ELISABETH HERING

Schatten Gottes auf Erden


HISTORISCHER ROMAN

Inhalt

Vorwort

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Erläuterungen

Impressum

Ich schreibe dieses Buch für Köváry György, den Sohn, der meinen Namen trägt, in dessen Adern mein Blut fließt und der mich nicht kennt – so wenig, wie ich ihn kenne.

Er wächst auf in der Obhut seiner Mutter und ihrer Verwandten, und sie werden ihm wenig von mir erzählen. Doch was sie ihm sagen, wird mich in ein falsches Licht setzen. Ich mache seiner Mutter deswegen keine Vorwürfe, denn auch sie kannte mich nicht – aber daran war kein anderer schuld als ich selber.

Ich hätte Margit nicht heiraten dürfen, denn ich liebte sie nicht. Doch die, die ich liebte – was hatte sie mir angetan! Nicht, dass sie meine Liebe nicht erwidert hätte, das wäre zu ertragen gewesen. Einer, der sich an eine Frau verliert, die nichts von ihm wissen will, ist in meinen Augen kein Mann. Aber dass sie im entscheidenden Augenblick versagte, unsere Liebe verriet und mit Füßen trat, ließ das schöne Bild, das ich von ihr im Herzen trug, in Stücke springen wie eine Statue, auf die ein Felsblock fällt: Man hatte gedacht, sie wäre aus Marmor und ein Stoß könnte sie wohl umstürzen, doch nicht zertrümmern – aber sieh da, sie war nur aus Gips gewesen und lag nun, ein Zerrbild ihrer selbst, im Sande. Nein, Etelka, du Tochter des Grafen Losonczy und Nichte des Woiwoden von Siebenbürgen, du warst es nicht wert, die Frau von Köváry Istváns Bastard zu werden!

Und dann Margit. War es eine Sünde, dass ich sie zu mir nahm, weil ich vergessen wollte? Eine Sünde, dass ich das Mitleid, das ich mit ihr empfand, für Liebe hielt? Mit der Rute züchtigte ihr jähzorniger Vater sie aus dem geringfügigsten Anlass, obwohl sie schon über siebzehn war, und ich sah sie nach einer solchen Strafe, zitternd in ohnmächtiger Empörung, in der Scheune stehn, wohin sie sich verkrochen hatte, um sich auszuweinen. Sollte ich sie da nicht in die Arme schließen?

Sie wurde mir natürlich nicht verweigert, war ihr Vater doch nur ein Pächter auf einem der vielen Güter Hunyadis und ich in seinen Augen ein »Herr«.

Aber ich bereute bald, was ich getan hatte, denn nachdem ich keinen Grund mehr hatte, Margit zu bemitleiden, fühlte ich, wie wenig sie mir bedeutete. Nein, ich schlug sie nicht. Warum auch? Gab sie sich nicht alle Mühe, mir zu Gefallen zu sein? Aber ich beachtete sie wenig und immer weniger, denn sie konnte sich in ihre neue Umgebung nicht hineinfinden.

Was für einen Gesprächsstoff gab es zwischen ihr und mir, zwischen ihr und meinen Bekannten?

Doch je mehr ich sie vernachlässigte und je mehr sie darunter litt, desto mehr versuchte sie, meine Beachtung zu erzwingen, und dazu verfiel sie auf das unklügste Mittel, das sie hätte finden können: Immer lag sie mir wegen irgendwelcher Nichtigkeiten in den Ohren, beklagte sich über alles und jedes, und ihr Jammern nahm kein Ende. Das wurde mir mit der Zeit so lästig, dass ich sie schließlich verließ. Ja, ich habe mich ihr gegenüber schuldig gemacht, und das bedrückt mich noch heute. Denn im Grunde ihres Herzens war sie ein guter Mensch. Nie ging ein Bettler unbeköstigt aus unserem Hause, nie versäumte sie, in Not geratene Verwandte zu unterstützen, lieber versagte sie sich selber etwas, als einen noch so entfernten Vetter oder eine betagte Muhme im Stich zu lassen. Und ihren Vater, der bald darauf bettlägerig wurde, nahm sie zu sich und pflegte den mürrischen, launischen, ständig aufbrausenden alten Mann mit rührender Geduld. Und, was ich am meisten an ihr schätzte: Nie habe ich sie sich an einem Weibertratsch, an übler Nachrede beteiligen hören.

Sie wird auch über mich kein schlechtes Wort verlieren. Eher mich verteidigen, wenn andere mich angreifen. Aber was kann sie schon vorbringen, um meinen Neidern und Feinden den Mund zu stopfen?

Am meisten schuldig gemacht aber habe ich mich gegenüber meinem Sohn. Er saß auf meinen Knien, als er noch nicht sprechen konnte, und jauchzte, wenn ich ihm Schaukellieder sang. Doch als er jemanden brauchte, der seinen Geist weckte, der ihn einführte in den Irrgarten dieser Welt und ihn lehrte, die in allen Farben prangenden Giftgewächse von den unscheinbaren Heilpflanzen zu unterscheiden, da ließ ich ihn im Stich.

Ich schreibe dieses Buch aber nicht, um zu beschönigen, was ich tat. Die echten Töne lassen sich immer von den unechten unterscheiden, wenn man ein feines Gehör dafür hat. Und das, so hoffe ich, hat mein Sohn von mir geerbt. Nein, ich hinterlasse ihm diese Blätter, in denen meine Kindheitserinnerungen ebenso getreu und wahrheitsgemäß verzeichnet sein sollen, wie ich mit meinen Taten und Unterlassungen zu Gericht gehn und meine Gedanken und Urteile über Menschen und Ereignisse festhalten will, weil ich hoffe, ihm damit etwas von dem abstatten zu können, was ich ihm schuldig geblieben bin.

