Cover

Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge VIII:
Fedeon

Roman

hockebooks

7

»Er erwacht!«

Es raschelte.

»Geht hinaus, ich spreche allein mit ihm!« Die sanfte weibliche Stimme klang seltsam vertraut, doch die Erinnerung daran war so flüchtig, dass Glamouron sie nicht greifen konnte.

»Bitte, Shari.«

Shari! Glamouron kannte eine junge Elfe, die diesen Namen trug – sie war tot. Waren es die Stimmen der Ahnen, die zu ihm sprachen? Hatte er das Tor zu den Gärten des Lebens bereits hinter sich gelassen?

Er hörte Schritte, die sich entfernten, dann klappte eine Tür.

Glamouron blinzelte und öffnete mühsam die Augen. Er hatte keine Schmerzen, verspürte aber einen leichten Druck hinter der Stirn, als er versuchte, den Nebel zu vertreiben, der sein Gemüt einhüllte. Zunächst erkannte er nur verschwommene Umrisse, doch langsam klärte sich sein Blick.

Was er sah, enttäuschte ihn.

Er lag in einem kleinen Raum, der nur spärlich von einem rußenden Talglicht erhellt wurde. Die roh gezimmerten Holzwände waren kahl und schmucklos und über ihm an der Decke bewegte ein leichter Luftstrom die Überreste von Spinnweben. Sah so der Ort aus, der den Elfen nach dem Tod verheißen wurde?

»Glamouron.« Die vertraute Stimme war jetzt ganz nah. Der Elf versuchte den Kopf zu wenden, doch eine sanfte, warme Hand hielt ihn zurück. »Beweg dich nicht«, sagte die Frau. »Du bist verletzt und musst ruhen.«

Glamouron seufzte und schloss ermattet die Augen. »Dann bin ich nicht tot?« Nur mit großer Anstrengung schaffte er es, die wenigen Worte auszusprechen. Lippen und Kehle waren ausgetrocknet und die Stimme brüchig. Er hörte ein schabendes Geräusch und fühlte, wie die Frau ihm einen tönernen Becher an die Lippen setzte.

»Du lebst«, sagte sie leise. »Doch nun trink!«

Wasser!

Gierig hob der Nebelelf den Kopf, öffnete die Lippen und fühlte entzückt, wie ihm das köstliche Nass in den Mund lief. Mehr! Er schluckte und schluckte, hustete und schluckte wieder, und dann, viel zu früh, war der Becher fort. Glamouron wollte ihn zurückhaben, doch die warme Hand legte sich wieder auf seine Stirn und drückte ihn sanft, aber bestimmt auf das Lager zurück.

»Mehr«, ächzte er. »Mehr Wasser!«

»Später! Es ist nicht gut, so viel auf einmal zu trinken.«

»Wer bist du?« Jetzt, da er getrunken hatte, fiel ihm auch das Reden leichter. »Wenn ich nicht tot bin, wo bin ich dann?«, fragte er matt. »Was ist geschehen? Wo ist Chiriga? Die Pfeile, die schwarzen Krieger, sie … sie haben auf uns geschossen. Wir sind in den Wald gestürzt, aber wie …?« Glamouron öffnete erneut die Augen, wandte das Gesicht der Frau zu und erschrak. »Naemy!«, stieß er fassungslos hervor. »Was tust du hier? Du bist doch in Numark geblieben und wolltest mit der Nachhut nach Nimrod kommen. Erst vor zwei Sonnenläufen haben wir uns voneinander verabschiedet, aber nun …« Er runzelte die Stirn und musterte sie mit einem schwer zu deutenden Blick. »Du … du hast dich verändert«, stellte er verwundert fest. »Du wirkst viel älter und reifer als noch vor ein paar Sonnenläufen, als wärest du …« Er hob die Hand und fuhr mit dem Finger liebevoll über Naemys Wange. »Seltsam, diese kleinen Narben habe ich noch nie bei dir gesehen.«

»Nur gemach, Glamouron!«, sagte Naemy lächelnd und strich dem Elfenkurier zärtlich über die Wange. Es gelang ihr kaum, die unbändige Freude und das Glücksgefühl über das unverhoffte Wiedersehen mit dem schmerzlich vermissten Geliebten zu verbergen, doch sie wusste, dass ihn solche Gefühle nur noch mehr verwirren würden, und tat, als hätte sie ihn wirklich vor zwei Sonnenläufen das letzte Mal gesehen.

