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Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge VI:
Tun-Amrad

Roman

hockebooks

13

Als die Nacht hereinbrach, griffen die Cha-Gurrline an. Ihr Brüllen, das dem Ansturm vorauseilte, zerfetzte die abendliche Stille, lange bevor sie sich wie die entfesselten Wasser einer gewaltigen schwarzen Springflut in wilden Scharen über die Ebene ergossen.

Der Boden erbebte unter ihren stampfenden Schritten und das Klirren der eisenbewehrten Rüstungen brandete wie eine Melodie des Todes gegen die Mauern der Festungsstadt.

Sheehan stand auf den Zinnen und beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie das Heer der Cha-Gurrline näher rückte. To und Yu hatten ihr Antlitz hinter dicken Wolken verborgen. Im fahlen Licht war die ganze Masse der Heranstürmenden nur zu ahnen, doch der Elfenkrieger war erfahren genug, um seine Schlüsse aus dem Lärm und den Erschütterungen des Bodens zu ziehen. Er brauchte seine Augen nicht anzustrengen, um zu wissen, welch gewaltiges Heer dort unten aus der Dunkelheit auf sie zustürmte.

Er wandte den Kopf und warf den ihm unterstellten Kriegern einen prüfenden Blick zu. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Die Männer und Frauen, die ihm am Vorabend zugeteilt worden waren, starrten voller Furcht in die wogenden Schatten am Fuß der Festungsmauer. Einige hielten ihr Schwert fest umklammert, andere beteten. Sie waren noch so jung. Viele mochten nicht einmal zwanzig Sommer gesehen haben und keiner von ihnen hatte je zuvor gekämpft. Die meisten waren erst vor ein paar Sonnenläufen im Umgang mit Schwert und Bogen unterrichtet worden und Sheehan wagte zu bezweifeln, dass sie im Fall eines Zweikampfs überhaupt die Möglichkeit erhielten, ihre Waffen zu erheben. Doch die Menschen, die sich hier den Cha-Gurrlinen entgegenstellten, waren die letzte Reserve, die der Rat hatte aufbringen können. Die Truppen, die sich in Nimrod versammelt hatten, würden allein niemals ausreichen, um die Mauern der Stadt zu verteidigen. Zu viele gute und tapfere Krieger waren von den Cha-Gurrlinen bereits im Grasland getötet worden oder dem heimtückischen Angriff der Quarline zum Opfer gefallen.

Hier hatten sich Handwerker, Bauern, Händler, Flüchtlinge und Bürger aus Nimrod versammelt. Männer, Frauen und halbe Kinder, die ihr Land Seite an Seite mit den Kriegern gegen die Horden der Finsternis verteidigen wollten. Sie waren zahlenmäßig weit unterlegen und zudem schlecht ausgebildet, aber im Gegensatz zu dem Volk der Nebelelfen, das grausam abgeschlachtet worden war, hatten sie wenigstens die Möglichkeit, sich zu wehren – und sie waren bereit.

Sheehan hob den Arm und die Schützen spannten ihre Bogen. Als die ersten schwarzen Krieger auf Pfeilschussweite herangekommen waren, erhob sich auf den Zinnen ein mächtiges Surren und ein Hagel gefiederter Pfeile senkte sich über die Ebene. Einige Pfeile prallten wirkungslos an den Panzern der Krieger ab, doch andere fanden ihr Ziel. Dutzende Cha-Gurrline stürzten verwundet zu Boden und wurden rücksichtslos von jenen überrannt, die ihnen folgten.

Der stete Pfeilhagel warf den ersten Ansturm erfolgreich zurück und auch die nächste Angriffswelle der schwarzen Krieger verlor ihren Schwung im Pfeilhagel der Verteidiger. Schon nach kurzer Zeit war die Ebene vor der Festungsmauer von unzähligen Toten übersät. Die geschlossene Phalanx der Krieger zerfiel und der Angriff geriet kurzzeitig ins Stocken. Doch die Cha-Gurrline formierten sich bereits erneut zum Ansturm auf die Festungsstadt und diesmal erhielten sie Unterstützung von ihren eigenen Bogenschützen.

Mit lautem Kriegsgeschrei und großem Geschick schwangen die Angreifer ihre Kletterseile mit den Greifhaken und schleuderten sie gegen die Zinnen. Schon bald hingen die ersten Krieger, schwarzen Spinnen gleich, an der steil aufragenden Festungsmauer, und das Tor erzitterte unter den rhythmischen Stößen eines gewaltigen Rammbocks, den fünfzig Cha-Gurrline immer wieder kraftvoll gegen das Holz stießen.

Ungeachtet des siedenden Öls, das die Verteidiger von oben hinabgossen, trieben die Krieger den auf riesigen Rädern befestigten angespitzten Baumstamm verbissen gegen die schwächste Stelle der Festungsmauer. Schmerzensschreie gellten durch die Nacht, wenn ihnen das Öl die Haut verbrannte, doch immer, wenn einer stürzte, hastete ein anderer herbei, um seinen Platz einzunehmen.

Aus der Ebene regnete indes ein Hagel gefiederter Pfeile auf Nimrod herab. Die schwarzen Geschosse schlugen erste Breschen in die Reihen der Verteidiger. Ihre Todesschreie gellten durch die Nacht und mischten sich mit denen der Cha-Gurrline, die, von Schwert und Axthieben getroffen, die nutzlos gewordenen Kletterseile aber noch fest umklammert, in die Tiefe stürzten.

Die Verluste der Angreifer waren beträchtlich, doch sie ließen nicht nach und immer mehr von ihnen schafften den Durchbruch. Bald sahen sich die Verteidiger auf den Zinnen einer großen Anzahl von Cha-Gurrlinen gegenüber und die Schlacht entwickelte sich zugunsten der feindlichen Horden.

Sheehan kämpfte verbissen. Ohne Rücksicht auf das eigene Leben wehrten er und seine Männer einen Angriff nach dem anderen ab und wüteten wie Besessene unter den Eindringlingen. Ihre Schwerter säten Tod und Verderben, wo immer sie auf einen der verhassten Feinde trafen.

