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Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge V:
Caira-Dan

Roman

hockebooks

6

Obwohl das Raubtiergesicht des Cha-Gurrlins, der vor Asco-Bahrrans Zelt als Wachposten eingeteilt war, keine Regung zeigte, fiel es ihm offensichtlich schwer, den Blick auf den Boden zu richten. Der Meister hatte ihn gerufen, um ihm einen Befehl zu erteilen, doch das Bild, welches sich dem Krieger in der schillernden Kristallkugel zu seiner Rechten bot, schien ihn magisch anzuziehen. »Haastare!«, zischte Methar und warf dem Cha-Gurrlin einen beschwörenden Blick zu. Das Bild in der Kugel war nicht für die Augen der Krieger bestimmt und er fragte sich, warum Asco-Bahrran es überhaupt hatte stehen lassen. Die Lebensenergie des Mediums hatte gerade ausgereicht, um den mächtigen Zauber über die weite Entfernung hinweg zu wirken, bevor der Tod den Grasländer von seinen Qualen erlöste. Doch entgegen Methars Erwartungen war das Bild nicht verblasst. Als wäre es in dem Kristall eingefroren, verharrte es als Abbild des Grauens, das an diesem Abend über Caira-Dan hereingebrochen war, im Innern der Kugel.

Endlich gelang es dem Cha-Gurrlin, sich von dem Anblick zu lösen. Schweigend und mit gesenktem Haupt erwartete er die Befehle des Meisters und nur seine bebenden Schultern deuteten darauf hin, wie aufgewühlt er war.

Asco-Bahrran bedeutete Methar, die Kristallkugel wieder zu verdecken und an ihren ursprünglichen Platz zurückzubringen, dann wandte er sich an die Wache. »Richte meinen Befehlshabern aus, dass ich sie unverzüglich hier im Zelt erwarte«, befahl er in der Sprache der Cha-Gurrline. Dann wies er noch mit einer wegwerfenden Bewegung in Richtung des toten Grasländers. »Und schaff mir diese nichtsnutzige Kreatur aus den Augen«, höhnte er. »Die Quarline freuen sich sicher, ihn zu sehen.«

»Na sorr-gekukk. Wie Ihr befehlt!« Der Wachposten straffte sich, warf sich den jungen Grasländer mühelos über die Schulter und trug ihn aus dem Zelt.

»Das war der Letzte«, wagte Methar vorsichtig zu bemerken, während er das magische Quarlinfell wieder in der Truhe verstaute. »Es gibt keinen Grasländer mehr im Gefangenenlager, der Euch als Medium dienen könnte.«

»Ich brauche kein Medium!«, hörte er Asco-Bahrran murmeln. »Jedenfalls zurzeit nicht. Noch bevor die Sonne über dem Ylmazur-Gebirge aufgeht, werden wir aufbrechen und bald …« Methar hob erstaunt den Kopf und sah, wie Asco-Bahrran das Amulett der Auserwählten in den Händen drehte. »… bald wird der wahre Herrscher Thales zurückkehren.«

»Nein!« Naemy griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie schwankte, als könnten die Beine ihr Gewicht nicht mehr tragen. »Bei der Göttin, das darf nicht wahr sein!«

Tabor, der gerade mit einem Armvoll trockenem Feuerholz aus dem Wald kam, ließ seine Last fallen und eilte seiner Mutter zu Hilfe. »Was ist geschehen?«, fragte er beunruhigt, während er ihr half, sich hinzusetzen. Doch Naemy antwortete ihm nicht. Regungslos starrte sie in das fast heruntergebrannte Feuer, als wären dort die Antworten auf alle Fragen zu finden. »Mutter!«, drängte Tabor besorgt. »Was ist?«

»Quarline!«, hauchte Naemy tonlos. Mehr sagte sie nicht. Nur dieses eine Wort. Mit weit geöffneten Augen starrte sie in die Glut, als sei ihr Geist in einem schrecklichen Wachtraum gefangen, dem sie nicht entfliehen konnte. »Mutter!« Tabor erfasste sanft ihren Arm, doch Naemy antwortete nicht.

»Lass sie!«, ertönten Leiliths Worte in seinen Gedanken. Tabor fuhr herum und starrte das Riesenalpweibchen verblüfft an. Täuschte er sich oder klang auch Leiliths Stimme traurig? »Was ist mit ihr?«, fragte Tabor verwirrt. Waren hier plötzlich alle verrückt geworden? So lange war er doch gar nicht fort gewesen. An Kiany konnte es nicht liegen. Das Mädchen schlief in dicke Pelze gehüllt tief und fest auf einem behelfsmäßigen Lager neben dem Feuer.