Erster Teil

Die ersten Bilder, die sich mir in der Kindheit eingeprägt haben, stammen aus Samarkand. Es ist ein weiter Weg von dem Gutshof der Kövárys, der zwischen den beiden Kokeln in dem schönen Lande Siebenbürgen gelegen ist, bis zu dieser Stadt, deren Namen in Ungarn kaum jemand kennt – ein weiter, heißer und gefährlicher Weg, und mein Vater ist ihn nicht freiwillig gegangen. Aus eigenem Willen freilich und sehr gegen den seines Vaters eilte er den Fahnen des Königs Sigismund zu, als dieser ein Kreuzfahrerheer gegen die Türken ins Feld führte, denn der alte Köváry war der Meinung, der ungarische Adel sei dem König nicht dienstpflichtig, wenn außerhalb des Vaterlandes gefochten werde, und das Leben seines einzigen Sohnes zu schade, um für ein königliches Abenteuer aufs Spiel gesetzt zu werden.

Das aber war die Ansicht meines Vaters nicht. Hatte nicht der Türke Serbien, Bulgarien und Mazedonien erobert? Sollte man warten, bis er die Donau überschritt und seinen Halbmond auf der Ofener Burg aufpflanzte?

Siebzehn Jahre alt war mein Vater damals, kräftig, ein Draufgänger, in allen Pferdesätteln zu Hause. Mit einigen Burschen, die ihm an Verwegenheit nicht nachstanden, Hörigen seines Vaters, die mitzunehmen er sich berechtigt fühlte, machte er sich bei Nacht und Nebel auf den Weg und traf in der Königsburg ein, gerade als Sigismund seine Scharen beisammen hatte.

Ich weiß nicht, wodurch mein Vater die Aufmerksamkeit des Königs auf sich lenkte: durch die gute Figur, die er zu Pferde machte, durch seine Gewandtheit im Fechten oder durch eine der schlagfertigen Antworten, wie er sie auf jede Frage zu geben wusste – genug, es dauerte nicht lange, da reihte Sigismund ihn in seine Leibgarde ein.

Und mein Vater war es dann auch, der ihm in der unglücklichen Schlacht bei Nikopolis das Leben rettete. Denn als der König sich schon zur Flucht gewandt hatte und einer der türkischen Reiter die Verfolgung aufnehmen wollte, preschte er vor und versperrte mit seinem Pferd dem Türken den Weg. So geriet er in Gefangenschaft, aber der König entkam.

Das war die erste Etappe meines Vaters auf seinem Wege nach Samarkand. Vielleicht die Gefährlichste. Denn Bajazids Wut über die Verluste, die das christliche Heer dem seinen zugefügt hatte, war so groß, dass er befahl, am nächsten Morgen alle überlebenden Feinde vor ihn zu bringen. Und jeder Mann aus dem türkischen Heer, der Gefangene gemacht hatte, musste sie fesseln und vorführen und ihnen vor den Augen des Sultans den Kopf abschlagen.

So wurde auch mein Vater, zusammen mit drei anderen, an Stricken zum Hinrichtungsplatz geführt. Doch als die Reihe an ihn kam, hob er wie in einer Trotzgebärde den Kopf und sah den Sultan an. Da machte der eine Handbewegung, und der Akindschi, der den Säbel schon aus der Scheide gezogen hatte, steckte ihn zurück: Bajazid ließ keinen töten, der noch nicht zwanzig Jahre alt war, und mein Vater war erst siebzehn – das stand ihm im Gesicht geschrieben.

Man brachte die wenigen christlichen Gefangenen, die dem furchtbaren Blutbad entronnen waren, in die Stadt Gallipoli, warf sie in einen Turm und hielt sie dort zwei Monate in Gewahrsam. Dann lud man sie auf ein Schiff, schaffte sie nach Anatolien und reihte sie dem türkischen Heere ein. So wurde aus Köváry István der Janitschare Kükülli.

Er lernte das Türkische schnell. Und auch das, was man sonst von ihm verlangte, fiel ihm nicht allzu schwer. Seine Kameraden zeigten ihm, wie er sich bei den täglichen Gebetsübungen zu verhalten hatte: wann er die Arme heben, wann er sich verbeugen, wann sich zu Boden werfen musste. Erst machte er ihnen alles blindlings nach, wenn sie sich zum Gebet wie in einer Schlachtordnung aufgestellt hatten, dann aber gingen ihm die mit militärischer Genauigkeit ausgeführten Bewegungen so in Fleisch und Blut über, dass er sich selbst im Traum darin ganz sicher fühlte. Sogar die Worte, die der Vorbeter halb singend sprach und die man ebenso zu wiederholen hatte, wurden ihm vertraut, obwohl er sie nicht verstand (denn arabisch muss ja der Koran rezitiert werden!), aber hatte er je den Sinn der lateinischen Worte verstanden, wenn in Ungarn die Pfaffen ihre Litaneien sangen? Und kam es überhaupt darauf an, dass man verstand? Und nicht vielmehr darauf, dass man sich einreihte – hineinwuchs in eine Ordnung, die dadurch Gültigkeit hatte, dass sie eine Gemeinschaft zusammenfügte?

