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Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge II:
Die Schwertpriesterin

Roman

hockebooks

10

»Ich hab schon einige Kämpfe miterlebt, aber so etwas Scheußliches habe ich noch nie gesehen!« Unter dem dicken Tuch, das Fayola vor ihren Mund presste, klang ihre Stimme seltsam dumpf. Schützend barg sie Alanis Gesicht an ihrer Brust und schob das verängstigte Mädchen eilig in den Stollen zurück, um ihr den schrecklichen Anblick zu ersparen.

Vor ihnen in der Höhle bot sich den Gefährten ein Bild des Grauens.

Alle Krieger, die dem Magier gefolgt waren, waren tot. Der Wächter hatte sie auf entsetzliche Weise verstümmelt. Arme, Beine und Köpfe waren von ihren zerschmetterten Körpern getrennt und lagen in einem blutigen Durcheinander auf dem Boden.

Die Wände der Höhle waren rot von Blut und unzählige schwarze Brandstellen zeugten davon, dass der Magier sich verzweifelt gewehrt haben musste. Von dem Magier selbst war nirgendwo etwas zu entdecken. Nur ein kleiner Rest dunkelblauen Stoffes, der noch aus dem vorderen Maul des Wächters hervorschaute, ließ sein schreckliches Schicksal erahnen.

Der Wächter war unverletzt. Er hatte wieder seinen Platz vor dem Tor eingenommen und starrte mit einem Gesicht in die Höhle hinein, während die Zähne des anderen noch genüsslich an einem Arm kauten.

»Es ist einfach unglaublich«, flüsterte Sunnivah. Auch sie konnte den beißenden Gestank in der Höhle kaum ertragen und nahm ihr Tuch nicht von Mund und Nase, während sie sprach. »Ein Dutzend Krieger und ein Magier – und der Wächter hat nicht einmal einen Kratzer abbekommen.« Erschüttert wandte sie sich ab, ging wieder ein Stück in den Stollen zurück und hockte sich neben Alani an die Wand. Die anderen folgten ihr.

Naemy wirkte sehr nachdenklich.

»Ich habe solche Wesen schon einmal gesehen«, erklärte sie. »Damals, als An-Rukhbar die Festungsstadt stürmte, dienten knapp zwei Dutzend dieser Kreaturen in seiner Armee. Fürchterliche Kampfmaschinen, die er aus seiner Dimension hierher brachte. Sie haben Hunderte unserer Elfenkrieger getötet.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal einem von ihnen begegnen würde.«

»Weißt du, wie man den Wächter bezwingen kann?«, fragte Sunnivah. Die Tatsache, dass die Nebelelfe ein solches Wesen schon einmal gesehen hatte, ließ sie neue Hoffnung schöpfen. »Gibt es eine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen?«

Naemy sah ihre Gefährtin ernst an. »Ich weiß es nicht«, sagte sie bedauernd, und zum ersten Mal seit Sunnivah Naemy kannte, sah sie die Nebelelfe ratlos.

Wenig später hatten sich die fünf Gefährten noch etwas weiter in den Stollen zurückgezogen. Hier war der Gestank längst nicht so unerträglich wie vor der Höhle und sie konnten auf die Tücher verzichten. Schweigend saßen sie nebeneinander auf dem harten staubigen Boden und suchten fieberhaft nach einem Plan, um an dem Wächter vorbeizukommen.

Allen war klar, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Früher oder später würden neue Krieger hier unten auftauchen. Wenn sie die Leichen ihrer Kameraden entdeckten, würde es hier schon bald von Menschen nur so wimmeln.

Schließlich stand Sunnivah auf und nahm ihr Amulett in die Hand. »Es ist meine Aufgabe«, erklärte sie. »Also werde ich es allein versuchen!«

»Du bist verrückt!« Erregt sprang Fayola auf und griff nach Sunnivahs Arm. »Der Wächter hockt genau vor der Tür. Du müsstest ihn schon wegschieben, um die Tür zu öffnen.«

»Mach dir meinetwegen keine Sorgen.« Sunnivah zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde das Amulett benutzen, dann kann der Wächter mich nicht sehen. Vielleicht gelingt es mir ja, an ihm vorbeizukommen, ohne dass er mich bemerkt.«

»Nein, Sunnivah!« Naemy erhob sich ebenfalls. »Fayola hat recht, es ist zu gefährlich. Selbst mit dem Amulett wirst du den Wächter nicht ohne Hilfe von der Tür fortbekommen.« Entschlossen zog sie ihr Schwert. »Ich werde versuchen ihn abzulenken, dann kannst du die Tür öffnen.«

»Und ich helfe dir dabei«, sagte Fayola entschlossen.