»Leilith! Was ist geschehen?« Allmählich wurde Tabor ärgerlich. Doch auch das Riesenalpweibchen schien plötzlich nicht gewillt, ihm Auskunft zu geben. Betreten schloss es die Augen, um Tabors bohrenden Blicken zu entgehen, und schwieg. »Leilith!« Das war schon fast ein Befehl und Tabor ärgerte sich, dass er so grob werden musste.

»Wir haben traurige Kunde von Chantu erhalten«, mischte sich Zahir in den Gedankenaustausch ein. »Hunderte Quarline sollen Caira-Dan überfallen haben.« Der Riesenalp machte eine Pause, um Tabor Zeit zu geben, die ganze Tragweite seiner Worte zu erfassen. »Und?« Die Frage schoss durch Tabors Gedanken, ohne dass er sie wirklich stellen wollte. »Und?«, fragte er noch einmal, als Zahir ihm nicht sofort antwortete.

»Er hat alles versucht, aber er konnte ihnen nicht helfen …«

»Heißt das …« Tabor wagte den schrecklichen Gedanken nicht zu Ende zu denken.

»Ja!« Große Trauer schwang in diesem einen Wort mit. Überwältigt von den grauenhaften Bildern, die Chantu ihm übermittelt hatte, konnte Zahir nicht weitersprechen.

»Sind alle … alle tot?« Fassungslos starrte Tabor den felsengrauen Vogel an. Niemand antwortete ihm, doch das betretene Schweigen der Riesenalpe ließ keinen Zweifel daran, dass es so war. »Nein!« Plötzlich hatte Tabor das Gefühl, die Beine trügen ihn nicht länger. Kraftlos sank er zu Boden und schlug die Hände vor das Gesicht. »Das ist nicht wahr«, murmelte er. »Das kann nicht wahr sein. Es gibt doch gar keine Quarline mehr!«

»Doch, es ist wahr, Tabor!« Naemys Stimme klang müde und sie sprach, ohne den Blick vom Feuer zu wenden. »Zeig es ihm, Zahir.«

»Willst du es wirklich sehen?«, fragte Zahir zaghaft in Tabors Gedanken. Der junge Elf nickte matt. Er war fest davon überzeugt, dass Chantu nicht die Wahrheit gesagt hatte, doch als er die grausamen Bilder sah, die Chantu seinen Geschwistern übermittelt hatte, wurde seine Zuversicht jäh zerstört.

Für endlose Augenblicke blieb das Wispern des Windes in den kahlen Ästen der Bäume das einzige Geräusch. Die Riesenalpe schwiegen bedrückt und Naemy starrte weiter in die Glut, während Tabor seine Gedanken zu ordnen versuchte. Nur langsam begriff er das ganze Ausmaß der Katastrophe, doch anders als seine Mutter verfiel er nicht in dumpfe Trauer. Wut mischte sich mit Verzweiflung und einer tiefen Sorge um jemanden, der ihm sehr viel bedeutete. Entschlossen erhob er sich, trat ans Feuer und fasste seine Mutter bei den Schultern. »Ich fliege sofort nach Caira-Dan«, erklärte er, ohne sich seine Unruhe anmerken zu lassen. »Die Überlebenden brauchen Hilfe.«

»Quarline hinterlassen keine Überlebenden«, flüsterte Naemy. Sie hob den Blick und zum ersten Mal in seinem Leben sah Tabor seine Mutter weinen.

»Ich fliege trotzdem!« Tabors Umhang bauschte sich, als er sich umwandte und mit großen Schritten auf Leilith zustapfte.