»Ich werde dir alle Fragen beantworten«, versprach sie, »doch zuvor zeige ich dir, was heute Nacht geschehen ist. Schließ die Augen.«

Glamouron tat, wie ihm geheißen. Er wusste, was Naemy vorhatte, und entspannte sich, so gut es ging. Die enge Seelenverwandtschaft erlaubte es den Nebelelfen, Bilder von Ereignissen ohne Worte untereinander auszutauschen. Das Verfahren, den Gefährten mithilfe der eigenen Erinnerungen unmittelbar an dem Erlebten teilhaben zu lassen, wurde häufig angewandt, und so manche Legende war auf diese Weise über Generationen hinweg weitergegeben worden, ohne zu verblassen.

Der Nebelelf spürte, wie Naemys Geist sein Bewusstsein berührte, und machte sich bereit, die Bilder zu empfangen.

Gleich darauf sah er eine hellgraue Rauchsäule, die über den Wipfeln der Christalltannen aufstieg. In der windstillen Luft des frühen Abends erhob sie sich weit über die Baumkronen, bevor sie sich vor dem Hintergrund des locker bewölkten Himmels auflöste. Die nun folgenden Bilder zeigten ihm, wie Naemy durch den Wald auf das Feuer zueilte, und wenig später waren die flackernden Flammen eines Lagerfeuers auf einer Lichtung im Wald zu erkennen.

Um das Feuer herum saßen mehr als zwei Dutzend hünenhafte und in schwarze Panzer gekleidete Krieger, die auf barbarische Weise rohe Fleischstücke verzehrten. Von den klauenartigen, blutverschmierten Fingern troff das Blut auf die Rüstungen und den Boden, doch das störte die Krieger nicht. Gierig und wie ausgehungert rissen sie mit den Zähnen große Fetzen von den Knochen, die sie in den Händen hielten, und schlangen sie raubtiergleich herunter. Glamouron fühlte die Abscheu, die Naemy bei diesem Anblick empfunden hatte, und erschauerte. Doch dann änderte sich das Bild. Als hätte die Nebelelfe sich umgesehen, wanderte der Blick über den freien Platz und blieb an etwas Großem hängen, das sich wie ein dunkler, feucht glänzender Felsen in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Lichtung erhob. Das seltsame Gebilde hatte die Neugier der Nebelelfe geweckt, und sie war im Schutz der Bäume langsam darauf zu geschlichen. Lange verbargen die Schatten des abendlichen Waldes, worum es sich bei dem seltsamen Gebilde handelte, doch dann erhaschte Naemy einen Blick auf einen gewaltigen, von Blättern und Erde verdreckten Schnabel.

Es war Chiriga!

Mit geschlossenen Augen lag das tote Riesenalpweibchen am Boden. Unzählige schwarze Pfeile ragten aus seinem gewaltigen Leib, der von der Wucht des Aufpralls zerschmettert worden war. Das Genick war gebrochen, der Schnabel blutig, und die Flügel standen in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab.

Am grässlichsten jedoch war der Anblick des aufgeschlitzten Unterleibs, aus dessen Innerem eine übel riechende rotbraune Masse auf den Waldboden quoll, die bereits erste Fliegen anzog. Offensichtlich hatten die Krieger mit den Schwertern große Stücke aus dem Kadaver geschnitten und das Fleisch als Grundlage für ihr barbarisches Mahl verwendet. Glamouron fühlte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Das tragische Ende des Riesenalpweibchens erschütterte ihn zutiefst, und er machte sich heftige Vorwürfe, es zu diesem Flug überredet zu haben. Er wollte die Verbindung zu Naemy abbrechen, um dem schrecklichen Bild zu entfliehen, da wandte die Nebelelfe die Aufmerksamkeit von Chirigas Kadaver ab. Etwa fünf Längen von dem getöteten Riesenalp entfernt lag in gekrümmter Haltung eine gefesselte Gestalt reglos am Boden.

Das bin ich, schoss es Glamouron durch den Kopf, und er beobachtete, wie sich Naemy dem Gefangenen langsam näherte.

Während sie sich durch Elfenmagie vor den Blicken der Krieger schützte, huschte sie lautlos auf Glamouron zu und kniete sich neben ihn auf den feuchten Waldboden. Selbst in den Gedankenbildern konnte Glamouron noch die Freude spüren, die Naemy empfunden hatte, als sie ihn erkannt hatte, und die Erleichterung darüber, dass er noch lebte.

