verzweifelt nach den passenden Worten. »Sie … sie ist noch sehr krank«, begann er unsicher und versuchte seine Fassung wiederzufinden. »Sie hätte den weiten Weg nicht gehen dürfen, dazu ist sie noch viel zu schwach.« Die Worte waren schlecht gewählt, doch in seinen Augen erkannte die Heilerin aufrichtige Sorge um Ilahja.

»Hat Ilahja dir denn nichts über ihre Krankheit berichtet?«, fragte Tassea und zwinkerte Ilahja dabei unauffällig zu, die vor Schreck die Luft anhielt.

»Nein«, kam die ehrliche Antwort von Kjelt. »Doch ich sehe, wie schlecht sie zu Fuß ist und wie schnell sie außer Atem gerät.«

Tassea schüttelte missbilligend den Kopf und sah Ilahja tadelnd an. »Ilahja, du musst den Menschen, die dich lieben, doch sagen, was dir fehlt«, tadelte sie. »Ich sehe jedenfalls keinen Grund dafür, deinem Gefährten die Gründe für deine Krankheit zu verschweigen. Aber ich denke, wir gehen erst einmal hinein und setzen uns.«

Tassea deutete auf die Tür und schon bald saßen die drei an dem kleinen Tisch im Wohnraum der Heilerin. Ilahja war erschöpft und hätte sich am liebsten hingelegt, doch sie wollte auf keinen Fall, dass Kjelt bemerkte, wie sie sich fühlte. So riss sie sich zusammen und überließ es der Heilerin, das Wort zu ergreifen.

»Du musst wissen, dass Ilahja ihre Krankheit schon sehr lange in sich trägt«, erklärte Tassea gedehnt und schien noch nach den richtigen Worten zu suchen. »Doch erst in den letzten Mondläufen ist sie bei ihr richtig ausgebrochen. Es handelt sich dabei nicht direkt um eine Krankheit, sondern um ein seltenes Gift, das sich in ihrem Körper ausgebreitet hat.« Sie machte eine Pause und beobachtete, wie ihre Erklärung auf Kjelt wirkte.

Der machte ein erschrockenes Gesicht und räusperte sich, um eine Frage zu stellen. »Wie konnte das geschehen? Und woher kommt dieses Gift?«, wollte er wissen.

»Das kann ich nach einer so langen Zeit nicht mehr feststellen«, sagte Tassea ernst. »Ich weiß jedoch aus Erfahrung, dass häufig schon eine winzige Verletzung zu einer solchen Vergiftung führen kann, wenn sie mit dem Pilz, der dieses Gift in sich trägt, in Berührung kommt. Es hätte Ilahja wahrscheinlich getötet, wäre sie nicht vor einigen Sonnenläufen zu mir gebracht worden.« Tassea lächelte beruhigend und ergriff Ilahjas kalte Hände. »Sie hatte großes Glück. Es gelang mir, die Ausbreitung des Giftes aufzuhalten, obwohl es sich in ihrem Körper schon sehr weit ausgebreitet hat.« Die Heilerin wartete, ob Kjelt sich mit der Erklärung zufriedengeben würde.

Kjelt wirkte plötzlich sehr nachdenklich. Zuerst sah er Tassea und dann Ilahja an. Schließlich senkte er seinen Blick und sagte leise zu Ilahja: »Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen. Du hättest mir aber ruhig etwas sagen können.« Er gab ihr zärtlich einen Kuss auf die Wange. »Es ist wohl besser, wenn ich euch jetzt allein lasse«, sagte er sanft.

Kjelt erhob sich und wollte sich verabschieden. Doch Tassea hielt ihn zurück. »Warte noch einen Moment«, sagte sie ernst. »Es gibt noch etwas, das du wissen musst. In zwei Sonnenläufen wird Ilahja meine Schülerin begleiten, wenn diese mit den Ziegen zu den Sommerweiden aufbricht. Dort oben gibt es Kräuter, die das Gift aus ihrem Körper filtern können, und die Luft in den Bergen wird ihr gut tun.«

Kjelt sah die Heilerin überrascht an. Auch Ilahja war sprachlos. Tassea hatte doch gesagt, sie hätten noch viel Zeit. Und nun sollte sie schon in zwei Sonnenläufen aufbrechen.

»Nun, ich denke, Ihr wisst am besten, was für Ilahjas Heilung nötig ist. Das Wichtigste ist, dass sie schnell wieder gesund wird«, hörte sie Kjelt sagen. Dann reichte er der Heilerin die Hand und dankte ihr für ihre Bemühungen. Ilahja gab er einen liebevollen Kuss auf die Wange und sagte: »Egal wie lange es dauert, bis du wieder gesund bist, ich werde auf dich warten.« Tief in Gedanken versunken verließ er die Hütte und machte sich auf den Heimweg.

