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Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge IV:
Nimrod

Roman

hockebooks

6

»Du hast recht, der Käfer steckt voller Magie!« Aufmerksam hielt Lya-Numi die flache Hand über das leblose Insekt und runzelte die Stirn. »Voll dunkler Magie. Sie muss sehr stark gewesen sein. Obwohl der Käfer schon lange tot ist, spüre ich die Reste noch ganz deutlich.« Die Worte der Elfenpriesterin bestätigten Naemy, was sie bereits vermutet hatte – der Käfer hatte etwas mit dem Verschwinden der versteinerten Cha-Gurrlinen-Krieger zu tun.

Naemy hatte Lya-Numi unmittelbar nach ihrer Rückkehr aufgesucht, in der Hoffnung, von ihr mehr über den seltsamen Fund zu erfahren. »Was denkst du? Wer könnte es gewesen sein?«, fragte sie gespannt. Lya-Numi machte eine abschätzende Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen«, erwiderte sie. »Aber es ist ein komplizierter und mächtiger Zauber, den nur ein wahrer Meister zu vollbringen vermag.«

»An-Rukhbar?«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Enorme Energien sind notwendig, um einen solchen Zauber über die Grenzen der Dimensionen hinweg zu wirken. Das hätte ich ganz gewiss gespürt. Nein. Wer immer diesen Zauber geschaffen hat, muss sich in unserer Dimension aufhalten.«

»Asco-Bahrran!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ich wusste es!« Naemy schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ich wusste, dass er noch am Leben ist.«

»Dafür hast du keine Beweise«, meinte Lya-Numi, ohne den Blick von dem Käfer zu wenden. »Dieses Insekt steckt zweifellos voll dunkler Magie, doch wer diese Magie geschaffen hat, verrät es uns nicht.«

»Wer außer Asco-Bahrran besitzt die Macht, das zu bewerkstelligen?« Nach all den Sommern, da Naemy vergeblich nach einem Anzeichen Ausschau gehalten hatte, wonach der Meistermagier noch immer am Leben war, wollte sie nun keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Der Käfer war der erste echte Hinweis auf dunkle Magie, den sie seit der Vertreibung des finsteren Herrschers gefunden hatte, und Naemy war fest entschlossen, ihren Urheber ausfindig zu machen.

Etwas raschelte hinter ihnen.

»Mutter?« Tabor hatte die Hütte der Elfenpriesterin betreten und näherte sich dem Tisch, an dem die beiden Frauen standen. »Lya-Numi!« Er neigte kurz das Haupt in Richtung der Elfenpriesterin und wandte sich gleich wieder an Naemy. »Ich wusste gar nicht, dass du schon zurück bist. Hätte Leilith mir nicht erzählt, dass Zahir wieder in seiner Höhle ist …« Tabor stutzte und blickte verwundert auf den Käfer. »Was ist das?«, fragte er.

»Ein Lederkäfer aus der Festungsstadt«, erklärte Naemy. »Er hat die versteinerten Cha-Gurrlinen-Krieger befreit.«

»Er hat sie … befreit?« Tabor traute seinen Ohren nicht. »Die versteinerten Krieger sind fort? Aber … das ist völlig unmöglich. Wie …?«

»Mithilfe dunkler Magie!« Naemy nickte grimmig. »Und ich vermute, dass Asco-Bahrran dahinter steckt.«

»Aber Asco-Bahrran ist tot, Mutter.«

»So, wer sagt das?«

»Kein Mensch kann so lange leben!«

»Und wenn er längst kein Mensch mehr ist?«, mischte sich Lya-Numi ein.

»Was meinst du damit?« Tabor stutzte.

»Nun, dunkle Magie verleiht mächtigen Anwendern die Fähigkeit, ihre Lebensspanne zu verlängern. Doch dafür zahlen sie einen hohen Preis. Mit jedem Sommer, der verstreicht, verlieren sie mehr von ihrer Persönlichkeit. Das mag zunächst nicht weiter auffallen, doch Asco-Bahrran dürfte den Tod um eine so lange Zeit überdauert haben, dass von seiner menschlichen Gestalt kaum noch etwas übrig ist. Er wäre nichts weiter als ein lebender Toter, der allein durch Magie am Leben erhalten würde.«

»Also ist es möglich!«, warf Naemy ein.