Offensichtlich hatte er großes Glück gehabt und den Sturz gut überstanden. Außer einer klaffenden Platzwunde an der Stirn waren keine weiteren Verletzungen zu sehen, doch er war besinnungslos und hatte die Augen geschlossen. Dann blitzte die Klinge eines Messers in dem Gedankenbild auf, und Glamouron sah, wie sich Naemy daranmachte, die Fesseln zu durchtrennen. Sie arbeitete schnell, aber die Stricke waren dick. Mehrmals hob sie den Blick und vergewisserte sich, dass die Krieger noch immer am Feuer saßen, um dann fieberhaft weiterzuarbeiten. Endlich war es so weit: Die Stricke lösten sich.

Nachdem sie sich ein letztes Mal davon überzeugt hatte, dass die Krieger sie nicht bemerkt hatten, fasste Naemy Glamouron unter den Achseln und zog ihn langsam in das schützende Dickicht.

Das Bild erlosch und Glamouron spürte, wie sich Naemy behutsam aus seinem Bewusstsein zurückzog.

»So habe ich dich gefunden«, erklärte sie knapp.

»Du hast mir das Leben gerettet«, berichtigte Glamouron und ergriff Naemys Hand. »Dafür werde ich dir ewig dankbar sein, s ninglor – meine goldene Wasserblume«, sagte er liebevoll.

S ninglor. Naemys Augen strahlten vor Glück. Wie lange war es her, dass Glamouron sie zum letzten Mal so gerufen hatte? Er war der Einzige, der sie je so genannt hatte, und die Worte weckten schmerzliche Sehnsüchte in ihr, die sie unendlich viele Sommer lang unterdrückt hatte. Wie gern hätte sie ihn in diesem Augenblick in die Arme geschlossen und ihm alles berichtet, doch sie wusste, dass er Zeit brauchen würde, um zu verstehen. »Naemy?«

Erst jetzt bemerkte Naemy, dass sie Glamouron die ganze Zeit angestarrt hatte. Verlegen wischte sie sich mit der Hand über die Augen und sagte entschuldigend: »Verzeih, ich bin ein wenig müde.«

»Das glaube ich dir gern, aber ich habe dich etwas gefragt.« Glamouron lächelte nachsichtig und wiederholte: »Wo sind wir hier? Wie lange war ich bewusstlos? Wieso wusstest du, wo ich war, und warum bist du nicht mehr in Numark?«

»Der Morgen bricht gerade an. Du warst nicht lange ohne Bewusstsein«, erklärte Naemy und fuhr fort: »Wir befinden uns in einer Jagdhütte in der Nähe des großen Gießbachs. Ich habe dich hierher gebracht, weil ich uns hier sicher wähne und meine Freunde hier sind.«

»Deine Freunde?«, unterbrach Glamouron sie, doch Naemy legte ihm sanft den Finger auf die Lippen und gebot ihm zu schweigen. »Später«, sagte sie leise. »Alles zu seiner Zeit.« Dann fuhr sie fort und berichtete: »Ich fing einen Gedankenruf auf, den du an diesen Riesenalp sandtest, und da ich ganz in der Nähe war, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, um dich zu suchen. Dann sah ich die Rauchsäule – den Rest kennst du ja.«

»Du … du warst ganz in der Nähe?« Glamouron runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber warum? Wie kommst du …?«

»Das ist eine sehr lange und schwierige Geschichte«, sagte Naemy und bedachte Glamouron mit einem Blick, den er nicht zu deuten wusste. »Fühlst du dich kräftig genug, sie zu hören?«

»Erzähl mir alles!«

»Gut.« Naemy seufzte und ein dünnes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Dann hör mir genau zu …«

Ein erster Sonnenstrahl fiel durch die Ritzen der Tür, als Naemy den Bericht beendete und ermattet nach dem Wasserkrug griff. Wie oft würde sie die lange Geschichte noch erzählen, wie viele zweifelnde Blicke ertragen und mit wie viel mühsamen Erklärungen um Glaubwürdigkeit ringen müssen?

Sie wusste, dass die Worte für andere unglaublich klangen, und würde es Glamouron nicht verübeln, wenn er ihnen misstraute. Selbst Shari hegte noch immer Zweifel, das spürte sie genau, doch sie wusste auch, dass sich ihre Schwester dazu entschlossen hatte, an ihrer Seite zu bleiben, solange es friedlich war. Ungewiss war allerdings, wie sie sich verhalten würde, wenn die Schlacht begann. Naemy fühlte noch immer ihren brennenden Wunsch, Angehörige und Freunde zu warnen, und ihr war nur zu bewusst, dass sie Shari in dieser Zeit gut im Auge behalten musste.