Janitscharen. Ja, sie waren eine Gemeinschaft. Zusammengeraubte Knaben aus allen von den Türken heimgesuchten Ländern der Christenheit, kannten sie keinen Vater, keine Mutter, keine Heimat, keine Familie, kein Vaterland. Türken wurden ihre Erzieher, im Islam wuchsen sie heran, verloren ihren Christenglauben, vergaßen ihre Muttersprache. Ganz oder doch fast ganz.

Der Sultan wurde ihr Vater, die Orta ihre Familie, der Ortschak ihre Heimat, das Feldlager ihr Vaterland, der Krieg ihr Gewerbe, der Islam ihr Glaubensverband. Eine verschworene Gemeinschaft waren sie, die jeden, der in ihre Reihen trat, wie einen Blutsbruder aufnahm, aber auch jeden, der aus der Reihe sprang, wie einen Abtrünnigen hassten und bis in den Tod verfolgte.

Als Christ war mein Vater in ihre Gewalt geraten. Den Tod hatten sie über ihn verhängt. Als Moslem ließen sie ihn auferstehen.

Während ich dieses niederschreibe, ist mir zumute, als hätte ich es selbst erlebt, so deutlich fühle ich in meiner eigenen Seele den Schmerz, den ein solcher Umbruch im Innern eines Menschen erzeugt. Was für eine Macht gibt es, die in einem kräftigen, gesunden jungen Körper gebieterischer wäre als der Wille zum Leben? Und er befahl meinem Vater: Füge dich jenen, die Gewalt über dich haben! Aber eine feinere Stimme, die dennoch unüberhörbar war, flüsterte mahnend und gleichzeitig tröstend: das alles ist nur außen. Innen kannst du bleiben, der du immer warst. Bewahre dein Leben, dann wirst du ihnen eines Tages schon entkommen.

Diese Hoffnung erfüllte sich meinem Vater fürs Erste freilich nicht. Denn Bajazid vermochte seinen Sieg über die Christen nicht auszunützen, nicht weiter in ihre Länder vorzustoßen, da ein anderer, noch mächtigerer Feind ihn im Rücken bedrohte. So blieb es meinem Vater erspart, gegen ehemalige Waffengenossen zu Felde ziehen zu müssen, wurde ihm aber auch unmöglich gemacht, zu ihnen überzulaufen.

Nachdem sich der Sultan von seinen Verlusten erholt und seine Truppen neu formiert hatte, musste er sie über den Bosporus werfen und in Gewaltmärschen nach Osten eilen, da der Emporkömmling Timur, der lahme Tatare, der sich zum Herrscher Mittelasiens aufgeschwungen hatte und gleich einem Dschingis-Chan die Welt zu erobern trachtete, in Anatolien eingefallen war.

Bei Angora stießen die beiden Heere aufeinander. Aber Bajazid wurde geschlagen und geriet samt seinem Harem in die Gefangenschaft des Tataren. Und auch mein Vater entging diesem Schicksal nicht.

Das war die zweite Etappe auf seinem Wege nach Samarkand.

Die Dritte war Georgien.

Der Winter stand vor der Tür, und Timur wusste für sich und seine Krieger etwas Besseres, als im unwirtlichen Mittelasien den Schneestürmen standzuhalten. Er nahm also seinen Weg durch dieses unglückliche Land, das, von hohen Gebirgen vor den Unbilden des Wetters geschützt, mit seinem milden Klima, seiner Fruchtbarkeit, seinen Schätzen, die es dem Fleiß seiner Bewohner verdankt, immer wieder beutegierige Feinde anlockt, und das auch er bereits viermal heimgesucht und verheert hatte. Der Sultan, sein gefangener Feind, den er in einer vergitterten Sänfte wie in einem Käfig hinter sich herschleppen ließ, starb freilich unterwegs, aber die Frauen seines Harems, die mit ihrem Herrn in die Hand des Tataren geraten waren, mussten dem Sieger folgen über Berg und Tal.

Mein Vater gehörte zu jenen Gefangenen, die zu ihren Sänftenträgern ausersehen waren. Sie schleppten die schwere Last über Stock und Stein, und wehe dem, der zusammenbrach. Es wurde dafür gesorgt, dass er nicht wieder aufstand. Als sie in Georgien ankamen, hatte kaum die Hälfte von ihnen den Weg überstanden.

Die erste Rast machten sie in einer halb zerstörten Stadt, deren Bewohner geflüchtet waren. Die Frauen erhielten Quartier in einem der wenigen noch unbeschädigten Häuser – es war dies ein festes steinernes Gebäude mit vergitterten Fenstern. Hier erst wurden auch den Sänftenträgern die Fesseln abgenommen, die sie während des ganzen Marsches hatten tragen müssen. Da die tatarischen Posten Tag und Nacht vor dem Haus Wache standen, war ein Entkommen der Gefangenen nicht zu befürchten.

Der schlaue Timur ließ seine Gefangenen keinen Mangel leiden. Wusste er doch, dass er für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen Sorge tragen musste, wenn er ein entsprechendes Lösegeld erhalten wollte – für Tote konnte er keines erwarten.

Die Kriegsgefangenen hatten die Frauen zu bedienen. Das Essen war reichlich, und selbst Wein kam immer auf den Tisch, setzen sich doch die muselmanischen Herrscher über keines der Korangesetze so gern hinweg wie über jenes, das dessen Genuss verbietet.