»Warte!« Naemy sprang auf und packte Tabor an der Schulter, um ihn zum Innehalten zu bewegen. »Warte!«, sagte sie etwas sanfter, die Schulter noch immer fest im Griff. »Du darfst nicht unüberlegt handeln. Die Quarline sind wahrscheinlich noch immer in Caira-Dan. Wir müssen …«

»Lass mich, Mutter!« Ärgerlich steifte Tabor die Hand von der Schulter und sah Naemy in die Augen. In seinem Blick wechselten in rascher Folge Sorge und Trauer mit Wut und Entschlossenheit. Ein deutliches Zeichen dafür, wie aufgewühlt er war. »Ich werde fliegen, Mutter«, betonte er noch einmal. »Du kannst mich nicht aufhalten. Ich muss es mit eigenen Augen sehen. Und ich schwöre dir, ich werde jeden Quarlin töten, der mir begegnet.« Mit diesen Worten schulterte er seinen Langbogen, den er an einen Baum gelehnt hatte, griff nach dem Köcher mit den Pfeilen und vergewisserte sich mit einem kurzen Griff an den Gürtel, dass er auch das Kurzschwert bei sich trug. Ohne sich noch einmal umzublicken, bestieg er Leiliths Rücken und lenkte das Riesenalpweibchen auf einen nahen Hügel, von dem aus es aufsteigen konnte.

»Tabor, sei vernünftig!«, rief ihm Naemy in Gedanken nach, doch der junge Elf hatte seinen Geist für Botschaften verschlossen und antwortete ihr nicht. »Bei den Toren!« Wütend hob Naemy einen Stock vom Boden auf und schleuderte ihn in den Wald. Dennoch konnte sie Tabors Entschluss gut verstehen. Auch in ihr schrie alles danach, nach Caira-Dan zu fliegen und nach Überlebenden zu suchen. Wäre sie allein gewesen, hätte sie Tabor begleitet, aber sie hatte die Verantwortung für das schlafende Mädchen übernommen und konnte nicht frei handeln.

Er ist wie ich in jungen Jahren, dachte sie. Ungestüm und mutig – und wie ich, muss auch er noch lernen, dass einen nicht allein die Gefühle leiten dürfen. Naemy konnte nur hoffen, dass Tabor vernünftig genug war, sich auf keinen Kampf mit einem Quarlin einzulassen. Ein einzelner Elf, selbst wenn er bewaffnet war, stellte für die großen Raubkatzen eine leichte Beute dar. Erschauernd erinnerte sich Naemy an den Kampf mit dem Quarlin, der ihr vor mehr als zweihundert Sommern in der Zwischenwelt aufgelauert hatte und dem sie nur durch eine List entkommen war. Die tiefen Wunden, die sie bei dem Kampf davongetragen hatte, waren vernarbt, verursachten ihr aber auch heute noch Schmerzen. Wenn Tabor nicht …

»Chantu sagt, er habe Lya-Numi in den Wäldern entdeckt«, meldete sich Zahir in ihre Gedanken hinein. Lya-Numi? Naemy horchte auf. Energisch schob sie die trüben Erinnerungen zur Seite und versuchte Chantu selbst zu erreichen.

»Chantu!«, rief sie in Gedanken.

»Naemy? … Naemy, ich brauche … brauche deine Hilfe!« Der Riesenalp klang erschöpft und seine Stimme drang nur schwach und undeutlich durch die Sphäre. »Lya-Numi ist verletzt … Sie braucht … Hilfe … ein Quarlin … angegriffen. Ich … Quarlin getötet … kann nicht landen …«

»Wo ist sie?«, fragte Naemy erregt. Die unglaubliche Nachricht, dass die Elfenpriesterin noch lebte, ließ sie für einen Augenblick alle Trauer vergessen. Chantu übermittelte ihr ein Bild der Lichtung, auf der er Lya-Numi entdeckt hatte. Es war verschwommen und flackerte, genügte jedoch, damit Naemy erkannte, wo sich die Elfenpriesterin befand. Die Lichtung lag nicht weit von Caira-Dan entfernt, auf dem Weg zu jenem Platz, wo Tabor und sie die ersten Flugübungen mit den Riesenalpen gemacht hatten. »Ich kenne die Stelle«, teilte sie Chantu mit, »und ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Danke!« Chantu klang erleichtert. Naemy hörte noch, wie er etwas von Ruhe und Erschöpfung sagte, dann brach die Verbindung ab.

»Müssen wir aufsteigen?«, wollte Zahir wissen.