»Dann kommst du aus … der Zukunft?« Glamourons Stimme klang erstaunlich gefasst. »Du bist hier und zugleich noch immer in Numark?«

»So ist es.« Naemy nickte. »Die junge Naemy, die soeben von Sharis Tod erfahren hat, trauert in den Sümpfen von Numark, während ich hier sitze und mit dir spreche.«

»Deshalb siehst du so verändert aus. Und die Narben …«

»Nun, dreihundert Sommer gehen auch an Nebelelfen nicht spurlos vorüber.« Naemy lächelte entschuldigend. Sie war froh, dass Glamouron es ihr so leicht machte. Sie hatte befürchtet, dass auch er sie mit Fragen überschütten würde, doch entgegen der Erwartung nahm er die unglaubliche Geschichte geradezu gelassen auf.

Vielleicht liegt es daran, dass er mich erst vor zwei Sonnenläufen zum letzten Mal gesehen hat, überlegte Naemy und fuhr mit der Hand nachdenklich über die Narben auf der Wange. »Die Zeit hinterlässt auch bei uns Spuren«, sagte sie leise.

»Und was ist mit mir?« Trotz Naemys missbilligende Blicke setzte sich Glamouron auf. »Keine Sorge, es geht mir schon viel besser«, sagte er rasch und fragte noch einmal: »Was ist mit mir, Naemy? Wenn du aus der Zukunft kommst, kannst du mir doch sicher sagen, was das Schicksal für mich bereithält.«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Ja!«

»Die Antwort wird dir nicht gefallen.« Naemy entging nicht, dass Glamouron erbleichte. »Sag es mir trotzdem«, bat er mit leiser Stimme.

»Du hast das Ende der Schlacht um Nimrod nicht erlebt.« In den Worten der Nebelelfe schwang eine große Traurigkeit mit. »Du kamst bei der Suche nach dem Spähtrupp ums Leben. Es hieß, die Cha-Gurrline hätten dich zu Tode gefoltert, um Geheimnisse zu erfahren. Dein Leichnam wurde nie gefunden.«

»Sprichst du von den Kriegern, vor denen du mich gerettet hast?«, fragte Glamouron stirnrunzelnd.

»Ja.«

»Aber dann bin ich doch nicht …«

»Warte!« Naemy wusste genau, was Glamouron jetzt sagen wollte. Es waren die gleichen Gedanken, die auch Shari gekommen waren und die vermutlich auch den anderen Geretteten noch kommen würden. »Ja, ich habe dich gerettet«, hob sie an und seufzte leise. »Du lebst hier und jetzt, doch für alle anderen bist du tot. Ich habe dich gerettet und damit die Geschichte ein winzig kleines Stück geändert. Doch der Preis dafür ist, dass du nie mehr nach Nimrod zurückkehren kannst.«

»Warum?«

»Weil du tot bist!« Die Worte klangen eine Spur unfreundlicher, als Naemy beabsichtigt hatte, doch sie war es leid, immer und immer wieder dasselbe zu erklären. »Du bist da hinten im Wald gestorben. Was auch geschieht, du kannst daran nichts ändern. Kehrtest du zurück, hätte das fatale Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Schicksals und brächte für die Zukunft unabsehbare Folgen mit sich.«

»Ich verstehe …« Glamouron nickte mit finsterer Miene. »Aber warum hast du mich dann überhaupt gerettet?«

»Weil die Gütige Göttin mir den Auftrag gab, so vielen Nebelelfen wie möglich das Leben zu retten. Ich wusste nicht, wer auf der Lichtung gefangen gehalten wurde. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen, Glamouron! Einen sehr wichtigen Auftrag, der den Fortbestand unseres Volkes in der Zukunft sichern soll, und hätte jeden Gefangenen gerettet. Dafür bin ich hier.« Sie stockte und sah Glamouron tief in die Augen. »Trotzdem ist es so … so wunderbar, dass ich dich fand«, sie lächelte glücklich, »nach all den einsamen Sommern voller Trauer und Sehnsucht, in denen ich dich so schmerzlich vermisst habe. In all den Sommern habe ich dich nie vergessen. In den langen Stunden der Dunkelheit wünschte ich so manches Mal, dir in die ewigen Gärten des Lebens folgen zu können. Doch ich tat es nicht. Aufgeben liegt nun einmal nicht in meiner Natur. Ich bin eine Kriegerin und werde so lange kämpfen, bis die Göttin mich ruft.« Sie ergriff Glamourons Hand und hielt sie fest. »Und genau das habe ich getan. All die Sommer habe ich gekämpft – allein. Nie habe ich gezweifelt und alle Kraft für meine Ziele verwendet. Trauer, Schmerz und Verlust haben mich nicht zermürbt, sondern stark gemacht. Nur die Sehnsucht nach einem Gefährten, der unerschütterlich zu mir steht, blieb unerfüllt.« Sie schluckte schwer und sagte dann: »Ich brauche dich, Glamouron. Die Aufgabe, die die Gütige Göttin mir gab, ist so ungeheuerlich, dass ich fürchte, sie nicht allein bewältigen zu können, und außerdem …«, mit einem Mal wurde ihr Blick ganz sanft, »liebe ich dich noch immer.«