»Ich auch!« Die drei Frauen wandten sich erstaunt um. Vhait hatte zwar bewiesen, dass er sie nicht verraten würde, aber keine von ihnen hätte damit gerechnet, dass er auch bereit sein würde, sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen.

»Weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt?«, fragte Fayola skeptisch. Vhait zuckte mit den Schultern. Was immer die Frauen planten, es richtete sich gegen die Herrschaft An-Rukhbars. Das allein zählte. Er hatte mit seinem bisherigen Leben gebrochen und wäre jetzt sogar bereit gewesen sich den Rebellen anzuschließen, um den Menschen von Thale zu helfen.

Entschlossen trat er auf Sunnivah zu und streckte die Hand aus. »Gib mir ein Schwert!«, forderte er und sah ihr fest in die Augen. Sunnivah zögerte. Zu gern wollte sie den Worten des jungen Kriegers glauben, doch mit einem Schwert in der Hand konnte er zu einem gefährlichen Gegner für sie werden.

»Sunnivah, nicht!«, zischte Fayola. Ihre Augen funkelten. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Vhait misstraute. Im Stollen wurde es plötzlich sehr still. Nur der rasselnde Atem des Wächters war noch zu hören.

Sunnivah zögerte noch immer. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe, während ihr Blick unruhig zwischen Fayola und Vhait hin und her wanderte.

Am Ende war es die Nebelelfe, die ihr die Entscheidung abnahm. Naemy trat neben Sunnivah und reichte Vhait ihr Schwert. »Hier, nimm meines«, sagte sie lächelnd. »Ich brauche es nicht, um den Wächter abzulenken.«

»Naemy, wie kannst du …?« Aufgebracht wollte Fayola nach dem Schwert greifen, doch Naemy hielt sie zurück.

»Ich vertraue ihm!«, erklärte sie nachdrücklich. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.«

Fayola schnaubte und murmelte etwas Unverständliches, erhob aber keine weiteren Einwände mehr.

Nachdem nun alles geklärt war, wandte sich Naemy wieder an Sunnivah. »Wir werden im Höhleneingang warten«, erklärte sie. »Dort wird uns der Wächter nicht bemerken. Wenn du in Schwierigkeiten kommst oder Hilfe brauchst, werde ich versuchen den Wächter mit meinen Feuerkugeln abzulenken. Ich kann aber nicht versprechen, wie lange mir das gelingt. Deshalb musst du sofort versuchen die Tür zu öffnen, sobald der Wächter seinen Platz verlassen hat.«

Sunnivah nickte und hielt das Amulett vor sich. Leise flüsterte sie die magischen Worte und brachte das Amulett zum Glühen. Sein Licht breitete sich aus und hüllte Sunnivah ein. Dann war sie verschwunden.

Vhait pfiff beeindruckt durch die Zähne.

»Ich gehe jetzt.« Sunnivahs Worte erklangen leise in Naemys Gedanken. »Wenn ich Hilfe brauche, werde ich dich rufen.«

»Die Göttin behüte dich, Sunnivah!«, erwiderte die Nebelelfe leise. Sie wartete so lange, bis sie glaubte, dass Sunnivah im Stollen war. Dann band sie sich ihr Tuch wieder vor Mund und Nase und gab den anderen ein Zeichen, ihr zu folgen.

Wenige Längen vor dem Höhleneingang ermahnte Fayola Alani, sich hinzusetzen und nicht von der Stelle zu rühren. Das Mädchen nickte tapfer und tat wie ihm geheißen. Fayola war erleichtert. Ein letztes Mal strich sie über Alanis Wange, dann folgte sie Naemy und Vhait zur Höhle.

Der Wächter schien zu schlafen.

Obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte, betrat Sunnivah die Höhle nur sehr vorsichtig. Ihr Herz klopfte vor Anspannung bis zum Hals und das Blut rauschte in ihren Ohren.

Im Innern der Höhle mischte sich der unerträgliche Gestank des Wächters mit dem süßlichen Geruch des Blutes, das den Höhlenboden fast überall bedeckte. Nicht einmal das Tuch vermochte jetzt noch den Gestank abzuhalten und Sunnivah presste ihre Hand fest auf den Mund. Schwindel und Übelkeit drohten sie zu überwältigen und machten es ihr zunächst unmöglich, weiter in die Höhle vorzudringen. Nur mit enormer Willensanstrengung gelang es ihr, die unerträglichen Reize zu ignorieren und ihre Gedanken so zu steuern, dass der Gestank sie nicht mehr von ihrer Aufgabe ablenkte.