»Ich weiß noch nicht.« Hinter Naemys Stirn überschlugen sich die Gedanken. Lya-Numi lebte, aber sie war verletzt und brauchte dringend Hilfe. Naemy musste so schnell wie möglich zu ihr gelangen. Mit Zahir dorthin zu fliegen, kam nicht infrage, weil Kiany noch tief und fest schlief. In diesem Zustand konnte sie auf keinen Fall mitfliegen. Naemy durfte das Mädchen aber auch nicht allein lassen. Zudem würde ein Flug zu Lya-Numi bis weit in den nächsten Morgen hinein dauern – viel zu lange. Mit Zahir dorthin zu fliegen, wäre schon deshalb sinnlos, weil ein Riesenalp nicht auf der Lichtung landen konnte. Dann blieb nur – Naemy überlief es eiskalt – eine Reise durch die Zwischenwelt!

Die uralten Pfade der Elfen schienen der einzige Weg zu sein, Lya-Numi in Sicherheit zu bringen. Zahir sollte derweil auf Kiany achtgeben, denn Naemy würde ja nicht lange fortbleiben. Die Zwischenwelt! Naemy hatte diesen Weg für lange Reisen bisher immer gemieden, aus Furcht, der Quarlin könne noch immer irgendwo in der Düsternis lauern. All die Sommer war es nur ein Quarlin gewesen, den sie fürchtete. Und jetzt? Wenn sie Chantus Bericht glaubte, waren es gut hundert Raubkatzen gewesen, die Caira-Dan überfallen hatten –hundert Quarline, die jetzt auch in der Zwischenwelt lauern konnten.

Naemy zögerte. Sie wusste, dass jeder Augenblick, der ungenutzt verstrich, für Lya-Numi den Tod bedeuten konnte, doch noch hielt ihre Furcht sie zurück. Verzweifelt suchte sie nach einer dritten, weniger riskanten Möglichkeit, der Elfenpriesterin zu helfen – vergeblich. Schließlich hob sie einen Stock vom Boden auf und zeichnete ein Pentagramm, jenen fünfzackigen Stern, der den Elfen das Tor zur Zwischenwelt öffnet, in den feuchten Boden. Ihre Hand zitterte, als sie die magischen Symbole an die Spitzen des Sterns schrieb und als sie die rituellen Worte in der uralten Sprache ihres Volkes flüsterte.

Als sie fertig war, nahm auch sie Langbogen und Köcher an sich und prüfte kurz ihr Schwert. Dann wandte sie sich an Zahir, der ihr Tun mit seinen ausdruckslosen dunklen Vogelaugen schweigend beobachtet hatte. »Gib gut auf das Mädchen acht«, bat sie, während sie in das Pentagramm trat. »Ich hole jetzt Lya-Numi. Ich bin …« Sie schloss die Augen und sandte ein kurzes Gebet an die Gütige Göttin, dass es wirklich so sein möge. »Ich bin bald zurück!« Sie schluckte und fuhr fort: »Sollte ich bis Sonnenaufgang nicht zurück sein, musst du das Mädchen wieder nach Nimrod bringen. Ich hoffe, sie vertraut dir.«

Zahir nickte und Naemy schenkte ihm ein schmerzliches Lächeln. »Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte sie und es klang fast wie ein Abschied. »Du bist der beste Freund und Begleiter, den ich mir wünschen kann.« Dann erhob sie die geöffneten Hände zum Himmel und ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie die uralten Worte der Elfen sprach, die das Tor zur Zwischenwelt öffnen würden. Der Wald und Zahirs Gestalt verschwammen allmählich und es wurde dunkel. Die Kälte der Zwischenwelt griff mit eisigen Fingern nach Naemy, doch sie zögerte nicht, die geheimen Pfade ihres Volkes zu betreten, die sie zu Lya-Numi bringen sollten.

Mit ernster Miene schritt die Gütige Göttin durch die ewigen Gärten des Lebens. Auf der Stirn ihres alterslosen Gesichtes zeigte sich eine steile Falte, die auf der makellos weißen Haut seltsam fremd und störend wirkte und von den düsteren Gedanken zeugte, die sie auf ihrem Weg durch die Herrlichkeit des Gartens begleiteten. Kummer und Trauer umgaben die anmutige, in schimmerndes Weiß gekleidete Gestalt wie eine dunkle Aura, die ihre beklemmenden Schatten auch auf die lebensfrohe Blütenpracht warf.

Wo immer sie vorüberging, verblasste das großartige Farbenspiel der Blumen. Die bunten Blüten färbten sich schwarz und die weichen tiefgrünen Halme des Schöngrases überzogen sich mit dickem Raureif. Selbst die liebliche Melodie verstummte, die wie ein Windhauch durch die Gärten strich, und die zarten Schmetterlingswesen, die sich am Nektar der Blütenkelche labten, flüchteten in entlegenere Teile des Gartens.