Mein Vater erhielt den Auftrag, den Keller zu überwachen, in dem eine Reihe Weinfässer stand, die zum größten Teil gefüllt waren. Mit seinem Kopf hatte er dafür zu bürgen, dass kein Unbefugter sich darüber hermachte, und so schlug er sein Nachtlager in diesem Weinkeller auf, hütete sich aber, selbst auch nur einen Schluck des Weines zu sich zu nehmen, denn nichts hätte ihm gefährlicher werden können als ein fester Schlaf, wie ihn ein guter Tropfen mit sich bringt.

So schreckte er eines Nachts auf durch ein verdächtiges Geräusch. Er griff nach dem Öllämpchen, das er ständig neben sich am Brennen hielt, und trat in den Kellergang. Da sah er ganz deutlich etwa zwanzig Schritte vor sich entfernt eine weiße Gestalt stehen.

»Die weiße Frau!« schoss es ihm durch den Kopf. Zu Hause hatten ihm die Mägde ihre Schauergeschichten von dieser Gespenstererscheinung erzählt: Wer ihr begegne, werde eines frühen, gewaltsamen Todes sterben. Als Kind hatte er sich maßlos vor ihr gefürchtet, als heranwachsender Jüngling darüber gespottet und gelacht, nun aber, da er sie vor sich sah, dauerte es doch eine Weile, bis er sich ein Herz fasste und auf sie zuging. Doch ehe er sie erreichen konnte, war sie verschwunden.

Da stieg ein Grauen in ihm hoch, und fast wäre das Öllämpchen seinen Händen entglitten. Aber als er sich wieder gefasst hatte, beschloss er, die Wände des langen Kellerganges genau abzusuchen, ob er vielleicht irgendwo eine Nische entdecken könne, in der sich jemand versteckt hielt. Das gelang ihm zwar nicht, doch als er mit den Händen die Wände abtastete, blieben seine Finger in einer Mauerritze stecken, und ein Stein löste sich plötzlich und fiel ihm auf den Fuß, sodass er einen Fluch ausstieß. Er stellte sein Öllämpchen in die Mauerlücke und erkannte staunend, dass sich dahinter ein Raum ausdehnte, in den das Licht seinen hellen Kegel hineinwarf. Und die weiße Gestalt wandte ihm ihr Gesicht zu, ein schönes, junges Mädchengesicht, aus dem ihn zwei von tödlichem Erschrecken weit aufgerissene schwarze Augen anstarrten. Über die Nähe der Erscheinung betroffen, schlug er unwillkürlich ein Kreuz und sagte zur Beschwörung: »Jesus Christus!« wie er es von Kind an gewöhnt war. Da bewegte auch sie die Hände zum Zeichen des Kreuzes und flüsterte mit bebenden Lippen: »Amen.«

Das war die erste Begegnung, die meine Eltern miteinander hatten.

Meine Mutter war die Tochter jenes georgischen Hauses und das einzige Kind eines reichen Kaufmanns, der, früh verwitwet, mit ganzer Seele an ihr hing. Da er oft auf Reisen sein musste, hatte er ihr zuliebe dieses Kellerversteck angelegt, heimlich des Nachts dort arbeitend ohne jegliche Hilfe, damit es niemanden gebe, der es verraten könne. Als er damit fertig war, nahm er die Tochter an der Hand, führte sie hinunter und zeigte ihr die geheime Stelle, wo sich die Mauersteine aus der Wand lösen ließen und einen kleinen Durchschlupf freigaben, zeigte ihr auch die Vorräte an Mehl und getrocknetem Obst, an Dörrfleisch und Wein, die er in großen irdenen, in die Erde eingelassenen Gefäßen aufbewahrt hatte, und sagte: »Sollten jemals während meiner Abwesenheit Feinde in unsere Stadt eindringen, so setze dich keinesfalls den Gefahren einer Flucht aus, sondern warte hier, bis ich wiederkomme.«

Und so war es geschehen. Die Dienerschaft, beim Herannahen der Feinde kopflos geworden, hatte das Weite gesucht, ohne das Verschwinden ihrer jungen Herrin zu beachten, die Stadt, deren Verteidigungswerke ohnehin zerstört waren, wurde von den meisten ihrer Bewohner verlassen, und das arme sechzehnjährige Kind saß allein in ihrem selbst gewählten Gefängnis und verzehrte sich in Angst und Sorge.

Was meine Mutter damals bewog, ihr Versteck zu verlassen, ob sie einen Erkundungsgang wagen wollte, ob eine innere Unruhe sie erfasst hatte, derer sie auf andere Art nicht Herr werden konnte – sie hat es mir nicht erzählt. Ich aber kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass es das Schicksal war, das die beiden Menschen zusammenführen wollte.

Wenn sich ein Dichter fände, der ihre Liebesgeschichte in so schöne Verse bringen wollte, wie Schota Rustaweli die Tariels und Nestan-Daredshans oder Meister Gottfried von Straßburg die Tristans und Isoldes, würden István und Nino als Liebespaar wohl nicht weniger berühmt werden, als jene es sind. Mir aber ist diese herrliche Kunst leider versagt, und ich kann nichts anderes tun, als mit dürren Worten ihren Lebensweg zu verfolgen, damit, wenn die Welt auch nichts von ihnen erfährt, doch wenigstens ihre Nachkommen ihn kennenlernen.