Schritt für Schritt suchte sich Sunnivah ihren Weg zwischen den zerschmetterten Leibern der Krieger und sah dabei immer wieder zu dem Wächter hinüber. Er rührte sich nicht. Das viele Blut hatte den Boden schlüpfrig gemacht. Sunnivah achtete genau darauf, wohin sie ihre Füße setzte, musste sich aber gleichzeitig dazu zwingen, nicht auf die grauenhaft verstümmelten Körper zu blicken.

Als sie die Höhle zur Hälfte durchquert hatte, warf sie einen raschen Blick über die Schulter und erkannte ihre Gefährten im Eingang der Höhle. Angespannt starrten sie in die Höhle, jederzeit bereit einzugreifen, wenn es nötig werden sollte. Sunnivah schluckte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück.

Als sie nur noch wenige Längen von der Tür trennten, bemerkte Sunnivah, dass der Wächter nach dem Kampf nicht wieder auf seinen alten Platz zurückgekehrt war. Die Mulde, in die Sunnivah den Schlangenkopf pressen sollte, lag jetzt frei und einladend vor ihr.

Noch zwei Schritte, dann hatte sie die Tür erreicht. Der Wächter hatte sich nicht gerührt. Teilnahmslos starrte er noch immer mit halb geöffneten Augen zum Höhleneingang. Mit etwas Glück konnte sie die Tür öffnen, den Stab holen und zu ihren Gefährten zurückkehren, ohne dass der Wächter etwas davon bemerkte.

Die Vertiefung, in die sie den grünen Stein stecken musste, lag nun unmittelbar vor ihr. Umständlich suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlangenkopfstein und nahm ihn heraus. Doch kaum hielt sie ihn in den Händen, da sprühten plötzlich unzählige grüne Funken aus dem Stein. Zielsicher strömten sie in alle Richtungen. Wo immer sie Sunnivahs leuchtenden Schutzschild berührten, setzten sie sich fest und begannen kleine grüne Löcher in das orange Licht des Amuletts zu fressen und den Schutzschild zu zerstören.

Der Wächter knurrte. Als säße neben ihm eine lästige Fliege, drehte er langsam den Kopf und hob einen seiner klauenbewehrten Arme.

»Naemy!« Sunnivahs Hilferuf war überflüssig. Die Nebelelfe hatte die Gefahr bereits erkannt und war mit einem Satz in der Höhle. Schreiend riss sie einem toten Krieger das Schwert aus der Hand und schwang die blitzende Klinge hoch über dem Kopf. Der Wächter reagierte sofort. Schnaubend und geifernd erhob er sich und stapfte auf Naemy zu. Seine langen Arme schossen vor und versuchten den Eindringling zu ergreifen, während aus seinem grünen Auge ein knisternder Blitz hervorschoss, der Naemy nur um Haaresbreite verfehlte.

Naemy zögerte nicht. Mit geballter Faust schleuderte sie dem Wächter einen grellen silbernen Feuerball entgegen. Das Monstrum hob die Arme, um den Blitz abzuwehren, doch seine Reaktion kam zu spät. Ein grauenhafter Schmerzensschrei zerriss die Luft, als Naemys Elfenfeuer mitten in das lidlose Auge des Wächters fuhr. Ihm folgte ein zweiter, ebenso gut gezielter Feuerball, der das glühende Licht des Auges endgültig zum Erlöschen brachte. Rasend vor Schmerz und Zorn versuchte der Wächter sich in der engen Höhle umzudrehen, damit er die Angreiferin mit seinem hinteren Auge wieder sehen konnte.

Naemy nutzte den Moment zur Flucht und zog sich eilig wieder in den Stollen zurück.

Jetzt handelte auch Sunnivah. Die grünen Funken hatten ganze Arbeit geleistet. Von ihrem Schutzschild war so gut wie nichts mehr übrig und ihre einzige Möglichkeit, dem Wächter zu entkommen, bestand darin, die Tür zu öffnen. Mit aller Kraft presste sie den Funken sprühenden Stein in die Vertiefung und wartete. Ein lautes Knarren erklang und quälend langsam öffnete sich die Tür.

Sunnivah sah sich um. Der Wächter hatte es endlich geschafft, sich umzudrehen. Außer sich vor Wut suchte er nach dem Angreifer. Dabei hob er mit seinen kräftigen Armen immer wieder die Leichenteile der Krieger in die Höhe und schleuderte sie durch die Höhle.

Als die Tür knarrte, hielt er plötzlich inne und drehte sich zu Sunnivah um.

Ihr Amulett war erloschen. Völlig ungeschützt stand sie vor der Tür. Als der Wächter sie erblickte, stürmte er brüllend auf sie zu. Sein gesundes Auge flammte auf und ein Funken sprühender Blitz schlug nur wenige Handbreit von Sunnivah entfernt zischend in die Felswand ein. Alle vier Arme des Wächters schnellten vor und die messerscharfen Klauen näherten sich unaufhaltsam.