Doch die Reihen der Verteidiger waren dünn besetzt und die Festungsmauern lang. Weder Sheehans todesmutiger Einsatz noch der unermüdliche Kampf seiner Gefährten konnte verhindern, dass das Häuflein tapferer Männer und Frauen immer weiter zurückgedrängt wurde. Die notdürftig ausgebildeten Krieger hatten der Übermacht und Kraft der Cha-Gurrline kaum etwas entgegenzusetzen und allzu oft genügte ein einziger Hieb, um das Leben eines der Verteidiger auszulöschen. Nur der Mut der Verzweiflung hielt die meisten von der Flucht ab.

Aus den Augenwinkeln sah Sheehan einen Cha-Gurrlinen-Krieger, der mit einem spielerisch anmutenden Schwerthieb einem jungen Burschen den Kopf von den Schultern trennte und gleich darauf einem anderen mit bloßer Hand das Genick brach. Sheehan wollte auf den Krieger zulaufen, doch in diesem Augenblick erklomm ein weiterer Cha-Gurrlin die Mauer und stürmte mit einer gewaltigen zweischneidigen Axt auf ihn ein.

Die Schlacht erreichte ihren Höhepunkt, als der Rammbock krachend ein mannshohes Loch in einen der beiden Torflügel riss. Jubelschreie brandeten vor den Toren auf und übertönten die erschrockenen Rufe der Verteidiger, die fieberhaft versuchten, sich neu zu formieren. Noch während der Jubel anhielt, flammte plötzlich eine einsame Fackel über dem Tor auf und flog in hohem Bogen von der Mauer.

Für ein paar Herzschläge verstummten alle Schreie, während Angreifer und Verteidiger atemlos den Flug der Fackel beobachteten, die sich unaufhaltsam dem ölgetränkten Stamm des Rammbocks näherte, der noch immer im Tor steckte. Im letzten Augenblick versuchten sich die Cha-Gurrline in Sicherheit zu bringen – vergeblich. Nur einen Wimpernschlag später explodierte über dem Rammbock eine riesige Stichflamme, die alles im Umkreis von fünfzig Längen mit glutheißen Zungen verschlang.

Dutzende Cha-Gurrline kamen sofort in dem Feuer um, während andere noch versuchten, durch eine hastige Flucht dem Feuertod zu entgehen. Wie riesige lebende Fackeln liefen sie schreiend in die Ebene hinaus, bis sie zusammenbrachen.

Jetzt waren es die Verteidiger, die in Jubelrufe ausbrachen. Obwohl der Rammbock inzwischen lichterloh brannte, konnten die Flammen dem Tor nichts anhaben, da es durch Druidenmagie vor dem Feuer geschützt war.

Als die Cha-Gurrline auf den Mauern erkannten, dass das Tor standhielt, erwachten sie aus ihrer Erstarrung und hieben wutentbrannt auf die Verteidiger ein, die sich ihrerseits verbissen und mit neu erwachter Zuversicht zur Wehr setzten.

Der flackernde Schein des Feuers erhellte die Nacht und tauchte das Kampfgeschehen in ein bizarres Licht. Tote und Verwundete blockierten die schmalen Wehrgänge hinter den Zinnen und der Boden war schlüpfrig vom Blut der Gefallenen. Es roch nach Blut, Schweiß und brennendem Öl. Der beißende Qualm des Feuers kroch über die Zinnen und nahm den Kämpfenden die Sicht, doch die Gefechte gingen mit unverminderter Härte weiter.

Erst als der Himmel im Osten das erste zarte Grau zeigte, spürte Sheehan eine gewisse Veränderung. Zwar kämpften die schwarzen Krieger noch immer unerbittlich und grausam, doch sie wirkten plötzlich so fahrig, als ob sie unter gewaltigem Zeitdruck stünden. Es war, als unterliege ihr Angriff einem genauen Zeitplan, der durch den missglückten Einsatz des Rammbocks erheblich gestört worden war.

Plötzlich hatte er wieder Zeit, zwischen den Zweikämpfen Atem zu schöpfen, denn von den Cha-Gurrlinen, die am Fuß der Festungsmauern standen, schickte sich keiner mehr an, die Zinnen zu erklimmen. Sie beschränkten sich darauf, die Verteidiger mit gut gezielten Pfeilschüssen zu attackieren.

Als Nimrods Krieger dies erkannten, schöpften sie neuen Mut. Geschickt nutzten sie die entstehenden Lücken, um sich neu zu formieren, und drangen fortan in kleinen Gruppen auf die schwarzen Krieger ein. Schritt für Schritt zwangen sie den Feind zurück und der Erfolg verlieh ihnen neue Kräfte.

Als sich der dünne hellgraue Streifen über den Valdor-Bergen rosarot färbte und vom nahen Sonnenaufgang kündete, wendete sich das Blatt endgültig. Die Pfeilschüsse aus der Ebene wurden spärlicher und die schwarzen Krieger zogen sich hinter die Hügel zurück. Die Cha-Gurrline auf den Mauern wurden von einer seltsamen Unruhe erfasst, die ihre Aufmerksamkeit schwächte und sie verwundbar machte. Einige versuchten sogar, an den Kletterseilen zurück in die Ebene zu gelangen, doch meist kappte der gezielte Schwerthieb eines Verteidigers das Seil. Wer nicht im Kampf getötet wurde, starb durch den Sturz in die Tiefe.

Zu Tode erschöpft starrten die Verteidiger den zurückweichenden Feinden nach und beobachteten, wie sie hinter den Hügeln jenseits der Ebene verschwanden. Das Klirren von Stahl und das Geschrei der Verwundeten verloren sich allmählich und eine bedrückende Stille senkte sich über Nimrod, die nur vom Stöhnen der Verletzten unterbrochen wurde.

Es war vorbei.

Zumindest an diesem Morgen gehörte der Sieg eindeutig den Verteidigern.

Als die Sonne sich wenig später über die Valdor-Berge erhob und die Festungsstadt in goldenes Licht tauchte, wurde das schreckliche Ausmaß des Kampfes deutlich. Überall fanden sich Tote und Verwundete; in der Ebene und vor den Mauern, auf den Zinnen und den Treppen. Selbst auf den Straßen Nimrods hatten die schwarzen Krieger gewütet. Und dort, wo der schwelende Rammbock noch immer im hölzernen Tor steckte, türmten sich die verkohlten Leiber der Cha-Gurrline mannshoch.