»S ninglor!« Glamouron zog Naemy an sich und küsste sie leidenschaftlich. »Was musst du durchgemacht haben!«, sinnierte er mitfühlend. Dann hob er den Kopf und blickte sie feierlich an. »Einem gütigen Schicksal haben wir es zu verdanken, dass uns ein zweiter Frühling zuteilwurde. Wärst du nicht zurückgekehrt, wäre ich nicht mehr am Leben. Ich verdanke dir so viel. Du kannst dich auf mich verlassen. Wohin der Auftrag dich auch führt, ich werde an deiner Seite sein. Ich habe es dir nie gesagt, nicht einmal bei dem letzten Abschied in Numark vor zwei Sonnenläufen«, er zog sie noch einmal an sich, küsste sie erneut und flüsterte: »Ich liebe dich auch.«

Plötzlich zuckte er zusammen und erstarrte.

»Was ist los?« Naemy löste sich aus Glamourons Armen.

»Es ist Letivahr!«, murmelte Glamouron. »Er sucht nach mir und ruft mich mittels Gedankensprache.«

»Du darfst ihm nicht antworten!«, mahnte Naemy erschrocken. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wenn Glamouron sich dem Riesenalp zu erkennen gäbe, und die Furcht, ihn wieder zu verlieren, schnürte ihr die Kehle zu. »Tu es nicht«, flehte sie noch einmal mit erstickter Stimme. »Verschließe deine Gedanken vor den Rufen. Du kannst sie nicht hören, du bist tot!«

»Was ist, wenn ich ihm antworte?«

»Dann müsste ich dich töten!« In Naemys erschrockenen Augen standen Tränen.

»Das würdest du tun?«

»Ich habe es geschworen. Der Lauf des Schicksals darf nicht geändert werden. Du bist tot, Glamouron, vergiss das nicht. Wenn du mir nicht folgst, bin ich gezwungen auszuführen, was das Schicksal für dich vorgesehen hat.«

»Letivahr!« Glamouron seufzte und barg das Gesicht in den Händen. »Ich spüre die Sorge und den Schmerz in seiner Stimme …« Er ballte die Fäuste und sah Naemy an. Verzweiflung und Kummer lagen in seinem Blick, und die Nebelelfe fühlte, wie er mit sich rang. »Gibt es denn keinen anderen Weg?«, fragte er gequält.

»Nur diese beiden!« Es brach Naemy fast das Herz zu sehen, wie Glamouron litt, doch noch mehr bangte sie darum, wie er sich entscheiden würde. »Komm mit mir oder entscheide dich für den Tod.« Das klang so hart, dass Naemy sich dafür verachtete. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, würde sie es niemals fertigbringen, Glamouron zu töten. Doch das durfte sie ihm nicht zeigen und so verbarg sie die wahren Gefühle sorgsam hinter einer ernsten Miene. »Verschließ deine Gedanken vor den Rufen«, bat sie mit bebender Stimme und fügte ganz leise hinzu: »Bitte! Ich könnte es nicht ertragen, dich wieder zu verlieren.«

»Oberster Druide, ich bringe traurige Kunde.« Rurik versagte die Stimme. Das Gesicht von Kummer gezeichnet, trat er auf Anthork zu, der hinter einem ungeordneten Stapel aus Büchern und Pergamenten an dem wuchtigen Tisch in seinem Arbeitszimmer saß. »Der Kurierreiter Glamouron und … meine Chiriga sind tot.«

»Tot?« Fassungslos legte der oberste Druide die Schriftrolle, die er gerade studiert hatte, zur Seite, erhob sich und trat auf Rurik zu. »Bei den Toren, wie konnte das geschehen?«, rief er aus, während er den Kurierreiter zu den beiden gepolsterten Stühlen am Kamin führte. »Nimm Platz«, sagte er mitfühlend und deutete auf einen der Stühle. Die tragische Nachricht traf ihn völlig unvorbereitet und es verlangte ihn danach, mehr zu erfahren. Geduldig wartete er, bis Rurik sich gesetzt hatte, und fragte dann: »Wann ist das geschehen? Gestern erteilte ich Glamouron den Auftrag, mit Letivahrs Hilfe den vermissten Spähtrupp zu suchen, der an den Hängen der Valdor-Berge nach feindlichen Kriegern Ausschau halten sollte. Ich hoffte, er würde etwas finden, wenn er das Gelände in großer Höhe überflöge.«