Sunnivah hörte Naemy rufen. Gleichzeitig explodierte ein silbernes Feuer auf dem Rücken des Wächters, doch der kümmerte sich nicht darum. Den verhassten Eindringling vor Augen, gab es für ihn kein Halten mehr.

Im letzten Moment warf sich Sunnivah gegen die Tür. Sie war längst nicht offen genug und der vorhandene Spalt war für Sunnivah noch viel zu schmal. Scharniere knirschten und Holz knackte. Dann endlich gab die Tür nach und schwang auf.

Völlig überrascht stürzte Sunnivah kopfüber in eine weitere dunkle Höhle. Obwohl es ihr noch gelang, sich abzurollen, prallte ihre Schulter hart auf den steinernen Boden der Höhle. Eine heiße Flamme schoss von der Schulter bis in ihre Hand hinab und Sunnivah unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei. Ein hämmernder Schmerz wütete in ihrer Schulter und lähmte ihren linken Arm.

Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass der Wächter ihr nicht folgte.

Der Durchgang war zu klein. Wie ein Berserker wütete er vor der offenen Tür. Er brüllte und stampfte und schlug mit seinen Krallen immer wieder gegen die Wand. Dabei setzte er seine ganze Kraft ein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihm gelingen würde, den Fels zu zertrümmern. Schon jetzt rieselte ein dichter Staubregen von der Decke und das massive Gestein knirschte bedrohlich.

»Ich hatte schon befürchtet, du würdest es nicht schaffen!« Die schemenhafte Gestalt des Druiden erschien völlig unerwartet vor Sunnivah.

»Warum habt Ihr mir nicht geholfen?« Insgeheim hatte Sunnivah schon die ganze Zeit gehofft, der Druide würde ihr zu Hilfe kommen. »Und warum habt Ihr mir nichts von dem Wächter erzählt? Hattet Ihr etwa Angst, ich würde nicht wiederkommen?« Sunnivah presste ihre gesunde Hand auf die verletzte Schulter und funkelte den Druiden wütend an.

»Ich habe nichts von ihm gewusst.« Der Druide wirkte betroffen. Er sprach nicht sehr laut und Sunnivah musste sich anstrengen, um seine Worte bei dem Lärm, den der Wächter verursachte, überhaupt verstehen zu können.

»Im gleichen Moment, als du den Schlangenkopf abschlugst, brach er aus einem Teil der Höhlenwand hervor, setzte sich vor die Tür und wartete. Ich vermute, dass An-Rukhbar ihn in den Felsen einschloss, als er den Stab hierher brachte. Für den Fall, dass jemand versuchen sollte die Tür zu öffnen.« Der Druide machte eine entschuldigende Geste. »Ich habe es wirklich nicht gewusst.«

»Aber Ihr seid doch auch schon so lange hier!«

»Nein, nicht ganz.« Der Druide schüttelte den Kopf. »Als man mich damals hinrichtete, befand sich der Stab bereits hier unten. In all den Sommern, die ich auf deine Ankunft wartete, habe ich nichts von dem schlafenden Wächter bemerkt.«

»Trotzdem hättet Ihr mir helfen können«, sagte Sunnivah vorwurfsvoll. Sie versuchte aufzustehen und zog scharf die Luft durch die Zähne, als der Schmerz wieder aufflammte.

»Das hätte ich gern getan, aber ich besitze so gut wie keine Waffen«, erwiderte der Druide. »Meine Aufgabe besteht allein darin, dir das nötige Wissen mitzuteilen, damit …«

Am Eingang der Höhle krachte es und ein gewaltiges Felsstück brach aus der Wand. Nur wenige Längen neben Sunnivah schlug es auf und zerbrach. Sunnivah wich erschrocken zurück, während der Wächter triumphierend brüllte und seine Anstrengungen noch verstärkte.

»Wo ist der Stab der Göttin?«, fragte Sunnivah und spähte in die Dunkelheit vor sich. »Schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Er ist dort!« Der Druide malte mit seiner Hand ein verschlungenes Zeichen in die Luft und die ganze Kammer wurde von einem matten blauen Licht erhellt.

Sunnivah sah den Stab sofort. Er befand sich in der Mitte des Raumes und steckte bis zur Hälfte in einem schwarzen Felsen. Eilig trat sie vor und betrachtete ihn eingehend.