»Für einen, der den Preis zu zahlen bereit ist …« Die Elfenpriesterin nickte.

»… oder auf Rache sinnt«, beendete Naemy den Satz. »Kann uns der Käfer noch weitere Hinweise geben?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Vielleicht sogar darauf, wo sich der Magier aufhält?«

»Ich fürchte, das kann er nicht.« Lya-Numi setzte sich den Käfer auf die Hand, hob ihn vor das Gesicht und betrachtete ihn eingehend. »Nein, bis auf die magische Aura sieht er aus wie ein ganz gewöhnliches Insekt«, stellte sie bedauernd fest.

»Gut, dann kehre ich unverzüglich nach Nimrod zurück und versuche, dort etwas herauszufinden«, entschied Naemy. Sie drehte sich um und wandte sich an Tabor. »Diesmal werde ich vermutlich eine ganze Weile fortbleiben. Wenn Asco-Bahrran wirklich die Cha-Gurrline befreit hat, befürchte ich das Schlimmste.«

»Naemy, der Prinzregent hat …«, warf Lya-Numi ein.

»Danke, Lya-Numi!« Naemy nickte. »Das hätte ich fast vergessen. Ich suche sofort den Palast auf und erstatte Bericht. Pass gut auf den Lederkäfer auf, vielleicht brauchen wir ihn noch.« Mit diesen Worten trat sie vor die Tür und war verschwunden.

Lya-Numi legte den Käfer vorsichtig auf den Tisch zurück. »Die vergangenen zweihundertfünfzig Sommer haben ihrem Temperament nicht geschadet«, meinte sie kopfschüttelnd und wollte etwas zu Tabor sagen, doch auch der stand bereits an der Tür. »Wohin willst du?«, rief sie ihm nach.

»Leilith rufen!«, kam die Antwort von draußen. »Ich lasse meine Mutter doch nicht allein nach Nimrod fliegen.«

Vor dem Hintergrund blutroter Sonnenstrahlen, die den Himmel jenseits der schneebedeckten Gipfel des Ylmazur-Gebirges in feuriges Licht tauchten, brachen Naemy und Tabor wenig später auf dem Rücken ihrer Riesenalpe nach Nimrod auf.

Naemy war unruhig und drängte Zahir und Leilith zur Eile. Die gewaltigen Schwingen der beiden felsengrauen Vögel erzeugten heftige Windstöße, die über die Wipfel der Bäume hinwegfegten, Äste peitschten und unzählige Blätter von den Zweigen rissen.

Während sich der Abend langsam über die immergrünen Wälder der Sümpfe von Numark herabsenkte, ließ die Nebelelfe den Blick über das endlose Grün und die von wogenden Nebeln bedeckten Lichtungen ihrer Heimat schweifen. Der Flug hatte an diesem friedlichen Abend etwas berauschend Sehnsüchtiges, doch Naemy wurde von düsteren Gedanken geplagt. Voller Sorge hob sie den Kopf und schaute nach Osten in Richtung der Festungsstadt, wo die Nacht bereits Einzug gehalten hatte und ihr den Blick auf die Valdor-Berge am fernen Horizont verwehrte. Sie spürte die Gefahr, die wie ein teuflischer Quarlin in der Dunkelheit über Nimrod zu lauern schien und nur darauf wartete, im richtigen Augenblick zuzuschlagen, und doch fehlten ihr die Beweise.

Fröstelnd zog sie ihren warmen Umhang enger um den Körper und lehnte sich nach vorn, um den Windschatten hinter Zahirs Nacken besser auszunutzen. Auch wenn der Herbst sich in diesem Jahr verspätete, war die Luft hier oben doch schon empfindlich kühl.

»Du hättest nicht mitkommen müssen!«, rief sie Tabor über das schlagende Geräusch der mächtigen Schwingen hinweg zu, um sich von der eisigen Kälte und den beunruhigenden Gedanken abzulenken.