»Das … das hat er auch getan«, berichtete Rurik stockend. »Doch da Letivahr sich zu jener Zeit nicht in den Höhlen aufhielt, flog er mit Chiriga aus. Die letzte Nachricht, die wir von den beiden erhielten, lautete, dass sie die Männer gefunden hätten – oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Wie Chiriga mir durch Gedankensprache mitteilte, entdeckten sie die Überreste des Spähtrupps auf einer Lichtung südlich von Nimrod. Chiriga berichtete, dort habe ein Kampf stattgefunden, bei dem all unsere Leute ums Leben kamen. Danach …« Er seufzte und holte dann tief Luft, als müsste er für das, was nun folgte, erst die nötigen Kräfte sammeln. »Sie … sie sagte noch, dass sie sich auf den Rückweg machen würden. Dann brach ihr Bericht ab.« Verzweifelt schüttelte Rurik den Kopf, als könnte er den ganzen schrecklichen Verlust noch immer nicht begreifen, und fuhr fort: »Als die beiden am Morgen immer noch nicht zurückgekehrt waren, machte ich mich mit Letivahr auf die Suche. Der Riesenalp war voller Sorge. Er hatte die ganze Nacht versucht, mit dem Nebelelfen in Gedankenverbindung zu treten, doch Glamouron antwortete nicht.« Er schluckte schwer und blickte den obersten Druiden voller Trauer an. »Wir haben sie gefunden. Zuerst sahen wir die Leichen der Krieger auf der Lichtung. Alles war so, wie Chiriga es beschrieben hatte. Doch dann entdeckte Letivahr eine dünne Rauchsäule, die kaum sichtbar über dem Wald aufstieg. Der Rauch stammte von einem verlassenen Lagerfeuer und daneben … oh, verdammt …!« Er wischte sich über die Augen. »Von Glamouron fehlte jede Spur. Doch daneben lag Chiriga. Wir konnten nicht landen, doch selbst aus der Entfernung sah ich, dass man sie entsetzlich zugerichtet hatte. Ihr Körper war aufgeschlitzt und die bleichen Knochen leuchteten im Sonnenlicht. Die Krieger hatten …« Angesichts der schrecklichen Erinnerung versagte Rurik die Stimme. Dann fasste er sich, holte tief Luft und sagte sichtlich erschüttert: »Was müssen das für grausame Kreaturen sein! Rings um das Feuer lagen Fleischreste und abgenagte Knochen. Sie … sie haben Chiriga geschlachtet und ihr Fleisch roh verzehrt. Letivahr hat … Ich … Ich konnte nicht … Ach verdammt …!« Nun war es um Ruriks Beherrschung geschehen. Tränen stiegen ihm in die Augen und er konnte nicht mehr weitersprechen.

Der oberste Druide stand auf, ging zum Tisch und kehrte gleich darauf mit einem silbernen Weinkelch zurück. »Ich verstehe deinen Schmerz«, sagte er leise und legte Rurik tröstend die Hand auf die Schulter. »Ein solcher Verlust ist nur schwer zu ertragen, und die Frage nach dem Warum begleitet uns oft noch viele Mondläufe. Aber bei aller Trauer um den Verlust sollten wir auch stolz auf Chiriga sein. Sie überwand ihre Trauer um Numair und ist geflogen, um den Kriegern des Spähtrupps zu helfen. Wie Glamouron hat sie ihr Leben ohne Zögern für diese Männer aufs Spiel gesetzt und uns damit einen großen Dienst erwiesen.« Er reichte Rurik den Weinkelch und fügte hinzu: »Es sind schlimme Zeiten, und es schmerzt mich, dass Chiriga und Glamouron der dunklen Bedrohung so früh zum Opfer gefallen sind, doch sei gewiss, ihr Tod wird nicht ungesühnt bleiben.«

»Darauf könnt Ihr Euch verlassen!« Rurik griff nach dem Kelch und tat einen großen Schluck. Als er Anthork den Becher zurückreichte, waren der Blick und die Stimme des Kurierreiters voller Hass. »Für Chirigas und Glamourons Tod werden diese Bestien teuer bezahlen«, zischte er ungehalten. »Letivahr und ich werden sie so lange bekämpfen, bis die grausame Schandtat gerächt ist. Und bei der Göttin, ich werde nicht eher ruhen, bis jeder dieser verfluchten Krieger an seinem Blut erstickt. Entschuldigt mich!« Er stand auf und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzublicken.