Sprechen konnten die beiden zu der Zeit noch nicht miteinander, denn weder verstand mein Vater Georgisch noch meine Mutter Ungarisch oder Türkisch. Aber mein Vater holte aus der Küche reichliche Mengen gekochter Speisen in seinen Keller hinunter, die er, wenn alles schlief, seiner Taube in den Käfig trug (wie er es bei sich nannte). Und allmählich verlor meine Mutter die Angst vor ihm. Doch wenn er ihr die Speisen durch die Maueröffnung gereicht hatte, rührte sie nichts an, ehe er das Kreuzeszeichen darüber gemacht hatte, wie zur Besiegelung eines stillschweigenden Gelübdes, dass er ihr nichts zuleide tun wolle.

Wenn sie dann gegessen hatte, entfernte er sich wieder. Nie drang er in ihr Versteck ein. Nicht, dass er kein Verlangen nach ihr verspürt hätte. Aber da sie ihm so schutzlos ausgeliefert war, siegte seine Ritterlichkeit über sein Begehren.

Verabschieden konnte er sich nicht von ihr. Plötzlich, eines Tages, wurde zum Aufbruch geblasen. Wieder wurden ihm Ketten angelegt, wieder ihm unmenschliche Strapazen und Leiden aufgebürdet, denen er kraft seines unbändigen Lebenswillens widerstand. Endlich war alle Mühsal des Weges überstanden: Die Gebirge überstiegen, die Ströme überquert, die Wüsten durchschritten – und plötzlich sah er die azurnen Kuppeln von Moscheen und Medresen aufragen, die vor ihm noch niemals ein Ungar erblickt hatte, Kuppeln, die mit der Bläue des sich im hohen Bogen über ihnen hinschwingenden Himmelsgewölbes wetteiferten! Da meinte er, es müsse eine Délibáb sein, wie er sie einst auf seinem Ritt durch die ungarische Puszta vor Augen gehabt hatte. Aber nein, keine Täuschung, kein Trugbild: Bauten von Menschenhand, aus Ziegeln errichtet, mit glasierten Kacheln verziert, Türme, so schlank und hoch, wie kein Gewächs der Erde sie überragen, Mauern, so breit und fest, wie kein Feind sie zu stürmen vermöchte: Samarkand war es, die Hauptstadt Timurs, den seine Feinde den Lahmen nannten. Doch seine Heerscharen, die ihm zujubelten und jedem Wink seiner Augen gehorchten, die er von Sieg zu Sieg geführt und mit Beute über Beute beladen hatte, sagten, einen mächtigeren Herrscher als ihn habe es seit den Zeiten des Dschingis nicht mehr gegeben. Seine Zeichen waren Löwe und Sonne. Man nannte ihn den Schatten Gottes auf Erden. Mein Vater war ein Nichts in seiner Hand.

Von all den Janitscharen, die mit meinem Vater zusammen in die Hand des Tataren geraten waren und die Sänften der gefangenen Frauen immer tiefer ins Feindesland hineingetragen hatten, erreichte mein Vater als Einziger diese Stadt, die ihre Bewohner »die Pforte des Paradieses« nannten.

Auf dem Sklavenmarkt verkauft zu werden blieb meinem Vater erspart. Verbietet es doch der Koran, dass die Moslems ihre Kriegsgefangenen versklaven, sofern sie ihre Glaubensbrüder sind, und als einen solchen sahen die Tataren ihn an. Nur die aus Georgien und Armenien mitgeschleppten Christen erlitten diese Behandlung, und ihrer waren nicht wenige. Denn Timur konnte für seine Stadt nicht genug Handwerker bekommen, deren fleißige und geschickte Hände sich regen mussten, um die Pracht seiner Bauten und den Glanz seines Hofes zu erhöhen. Und wo hätte er Kunstfertigere finden können als in diesen christlichen Ländern?

Das Los meines Vaters war aber auch nicht viel besser als das jener Unglücklichen. Er kam in den Pferdestall und musste dort die niedrigsten Dienste verrichten.

Nun hatte sich mein Vater von Kindesbeinen an am liebsten auf Pferderücken getummelt, war auch oft genug dem alten Nonu zur Hand gegangen, einem Hörigen seines Vaters, der sich wie kein Zweiter auf Heilkräuter und Pferdekuren verstand, und hatte ihm so manchen Kunstgriff abgesehen. Bald sprach es sich herum, dass der Knecht Kükülli eine gute Hand hatte beim Warten der Pferde, und er wurde gerufen, wenn eine Stute sich schwer tat beim Abfohlen oder sich ein Renner am Huf verletzt hatte, und stets war er mit Rat und Tat zur Hand.

Gefesselt wurde er nicht mehr. Sein Entkommen war nicht zu befürchten. Die riesigen unwegsamen Wüsten, die das fruchtbare Land umgeben, hätte ein Einzelner unmöglich passieren können.

Er fand sich ab mit seinem Los. Er bekam satt zu essen, wusste, wo er sein Nachtlager aufschlagen konnte: sommers auf dem flachen Dach des Stalles, wo es luftiger und kühler war als in den stickigen geschlossenen Räumen, und als es Herbst wurde und Regenschauer aufs Land niedergingen, im Stall bei den Tieren. Dort war es auch im Winter erträglich warm, man musste sich nicht in Pelze hüllen und um ein Kohlenbecken scharen, wie es die Herrschaften in ihren Häusern taten.

Es war aber noch kein halbes Jahr vergangen, seit mein Vater seinen Fuß auf den lehmigen Boden jener Stadt gesetzt hatte, als Umstände eintraten, die sein Leben von Grund auf änderten.