Enron stand über dem Torbogen auf den Zinnen und sein Blick schweifte über die Ebene. Er war todmüde und erschöpft, doch sein Gesicht zeigte dieselbe grimmige Entschlossenheit wie schon am Vorabend.

Sheehan lehnte sein Schwert an die Mauerbrüstung und trat zu ihm. In einer freundschaftlichen Geste legte er dem Hauptmann der Stadtwache die Hand auf die Schulter, lächelte und sagte: »Es tut gut, dich bei Gesundheit zu sehen, Enron.«

Der Hauptmann erwiderte das Lächeln nicht. Er seufzte nur und schüttelte traurig den Kopf. »Auch ich freue mich, dich zu sehen, Elf«, antwortet er matt. »Doch zahllose tapfere Krieger erleben diesen Sonnenaufgang nicht mehr.« Er wandte sich um und starrte hinunter auf den freien Platz hinter der Festungsmauer, wo die Heilerinnen die Verwundeten versorgten. »Zweimal tötete ein Schwerthieb, der mir bestimmt war, einen anderen«, murmelte er. »Ich hatte Glück – doch um welchen Preis?«

»Krieg ist immer ungerecht.« Sheehan rieb sich müde die Augen. »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. Fragen, wie ›Warum er und nicht ich?‹ führen zu nichts. Sie trüben höchstens die Sinne.«

»Entschuldigung«, sagte Enron betroffen. »Ich vergaß, dass auch du …«

»Sprechen wir nicht mehr davon.« Sheehan hob abwehrend die Hand. »Wir dürfen uns von dem Vergangenen nicht beeinflussen lassen. Unser Blick muss sich nach vorn richten.«

»Und, was siehst du dort?«, wollte Enron wissen.

»Was siehst du?«

»Sie werden wiederkommen!«

»Sobald es dunkel wird.« Sheehan nickte. »Die Sonne hat sie erst einmal vertrieben, doch wenn das Licht schwindet, werden sie erneut angreifen.«

»Ein zweites Mal sind wir dem Ansturm nicht gewachsen«, wandte Enron kopfschüttelnd ein.

»Das befürchte ich auch.« Der Elfenkrieger seufzte und stützte sich auf die Mauerbrüstung.

Enron wollte noch etwas sagen, kam jedoch nicht dazu. Hinter ihnen waren eilige Schritte zu hören. Ein halbwüchsiger Knabe in der rot-grünen Kleidung des Küchenpersonals eilte die stark beschädigte Treppe herauf. Als er Enron und Sheehan erblickte, hellte sich seine Miene auf und er lächelte glücklich. »Bei der Göttin, Ihr lebt«, stieß er atemlos hervor und deutete eine höfliche Verbeugung an. »Der Abner trug mir auf, nach Euch zu suchen. Sofern ich Euch lebend und unverletzt finde, soll ich Euch ausrichten, dass Ihr zu einer Lagebesprechung in den Ratssaal kommen möget.« Er wandte sich an Sheehan und verneigte sich erneut. »Für Euch gilt das Gleiche«, sagte er und stutzte, weil ihm keine passende Anrede für den Elfenkrieger einfiel.

Sheehan lächelte nachsichtig und nickte dem Boten zu. »Wie du siehst, sind wir dem Kampf wohlbehalten entronnen. Richte dem Abner aus, dass wir die Nachricht erhalten haben und kommen.«

14

»Bei den Toren!« Fluchend zog Skynom den Fuß aus einer schlammigen Pfütze. Brauner Lehm bedeckte den Stiefel bis zum Knöchel und durch die Nähte sickerte langsam kühle Feuchtigkeit bis zu den Zehen. Missmutig stapfte er weiter, den Blick fest auf den Boden geheftet und das Pferd am Zügel neben sich herführend.

Bei Einbruch der Dämmerung hatte er Asco-Bahrrans Kutsche eingeholt, doch seine Hoffnung, den Magier allein anzutreffen, hatte sich nicht erfüllt. Eine Eskorte von sechs schwer bewaffneten Cha-Gurrlinen begleitete den Meister und Skynom war klug genug, sich von den Kriegern fernzuhalten.

So hatte er sich darauf beschränkt, die Kutsche unbemerkt zu verfolgen und auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Die ganze Nacht hindurch war er dem Geleit in sicherer Entfernung gefolgt, immer darauf bedacht, die Kutsche nicht aus den Augen zu verlieren.

Mitten in der Nacht hatten sie die ersten Ausläufer der Sümpfe von Numark erreicht. Auf den schmalen Pfaden, die sich durch das undurchdringliche Dickicht schlängelten, kam die Kutsche nur noch langsam voran. Immer wieder versanken die Räder tief im Morast und oft war es nur den ungeheuren Kräften der Cha-Gurrline zu verdanken, dass sie weiterfahren konnte.

Als der Morgen graute, kam der Nebel. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung senkte er sich über die Sümpfe und verdeckte alles, was mehr als drei Längen entfernt war, mit einem undurchdringlichen grauen Schleier.

Skynom musste absteigen und sein Pferd am Zügel weiterführen, weil er den Verlauf des Pfades vom Sattel aus nicht mehr erkennen konnte. Der Himmel, die Bäume und Büsche waren verschwunden. Selbst der Boden, über den er ging, war nur noch ein verschwommenes, gestaltloses Ding, dessen Steine Teile der feuchtkalten Nebelbrühe waren. Derart behindert, kam Skynom nur noch sehr langsam vorwärts. Immer wieder musste er sich bücken, um den weichen Boden nach Spuren der Kutsche abzusuchen. Sobald er sie fand, richtete er sich auf und tastete sich weiter durch das milchige Zwielicht. Nebelfetzen zogen an ihm vorüber, und manchmal glaubte er, in ihren kreisenden Umrissen schattenhafte Wesen zu erkennen. Sie scharten sich um ihn und er spürte ihre eisigen Berührungen auf der Haut, doch schon im nächsten Augenblick verflüchtigten sie sich wieder und waren verschwunden.

Skynom war kein furchtsamer Mensch, aber die lastende Stille, der alles verschlingende Nebel und die geisterhaften Gestalten machten ihn unruhig. Nie zuvor war er in den geheimnisvollen Sümpfen gewesen und das Wissen, dass auch er dazu beigetragen hatte, das Volk der Nebelelfen zu vernichten, die hier gelebt hatten, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Seine Schritte wurden schneller und er nahm sich nur noch selten die Zeit, nach den Wagenspuren zu suchen. Zweimal geriet er so auf einen falschen Weg und musste umkehren, um die Fährte wieder zu finden.