»Das hast du schon dreimal gesagt.« Der Wind riss Tabor die Worte von den Lippen, aber Naemy verstand ihn dennoch und schmunzelte. Tabor war eben ganz ihr Sohn und genauso wagemutig, wie sie es in ihrer Jugend gewesen war. Sie schüttelte den Kopf und seufzte. Nur gut, dass er auch etwas von seinem Vater geerbt hatte, einem Jäger und Fährtensucher, der sich in Caira-Dan nie heimisch gefühlt hatte und schon seit vielen Sommern irgendwo in den fruchtbaren Tälern des Ylmazur-Gebirges lebte. Wäre er ganz nach seiner Mutter gekommen, hätte sich Tabor vermutlich auch nicht so lange und geduldig um Leilith gekümmert.

»Es könnte gefährlich werden«, erinnerte sie ihn mithilfe der Gedankensprache.

»Es könnte sein, dass du Hilfe brauchst«, kam umgehend die Antwort. Darauf gab es nichts zu erwidern. Tabor war längst erwachsen genug, um für sich selbst zu entscheiden, und wenn Naemy ganz ehrlich war, freute sie sich, dass er sie begleitete. So verzichtete sie darauf, ihn weiter zu bedrängen. Energisch schob sie alle trüben Gedanken beiseite und genoss den Flug über das abendliche Land. Wenn sie ein wenig Glück hatten und das Wetter mitspielte, würden sie Nimrod schon am nächsten Morgen erreichen.

To und Yu standen bereits hoch am Himmel, als die beiden Nebelelfen ihre Vögel auf einer Anhöhe landen ließen, um eine kurze Rast einzulegen. Zahir und Leilith erhoben sich sofort wieder in die Lüfte, um zu jagen, während Tabor aus trockenem Reisig ein kleines Feuer entfachte. Kaum züngelten die ersten Flammen empor, hielt Naemy die klammen Finger dankbar dem wärmenden Feuer entgegen und rieb sich die Hände. »Wenn ich etwas hasse, dann die Kälte«, murmelte sie und hauchte gegen die Hände, um sie zu erwärmen.

»Dabei kannst du sie viel besser vertragen als ich.« Tabor hob die Handschuhe, die er während des Fluges getragen hatte, lachend in die Höhe.

»Vielleicht werde ich allmählich alt.« Das klang bitter, doch Naemy sagte es lächelnd und verriet damit, dass sie es nicht so ernst meinte. »Was hast du vor, wenn wir Nimrod erreichen?«, fragte Tabor und wechselte das Thema. Er öffnete seinen Proviantbeutel und holte einen kleinen Laib frisches Brot sowie etwas Dörrfleisch hervor. Das Brot brach er auseinander und reichte Naemy eine Hälfte davon über das Feuer hinweg. Er bot ihr auch von dem Dörrfleisch an, doch Naemy winkte ab. »Ich habe wenig Hunger, danke«, sagte sie und drehte das Brot nachdenklich in der Hand. »Ja, was habe ich vor?«, überlegte sie laut. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wem es nützen könnte, die Cha-Gurrlinen-Krieger zu befreien.«

»Den Cha-Gurrlinen«, meinte Tabor.

»Aber die Cha-Gurrline verfügen über keine Magie, die in der Lage wäre, die Krieger zu befreien. Cha-Gurrline sind grausame, erbarmungslose Krieger und ihre Fähigkeit, mit dem Wind zu reisen, macht sie unberechenbar und gefährlich. Aber Magie – echte Magie – auszuüben, dazu sind sie nicht fähig.«

»Dann hat ihnen wohl jemand einen Gefallen getan«, schlussfolgerte Tabor mit vollem Mund.

»Das fürchte ich auch.« Naemy spülte den Bissen, an dem sie gerade kaute, mit einem großen Schluck aus der Wasserflasche hinunter, bevor sie weitersprach. »Die versteinerten Krieger waren so etwas wie ein Pfand, das der Rat der Fünf in Händen hielt. Allein die Furcht, dass man den Kriegern etwas antun könnte, hat die Cha-Gurrline die ganzen Sommer lang davon abgehalten, ihren Verbannungsort jenseits der Finstermark zu verlassen. Aber nun …«

»… haben sie keinen Grund mehr, dort zu bleiben«, beendete Tabor den Satz für seine Mutter.