Als die Göttin sich schließlich auf der kleinen Bank am Weiher niederließ, über dem wie an jedem Morgen der Nebel der Weisheit schwebte, hatte die aufgehende Sonne ihr Antlitz hinter den Wolken verborgen. Doch auch dies schien die Göttin nicht zu bemerken. Traurig starrte sie auf die wogenden Schleier und dachte nach.

Das Volk der Nebelelfen gab es nicht mehr! Die Erkenntnis war so ungeheuerlich und so unfassbar, dass sie die ganze Tragweite der schrecklichen Nachricht noch nicht zu überblicken vermochte. Sie wusste, sie war nicht ganz unschuldig daran, dass es zu dem vernichtenden Angriff hatte kommen können, und machte sich heftige Vorwürfe. Sie hatte die Gefahr, die den Elfen drohte, nicht bemerkt. Schlimmer noch: Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass es dazu kommen könnte! Obwohl sie sich geschworen hatte, wachsam zu sein, hatte sie den gleichen Fehler begangen wie damals, als An-Rukhbar seinen vernichtenden Angriff auf Thale begann – sie hatte darauf vertraut, dass die Bewohner Thales stark genug waren, sich selbst gegen den Feind zu behaupten. Und wie damals waren die Folgen ihres Versäumnisses so vernichtend und grauenhaft, dass sie es kaum ertrug.

Doch es gab keine Entschuldigung. Sie hatte die düstere Wolke gesehen und beobachtet, wie sie langsam immer größer wurde. Doch anstatt beherzt zu handeln, hatte sie gezögert, Menschen und Elfen zu warnen. Selbst als die Botschaften, die ihre Dienerin aus der Finstermark sandte, Grund zur Besorgnis gaben, hatte sie nicht gehandelt.

Und jetzt war es zu spät! Die bittere Gewissheit machte der Göttin das Herz schwer. Ihre geliebten Nebelelfen waren vernichtet! Sie seufzte und eine funkelnde Träne lief ihr wie ein flüssiger Kristall über die Wange. »Auch Göttinnen sind nicht frei von Fehlern«, seufzte sie, doch selbst das war keine Rechtfertigung für ihr klägliches Versagen.

Wie blind war sie gewesen, als sie sich wie jeden Herbst darauf vorbereitet hatte, die Huldigungen und Gebete der Elfen entgegenzunehmen – jene Energie, aus der sich ihre Macht formte!

Wie hatte sie die Gefahr so unterschätzen können?

Warum hatte sie nichts gespürt?

Was dann geschehen war, ließ sich nur mit dem verheerenden Angriff An-Rukhbars auf Nimrod vergleichen, dem Tausende Bewohner des Landes vor vielen Hundert Sommern zum Opfer gefallen waren. Damals wie heute hatte die Wucht der dunklen Energien, die völlig unerwartet auf sie eingeströmt waren, sie geschwächt und ihr die Möglichkeit genommen, im letzten Moment noch helfend einzugreifen.

Nach dem Angriff waren ihre Kräfte langsam zurückgekehrt und sie hatte sich auf den Weg zum Weiher gemacht, um durch die Nebel der Weisheit zu erfahren, was in Caira-Dan vorgefallen war. Aber noch zögerte sie, denn sie ahnte bereits, welches Bild sich ihr bieten würde. Von dunklen Vorahnungen erfüllt, fürchtete sie sich fast, die Nebel anzurufen.

Aber sie musste es tun. Jetzt, sofort und nicht erst später. Eile war geboten, denn wer immer die Nebelelfen angegriffen hatte, beließ es sicher nicht dabei. Die Menschen! Sie musste die Menschen warnen und versuchen, wenigstens ihnen zu helfen. Zum Trauern blieb keine Zeit. Die Finsternis war neu erstarkt. Anzunehmen, dass die Menschen ohne Hilfe der Elfen auch nur die leiseste Hoffnung hätten, sich des mächtigen Gegners zu erwehren, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Sie musste einschreiten. Entschlossen hob die Göttin den Blick und ihre Lippen formten die Worte, die ein Bild Caira-Dans in dem Nebel erschufen.