»Garnfat kunr artbart ne sinro.«

Skynom erstarrte. Erst vor wenigen Augenblicken war er an einer Weggabelung erneut auf die Spur der Kutsche gestoßen, als er die Stimmen der Cha-Gurrline hörte. Er konnte nicht sehen, was sich vor ihm befand, doch die Gesprächsfetzen, die gedämpft durch den Nebel drangen, konnten nur bedeuten, dass Asco-Bahrran eine Rast eingelegt hatte. Vielleicht hatte sich die Kutsche aber auch wieder fest gefahren. Oder waren sie schon am Ziel? Skynom fluchte leise. Wenn er doch nur etwas sehen könnte. Aber der Nebel hatte sich zwischen den Bäumen festgesetzt und nichts deutete darauf hin, dass er sich bald auflösen würde.

Leise führte Skynom sein Pferd so weit auf dem Weg zurück, dass die Cha-Gurrline es nicht bemerkten. Nachdem er die Zügel locker um einen knorrigen Baumstamm gebunden hatte, machte er sich allein auf den Weg zu der Stelle, wo er die Cha-Gurrline vermutete. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass weder ein Unfall noch eine Rast der Grund für die plötzliche Rast waren. Irgendwo dort hinter den Nebeln musste sich das befinden, wonach Asco-Bahrran suchte.

Kiany fror, während sie durch den Nebel geführt wurde. Sie trug nur einen dünnen Umhang über ihrem Gewand, der sie nicht vor dem nasskalten Wetter der Sümpfe schützte.

Es war lange her, seit man ihr zum letzten Mal den bitteren Trank verabreicht hatte, der ihre Sinne betäubte. Inzwischen war sie klug genug, sich das Nachlassen der Wirkung nicht anmerken zu lassen. In den ersten Sonnenläufen hatte sie noch versucht, sich zu befreien, und um Hilfe geschrien, sobald sie aus den düsteren Nebeln auftauchte, die ihren Geist umwallten. Doch das hatte nur dazu geführt, dass man ihr noch mehr von diesem ekelhaften Gebräu einflößte, das ihren Willen abstumpfte und sie in einem dumpfen Dämmerzustand gefangen hielt. Irgendwann hatte sie dann herausgefunden, dass man sie in Ruhe ließ, solange sie sich schlafend stellte, und jede Gegenwehr aufgegeben.

Zwar zwang man sie trotzdem hin und wieder, etwas von dem bitteren Trank einzunehmen, aber er war nicht mehr so stark und der rauschähnliche Zustand, in den sie verfiel, nicht mehr so tief.

Kianys anfängliche Furcht war einer seltsamen Gleichgültigkeit gewichen, seit sie erkannt hatte, dass man sie nicht töten würde, solange man ihre Dienste benötigte. Wenn sie also tat, was man von ihr verlangte, war sie nicht in Gefahr – zumindest hatte sie das bisher angenommen.

Während sie die Füße wie eine Schlafwandlerin vorsichtig voreinander setzte, öffnete Kiany die Augen einen Spaltbreit und spähte umher. Viel zu sehen gab es nicht. Alles war in einen dichten grauen Nebel gehüllt, sodass sie unmöglich erkennen konnte, wo sie sich befand. Zwei Längen vor sich sah sie den rotgewandeten Magier durch den Nebel schreiten, dessen Gesicht sie noch nie gesehen hatte und den die Krieger ehrfürchtig mit »Meister« ansprachen. Als sei er den Weg schon viele Male gegangen, folgte er zielsicher einem schmalen Pfad, der sich mitten durch wucherndes Unterholz wand. Knorrige, feuchte Zweige berührten immer wieder Kianys linke Schulter wie die eisigen Finger geisterhafter Wesen, die sich im Zwielicht verbargen. Auf der rechten Seite spürte sie nichts dergleichen. Dort fühlte sie nur den festen Griff einer riesigen Pranke, die sie am Arm gepackt hielt und durch den Nebel führte.

Kiany erschauerte und vermied es, die grobschlächtige, hässliche Gestalt neben sich anzusehen. Sie hasste es, von den schwarzen Kriegern angefasst zu werden. Der freundliche blaugewandete Mann, der sich zuvor um sie gekümmert hatte, war kurz bevor die Kutsche aufbrach, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Meister verschwunden. Unter dem Einfluss der Droge hatte sie den Streit nur undeutlich mitbekommen und konnte im Nachhinein nicht mehr unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit gewesen war.

Ein plötzlicher Ruck am Arm riss sie aus ihren Gedanken. Der Krieger an ihrer Seite war stehen geblieben und hatte sie grob zurückgerissen, damit sie nicht gegen den Meister prallte, der unmittelbar vor ihm innegehalten hatte.

»Das Mädchen!«, schnarrte der Rotgewandete mit krächzender Stimme und streckte die skelettartige Hand aus. Der Krieger trat vor, zerrte Kiany mit sich und übergab sie dem Meister. »Geh zurück und warte bei den anderen, bis ich komme«, befahl Asco-Bahrran und packte Kiany am Arm.

»Bagarr!« Der Krieger neigte kurz das Haupt, drehte sich um und verschwand augenblicklich in den Nebelschwaden.

»So, meine Kleine.« In der Stimme des Meisters vibrierte eine freudige Erregung, wie sie nur jemand spürte, der sich unmittelbar vor der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches wähnt, und Kiany zuckte erschrocken zusammen. Denn da war noch etwas: etwas Böses, Abscheuliches, als wisse er genau, welch schreckliche Folgen sein Handeln haben werde und als freue er sich unbändig darauf.

»Jetzt gibt es nur noch uns beide«, zischte Asco-Bahrran ihr zu und schob sie am Arm durch den Nebel auf ein mannshohes dunkles Loch zu, das sich vor ihnen in einem Hügel auftat. Dahinter erstreckte sich ein Tunnel, dessen feucht glänzende Wände sich in der Finsternis verloren. Einstmals musste ein Tor aus dicken Eichenbohlen den Eingang versperrt haben, doch die Zeit hatte das Holz mürbe gemacht. Moos und Flechten hatten Besitz davon ergriffen und es langsam aufgezehrt, bis es auseinanderbrach. Von Gestrüpp überwucherte Trümmer waren alles, was jetzt noch an das hölzerne Portal erinnerte.