Eines Tages wurde Timurs Leibross krank. Der Unermüdliche rüstete gerade zu einem neuen Feldzug. Die Länder des Westens und Südens lagen ihm schon zu Füßen: Bis nach Damaskus hatte ihn sein Siegeszug geführt, bis nach Delhi, und im Norden bis Moskau und Nishnij-Nowgorod. Persien und Anatolien, Syrien und Indien, Armenien und Georgien hatten sich ihm gebeugt, und nur das Meer hatte seinen Rossen ein weiteres Vorwärtsdringen versperrt. Im Osten aber stand kein Meer im Wege, und die Wüsten und Gebirge, die zu überqueren waren, schreckten seine im Ertragen unmenschlicher Strapazen gewöhnten Krieger nicht. Ihm jedoch schien diese Erde zu klein zu sein, als dass sie zwei Herrscher hätte tragen können. Gibt es doch auch im Himmel nur einen einzigen Gott! Also beschloss er, das »himmlische Blumenreich der Mitte« seinem Herrschaftsbereich einzuverleiben, damit er sich zu Recht Dschihangar nennen könne, Eroberer der Welt.

Schon hatte er die Abgesandten des Kaisers von China seine Ungunst spüren lassen, indem er ihnen den Ritter von Clavijo vorzog, der mit einer Huldigung des Königs von Kastilien in Samarkand erschienen war. Und als gar der »Sohn des Himmels« ihn daran erinnern ließ, dass seine Tribute in letzter Zeit ausgeblieben seien (wie, wagte dieser ungläubige Hund, von Geschenken, die ihm Timur großmütig als Beweise der Freundschaft zugeschickt hatte, als von Tributen zu sprechen?), da kannten seine Empörung und sein Ungestüm keine Grenzen. Selbst der strenge Winter, der mit eisigen Stürmen über das Land herfiel, hielt ihn nicht davon ab, den Aufbruch zu befehlen. »Wenn die Flüsse zugefroren sind, kann man sie leichter überqueren«, sagte er denen, die zum Aufschub rieten.

Da wurde, wie ich schon sagte, sein Leibross krank. Es schob die Hinterbeine unter sich, streckte die Vorderbeine weit vor und litt allem Anschein nach große Schmerzen. Das war ein böses Vorzeichen. Timurs Ratgeber wagten zwar nicht, Befürchtungen laut werden zu lassen, aber ihre Mienen waren beredt genug. Und seine Frauen schlichen mit verweinten Augen einher.

Mein Vater erschrak nicht schlecht, als Timur ihn zu sich befahl. Noch niemals hatte er den Gewaltigen aus der Nähe gesehen, und er trug auch nicht das geringste Verlangen danach, denn Tod und Leben hingen an einem Wink seiner Hand.

»Kükülli«, sagte Timur, »ich höre, du verstehst dich auf Pferde. Ich vertraue dir meinen Hengst an. Wenn du ihn gesund machst, sollst du mein Stallmeister werden. Stirbt er aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, und das war auch nicht notwendig, da jedermann verstand, was angedeutet war, und mein Vater am besten.

»Wir stehen in Allahs Hand«, antwortete er, »dein Hengst wie dein Knecht« – und er neigte sich und küsste den Saum des weiten goldgestickten Gewandes.

Im Stall machte er dem Tier sofort einen Aderlass, gab ihm ein Abführmittel, packte die kranken Hufe in einen Umschlag von kühlem Lehmbrei, den er jede Stunde erneuerte. Er tat die Nacht kein Auge zu, und erst, als das Tier am Morgen die Vorderfüße vorsichtig wieder auf den Boden stellte und von dem Hafer nahm, den er ihm vorsetzte, erlaubte er sich einen kurzen Schlummer.

Nach drei Tagen war der Hengst gesund, und mein Vater erhielt die Oberaufsicht über sämtliche Stallungen mit allen zurückbleibenden Tieren: Den tragenden Stuten, den Fohlen, den Zuchthengsten, er erhielt aber auch, entsprechend dieser hohen Stellung, ein eigenes Haus mit allem dazugehörenden Hausrat und eine Summe Geldes, sich Sklaven auf dem Markt zu kaufen.

Ehe er dieses Geschäft jedoch in Angriff nehmen konnte, wurde ihm aus dem Harem des Herrschers ein Mädchen ins Haus gebracht.

Der Diener, der es begleitete und den er erstaunt und fragend ansah, sagte: »Unsere Herrin Tökel schickt dir hier ihre Magd als Zeichen ihrer Gunst. Du hast ihres Gatten Leibpferd gesund gemacht und damit die Sorge ihres Herzens vertrieben – nun wird auch unser Herr gesund und siegreich von seinem Feldzug heimkehren.« Als mein Vater das vernahm, wusste er, dass er sich eine mächtige Fürsprecherin erworben hatte, denn wer vermochte so viel über Timur, den Lahmen, wie diese seine jüngste Gattin? Eine Chanstochter war sie, die er im Alter von dreiundsechzig Jahren geheiratet hatte, und schön sollte sie sein, aber auch stolz, sehr stolz auf ihre Herkunft aus dem Geschlechte des großen Dschingis, und wenn Timur auch schon durch eine andere Chanstochter, durch Saraj Chanum, Schwiegersohn eines Chans geworden war und sich diesen Titel – Kurakhan – auch schon längst beigelegt hatte, so maß er doch der Abstammung auch seiner jüngsten Gattin großes Gewicht zu und bevorzugte Tökel sichtlich vor allen andern. Wem sie gnädig war, dem lachte die Sonne seines Hofes. Wem sie übelwollte, dem mochte Gott gnädig sein. An alles, was man ihm von Tökel jemals erzählt hatte, musste mein Vater denken, und die Vorstellung, dass er plötzlich, fast ohne sein Zutun, aus dem tiefsten Schatten des Daseins in ein so grelles Licht emporgehoben worden war, beängstigte ihn fast. Erst als der Diener, der noch eine Weile geschwätzt und allerlei Neuigkeiten der Hinterhöfe an den Mann gebracht hatte, weggegangen war, kam es ihm in den Sinn, dass es ja wohl an der Zeit sei, sich nach dem weiblichen Wesen umzusehen, das ihm nun mit Leib und Leben gehören solle.