7

Der Boden der Finstermark erbebte unter den stampfenden Schritten vieler Hundert Cha-Gurrlinen-Krieger. Trockener Sand wirbelte auf und hüllte alles, was sich hinter den vordersten Reihen befand, in einen staubigen roten Nebel. Niemand, der die geschlossene Phalanx der mit Äxten, Schwertern und Morgensternen bewaffneten schwarzen Krieger auf sich zukommen sah, vermochte die wahre Größe des Heeres zu ermessen, doch allein der Anblick reichte aus, jeden das Fürchten zu lehren.

Seit vielen Sonnenläufen waren die Krieger zum Abmarsch bereit gewesen und hatten ungeduldig auf den Befehl ihres Meisters gewartet. Der Einmarsch in Thale war für sie mehr als nur ein Eroberungsfeldzug – er war die Rückkehr in ein Paradies, in dem es für sie keine Entbehrungen mehr geben würde. Die Aussicht, dem Hunger, dem Durst und der Kälte entfliehen zu können, hatte ausgereicht, um sie für den Angriff zu gewinnen, und ihr Hass auf die Gütige Göttin, deren Schwertpriesterin Sunnivah ihrem Volk vor mehr als zweihundert Sommern eine schmachvolle Niederlage zugefügt hatte, tat ein Übriges, um der barbarischen Natur der Cha-Gurrline freien Lauf zu lassen.

Unaufhaltsam wie eine zerstörerische schwarze Flut näherte sich das Heer der Grenze der Finstermark.

Gnoorat war einer der Letzten, die dem langen Heerwurm folgten. Man hatte ihm aufgetragen, einen der großen hölzernen Wagen zu ziehen, auf denen das schwere Gerät mitgeführt wurde. Zusammen mit fünf anderen Cha-Gurrlinen der unteren Ränge hatte er sich das lederne Geschirr anlegen müssen und kämpfte sich nun zum Takt der dumpfen Trommel Schritt für Schritt über den steinigen Boden. An den Stellen, wo der lederne Harnisch seinen Körper nicht bedeckte, schnitten ihm die harten Riemen tief in die Haut, doch die Wesenheit, die seinem Körper jetzt innewohnte, hatte jedes Schmerzempfinden aus seinen Gedanken getilgt. Erst unmittelbar vor dem Abmarsch hatte sie erfahren, dass das Heer aufbrechen würde, doch da war es bereits zu spät gewesen, ihrer Herrin eine Nachricht zu schicken. Gnoorat war mit den anderen zu den Wagen geführt worden und von da an gab es keinen unbeobachteten Moment mehr. Jetzt hoffte die Wesenheit auf eine baldige Rast, doch die Kräfte der hünenhaften Krieger schienen unerschöpflich zu sein. Länge um Länge zog der rote Sand der Finstermark unter Gnoorats Füßen dahin, während er den schweren Wagen über das flache Land zog. Der wirbelnde Staub verschluckte alles, was sich in einem Umkreis von mehr als drei Längen um den Wagen befand, und nur der unerschütterliche Takt der Trommelschläge, der durch den Nebel zu ihm herüberklang, und das Brüllen und Fauchen der restlichen Quarline, die in hölzernen Käfigen auf großen Karren am Ende des Heeres mitgeführt wurden, zeigten an, dass er noch auf dem richtigen Weg war.

Eine dunkle Gestalt, zum Schutz gegen den Staub fast völlig in ein mitternachtsblaues Gewand gehüllt, huschte geduckt an Gnoorat vorüber. Ein Magier! In Gnoorats Geist gab es noch ausreichend Erinnerungen an die menschlichen Wesen, die Asco-Bahrran dienten. Neben den Beratern standen die Magier ihrem Meister am nächsten, denn als Einzige im Heer gehörten sie, wie einst der Meister, zur Rasse der Menschen.

Aber weder Asco-Bahrran noch seine Magier oder Berater hätten sich jemals in den hintersten Teil des Heeres begeben, wo nur die niederen Cha-Gurrline ihren Dienst taten. Die Menschen mieden den Kontakt zu den grobschlächtigen Kriegern und nur den Hauptmännern und Heerführern der Cha-Gurrline war es erlaubt, hin und wieder persönlich mit den Vertrauten des Meisters zu sprechen. Das gemeine Volk bekam sie höchstens bei Zeremonien oder Hinrichtungen zu Gesicht. Im Lager hatten sich die Tonak, wie die Cha-Gurrline ihre menschlichen Verbündeten nannten, stets in einer getrennten Zeltstadt in der Nähe des Meisters aufgehalten, wo die Cha-Gurrline keinen Zutritt hatten. Auch jetzt, da das ganze Heer in Bewegung war, fuhren sie in ihren bequemen Wagen weit voraus, in unmittelbarer Nähe der rubinroten Kutsche von Asco-Bahrran. Was also tat der Magier hier?