»Richtig! Deshalb hat der Abner den Rat der Fünf zu einer dringenden Sitzung einberufen, auf der man einstimmig beschloss, die Posten an der Grenze zur Finstermark zu verdreifachen.« Naemy schüttelte betrübt den Kopf.

»Und? Bist du damit nicht einverstanden?«

»Doch.« Naemy seufzte. »Aber es gibt weder genügend Krieger noch Waffen, um den Beschluss kurzfristig durchzuführen. Es fehlen mindestens fünfhundert Mann. Kannst du dir vorstellen, wie lange es dauert, die Krieger halbwegs vernünftig auszubilden? Und dann der lange Marsch von Nimrod zur Grenze. Der Winter bricht herein, bevor der Plan umgesetzt werden kann.« Sie hob einen kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn in die Glut, wo er Funken stiebend in der Asche versank. »Bei den Toren! Hätten sie doch auf uns gehört. Jetzt handeln sie endlich, aber ich befürchte, es ist schon zu spät.«

»Du denkst an einen Überfall der Cha-Gurrline?« Tabor zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

»Nicht nur das. Sie habe Hilfe, Tabor – magische Hilfe.«

»Asco-Bahrran?«

»Ich bin mir fast sicher.« Naemy schob sich den letzten Bissen ihres Brotes in den Mund und griff erneut zur Wasserflasche. »Aber der Käfer allein reicht nicht, um etwas zu beweisen. Alle glauben, Asco-Bahrran sei längst tot. Solange ich keine handfesteren Beweise finde, ist alles nur reine Vermutung.« Tabor setzte zu einer Erwiderung an, doch seine Worte wurden von einem lauten Flügelrauschen verschluckt, das Zahirs Rückkehr ankündigte. Ein fettes Rüsselschwein in den Klauen, landete er in einiger Entfernung auf dem Hügel und begann genüsslich seine Nachtmahlzeit zu verzehren. Leilith folgte nur wenig später. Ihre Klauen waren leer, doch blutige Fellreste an den Krallen zeugten davon, dass auch ihre Jagd erfolgreich gewesen war.

Die beiden Nebelelfen warteten geduldig, bis Zahir die Mahlzeit beendet hatte, dann stiegen sie wieder auf den Rücken ihrer Riesenalpe und setzten den Flug fort.

Sie kamen schneller voran als erwartet und erreichten Nimrod, lange bevor die Sonne ihr Antlitz über die Gipfel der Valdor-Berge erhob. Die Festungsstadt lag noch in tiefer Dunkelheit und in den Häusern brannten nur wenige Lichter. Doch das war nicht der einzige Grund, warum die Ankunft der Nebelelfen diesmal weit weniger aufsehenerregend verlief als Naemys erster Besuch. Der Abner hatte ihr die Erlaubnis erteilt, für alle weiteren Besuche die alten Höhlen der Kuriervögel zu benutzen, jener Riesenalpe, die zu Zeiten des Druidenrates in Nimrod als Kurier- und Reitvögel gedient hatten. Naemy war das nur recht. Nicht nur deshalb, weil es ihr so erspart blieb, inmitten eines Menschenauflaufs zu landen, sondern auch, weil die Riesenalpe von den in die steilen Felswände gemeißelten Höhlen mühelos aufsteigen konnten.

»Wir müssen auf die andere Seite der Festungsstadt«, wies sie Zahir mithilfe der Gedankensprache an. »Dort befinden sich drei Höhlen in einer Felswand. Sie sind so groß, dass du bequem darin landen kannst.«

»Wie du wünschst.« Der Riesenalp breitete die Schwingen aus und stieg noch höher. Froh, nicht wieder auf dem engen Platz vor der inneren Festung landen zu müssen, umrundete er Nimrod in einem großen Bogen und nahm Kurs auf die steilen Felswände, an die sich die Festungsstadt schmiegte. Tabor, der noch niemals in Nimrod gewesen war, stellte angesichts des plötzlichen Kurswechsels keine Fragen. Im Vertrauen darauf, dass seine Mutter den Weg kannte, wies er Leilith an, ihrem Bruder zu folgen. Sie waren ein wenig zurückgefallen, aber das Riesenalpweibchen gewann mit kräftigen Flügelschlägen rasch an Höhe und hatte bald zu Zahir aufgeschlossen.