Anthork seufzte, setzte sich und sah Rurik schweigend nach, während er den Weinkelch gedankenverloren in den Händen drehte. Die Stirn des obersten Druiden war von Sorgen umwölkt und er atmete schwer.

Die Nachrichten vom Tod des Elfenkuriers, dem ausgelöschten Spähtrupp und dem schrecklichen Ende des Riesenalps waren nicht die einzigen niederschmetternden Meldungen, die er an diesem Morgen erhalten hatte.

Er wusste, wie schlecht es um die Verteidigung Nimrods bestellt war, hielt diese Erkenntnis aber geheim und verbreitete Zuversicht, wann immer es nötig war. Dennoch, der Feind war übermächtig. Wenn Nimrod überhaupt verteidigt werden konnte, würden die Verluste gewaltig sein.

»O Göttin, welch unsägliche Last hast du auf meine Schultern gelegt!«, seufzte Anthork und ihn überkam das dringende Bedürfnis zu beten.

8

Der letzte Morgen vor dem Angriff graute über den Graten und Gipfeln der Valdor-Berge mit einer kalten Entschlossenheit, die weder heiter noch willkommen war. Kein einziger wärmender Sonnenstrahl durchbrach die tief hängenden Wolken, die in der Nacht heraufgezogen waren und sich an den steilen Hängen auftürmten. Ein dichter Nebel, der sich über der Ebene gebildet hatte, verbarg das Gelände, auf dem sich die schwarzen Krieger zum Sturm auf die Festungsstadt bereitmachten, selbst vor den scharfen Augen der Elfen, die auf den Zinnen Wache hielten.

Die Luft war von einer schwermütigen Erwartung erfüllt, die sich wie ein dämpfendes Tuch über alles gebreitet hatte. Nichts rührte sich auf der Ebene und in den angrenzenden Wäldern, und auch hinter den Mauern der überfüllten Festungsstadt schien das Leben in gespannter Ruhe erstarrt zu sein.

Und es war kühl! Eine unnatürliche, seelenlose Kälte kroch von Westen her über die Ebene, erklomm die Mauern der Festungsstadt und strich mit eisigen Fingern über die ungeschützten Gesichter der Krieger. Nestelnd, lockend und verhöhnend. Die Berührung trug die Vorahnung des nahen Todes in sich, und so mancher auf den Zinnen fühlte sich plötzlich von jener Angst überwältigt, welche die Magie der Druiden viele Sonnenläufe lang unterdrückt hatte. Schon nagten die ersten Zweifel an den erschöpften Gemütern der Verteidiger – Zweifel, die sich in der lastenden Stille unheilvoll mit dem wachsenden Gefühl einer namenlosen Furcht paarten.

Fast unmerklich ging der Morgen in das Grau des Mittags über und die drückende Stimmung blieb bestehen. Selbst als die Riesenalpe vermeldeten, dass sich die schwarzen Krieger zu formieren begannen, änderte sich nichts daran, obwohl die Unruhe in den Wäldern ein untrügliches Zeichen dafür war, dass der Angriff unmittelbar bevorstand.

Gutturale Rufe erklangen zwischen den Bäumen und das Klirren der Waffen und Rüstungen hallte unheilvoll durch den zähen Nebel, doch in der Festungsstadt blieb alles ruhig.

Die Tore waren fest verriegelt, die Ausbildung der eilig rekrutierten Männer abgeschlossen und das letzte Stück Metall in den Schmelzöfen der Schmieden zu Pfeilspitzen verarbeitet. Unzählige Feuerstellen hinter den Festungsmauern harrten des zündenden Funkens, der die gewaltigen Töpfe mit Öl zum Sieden bringen würde, und Tausende blitzender Schwerter warteten in den verkrampften Händen der Verteidiger darauf, ihr blutiges Werk zu beginnen.

Alles war bereit.

Das Gesicht von tiefer Sorge gezeichnet, schritt Anthork, der oberste Druide, über den Platz vor der inneren Festung, auf dem sich noch vor Kurzem die neuen Rekruten im Umgang mit Schwert und Bogen geübt hatten. Jetzt war er wie leer gefegt. Die Verteidiger Nimrods hatten schon am Vorabend Stellung am Fuß der Festungsmauer bezogen und erwarteten den bevorstehenden Angriff. Dank der Magie glaubten die meisten von ihnen noch immer fest daran, den Feind abwehren zu können, doch Anthork wusste, dass dies nur ein Trugbild war.