Mein Vater war, seit er Georgien verlassen hatte, mit keiner Frau je wieder in Berührung gekommen. Wie wäre das auch möglich gewesen in einem Lande, wo Mädchen wie Frauen von allen nicht zur Familie gehörenden Männern gesondert gehalten werden und das Innere ihrer Höfe kaum jemals verlassen? Sollten sie sich dennoch einmal auf der Straße zeigen – welchem Gläubigen würde es einfallen, sie auch nur mit zudringlichen Blicken zu streifen? Ist es nicht im höchsten Grade unsittlich, eine Frau, die einem nicht gehört, anzusehn, selbst dann, wenn sie mit einem spricht? Nun aber stand eine da, die kein anderer ansehn durfte als er allein. Und nicht nur ansehn, nicht nur berühren durfte er sie, nein, ganz und gar in seine Gewalt war sie gegeben, ihr Wohl und Wehe hing von seiner Willkür ab. Als er sich das klarmachte, kam es wie ein Rausch über ihn. Aber sie – was empfand sie wohl in diesem Augenblick? Sie hatte sich, während er mit dem Diener sprach, in den äußersten Winkel des Hofes zurückgezogen, stand an die Mauer gelehnt im tiefen Schatten und presste, als ob die Sonne sie blende, beide Hände vors Gesicht. Er trat auf sie zu, sprach sie an – sie rührte sich nicht. Da fasste er sie am Handgelenk – ihre stumme Abwehr erregte sein Mitleid und gleichzeitig auch seine Begierde – und zwang sie, ihm ihr Gesicht unverdeckt zuzuwenden. Das Erste, was er sah, waren zwei Augen, die in Tränen schwammen, und ein vor Erregung bebendes Kinn. Aber das Zweite war, dass er dieses Gesicht trotz der Veränderung, die darin vorgegangen war, erkannte. Erst meinte er, einer Sinnestäuschung zum Opfer zu fallen. Wie sollte das wohl möglich sein, dass ihm dieses georgische Mädchen hier in die Arme gelegt wurde? Zum ersten Mal konnte er mit ihr sprechen. Denn während der zwei Jahre, seit sie den Tataren in die Hände gefallen war, hatte sie deren Sprache erlernt. Und so erfuhr er ihre Geschichte.

Sie hatte ihr Versteck verlassen, obwohl ihre Lebensmittel und auch der Wein sie noch monatelang vor Hunger und Durst geschützt hätten. Aber als ihr seltsamer Freund nicht wiederkam, hatte eine Unruhe sondergleichen sie befallen. Mit einmal kam ihr das Wort Jesu in den Sinn: »Vom Brot allein kann der Mensch nicht leben, vielmehr lebt er von jedem Wort, das Gott zu ihm spricht.« Da lauschte sie in die Stille hinein, ob sie ein solches Wort vernehmen könne – doch sie lauschte umsonst. Und plötzlich wusste sie, dass auch jedes menschliche Wort ihrer Seele Nahrung geben würde, und sie ertrug die Einsamkeit nicht mehr. Auch dachte sie, die Tataren müssten den Ort wohl geräumt haben, und so verließ sie denn ihr Versteck und geriet einer Nachhut der Feinde in die Hände.

Die Männer stürzten sich mit lautem Gejohle auf sie, und sie wäre verloren gewesen, wenn nicht der Anführer seine Kerle mit einem Machtwort verscheucht hätte. Er hob sie trotz ihres Sträubens auf sein Pferd und ließ keinen andern an sie heran.

Dieser Anführer war ein Verwandter der Prinzessin Tökel und hatte daher bei Timur in Gunst gestanden, bis er sie sich einmal durch Gott weiß was verscherzt hatte und vom Hofe verbannt worden war. Die Schönheit seiner Gefangenen nun brachte ihn auf den Gedanken, sie Timur zum Geschenk zu machen und vielleicht dadurch dessen Verzeihung zu erlangen. So wusste er sich bald einen der hölzernen Tragekörbe zu beschaffen, wie sie von reisenden Frauen benützt werden, legte ihn einem Pferd über und ritt selbst stets an Ninos Seite, die so den langen, mühsamen Weg überstand.

Er hatte aber mit seinem Geschenk bei Timur kein Glück. Denn Tökel war es, die ihm entgegen kam, und sie brauchte das Mädchen bloß anzusehen, da war sie entschlossen, ihre ganze weibliche Schläue aufzubieten, um zu verhindern, dass Timur die schöne Georgierin jemals zu Gesicht bekäme. So reihte sie Nino in die Schar ihrer Dienerinnen ein und sorgte dafür, dass ihr Verwandter den Palast schleunigst verließ. Bald stellte es sich heraus, dass Nino ein ungewöhnliches Geschick für feinste Seidenstickereien besaß. Und so musste sie von früh bis abends am Stickrahmen sitzen, ihrer Herrin ein Prachtgewand anzufertigen, um das alle andern Frauen sie beneiden sollten.