Die Heilerin wartete, bis Kjelt hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder Ilahja zuwandte. »Du siehst erschöpft aus«, sagte sie besorgt und deutete auf das Krankenbett in der Mitte des Raumes. »Am besten, du legst dich hin, während wir uns unterhalten. Es gibt wichtige Neuigkeiten.«

Ilahja nickte dankbar. Umständlich erhob sie sich von ihrem Stuhl und legte sich mit Tasseas Hilfe auf das Bett. Aufatmend schloss sie die Augen und hörte, was Tassea zu berichten hatte.

»Heute Morgen erreichte mich eine Nachricht von Mino-They, einer Heilerin aus Daran«, begann Tassea. »Darin teilt sie mir mit, dass Tarek, der oberste Kriegsherr von Nimrod, seit einigen Mondläufen besonders sorgfältig nach Frauen suchen lässt, die ein Kind erwarten. Um alle Frauen zu finden, hat er durch den Meistermagier von Nimrod einen Traumflüsterer beschwören lassen, der ihm bei seiner Suche hilft. Wie Mino-They es beschreibt, ist dieses Wesen in der Lage, die Gedanken der Menschen zu lesen, während sie schlafen. So erfährt er alles, auch das, was wir Menschen lieber für uns behalten wollen.«

»Gibt es denn eine Möglichkeit, sich vor einem solchen Wesen zu schützen?«, fragte Ilahja ängstlich.

Tassea blickte sie schweigend an und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein«, antwortete sie ehrlich. »Immerhin können wir sicher sein, dass er unser Dorf bisher noch nicht erreicht hat. Sonst hätte er dich sicher entdeckt. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist, vor ihm zu fliehen.« Sie sah Ilahja fest in die Augen. »Du musst das Dorf so schnell wie möglich verlassen, Ilahja«, sagte sie beschwörend. »Das ist unsere einzige Hoffnung.« Ilahja war entsetzt und brachte kein Wort heraus. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Willst du meinen Plan hören?«, fragte Tassea.

Ilahja nickte stumm. Dass sie das Dorf für eine Weile verlassen musste, damit sie ihre Tochter unbemerkt zur Welt bringen konnte, hatte sie gewusst, doch nun ging alles so schnell.

»… werde darüber mit deiner Pflegemutter sprechen …« Ilahja hatte die ersten Worte der Heilerin nicht mitbekommen, wagte aber nicht nachzufragen, denn Tassea sprach bereits weiter und schien auch nicht zu bemerken, dass Ilahja ihr nicht zugehört hatte.

»… Auch sie wird annehmen, dass du Xara und meine Ziegen auf die Weiden in den Bergen begleitest und den Sommer dort mit ihnen verbringst. So wird sich niemand darüber wundern, dass du länger fort bist.«

Ilahja wünschte, sie könnte Tasseas Zuversicht teilen. Doch das wollte ihr nicht gelingen. Verbissen blickte sie zu Boden und rang mit ihren Gefühlen. »Was habe ich vorher noch zu tun?«, presste sie hervor und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die in ihren Augen brannten.

»Ich werde dich jetzt nach Hause begleiten und mit Tha-Ury sprechen«, erklärte Tassea. »Du wirst in dieser Zeit alles zusammenpacken, was du für die Reise benötigst. Und danach werden wir hierher zurückkehren.«

»Aber Ihr sagtet doch, dass wir erst übermorgen aufbrechen«, rief Ilahja erschrocken aus. Nun ging ihr doch alles viel zu schnell.

»Ilahja! Wir dürfen von nun an kein Risiko mehr eingehen«, mahnte die Heilerin. »Jederzeit kann der Traumflüsterer unser Dorf erreichen. Bei Tha-Ury wärst du ihm schutzlos ausgeliefert. In meinem Haus kann ich zumindest versuchen, uns vor ihm zu schützen.« Tassea sah, wie Ilahja hei ihren Worten die Stirn runzelte. »Ja, du hast richtig gehört«, sagte sie. »Auch ich befinde mich in großer Gefahr. Ich kenne dein Geheimnis und der Traumflüsterer könnte aus meinen Gedanken alles über dich erfahren. Deshalb müssen wir beide schon bald das Dorf verlassen.«

Ilahja war noch immer nicht mit dem überstürzten Aufbruch einverstanden, doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass Tassea Recht hatte.

Tha-Ury war zunächst strikt dagegen, ihre Pflegetochter gehen zu lassen. Doch es gelang der Heilerin, sie davon zu überzeugen, dass ein Sommer in den Bergen für Ilahjas Gesundheit sehr wichtig sei, und versicherte ihr, dass sie danach gesund heimkehren würde. So erhielt Ilahja schließlich doch die Erlaubnis für ihre Reise. In der Zwischenzeit hatte sie die wenigen Sachen zusammengesucht, von denen sie glaubte, sie auf ihrer Reise zu benötigten. Dazu kamen dann noch all die Dinge, von denen Tha-Ury behauptete, dass man sie in den Bergen unbedingt brauchte. Als endlich alles gepackt war, begann es draußen zu dämmern und Tassea drängte zum Aufbruch.