Neugierig geworden, tastete die fremde Wesenheit mit ihren feinen Sinnen nach der vermummten Gestalt. Der dunkle Umhang war schon fast in der Staubwolke verschwunden, dennoch gelang es der Wesenheit, für einen Augenblick die Aura des Magiers zu spüren. Seine Gefühle überraschten sie nicht. Hass, Gier und der Hunger nach Macht waren die Triebfedern, die alle menschlichen Begleiter Asco-Bahrrans in die Finstermark geführt hatten. Der Wesenheit hingegen waren solche Beweggründe fremd. Sie besaß eine freundliche Natur und die verabscheuungswürdigen Motive der Männer, die in diesem Heer dienten, bekümmerten ihre zarte Seele. Enttäuscht wollte sie sich von dem Magier zurückziehen, da bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass es bei ihm einen außergewöhnlichen Unterschied zu den Gefühlen der anderen Magier gab – sein Hass galt vor allem Asco-Bahrran!

Sollte es hier wirklich einen Verräter in den eigenen Reihen geben? Wenn dies so war, musste sie unbedingt herausfinden, wer sich unter dem Umhang verbarg. Ein Magier, der sich gegen seinen Meister stellte, konnte ihrer Herrin sehr nützlich sein. In der Hoffnung, einen Gedanken auffangen zu können, der ihr die Identität des Magiers verriet, zog sie ihre tastenden Sinne vorsichtig immer enger um den Geist der vermummten Gestalt.

Plötzlich traf ein kräftiger Fausthieb Gnoorats Schulter und die Wesenheit bemerkte, dass sie kurz die Herrschaft über Gnoorats Körper verloren hatte. Der Fausthieb war vermutlich eine Warnung gewesen, kam jedoch zu spät. Gnoorat schwankte, ruderte heftig mit den Armen und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Dann stolperte er über die eigenen Beine und stürzte zu Boden. Die ledernen Riemen spannten sich und schnitten ihm tief in die Schultern, während sein behelmter Kopf hart auf einem Stein aufschlug.

Durch einen blutroten Nebel sah die fremde Wesenheit auch die anderen Krieger straucheln und beobachtete, wie der voll bepackte Wagen gefährlich ins Schwanken geriet und umstürzte. Dann wurde es dunkel und die Verbindung zu dem ungewöhnlichen Magier riss ab.

Skynom war zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft, als dass er den vorsichtigen Kontakt der fremden Wesenheit gespürt hätte. Die dunkle Kapuze zum Schutz gegen den Staub tief ins Gesicht gezogen, hastete der Magier an der endlosen Kolonne schwer bepackter Karren und Wagen vorbei, auf denen sich nicht nur die Ausrüstung des gewaltigen Heeres, sondern auch die Käfige mit den Quarlinen befanden.

Niemand hatte ihn von dem Abmarsch unterrichtet. Niemand! Skynom schnaubte vor Wut. Er hatte für den Meister sein Leben aufs Spiel gesetzt. Seinem mutigen Einsatz hatte es Asco-Bahrran zu verdanken, dass er den Angriff überhaupt beginnen konnte. Wenn er nicht gewesen wäre … und jetzt das! Der Meister enthielt ihm nicht nur die angemessene Belohnung vor, nein, man behandelte ihn auch noch wie das letzte Stück Dreck.

Seit er aus Nimrod zurückgekehrt war, gärte es in Skynom. Er war außer sich, weil er die versprochene Belohnung nicht erhalten hatte, und ärgerte sich maßlos über die entwürdigende Behandlung durch Asco-Bahrran. Man hatte ihn benutzt und fallen lassen wie einen alten Lumpen, doch so einfach würde er sich nicht geschlagen geben. Er, der seine steile Karriere in Nimrod einst auf ausgefeilte Intrigen gegründet hatte, würde sich nicht in die klägliche Rolle des Ausgestoßenen fügen, wie ein wehrloses Lamm auf dem Opferaltar. Die letzten Sonnenläufe hatte er deshalb damit verbracht, einen Plan zu schmieden. Einen Plan, der dem greisenhaften Meister zeigen würde, wie sehr er sich in Skynom getäuscht hatte. Wie hatte er ihn noch genannt? Nichtswürdiger! Skynom schnaubte erneut. Wenn sein Plan aufginge, würde man sehen, wer hier wirklich der Nichtswürdige war. Doch dazu musste er erst einmal die Wagen der anderen Magier erreichen, die in der Mitte des Heerzuges bei dem mit dicken rubinroten Tüchern verhängten Wagen des Meisters fuhren.