Im ersten Licht der Dämmerung erkannte Tabor wenig später drei unregelmäßige Öffnungen, die sich wie riesige schwarze Münder hoch oben in der Felswand auftaten. »In welcher der Höhlen willst du landen?«, sandte er einen Gedanken an Naemy.

»In der linken.« Naemy streckte die Hand aus und deutete auf die Höhle, die der Festungsstadt am nächsten lag. »Der Abner sagte, es sei die Einzige, von der noch eine Verbindung zur Festung bestehe. Die Gänge zu den anderen Höhlen wurden aus Sicherheitsgründen schon vor vielen Sommern verschlossen.«

»Wir landen in der linken«, gab Tabor die Auskunft seiner Mutter an Leilith weiter.

»Hab ich gehört«, erwiderte Leilith schnippisch und Tabor schmunzelte. Wieder einmal hatte er vergessen, dass Leilith – wenn sie wollte – der Unterhaltung zwischen ihm und seiner Mutter mühelos folgen konnte. In diesem Augenblick tauchte Zahir vor ihnen in die Dunkelheit der riesigen Höhle ein und Tabor spürte, wie sich auch Leilith auf die Landung vorbereitete. Flügelschlagend verlangsamte sie die Geschwindigkeit und streckte ihre kräftigen Hornkrallen vor, um auf dem Höhlenboden Halt zu finden. Trotzdem war sie noch immer viel zu schnell. Nachdem sie Zahir, der unmittelbar hinter dem Höhleneingang gelandet war, mit den Flügeln heftig ins Gesicht geschlagen hatte, rutschte sie noch ein ganzes Stück in die Höhle hinein. Ihre harten Krallen verursachten auf dem Gestein ein hässliches, schabendes Geräusch, das in einem Knirschen und Knacken trockener Äste gipfelte, als Leilith mitten in einem alten Riesenalpnest zum Stehen kam.

»Anfängerin!« Tabor fing Zahirs bissigen Gedanken auf. Leilith wandte den Kopf zum Höhleneingang, öffnete den Schnabel und sandte ein erbostes Zischen in Zahirs Richtung, verzichtete allerdings darauf, etwas zu erwidern. »Tut mir leid«, wandte sie sich kleinlaut an Tabor, worauf der Nebelelf ihr tröstend über das Nackengefieder strich. »Ist nicht so schlimm«, meinte er aufmunternd. »Wir üben das noch.« Über Leiliths ausgestreckten Flügel kletterte er zu Boden und bahnte sich den Weg über die Trümmer des zerstörten Nestes zu Naemy, die ebenfalls von Zahirs Rücken gestiegen war.

»Wo geht es jetzt entlang?«, fragte er, während er sich aufmerksam umsah.

»Irgendwo dort hinten soll es eine Tür geben.« Naemy deutete auf die undurchdringliche Schwärze im Innern der Höhle. »Am besten, wir warten, bis es heller ist, dann machen wir uns auf den Weg in die Festungsstadt.«

»Ich fliege zum Jagen, bevor es zu hell wird«, meldete sich Zahir in Naemys Gedanken.

»Ja, flieg nur. Ich wünsche dir eine erfolgreiche Jagd. Diesmal bleiben wir sicher für ein paar Sonnenläufe hier. Ihr könnt die Höhle so lange als Unterkunft benutzen. Wenn wir euch brauchen, rufen wir euch.« Der große Vogel deutete mit seinem gewaltigen Kopf ein Nicken an und trat in den Höhlenausgang, um sich gleich darauf in die Aufwinde zu stürzen, die von der bereits besonnten Ebene am Fuß der Felswand aufstiegen.