»Cheladeon!« Asco-Bahrran machte eine kurze Bewegung mit der freien Hand und eine leuchtende Kugel erschien vor ihnen in der Luft. »Lesoma!« Der Magier deutete auf den finsteren Eingang und die Kugel schwebte langsam darauf zu. Ihr Licht war hell genug, um einen weiten Umkreis zu erleuchten, und Kiany spähte furchtsam nach vorn. Die Dunkelheit machte ihr Angst. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dort hineinzugehen, doch Asco-Bahrran hielt sie mit eisernem Griff fest und drängte sie geradewegs darauf zu.

Kiany musste sich zusammenreißen, um noch immer den Anschein zu erwecken, unter dem Einfluss der Droge zu stehen. Mit jedem Schritt fiel es ihr schwerer, zu gehen, doch obwohl sie inzwischen panische Furcht hatte, zwang sie sich weiter.

Dann hatten sie den Tunnel erreicht und Asco-Bahrran schob Kiany auf den Eingang zu. Der Geruch nach Moder und brackigem Wasser schlug ihr entgegen und nahm ihr den Atem. Jetzt, da Asco-Bahrran hinter ihr stand, wagte sie es endlich, die Augen ganz zu öffnen – und stieß einen Schrei aus.

Im Licht der Kugel, die einige Längen vor ihnen schwebte, erkannte sie, dass der Tunnel kurz hinter dem Eingang steil nach unten abfiel und dort, nicht einmal zwanzig Längen entfernt, spiegelte sich Wasser.

»Geh!« Asco-Bahrran versetzte ihr einen heftigen Stoß in den Rücken und sie taumelte vorwärts.

»Nein«, keuchte sie und starrte entsetzt auf das ölig schimmernde Wasser.

»Geh!« Die Stimme des Magiers war jetzt ganz nahe an ihrem Ohr und seine Klauenfinger krallten sich in ihren Nacken. »Du hältst dich wohl für besonders schlau, wie? Denkst wohl, ich weiß nicht, dass der Trank deine Sinne längst nicht mehr betäubt. Aber du irrst dich.« Mit einer Kraft, die Kiany ihm nicht zugetraut hätte, schob er sie vor sich her auf das Wasser zu. »Mir hast du zu verdanken, dass du bei Sinnen bist. Hier kann ich kein Medium gebrauchen, das ich wie ein verwirrtes altes Weib an der Hand führen muss. Du begleitest mich, ob du willst oder nicht.«

Kiany wollte lieber sterben, als freiwillig in das kalte, stinkende Wasser zu steigen. In ihrer Verzweiflung griff sie nach hinten, packte Asco-Bahrrans Arm und holte zu dem einzigen Kre-An-Sor-Wurf aus, den Banor ihr beigebracht hatte. Doch der Versuch scheiterte schon im Ansatz.

Ein eisiger Blitz schoss durch ihre Glieder und lähmte augenblicklich jeden Muskel ihres Körpers. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie da wie eine Statue, die Arme unnatürlich verdreht und Furcht im Blick. »Du vergisst, wer ich bin«, höhnte Asco-Bahrran. »Wäre es so leicht, mich zu besiegen, stünde ich nicht hier. Und nun geh!«

Ohne es zu wollen, spürte Kiany, wie ihre Beine sie vorwärts trugen. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Wasser, sah, wie die Kugel in der stinkenden Brühe versank, ohne zu erlöschen, und fühlte, wie das Wasser langsam in ihre Stiefel eindrang. Sie wollte schreien, aber die Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Es gab kein Entrinnen. Nur noch wenige Schritte und sie würde ertrinken.

»Halt!«

Bewegungsunfähig verharrte Kiany im Wasser und wartete, was geschah. Sie sah nicht, was Asco-Bahrran hinter ihrem Rücken tat, doch sie spürte die ungeheuren magischen Kräfte, die sich dort zusammenballten.

»Etos retourum aquaris nimda sedonu.« Die Worte hallten durch den Tunnel und die entfesselte Magie entlud sich in einem gewaltigen Blitz, der krachend in die Wasseroberfläche fuhr und das Wasser zum Kochen brachte. Brodelnd und schäumend flutete es die Wände hinauf und floss, allen Naturgesetzen zum Trotz, über die Tunneldecke, um irgendwo hinter Kiany wieder herunterzustürzen und den Stollen zu verschließen. Gleichzeitig sank der Wasserspiegel und gab den Weg frei.

»Geh!«, befahl Asco-Bahrran. Der Befehl hob Kianys Lähmung auf. Endlich konnte sie sich wieder bewegen und blickte sich verblüfft um. Sie befand sich in einer vom Licht der magischen Kugel erhellten Luftblase, mitten im Wasser. Diese war gerade groß genug, dass zwei Menschen darin Platz fanden, doch um sie herum war nichts als bedrohliches dunkles Wasser, das in strömenden Bewegungen an den Wänden der Luftblase vorbeifloss.

»Geh schon!« Der Magier wurde immer ungeduldiger und versetzte Kiany einen Stoß. Sie taumelte zwei Schritte vorwärts und stellte erstaunt fest, dass das Wasser bei jedem Schritt weiter zurückwich. Gleichzeitig rückte die Wasserwand hinter ihr nach. Vorsichtig machte Kiany zwei weitere Schritte, wobei sie das Wasser vor, neben und über sich misstrauisch beobachtete – sie hatte sich nicht getäuscht; die Luftblase folgte ihr. Im ersten Augenblick war sie darüber erleichtert, doch dann begriff sie plötzlich, dass es nun endgültig keinen Ausweg mehr gab. Sie musste dem Magier folgen, denn ohne den Schutz der magischen Luftblase würde sie unweigerlich ertrinken.

Skynom stand am Eingang des Tunnels und grinste breit. Für einen ehemaligen Druiden und Magier der schwarzen Künste wie ihn war es ein Leichtes gewesen, unbemerkt an den Cha-Gurrlinen vorbeizukommen. Er hatte den Tunnel gerade noch rechtzeitig erreicht, um dem Zauberspruch zu lauschen, mit dem sich Asco-Bahrran Zutritt zu den gefluteten Tunneln verschaffte.