Er war wunderschön, etwas länger als Sunnivah und in einem Stück aus poliertem, schwarzem Holz gearbeitet, das selbst in dem schwachen blauen Licht noch glänzte. Das obere Ende zierte eine kunstvoll gearbeitete, mit fremdartigen Schriftzeichen versehene silberne Hülle, die von einer goldenen Sonnenscheibe gekrönt wurde, auf der sich eine symbolische Nachbildung der Zwillingsmonde To und Yu befand. Sie zeigte die ebenmäßigen runden Körper der Monde, die sich unter einem sternenübersäten Himmel küssten.

Trotz der drohenden Gefahr, die noch immer von dem Wächter ausging, durchströmte Sunnivah bei dem Anblick ein heftiges Glücksgefühl. Sie war am Ziel!

Ohne auf die Schmerzen in ihrer Schulter zu achten trat sie vor den Felsen, ergriff den Stab und zog kräftig daran.

»Er steckt fest«, sagte sie enttäuscht. »Ich bekomme ihn nicht heraus.«

»Du musst es schaffen. Du bist die Schwertpriesterin«, erwiderte der Druide. »Die Göttin hätte dich nicht erwählt, wenn du nicht in der Lage wärst, es zu vollbringen.«

»Aber wie?« Sunnivah streckte die Hand aus und berührte den Stab noch einmal. Er steckte so fest in dem Felsen, als wäre er ein Teil von ihm.

In diesem Moment gelang es dem Wächter, ein weiteres Stück Felsen aus der Wand zu brechen. Die Öffnung war jetzt so groß, dass er seinen halben Oberkörper und zwei der vier Arme in die Höhle strecken konnte.

Als er feststellen musste, dass seine Arme nicht lang genug waren, um Sunnivah zu erreichen, brüllte und fauchte er vor Wut. Grüne Blitze schossen aus seinem gesunden Auge. Wo immer sie auf die Felswand trafen, sprengten sie mit einem lauten Knall kleine Brocken aus dem Gestein, die von einem Funkenregen begleitet zu Boden fielen. Der Wächter steckte jedoch so unglücklich in der Felsöffnung, dass er es nicht schaffte, seine Blitze in Sunnivahs Richtung zu lenken. Rasend vor Zorn zwängte er seinen Körper immer weiter in die Höhle hinein und versuchte dabei seinen Kopf so zu drehen, dass er Sunnivah im Blick hatte. Nadelspitze Felszacken der Öffnung hatten sich tief in seine pelzige Haut gebohrt, doch obwohl ihm jede Bewegung höllische Schmerzen bereiten musste, setzte der Wächter seine Bemühungen fort, bis er schließlich ganz in der Öffnung stecken blieb.

»Du musst dich beeilen«, drängte der Druide. Seine Stimme ging in dem wütenden Brüllen des Wächters fast unter.

Sunnivah überlegte fieberhaft. Der Talisman war das Einzige, das sie außer ihrem Schwert bei sich trug. Vielleicht konnte er ihr weiterhelfen. Hastig nahm sie ihn zur Hand und wartete. Der Stein blieb dunkel und kalt. Erst als Sunnivah das Amulett so dicht an den Stab heranführte, dass sie ihn fast damit berührte, spürte sie eine leichte Wärme.

Was nun?

»Berühre den Stein mit dem Amulett«, riet der Druide.

Wegen des zornigen Brüllens des Wächters hörte Sunnivah nur die Worte Stein und Amulett, aber sie verstand sofort. Ohne zu zögern legte sie den Talisman direkt neben dem Stab auf den schwarzen Felsen und wartete.

Unendlich langsam begann der Stein zu leuchten. Zunächst matt, doch dann immer stärker, breitete sich sein Schein rings um den Stab aus und brachte den Felsen zum Glühen. Dann begann sich seine glühende Oberfläche an der Stelle, an der der Stab in dem Stein steckte, zu kräuseln und Blasen zu schlagen. Am Ende sah es so aus, als stecke der Stab inmitten eines Teiches aus glühender Lava.

»Sunnivah, wo bist du?« Naemys besorgter Ruf hallte in Sunnivahs Gedanken.

»Beim Stab«, antwortete sie knapp, ließ den Stein jedoch nicht aus den Augen. »Er steckt in einem Felsen, aber ich werde ihn bald herausziehen können.«

»Wir können nicht mehr zu dir kommen. Der Weg ist blockiert. Was sollen wir tun?«, fragte Naemy.

»Zieht euch zurück. Ich schaffe das auch allein. Es ist sicherer, wenn ihr die Höhle verlasst.«

Am Eingang zur Höhle polterten einige Felsen krachend in die Tiefe. Das Geräusch ließ Sunnivah erschrocken herumfahren. Der Wächter versuchte noch immer seinen Oberkörper so zu drehen, dass er Sunnivah in Reichweite seines Auges bekam, und brach dabei immer wieder kleinere Felsbrocken aus der Wand.