»Leilith?«, fragte Tabor.

»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte das Riesenalpweibchen. »Ich ruhe mich hier bis zum Abend aus.«

»Feigling«, drang Zahirs Gedanke dazwischen. »Du fürchtest dich doch nur vor der Landung.« Das Riesenalpmännchen drehte eine letzte Runde vor der Höhle, dann hatte er genug an Höhe gewonnen und flog davon, um in den Bergen zu jagen. Leilith sah ihm schweigend nach. An die Sticheleien ihrer Brüder hatte sie sich längst gewöhnt. In einiger Entfernung vom Höhleneingang hockte sie sich auf den Boden und steckte den Kopf unter den Flügel, um zu schlafen, während sich Naemy und Tabor auf den Weg in die Festungsstadt machten.

»Warum hast du ihr nichts von deinem Käfertraum erzählt?« Manou, die Kiany das Frühstück brachte, schüttelte verständnislos den Kopf.

»Weil sie mich sowieso für verrückt hält.« Lustlos stocherte Kiany mit dem Löffel in ihrem Maisbrei herum.

»Verrückt? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nicht wörtlich«, gab Kiany zu. »Aber sie und die Heilerinnen glauben offenbar, dass ich hier langsam verrückt werde. Die Priesterinnenmutter hat mich besucht, während du beim Morgengebet warst, und mir ihre Entscheidung mitgeteilt. Ich soll über den Winter zu meiner Familie zurückkehren. Man hat Banor schon eine Nachricht zukommen lassen. Die ehrwürdige Mutter meint, wenn er sich gleich auf den Weg macht, um mich abzuholen, schaffen wir es noch vor dem ersten Schnee bis nach Hause.« Sie schniefte und wischte sich eine Träne von der Wange. »Das ist doch nicht zu fassen!« Entrüstet fuhr sich Manou mit der Hand durch die Haare. »Ich glaube, hier sind alle verrückt geworden. Weißt du eigentlich, was da draußen los ist?« Sie deutete zur Tür. Kiany schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Gerücht, dass die versteinerten Krieger aus den Gewölben unter der Festungsstadt verschwunden sind. Außerdem suchen sie Hunderte von Freiwilligen für die Grenzposten oben am Rande der Finstermark. Man munkelt, dass es dort vielleicht einen Überfall geben wird. Kiany, du musst der Priesterinnenmutter von deinem Traum erzählen. Vielleicht war es gar kein Traum, sondern eine Vision.«

»Visionen haben nur Seher«, erklärte Kiany betrübt. »Und ich bin keine Seherin. Das hat mir die Priesterinnenmutter gerade bestätigt. Seher bekommen die Gabe von der Gütigen Göttin in die Wiege gelegt und haben schon von frühester Kindheit an Visionen. Ich habe so etwas erst, seit ich hier in Nimrod bin. Also sind es keine Visionen, sondern Albträume, die von unterdrücktem Kummer und Ängsten herrühren.« Sie sprach so leidenschaftslos und ohne echte Überzeugung, als wiederhole sie lediglich die Worte der Priesterinnenmutter.

»Aber die Statuen und der Käfer – das musst du ihr einfach erzählen. Das könnte doch etwas mit dem Gerücht …«

»Ich sage gar nichts mehr«, unterbrach Kiany ihre Freundin. »Die Priesterinnenmutter hat entschieden, wie sie es für richtig hält. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es genauso geschehen wird und ich mich zu fügen habe. Wenn nicht, darf ich womöglich im nächsten Sommer nicht zurückkehren.« Kiany schob die Decke zur Seite und schwang sich aus dem Bett. »So, und jetzt stehe ich auf und trete meinen Dienst an. Ich tue einfach so, als wäre nichts geschehen bis, …« Sie biss sich auf die Lippen, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »… bis …« Ihre Stimme schwankte und strafte ihre gefasste Haltung Lügen. Mit beiden Händen musste sie die Tränen aus den Augen wischen, bevor sie endlich weitersprechen konnte. »… bis Banor mich abholt.«

»Du bist schnell zurückgekommen und wie ich sehe, nicht allein.« Der Abner hob die Hand und bedeutete Naemy und Tabor, sich zu ihm zu setzen. »Nehmt Platz.« Er war gerade dabei, sein Morgenmahl einzunehmen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, seine beiden frühen Gäste sofort nach ihrer Ankunft zu begrüßen. »Das ist Tabor, mein Sohn«, erklärte Naemy.