Skynom lachte leise und trat durch den Tunneleingang. Der Spruch, der die Luftblase erzeugte, war ihm neu, doch auch ein Magier der schwarzen Künste konnte noch etwas dazulernen. Als er das Wasser erreichte, hielt er inne und hob die Arme. »Cheladeon!«, flüsterte er und eine magische Kugel flammte auf. Dann schloss er die Augen und sammelte seine Kräfte, um den mächtigen Zauber heraufzubeschwören, vor dem das Wasser zurückweichen wollte.

Die Hohlwege und Stollen, durch die Asco-Bahrran Kiany trieb, schienen kein Ende zu nehmen. Lange Zeit führten sie bergab, teilten und überschnitten sich und bildeten einen rätselhaften Irrgarten, in dem es keinen Anfang und kein Ende zu geben schien. Doch der Magier machte niemals Halt, sondern drängte sie weiter durch die feuchtkalte Welt.

Eine schwer zügelbare Angst hatte von Kiany Besitz ergriffen, die durch sie hindurchströmte und ihr eisige Schauer über die Haut jagte. Die Luftblase, die ihnen Schutz vor dem alles verschlingenden Wasser bot, erschien ihr viel zu dünn und zerbrechlich und das Wissen, der Magie des Magiers hilflos ausgeliefert zu sein, brachte sie fast um den Verstand. Um nicht verrückt zu werden, begann sie zu beten. In Gedanken sandte sie einen stummen Hilferuf an die Gütige Göttin und flehte sie an, sie aus dieser entsetzlichen Lage zu befreien.

Und plötzlich war es vorbei! Der Boden stieg an, die Luftblase tauchte aus dem Wasser auf und zerplatzte. Sie waren am Ziel. Der Tunnel führte zwar noch weiter, doch Boden und Wände waren von nun an staubtrocken. Dieser Teil der Stollen war niemals überflutet gewesen.

»Weiter!« Asco-Bahrran packte Kiany an der Schulter und schob sie vor sich her. Der Griff war schmerzhaft und ungeduldig. Dennoch wandte sie ein letztes Mal den Kopf und blickte zurück auf das dunkle Wasser, das den Stollen hinter ihr ausfüllte. Keine Welle kräuselte die Oberfläche, doch dahinter – sie hielt erschrocken den Atem an – glaubte sie …

»Weiter, bei den Toren!« Asco-Bahrran versetzte ihr erneut einen kräftigen Stoß. Kiany stolperte und musste wieder nach vorn schauen, um nicht zu stürzen. Schwankend folgte sie der leuchtenden Kugel um eine Biegung und seufzte. Jetzt würde sie nie herausfinden, ob tief im Wasser wirklich ein Lichtschein aufgeleuchtet hatte, oder ob sie nur den Widerschein der magischen Lichtkugel gesehen hatte.

Wenige Augenblicke später gabelte sich der Tunnel. Asco-Bahrran führte Kiany nach rechts und schritt noch schneller aus. Plötzlich endete der Gang vor einer geschlossenen Eisentür. Asco-Bahrran trat darauf zu und rüttelte an dem Riegel. Nichts geschah!

Fluchend, als hätte er fest damit gerechnet, sie offen zu finden, trat er einige Schritte zurück und hob die Hände. Sein Mund bewegte sich, doch kein Laut kam ihm über die Lippen, während rot glühende Blitze aus seinen Fingern schossen. Die Blitze züngelten und wisperten an Türschloss und Riegel und schließlich öffnete sich die Tür mit leisem Ächzen.

»Hinein!« Unsanft schob Asco-Bahrran Kiany durch den schmalen Türspalt. Das Echo ihrer Schritte auf dem geröllübersäten Boden hallte erschreckend laut durch die Dunkelheit und verlor sich weit entfernt in der Stille. Es war kalt und Kiany blickte sich fröstelnd um. Das Licht der magischen Kugel reichte nicht bis zu den Wänden und zur Decke, doch die Geräusche verrieten ihr, dass sie sich in einer gewaltigen Höhle befand. Am Rand des Lichtscheins entdeckte sie die Überreste von Kisten. Das Holz war zersplittert, von Spinnenweben überzogen und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Auch die Luft war staubgetränkt und trug den schweren Geruch unsagbaren Alters in sich. Die ganze Höhle wirkte so erhaben, dass Kiany das Gefühl hatte, durch den Klang ihrer Schritte etwas unglaublich Altes und Heiliges zu entweihen.

Ich dürfte nicht hier sein, schoss es ihr durch den Kopf. Niemand dürfte hier sein. Was immer hier ruht, sollte in Frieden gelassen werden. Es ist nicht recht, es zu wecken.

Verstohlen blickte sie sich um, doch die Dunkelheit schien nicht bereit, ihre Geheimnisse preiszugeben. Und plötzlich hatte Kiany das Gefühl, aus den Schatten heraus beobachtet zu werden.

In dem feinen Staubteppich auf dem Tunnelboden waren die Spuren von Asco-Bahrran und dem Mädchen deutlich zu erkennen. Eigentlich waren nur die Fußabdrücke des Mädchens zu sehen, doch die verwischten Muster daneben konnten nur von Asco-Bahrrans langem Umhang stammen. Skynom grinste und rieb sich die Hände. Nie hätte er damit gerechnet, dass ihm das Schicksal so in die Hände spielen würde. Asco-Bahrran war allein!

Ein leises gackerndes Geräusch drang aus seiner Kehle. Vorsichtig tastete er mit der Hand noch einmal nach dem Asaak. Seine Hand berührte das weiche Tuch, er spürte das harte Metall des Dolches darunter und fühlte sein Herz in freudiger Erregung pochen. Nun gab es kein Halten mehr. Mit weit ausgreifenden Schritten machte er sich auf den Weg, um seine Rache zu vollenden.