»Der Felsen schmilzt!« Der erregte Ausruf des Druiden lenkte Sunnivahs Aufmerksamkeit wieder auf den Stein, in dessen Mitte sich der Stab langsam zur Seite neigte.

Entschlossen streckte sie die Hand aus und griff nach ihm. Er war sehr heiß. Überrascht zog Sunnivah ihre Hand zurück und tastete an ihrem Hals nach dem Stoffstreifen, der ihr zuvor als Mundschutz gedient hatte. In fliegender Hast öffnete sie die Knoten und wickelte den Streifen um ihre Hand. Dann griff sie erneut nach dem Stab und zog ihn mit einem einzigen kräftigen Ruck aus dem Felsen.

Als der Wächter den Stab in ihren Händen sah, gebärdete er sich wie wild. Immer dichter schlugen seine Funken sprühenden Blitze neben Sunnivah ein und glühende Gesteinsbrocken brannten Löcher in ihren Umhang.

»Naemy, ich habe ihn! Komm zu …!« Plötzlich brach Sunnivah ab, hob die Hände an den Kopf und schloss gepeinigt die Augen. Ein unerträgliches Knistern, Pfeifen und Rauschen wütete hinter ihrer Stirn und machte jede weitere Verständigung mit Naemy unmöglich. Noch einmal wagte sie den Versuch, die Verbindung zu ihren Gefährten wieder herzustellen, doch die Geräusche zwangen sie sogleich, ihre Bemühungen aufzugeben.

Als ihr Blick wieder klar wurde, traute sie ihren Augen nicht. Fassungslos starrte Sunnivah auf den schwarzen Felsen, in dem noch bis vor Kurzem der Stab der Göttin gesteckt hatte.

Das Amulett!

Starr vor Entsetzen sah sie ihren Talisman in dem geschmolzenen Gestein versinken. Langsam und unaufhaltsam glitt er immer tiefer in die glühende Lava und verlor dabei mehr und mehr an Kraft. Gleichzeitig wurde der glühende Ring in dem Felsen immer kleiner und erkaltete von den Rändern her. Der Prozess beschleunigte sich, je weiter das Amulett versank. »Nein!« Sunnivah ließ den Stab fallen und griff nach dem Lederband ihres Amuletts. Das grüne Feuer des Wächters zischte nur knapp an ihr vorbei, doch Sunnivah achtete nicht darauf. Mit aller Kraft zerrte sie an dem Band und versuchte den Talisman aus dem Stein zu befreien. Aber es war zu spät. Der Felsen wurde wieder fest und schwarz und das Lederband zerriss in ihren Händen.

»Nein!« Wütend schlug Sunnivah mit der Faust auf den schwarzen Stein. Im gleichen Moment traf ein Blitz des Wächters den Felsen und seine Wucht schleuderte sie zurück. Benommen blieb sie an der Höhlenwand liegen und spürte, wie der Boden bebte. Sie versuchte ihre Benommenheit abzuschütteln, doch die Sterne vor ihren Augen hörten nicht auf zu tanzen und das Rauschen in ihren Ohren wollte sich einfach nicht beruhigen.

»Erhebe dich, Schwertpriesterin. Schnell! Die Höhle wird gleich einstürzen.« Wie durch einen dichten Nebel hörte sie die Stimme des Druiden. Noch länger brauchte sie, um den Sinn seiner Worte zu verstehen.

Doch dann reagierte sie, ohne zu überlegen. Die Sterne vor ihren Augen waren einem grauen, alles verdeckenden Nebel gewichen, den nur die vereinzelten Blitze des Wächters noch zu durchdringen vermochten. Hastig kniete sie sich hin und suchte auf dem Boden nach dem Stab, der irgendwo zwischen ihr und dem Felsen liegen musste. Endlich fanden ihre tastenden Finger, wonach sie suchte. Sunnivah nahm den Stab der Göttin an sich und schob sich vorsichtig an die rückwärtige Wand der Kammer.

Der Boden bebte nun immer stärker. Sunnivah hatte das Gefühl, auf einem bockenden Pferd zu sitzen. Vergeblich tastete sie mit ihren Händen nach einem sicheren Halt, denn auch die Wand hinter ihr bewegte sich, als sei sie ein lebendiges Wesen und nicht aus massivem Fels.

Sunnivah hörte das Bersten riesiger Steine, die sich von der Höhlendecke lösten und auf dem Boden zerbarsten. Dicke Felsnadeln fielen herunter und bohrten sich wie Speere in die breiten Risse, die sich nun überall im Boden auftaten.

»Was ist das?« Obwohl Sunnivah die Frage schrie, war ihre Stimme in dem Dröhnen und Krachen kaum zu verstehen.