»Abner!« Tabor senkte kurz den Kopf.

»Wir haben von deinem Angebot gern Gebrauch gemacht und unsere Riesenalpe in einer der Kuriervogelhöhlen untergebracht«, fuhr Naemy fort. »Sie beziehen dort bis zu unserer Abreise ihr Quartier.«

»Das ist gut.« Der Abner lächelte. »In der Stadt würden sie viel zu viel Aufsehen erregen. Dafür sind …«

Es klopfte an der Tür und zwei Dienstmädchen betraten das Zimmer. Jede trug ein Tablett in den Händen, auf dem sich eine Schale mit dampfender Suppe, etwas Brot und ein Krug mit frischem Quellwasser befanden. »Ah, das Essen!«, rief der Abner erfreut aus. »Als ich von eurer Ankunft hörte, habe ich mir erlaubt, auch für euch eine Mahlzeit zu bestellen. Nach dem langen Flug seid ihr sicher hungrig.«

»Danke.« Naemy schenkte dem Mädchen, welches das Tablett vor ihr abstellte, ein freundliches Lächeln. Sie war wirklich sehr hungrig und die heiße Suppe kam ihr nach dem langen Flug in der nächtlichen Kälte gerade recht.

Die Mahlzeit verlief schweigend und ohne Hast und erst, nachdem auch die beiden Elfen gegessen hatten, nahm der Abner das Gespräch wieder auf. »Nun?«, wandte er sich erneut an Naemy. »Ich hatte dich nicht so schnell zurückerwartet. Konnte eure Priesterin etwas über den Käfer herausfinden?«

»Leider nicht viel«, bedauerte Naemy. »Außer, dass er wirklich voll dunkler Magie steckt. Was meine Vermutung bestätigt, dass er etwas mit dem Verschwinden der Cha-Gurrline zu tun hat.«

»Das ist wirklich recht wenig«, meinte der Abner betrübt. »So bleibt die Frage, wer dahinterstecken könnte, auch weiterhin unbeantwortet.«

»Aus diesem Grund bin ich zurückgekommen«, erklärte Naemy. »Ich bitte um die Erlaubnis, hier in der Festungsstadt nach Spuren suchen zu dürfen, die uns über den Magier, der den Käfer benutzte, Aufschluss geben könnten.«

»Die Erlaubnis gebe ich dir gern«, erwiderte der Abner. »Ich lasse euch eines der Gästezimmer herrichten und weise die Wachen an, euch nach Kräften zu unterstützen. Wer immer dahintersteckt, muss gefunden und bestraft werden.«

»Ich danke dir.« Naemy senkte das Haupt und wandte sich an Tabor. »Wir werden im Gewölbe der Cha-Gurrline mit der Suche beginnen«, kündigte sie an und stand auf. Tabor nickte und machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben, doch der Abner hielt ihn zurück. »Wartet!«, sagte er. »Morgen begehen wir hier in Nimrod das Fest zur Tagundnachtgleiche, an dem wir der Gütigen Göttin für die reiche Ernte danken. Es wäre mir eine große Ehre, wenn ihr als meine Gäste an diesem Fest teilnähmt.«

»Die Ehre ist ganz auf unserer Seite.« Naemy hob die Hand zum Herzen und deutete eine Verbeugung an. »Natürlich werden wir kommen.«

7

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, erreichten die geschmückten einspännigen Erntewagen der Bauern den Vorplatz der inneren Festung. Sie formierten sich zu einem großen Kreis um den gewaltigen Haufen aus armdicken trockenen Ästen, Zweigen und dünnem Reisig, der, sobald die Zwillingsmonde To und Yu am Himmel erschienen, zu Ehren der Gütigen Göttin entzündet werden würde.