Im Haus der Heilerin angekommen, beobachtete Ilahja, wie Tassea ein dickes Bündel halb getrockneter Kräuter über die Flamme einer Kerze hielt. Gierig griffen die Flammen nach den langen Halmen und setzten sie in Brand.

»Du solltest dich jetzt besser hinlegen«, riet die Heilerin und deutete auf Ilahjas Lager. Dann erstickte sie die Flammen an dem Kräuterbündel mithilfe einer tönernen Schale und hielt Ilahja die schwelenden Halme entgegen.

»Atme den Rauch tief ein«, erklärte sie. »Er wird deine Gedanken in einen dichten Nebel hüllen und sie vor Eindringlingen verbergen.«

Ilahja tat, wie ihr geheißen, und zog den Rauch tief in ihre Lungen. Der beißende Geruch der verbrannten Kräuter ließ sie husten und ihr wurde schwindelig. Trotzdem atmete sie so lange weiter, bis Tassea erklärte, dass es genug sei.

»Schlaf jetzt«, sagte Tassea und Ilahja tastete benommen nach ihrer Decke. Aufatmend wickelte sie sich darin ein, schloss die Augen und war augenblicklich eingeschlafen.

Sie schlief tief und traumlos und erwachte am nächsten Morgen so ausgeruht wie schon lange nicht mehr.

Umständlich erhob sie sich und sah sich um. Tassea war bereits aufgestanden. Ihr Lager war verlassen, aber die Tür in den Garten stand einen Spalt offen und Ilahja hörte, wie die Heilerin draußen leise mit Xara sprach. Mit wiegendem Schritt machte sie sich auf den Weg in den Garten, um die beiden Frauen zu begrüßen. Der Morgen war wolkenverhangen, aber ein Blick zum Himmel sagte ihr, dass sich die hohe, dünne Wolkendecke schon bald auflösen würde. Spätestens am Nachmittag würde die Sonne wieder ungehindert scheinen.

In einem abgelegenen Teil der gewaltigen Festungsanlage von Nimrod hallten an diesem Morgen die gequälten Schreie einer Frau durch die menschenleeren Gänge.

Selbst die beiden Wachen, die der Sequestor an dem einzigen Zugang zu diesem Teil der Burg postiert hatte, erschauerten bei den unmenschlich klingenden Lauten. Man hatte ihnen nicht gesagt, was hinter den schweren, eisenbeschlagenen Türen am Ende des langen Flures vor sich ging, und keiner der beiden war neugierig darauf, es zu erfahren. Ihre Aufgabe bestand allein darin, Unbefugte zu hindern, den langen Flur zu betreten. Und wie alle Soldaten An-Rukhbars taten sie ihre Pflicht ohne zu fragen und interessierten sich nicht für das, was um sie herum geschah.

Noch vor Sonnenaufgang war der Sequestor mit seinen engsten Vertrauten und zwei Magiern hierher gekommen. In ihrer Mitte führten sie eine gefesselte junge Frau mit stark gerundetem Leib, die sich immer wieder ängstlich nach allen Seiten umsah. Ihre Haare waren schmutzig und die Kleidung zerrissen. Sie roch stark nach Pferden, an ihrem Rock hingen Gräser und ihr Zustand wies darauf hin, dass sie gerade erst angekommen war. Als die Männer sie den langen Flur entlangführten, wehrte sie sich heftig und flehte den Sequestor mit schriller Stimme um Gnade an.

Sie war nicht die Erste, die diesen Weg ging. Fünf Frauen hatte der Sequestor in den vergangenen Mondläufen schon in den Raum am Ende des Flures geführt und jedes Mal hatten die beiden Soldaten hier Wache gehalten.

Als die lauten, schrillen Schreie der Frau nach einer kleinen Ewigkeit endlich verstummten, atmeten die beiden erleichtert auf. Es war ihnen gleich, ob die Frau noch lebte, Hauptsache, der Lärm war vorbei. Die Tür am Ende des Ganges wurde geöffnet und einer der Magier huschte eilig an ihnen vorüber. Schon bald kam er in Begleitung des obersten Kriegsherrn zurück. Als die Wachen Tarek die gewundene Treppe vor ihnen herunterkommen sahen, nahmen sie sofort Haltung an und salutierten gehorsam. Doch dieser beachtete sie nicht, sondern folgte dem Magier, der mit schnellen Schritten den Flur entlanghastete.

Am Ende des Flures blieb Tarek vor der halb geöffneten Tür stehen und verzichtete darauf, den Raum zu betreten. »Ist es diesmal das richtige?«, fragte er von draußen.