Der Nebel vor ihren Augen hatte sich inzwischen so weit geklärt, dass sie zumindest die Umrisse in ihrer näheren Umgebung erkennen konnte. Der Druide schwebte direkt neben ihr und antwortete auf ihre Frage. Aber es war Sunnivah unmöglich, seine Worte zu verstehen. Hinter ihr knirschte das Gestein und der Wächter gab ein triumphierendes Brüllen von sich. Das Beben hatte die Öffnung, in der er feststeckte, stark vergrößert und es ihm ermöglicht, seinen massigen Oberkörper tief in die enge Höhle zu schieben. Endlich gelang es ihm, seinen Kopf so zu drehen, dass er Sunnivah mit den tödlichen Blitzen seines gesunden Auges erreichen konnte. Der erste donnerte nur eine Handbreit neben ihr in die Felswand und nur eine starke Erschütterung des Berges verhinderte, dass der nächste ihr Leben beendete. Knisternd schlug er eine Armeslänge über ihrem Kopf in die Wand und ließ einen staubigen Gesteinsregen auf sie herabfallen.

»Anthork, hilf mir.« Der Staub behinderte Sunnivahs ohnehin getrübte Sicht so sehr, dass sie völlig die Orientierung verloren hatte. Sie wagte weder nach rechts noch nach links auszuweichen. Eine Flucht schien unmöglich. Über das Bersten und Krachen des gepeinigten Berges hinweg hörte sie die harten Klauen des Wächters nun unmittelbar vor sich über den Höhlenboden schaben. Seine riesigen Hände öffneten und schlossen sich in schnappenden Bewegungen und versuchten Sunnivah zu ergreifen.

»Anthork!« Plötzlich hatte Sunnivah Angst, der Druide könne sie verlassen haben. Aber noch bevor sie eine Antwort erhielt, hieb der Wächter mit der Spitze einer Klaue in ihren Umhang und hinterließ dort einen langen Riss. Sunnivah hörte das Monstrum fauchen und spürte seinen stinkenden Atem in ihrem Gesicht.

Das war das Ende! Hastig murmelte Sunnivah ein paar Worte, mit denen sie die Göttin um Vergebung für ihr Versagen bat. Dann schloss sie die Augen und wartete auf den Tod.

Plötzlich erschütterte ein gewaltiger Schlag die Höhle. In der Mitte der Höhlendecke hatte sich ein riesiger Felsbrocken gelöst und traf den Kopf des Wächters mit zerstörerischer Gewalt. Knochen barsten und Blut spritzte durch die Höhle, als der Felsen den Schädel des Monstrums zerschmetterte und seine Arme ein letztes Mal emporzucken ließ.

Dann lag er still.

Aber das Beben und Dröhnen ließ nicht nach. Als habe der Tod des Wächters den ganzen Berg erzürnt, steigerte er seine Wucht so sehr, dass Sunnivah sich hinknien musste, um nicht zu stürzen.

»Komm, Schwertpriesterin!«

Ungläubig wandte Sunnivah den Kopf. Der Druide war noch immer an ihrer Seite. Wortlos machte er ein Zeichen und bedeutete ihr, ihm schnell zu folgen. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Schon in wenigen Augenblicken würde es diese Höhle nicht mehr geben.

Indem sie sich vorsichtig an der rissigen Höhlenwand entlangschob, folgte Sunnivah dem Geist des Druiden. Keinen Moment zu früh, denn hinter ihr verschwand die Höhle in einem dichten Nebel aus Staub und Steinen.

In einer kleinen Nische hielt der Druide an und begann mit seiner Hand unsichtbare Linien auf den Felsen zu zeichnen. Seine Lippen bewegten sich dabei hastig, doch Sunnivah verstand die Worte nicht. Hinter ihr knirschten, knackten und barsten die vom Beben gepeinigten Felsen. Der ganze Berg schien lebendig geworden zu sein und Sunnivah fragte sich, wie lange die Höhle den enormen Kräften, die auf sie einwirkten, noch standhalten konnte.

Panik stieg in ihr auf. Sie hatte keine Ahnung, was der Druide vor ihr tat, doch was immer es auch sein mochte, es ging entschieden zu langsam.

Dann geschah endlich etwas.

Ein Teil der massiven Felswand begann zu verschwimmen. Ihre raue Oberfläche kräuselte sich wellenförmig und Sunnivah hatte den Eindruck, als stehe der Druide vor einer senkrechten Wasserwand. Plötzlich waren die Wellen verschwunden und der Felsen wurde durchsichtig. Völlig unbeeinträchtigt von dem massiven Beben, das den Berg erschütterte, füllte nun ein senkrechter Teich die kreisrunde Öffnung in der Felswand aus, auf dessen spiegelglatter Oberfläche sich die Gestalt des Druiden schemenhaft widerspiegelte.