Während das Volk auf den Vorplatz strömte, um der Danksagung des Abners an die Gütige Göttin zu lauschen und die mitgebrachten Opfergaben dem Feuer zu übergeben, löste sich ein einsamer Schatten aus dem endlosen Strom derer, die der Prozession gefolgt waren. Unbemerkt huschte er hinter den Menschen entlang, die sich erwartungsvoll der festlich geschmückten Tribüne zuwandten, auf der der Abner jeden Augenblick erscheinen musste, und verschwand zwischen den weit geöffneten Flügeltoren der inneren Festung.

Der Platz dahinter war menschenleer. Fast alle, die hinter diesen Mauern ihrem Tagewerk nachgingen oder hier wohnten, befanden sich oben auf den Zinnen der Festungsmauer, um der Feier zur Tagundnachtgleiche beizuwohnen und der Göttin für die gute Ernte zu danken.

Zatoc grinste breit. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Mit etwas Glück hätte er seine Aufgabe erledigt, bevor man draußen vor den Toren die letzten Opfergaben den Flammen übergab. Zielstrebig suchte er sich seinen Weg im Schutz der Mauer bis zu der breiten Treppe, die zum Portal des Regierungsgebäudes hinaufführte.

Zwanzig Längen trennten ihn noch von den Stufen, als er innehielt und sich aufmerksam umsah. Dies war zweifellos der schwierigste Abschnitt seines Weges, denn die Gefahr, entdeckt zu werden, war auf dem freien Platz vor der Treppe am größten. Zatoc spähte angespannt nach vorn und versicherte sich durch einen kurzen Blick über die Schulter, dass ihm niemand gefolgt war. Dann atmete er noch einmal tief durch und rannte los. In geduckter Haltung legte er die zwanzig Längen zurück und hastete, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Oben angekommen, presste er den Körper im Schatten einer steinernen Wolfsstatue dicht an die Wand und gönnte sich keuchend eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Er wusste, dass er nicht lange säumen konnte. Möglicherweise war doch jemand in den Räumen der inneren Festung geblieben und käme ihm unversehens entgegen. Das durfte nicht geschehen! Daher machte er sich nur wenige Augenblicke später wieder auf den Weg und verschwand lautlos in den spärlich erleuchteten Gängen.

»Kiany, sieh dir den riesigen Scheiterhaufen an!« In Manous Stimme schwang die gleiche freudige Erwartung, die alle Novizinnen des Tempels seit dem Morgen ergriffen hatte. »Wirklich beeindruckend«, erwiderte Kiany bedrückt. Das Wissen um die nahende Abreise wollte bei ihr einfach keine Feiertagsstimmung aufkommen lassen. »Ach, komm!«, versuchte Manou ihre Freundin aufzuheitern. »Vergiss Banor und die Priesterinnenmutter. Wenigstens für heute Abend. Beim Fest der Tagundnachtgleiche sollte niemand trüben Gedanken nachhängen.«

»Du hast gut reden«, erwiderte Kiany kurz angebunden. Seit sie wusste, dass man Banor eine Nachricht geschickt hatte, damit er sie nach Hause holte, erschien ihr alles sinnlos und sie konnte sich an nichts mehr freuen. Am allerwenigsten stand ihr der Sinn nach einer Feier. Lieber wäre sie im Tempel geblieben, damit sie das ausgelassene Fest nicht mit ansehen musste. Doch Manou hatte nicht nachgegeben und sie mit ihrer freundlichen, aber bestimmten Art dazu überredet, auf die Zinnen zu steigen und das Spektakel zu beobachten. Niedergeschlagen ließ Kiany den Blick von der Mauer über die Zuschauer auf dem Vorplatz schweifen, die dicht gedrängt auf die Ankunft des Abners warteten. Noch nie hatte sie so viele Menschen versammelt gesehen und der Gedanke, irgendwo dort unten in der wogenden Menge stehen zu müssen, machte ihr Angst. Zwar standen die Menschen auf den Zinnen der Festungsmauer auch dicht an dicht, doch der Raum war nur begrenzt und das Gedränge deshalb nicht so groß.