»Warte!« Asco-Bahrrans Stimme durchschnitt die Stille der Höhle und verhallte als leises Echo in der Dunkelheit. Im spärlichen Licht der Leuchtkugel sah Kiany, wie sich der Stoff der roten Kapuze bewegte, als blicke sich der Meister suchend um. Er löste die Hand von Kianys Arm und schritt, den Blick fest auf den Boden geheftet, hierhin und dorthin, während er mit dem Fuß immer wieder über den staubigen Boden fuhr. Zwischendurch warf er ab und zu prüfende Blicke zur Decke und murmelte leise vor sich hin.

Kaum drei Längen von Kiany entfernt hielt er schließlich inne und bückte sich, um etwas am Boden zu untersuchen. »Ja«, stieß er mit spröder Stimme hervor. »Ja, hier ist es.«

Er richtete sich auf, spreizte die Hände und vollführte eine wischende Geste auf dem Boden. »Soma!« Unmengen von Staub wirbelten auf, als Asco-Bahrrans magische Winde den Boden von jeder Verunreinigung befreiten. Zurück blieb eine ebenmäßige schwarze Fläche, die das Licht der magischen Kugel zu verschlucken schien und auf dem geröllübersäten Boden seltsam fehl am Platz wirkte.

Asco-Bahrran hob den Arm und die Leuchtkugel schwebte höher, bis sie etwa zwei Längen über ihren Köpfen stand. »Erendun nidua!« Augenblicklich wurde das Licht der Kugel stärker. Die leuchtende Aura vergrößerte sich, dehnte und streckte sich nach allen Seiten und erhellte schließlich einen Großteil der Höhle vom Boden bis zur Decke.

Kiany hielt vor Staunen den Atem an. Sie befanden sich in einer gewaltigen, kuppelartigen Höhle. Lange Tropfsteine hingen von der Decke herab und wuchsen kopfüber den steinernen Zapfen entgegen, die vom Boden deckenwärts strebten. Die Schönheit der herrlichen Gebilde und die funkelnden Streifen, die sich wie diamantene Adern durch das Gestein der Wände schlängelten, zogen Kiany in ihren Bann, doch als sie zur Höhlendecke emporschaute, entdeckte sie noch etwas anderes. Etwas, das wie die Fläche am Boden so gar nicht in das Gewölbe passen wollte. Etwas so Düsteres und Unheilvolles, dass Kiany erschauerte. An der Decke, fünf Längen über ihrem Kopf, befand sich eine kreisrunde polierte Fläche von mehr als einer Länge Durchmesser. Verschlungene, silbern funkelnde Schriftzeichen rahmten einen tiefschwarzen Kreis ein und kündeten von einer Macht, die selbst Kiany spürte. Die unheimlichen Gefühle, die beim Anblick des düsteren Kreises auf sie einstürmten, ängstigten sie so sehr, dass sie nichts sehnlicher wünschte, als sich irgendwo verstecken zu können. Doch der Meister hatte sie schon wieder am Arm gepackt und zerrte sie mit sich zu der spiegelglatten schwarzen Fläche am Boden.

»Hier ist es«, raunte er ihr zu. »Dies ist …«

»… dein Ende!« Aus den Schatten der Höhle trat Skynom hervor. Eine Hand hinter dem Rücken verborgen, schritt er ihnen so gelassen entgegen, als wäre dies eine ganz gewöhnliche Begegnung unter Freunden.

»Du!«, zischte Asco-Bahrran erbost. »Du wagst es, meine Befehle zu missachten?«

»Ich achte deine Befehle schon lange nicht mehr«, erklärte Skynom kalt. »Ich bin keiner dieser seelenlosen Magier, die dir blind folgen, o nein! Ich verfolge meine eigenen Ziele. Und mein oberstes Ziel« – er ballte die Hand hinter dem Rücken – »ist es, die Demütigung zu rächen, die du mir zugefügt hast!« Ein bösartiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er einen umwickelten Gegenstand hervorzog und aus einem Tuch befreite.

Als Asco-Bahrran erkannte, was Skynom in den Händen hielt, zog er keuchend die Luft ein. »Wie kannst du es wagen, mich zu bestehlen?«, fauchte er, löste die Hand von Kianys Arm und schob das Mädchen achtlos zur Seite. »Niemand vergreift sich ungestraft an meinem Besitz!«, rief er erbost und hob die Hände.

»Ich bin nicht niemand!«, rief Skynom. »Ich bin Skynom! Mir allein hast du es zu verdanken, dass du den Feldzug unternehmen konntest. Mir allein! Mein treuer Diener musste dafür sein Leben lassen, aber du hast mich behandelt wie Abschaum und um meine Belohnung betrogen.« Mit dem Asaak in der Hand trat er auf Asco-Bahrran zu, das Gesicht vor Zorn gerötet. Ein unbändiger Hass, der fast an Wahnsinn grenzte, glomm in seinen Augen. »Ich hasse dich«, stieß er hervor. »Ich hasse und verabscheue dich. Ich habe lange auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Sehr lange. Und jetzt werde ich dich töten. Mit der einzigen Waffe, die mir dazu Macht verleiht. Du wirst leiden, wie Bog gelitten hat, und ich werde dabeistehen, deine Schreie hören und lächelnd beobachten, wie das letzte bisschen Flüssigkeit aus deinem Körper verdampft.«

»Ha!« Völlig überraschend schleuderte Asco-Bahrran Skynom einen roten Blitz entgegen. Der traf den Magier am Arm und er schrie erschrocken auf. »Du glaubst, du kannst mir drohen, Nichtswürdiger?« Wieder schlug ein Blitz in Skynoms Körper ein. »Nur zu, ich fürchte dich nicht. Zweihundertfünfzig Sommer habe ich dem Tod die Stirn geboten und werde mich ihm auch jetzt nicht beugen. Du bist ein Nichts! Gemessen an meiner Macht, bist du nicht mehr als ein schleimiger Wurm, der höchstens dazu taugt, einem Bulsak den Magen zu füllen.«

»Ein schleimiger Wurm, wie?« Drohend hob Skynom die Hand mit dem Dolch, machte eine Geste mit der freien Hand und trat auf Asco-Bahrran zu. »Ist es dir nicht unangenehm, deinen Ahnen erzählen zu müssen, dass du den Tod durch die Hand eines schleimigen Wurms gefunden hast?« Er grinste breit und kam noch einen Schritt näher.