Tief im Innern schämte er sich dafür, den Kriegern die Wahrheit zu verschweigen und sie unter falschen Voraussetzungen in den Kampf zu schicken, doch Furcht war im Kampf ein schlechter Gefährte, und im Mut jedes Einzelnen lag die letzte Hoffnung für das Land. Wenn jeder unerschütterlich auf dem Posten blieb und sich den Willen zum Sieg bewahrte, erhielten sie sich zumindest den Anschein von Zuversicht, welche die Menschen in Nimrod dringend benötigten.

Betrübt schüttelte Anthork den Kopf. Der Spähtrupp, den er ausgesandt hatte, um den geheimen Fluchtweg aus der Festungsstadt von den Valdor-Bergen aus zu erkunden, hatte seine Aufgabe nie erfüllen können. Die Krieger waren tot und es blieb keine Zeit, einen weiteren Erkundungstrupp auszusenden. Damit war der Plan gescheitert, die Menschen auf jenem geheimen Pfad, von dem die alten Aufzeichnungen berichteten, durch das Gebirgsmassiv in Sicherheit zu bringen. Nimrod war zu dem geworden, was böse Zungen längst behaupteten – eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab.

Ein letztes Mal hatte Anthork in der vergangenen Nacht alle Keller, Gewölbe und Gänge unter der Festungsstadt auf eine verborgene Tür oder einen magisch verschlossenen Durchgang absuchen lassen – vergeblich. Nirgends hatte sich ein Hinweis auf den Fluchtweg gefunden, und alle Hoffnungen, zumindest den Frauen und Kindern ein winziges Schlupfloch aus Nimrod bieten zu können, falls die Mauern fielen, waren damit zerstört worden.

Nicht zuletzt deshalb hatte Anthork noch in der Nacht den magischen Bann, der alle Zweifel und Befürchtungen unterdrückte, auf ganz Nimrod ausgedehnt. Wohl wissend, dass er damit Kräfte nutzte, die er später im Kampf noch dringend benötigen würde, hatte er gewaltige Energien heraufbeschworen, um den Kampfesmut der Krieger zu stärken, denn er wusste, dass die mächtigste Waffe der Verteidiger in der Entschlossenheit lag.

Anthork nickte und seufzte leise. Er hatte richtig gehandelt, selbst wenn der Zauber ihn geschwächt hatte. Auch weiße Magie hatte ihren Preis. Doch das war es nicht, was ihm das Herz schwer machte. Ihn plagte etwas anderes.

Am frühen Morgen hatte er zum zweiten Mal das Heiligtum der Gütigen Göttin aufgesucht, um zu beten und die Göttin um Beistand für die Krieger zu bitten.

Wie er es schon Dutzende Male getan hatte, wenn der Regen ausblieb oder die Ernte schlecht ausfiel, hatte er sich mittels Meditation in eine tiefe Versenkung begeben und auf ein Zeichen gewartet. Ein Zeichen, das den bedrängten Menschen Hoffnung geben konnte oder ihnen gar offenbarte, dass die Gütige Göttin ihnen helfen würde –, doch was er auch getan hatte, die Göttin war stumm geblieben.

Keine Vision, keine Eingebung, nicht einmal ein Bild, das die Gelehrten hätten deuten können, war ihm während der langen Zeit zuteilgeworden – nichts! Alles, was er gespürt hatte, war ein beängstigendes Gefühl der Leere gewesen, gerade so, als beträte er einen verlassenen Raum.

Anthork erschauerte. Konnte das wirklich sein? Hatte die Göttin ihr Volk verlassen? Hatte sie, die die Geschicke des Landes seit Menschengedenken lenkte, das Land angesichts der übermächtigen Bedrohung einfach im Stich gelassen? Aber warum? Hatten sie die Göttin womöglich verärgert, ohne es zu ahnen?

Fragen über Fragen, auf die Anthork keine Antwort wusste. Fragen, die er mit niemandem, auch nicht mit den anderen Druiden, teilen durfte. Der Glaube an den Sieg, an die Unbezwingbarkeit der Mauern und in die eigenen Kräfte war alles, was die Menschen hatten. Wer zweifelte, war schwach, und Schwäche machte verletzlich. Zweifel waren wie ein schleichendes Gift, das die Moral der Krieger untergrub und es den Angreifern leicht machen würde, zu siegen.

Der oberste Druide ballte entschlossen die Fäuste. Bisher war er der Einzige, der das Schweigen der Göttin bemerkt hatte ––