»Komm!« Der Druide schwebte auf die glitzernde Fläche zu, tauchte darin ein und war verschwunden. Sunnivah folgte ihm ohne zu zögern. Was immer sich hinter dem seltsamen Tor befand, konnte nicht schlimmer sein als das, was sie hier erwarten würde.

Sie hatte den Durchgang gerade hinter sich gelassen, da stürzte die Höhle hinter ihr mit einem ungeheuren Dröhnen in sich zusammen. Während sich der Druide noch bemühte, den Durchgang wieder zu schließen, quoll eine gewaltige Wolke aus Staub und Steinen durch die Felsenöffnung und nahm Sunnivah den Atem. Ein letztes Mal erzitterte der Berg, dann ließ das Beben nach. Wie bei einem abziehenden Gewitter spürte Sunnivah noch hin und wieder leichte Stöße und Erschütterungen im Felsen, doch sie wurden immer schwächer und hörten schließlich ganz auf.

Erschöpft lehnte sie sich an die grob behauene Felswand und hielt die Augen geschlossen. Ihre Kehle war ausgetrocknet und der viele Staub in der Luft ließ sie husten.

»Danke«, stieß sie schließlich hervor und öffnete vorsichtig die Augen. Der Druide hatte bereits sein magisches blaues Licht erzeugt. Es erhellte einen uralten Gang mit feucht glänzenden Wänden. Ein unangenehmer Geruch von brackigem Wasser und Fäulnis lag in der Luft und Millionen winziger Staubteilchen tanzten im Licht des Druiden.

»Du hast es geschafft, Schwertpriesterin!«, bemerkte er anerkennend.

»Aber nur mit Eurer Hilfe.« Sunnivah lächelte matt und warf einen Blick auf den Stab. Ja, sie hatte es geschafft. Doch der Sieg, den sie errungen hatte, besaß einen bitteren Beigeschmack. Ihr Amulett war fort. Eingeschlossen in schwarzem Stein und unter tonnenschweren Gesteinsmassen begraben, lag es nun für immer unerreichbar in der Höhle.

Doch Sunnivahs nächster Gedanke galt schon ihren Gefährten. Waren sie noch am Leben?

Zögernd öffnete sie ihre Gedanken und sandte einen kurzen Ruf aus, doch niemand antwortete. Nur das Knistern und Rauschen erfüllte wieder ihren Geist. Es war zwar leiser und erträglicher als in der Höhle, aber ebenso undurchdringlich.

Sunnivah versuchte es noch einmal. Diesmal lauter.

Vergeblich!

Schließlich gab sie es auf und blickte sich um.

»Gibt es von hier einen Weg nach draußen?«, fragte sie.

»Folge mir«, sagte der Druide und deutete den Gang entlang. »Ich werde dich hier herausbringen.«

Schon nach kurzer Zeit hatte Sunnivah die Orientierung verloren.

Die Tunnel und Stollen mussten weitaus älter sein als die anderen, die sie schon kannte. Uralte, modrige Balken stützten die niedrige Decke, und dort, wo sie dem enormen Druck nicht mehr hatten standhalten können, waren die Tunnel eingestürzt und oft nicht mehr passierbar. Manchmal gab es zwischen den Steinen noch einen kleinen Spalt, durch den sich Sunnivah gerade noch hindurchzwängen konnte.

Sunnivahs Kräfte ließen nun rasch nach. Zwar gelang es ihr, den quälenden Durst an den unzähligen kleinen Rinnsalen, die überall an den Stollenwänden zu finden waren, zu stillen. Aber sie besaß nichts, womit sie ihren knurrenden Magen besänftigen konnte.

Irgendwann fühlte sie sich so erschöpft, dass sie einfach stehen bleiben musste und sich an die feuchte Wand lehnte. Ihr war schwindelig und ihre Beine zitterten vor Schwäche. »Ist es noch weit?«, fragte sie matt. Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte so stark, dass sie die unzähligen Schnitte und Schürfungen auf ihrer Haut gar nicht bemerkte.

Der Druide kam heran und lächelte. »Riechst du es nicht?«, fragte er.

Sunnivah zog die kühle, feuchte Luft tief in ihre Lungen. Trotz des modrigen Geruchs in dem Tunnel spürte sie eine leichte Frische, die sie entfernt an den Duft des Waldes erinnerte.

»Komm«, sagte der Druide. Er nickte ihr aufmunternd zu und machte eine einladende Geste, ihm zu folgen. »Wir sind gleich am Ziel.«