»Du elender Verräter!« Aus Asco-Bahrrans Fingern zuckten zahllose Blitze gegen Skynom, doch diesmal erreichten sie ihn nicht, sondern prallten wirkungslos von der magischen Hülle ab, die er um sich errichtet hatte. »Du siehst, auch Würmer sind nicht ohne Macht!« Skynom lachte böse und diesmal wich Asco-Bahrran ein winziges Stück zurück. »Angst?«, säuselte Skynom, den nur noch drei Längen von seinem Widersacher trennten. »Das ist gut!« Er war so siegessicher, dass er nicht bemerkte, wie sich die Luft um Asco-Bahrran verdichtete, während dieser seine Kräfte sammelte. Plötzlich schoss ein gewaltiger greller Blitz aus den Nebeln unter der roten Kapuze hervor. Er traf Skynoms Schutzhülle mit solcher Wucht, dass sie Funken sprühend zerplatzte und der Asaak ihm aus der Hand gerissen wurde. Der Elfendolch wirbelte durch die Luft und verschwand in den Schatten außerhalb des Lichtkegels.

»Nein!« Mit einem verzweifelten Satz versuchte Skynom, den Dolch zu erreichen, doch Asco-Bahrran war schneller. Ein weiterer greller Blitz flammte auf und fuhr in Skynoms Brust. Dieser erstarrte mitten in der Bewegung. Fassungslos starrte er auf die glimmenden Ränder eines riesigen Lochs, an der Stelle, wo sich eben noch sein Brustkorb befunden hatte, und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Das Gesicht zu einer hasserfüllten Grimasse verzerrt, die Hände zu Krallen gekrümmt, als wolle er ihn mit bloßen Händen erwürgen, taumelte er auf den Meistermagier zu, kam aber nicht weit. Nach nur drei Schritten knickten seine Beine ein und er schlug mit einem dumpfen Laut auf dem Höhlenboden auf, wo er reglos liegen blieb.

»Welch ein Narr!« Angewidert stieß Asco-Bahrran den Leichnam mit dem Fuß an den Rand der tiefschwarzen Fläche und wandte sich wieder Kiany zu. Die Augen unter der roten Kapuze flammten auf, als er befehlend die Hand nach ihr ausstreckte und ihren Blick gefangen hielt.

»Komm«, sagte er leise – und Kiany kam.

Unfähig, sich der Magie des Blickes zu entziehen, erhob sie sich aus dem dürftigen Schutz des Felsens, hinter den sie sich geflüchtet hatte, und trat wieder neben Asco-Bahrran. Ihr Geist war klar und wehrte sich heftig dagegen, doch die Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Der Blick des Meistermagiers hielt sie gefangen und unterwarf sie seinem Willen. Obwohl sie innerlich dagegen aufbegehrte, musste sie niederknien und sich mit den Händen auf den Boden stützen. Irgendwo in den hintersten Winkeln ihres Bewusstseins spürte sie die erhabenen Linien von Schriftzeichen unter ihren Fingern, doch das Bild blitzte nur kurz auf und verschwand sogleich in dem wirbelnden Strudel, der in ihrem Geist tobte.

Dann spürte sie wieder die Hand auf ihrem Kopf, eisig und grausam, und fühlte, wie der Magier in ihren Geist eindrang. Energisch öffnete er die Tore ihres Geistes, denn am Ende des langen Tunnels, durch den Kianys Bewusstsein glitt, glomm bereits ein unheilvoller grüner Lichtschein.

15

»Und du bist sicher, dass sich die Kutsche auf dem Weg in die Sümpfe befand?«, sandte Naemy einen zweifelnden Gedanken an Chantu.

»Ihr Weg führte unmittelbar darauf zu«, erwiderte der Riesenalp und schüttelte das Gefieder. Nach einer langen, erfolglosen Suche, die durch den zähen Nebel über den Sümpfen von Numark erschwert worden war, hatten sich die beiden in die Ausläufer des Ylmazur-Gebirges zurückgezogen, um zu rasten.

Seit die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten hatte, saßen sie nun schon auf einem Hügel inmitten von niedrigem Buschwerk, der sich am Rande der Sümpfe erhob und warteten darauf, dass sich der Nebel lichtete. Naemy blickte kopfschüttelnd auf die dunstigen Schleier hinab, die die Landschaft vom Fuß des Hügels bis zum Horizont einhüllten, und hob den Kopf, um den Stand der Sonne zu überprüfen. Die goldene Scheibe neigte sich schon deutlich dem Horizont zu und die Schatten wurden länger.

»Der Nebel löst sich heute nicht mehr auf«, erklärte sie verzagt und biss ein Stück von dem Brotkanten ab, an dem sie gerade kaute. »Wenn Kiany wirklich da unten ist, werden wir sie heute ganz sicher nicht mehr finden«, murmelte sie mit vollem Mund. »Und morgen kann die Kutsche schon wer weiß wo sein.« Sie seufzte und stieß mit dem Fuß gegen einen kleinen Stein, der hüpfend und springend den steilen Abhang hinunterkullerte. Naemy sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld entschwand, und erhob sich. »Ich suche Feuerholz«, erklärte sie. »Dies scheint ein guter Platz, um die Nacht zu verbringen.«

»Willst du es nicht noch einmal versuchen?«, fragte Chantu. »Die Sonne steht noch einige Zeit am Himmel und spendet uns genügend Licht, um …«

»Es hat keinen Sinn!« Naemy deutete auf die undurchdringlichen Schwaden, aus denen nur die höchsten Baumkronen der Sümpfe hervorschauten. »Die Sonne ist schon zu schwach. Wenn kein Wind aufkommt, wird sich der Nebel dort unten noch viele Sonnenläufe lang halten.«

»Und was ist, wenn er sich morgen immer noch nicht gelichtet hat?«, fragte Chantu zweifelnd.

»Dann fliegen wir zurück nach Nimrod! Was immer Asco-Bahrran mit diesem kleinen Ausflug auch beabsichtigt, ich bin sicher, dass er zu seinem Heer zurückkehrt, um den Fortgang der Schlacht zu verfolgen.«

Erschüttert sah Lya-Numi von ihrem Versteck aus, wie Skynom starb. Sie hatte die Magie gespürt, die nötig war, damit Asco-Bahrran die gefluteten Tunnel passieren konnte, und war sofort durch die Zwischenwelt in die Höhle gereist, um den finsteren Magier dort zu erwarten.