Nimrod brannte!

Die Flammen einer gewaltigen Feuersbrunst, welche die gesamte Festungsstadt erfasst hatte, leckten gierig bis zu den Spitzen der höchsten Türme hinauf, als könnten sie es nicht ertragen, dass auch nur ein einziger der braunen Lehmziegel, aus denen die Hauptstadt einst erbaut worden war, das Wüten unbeschadet überstand. Schwarze Rauchwolken verdunkelten die Ebene und türmten sich bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Valdor-Berge.

Während die feine Asche der düsteren Schwaden den Schnee grau färbte, spielten sich am Fuß der Festungsmauer dramatische Szenen ab. Über die schwelenden Reste der hölzernen Tore, die Nimrod vor Angriffen schützen sollten, stürzten die Menschen in heilloser Panik auf die Ebene hinaus, hoffend, so dem Feuertod zu entgehen. Dort wurden sie jedoch von einer geschlossenen Reihe schwarzer Krieger erwartet, die mit ihren mannshohen Bogen wahllos in die Menge der Flüchtenden schoss. Hunderte, die dem Feuer entkommen waren, fielen dem Pfeilhagel zum Opfer. Leblose Körper bedeckten die verbrannte Erde vor den Festungsmauern und die Zahl der Toten und Verwundeten nahm schnell immer weiter zu.

Plötzlich wischte ein goldener Staub den entsetzlichen Anblick fort und Nimrod lag wieder friedlich und unversehrt im Sonnenlicht.

Doch das Gefühl einer drohenden Gefahr hing fast greifbar in der Luft und als sich der Blick nach Norden wandte, zeigte sich am Horizont eine Unheil verkündende dunkle Staubwolke, die sich rasch vergrößerte …

Sayen erwachte schweißgebadet. Er zitterte am ganzen Körper. Selten hatte er eine Vision gehabt, die so deutlich und reich an Botschaften war – und noch nie eine, die so grauenhaft war.

Die schrecklichen Bilder noch vor Augen, setzte er sich auf und griff nach dem Wasserkrug. Als ihm das kühle Nass durch die Kehle floss, entspannte er sich ein wenig, doch das Gefühl der Eile blieb. Er hatte sich geirrt. Zum ersten Mal, seit er das Amt des Meistersehers von Nimrod innehatte, hatte er sich wirklich getäuscht. Seine Auslegung der Träume dieser Novizin Kiany war falsch gewesen, dessen war er sich inzwischen sicher. Nimrod drohte Gefahr! Große Gefahr. Er musste unverzüglich den Rat von der Vision unterrichten. Hastig kleidete er sich an und verließ seine Räume, ohne das Frühstück zu beachten, welches die Bediensteten für ihn bereitgestellt hatten.

So früh am Morgen waren die Gänge und Hallen der inneren Festung fast menschenleer. Draußen war es noch nicht richtig hell. Die Wolken hatten sich wieder verdichtet und entluden erneut ihre nasse, kalte Fracht an den steilen Hängen der Valdor-Berge. Über die Geräusche des Regens hinweg hörte Sayen hin und wieder die hastigen Schritte der Pagen, die wie an jedem Sonnenlauf das Frühstück in die Gemächer der hochrangigen Bewohner trugen. Sayen bekam keinen der Diener zu Gesicht, wäre aber fast mit einem von ihnen zusammengestoßen, als er die Gemächer des Abners erreichte.

Im selben Augenblick, als er an die Tür klopfen wollte, wurde diese von innen geöffnet und ein halbwüchsiger blonder Page in der rot-grünen Kleidung des Küchenpersonals trat eilig heraus. Den Blick auf den Boden gerichtet, schloss er die Tür hinter sich und bemerkte Sayen erst, als er vor ihm stand. »Oh, Verzeihung … Herr«, stammelte der Page verlegen. »Ich wollte nicht … ich habe Euch nicht gesehen.«