Der Zufall wollte es, dass dieses Kleid gerade fertig geworden war, als Timurs Hengst erkrankte. Es bestand aus einem roten, eng anliegenden Unterkleid, über das ein blauer, wallender Überwurf getragen wurde, beide Stücke aus feinster Seide und mit Goldstickerei verziert. Tökel wagte nicht, darin vor Timur zu erscheinen, solange der noch um sein Pferd und um das Vorzeichen für seinen Feldzug bangte. Als aber der Hengst genesen war, legte sie es an, band sich den Kopfputz aus Reiherfedern, der mit kostbaren Juwelen geschmückt war, ins Haar und zeigte sich so ihrem Gemahl.

Timur war in bester Laune. Verscheucht waren die Unmutsfalten von seiner Stirn. Siebzig Jahre war er alt und fühlte sich wie ein Jüngling, der, ehe es in den Kampf ging, noch seine Lust hatte an seiner anmutigen jungen Frau. Er sagte: »So schön warst du noch nie«, und zog sie an sich. Sie verbrachten die Nacht miteinander. Und als sich Tökel am nächsten Morgen aus seinen Armen löste und das Gewand wieder anzog, fragte er: »Wer hat dir dieses Kleid gemacht?«

»Oh«, antwortete sie und wurde verlegen, »eine Sklavin, die ich vor kurzem geschenkt bekam.« »Schicke sie zu mir. Ich will sie belohnen.« »Liebster Herr«, sagte Tökel, »ich habe sie nicht mehr. Denn als ich hörte, dass Kükülli dein Pferd gesund gemacht hat, war mir, als sei dir damit dein Schlachtenglück, ja vielleicht sogar dein Leben verbürgt, und in meiner Freude darüber schenkte ich diese Sklavin deinem neuen Stallmeister.« »Und warum ausgerechnet diese? Sie muss dir doch kostbarer sein als jede andere!«

»Eben deshalb, mein liebster Herr. Denn für dein Leben und dein Glück – was wäre mir zu kostbar?« Durchschaute er sie? Wusste er, dass es eine Notlüge war, die sie aus Eifersucht vorbrachte? Meine Mutter hat das nie erfahren, nur, nach Timurs Tod, diese Geschichte, die der Haremsklatsch ihr zutrug. Und damit die Erklärung, wie es kam, dass sie in aller Eile von ihrem Stickrahmen weg und in das Haus eines Mannes geführt wurde, vor dem sie eine namenlose Angst empfand, die sich dann, als sie ihn erkannte, in ebenso namenloses Glück verwandelte. Mein Vater wollte meiner Mutter sofort die Freiheit schenken und sie vor dem Kasi zu seiner rechtmäßigen Gattin machen. Doch dagegen sträubte sie sich mit aller Kraft. »Ich bin eine Christin«, sagte sie. »Der Kasi kann meine Ehe nicht einsegnen. Lass einen Priester kommen. Ich will gern vor diesen Heiden deine Sklavin bleiben, wenn ich nur vor Gott deine Ehefrau bin.«

Diese Bitte und die Leidenschaft, mit der sie vorgetragen wurde, versetzte meinen Vater in großen Schrecken. »Du weißt nicht, was du verlangst«, entgegnete er, »ich gelte hier als Moslem, und wenn es jemals ruchbar würde, dass ich von einem christlichen Priester meine Ehe hätte einsegnen lassen, würde ich nicht nur als Abtrünniger enthauptet werden, sondern du mit mir, und wahrscheinlich bräche eine Christenverfolgung los wie unter Nero oder Diokletian. Willst du das heraufbeschwören?«

»Du giltst als Moslem?« fragte sie und tat einen Schritt zurück. »Und warum hast du dann über dich und mich, über Brot und Wein das Kreuz geschlagen? Hattest du da nicht Angst, enthauptet zu werden?«

»Das ist unser Geheimnis. Und kann mir nur dann das Leben kosten, wenn du mich verrätst. Davor aber hatte ich keine Angst.«

»Schwörst du mir dann, dass du mich vor Gott zu deinem christlichen Eheweib nimmst und mir treu bleibst, bis der Tod uns scheidet? Schwörst du mir, dass du unsere Ehe von einem Priester einsegnen lässt, sobald wir von hier freikommen und wieder unter Christenmenschen leben können?« Er schwor es ihr. Ich glaube, es hätte nichts gegeben, was er ihr in dem Augenblick nicht geschworen hätte, um sich ihre freudige Hingabe zu erwerben. Und sie besiegelte seinen Schwur mit dem ihren. So wurden sie Mann und Frau.

Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, kenne ich selbstverständlich nur aus dem Bericht meiner Eltern. Nun aber komme ich zu dem Punkt, wo sich in meiner Erinnerung der Vorhang hebt und das Bild der eigenen Erlebnisse vor meinen Augen deutlich zu werden beginnt.

Das Erste, was ich sehe, ist der innere Hof im Hause meines Vaters.

Dieses Haus war ebenerdig und bestand, wie die meisten in Samarkand, aus zwei deutlich voneinander getrennten Teilen. Durch einen engen finsteren Torgang gelangte man in den ersten Hof, der an drei Seiten von dem Gebäude eingeschlossen und an der Vierten durch eine Mauer abgegrenzt wurde. Durch diese Mauer führte nur ein niederes Pförtchen zum inneren Hof, und um diesen herum befanden sich die eigentlichen Wohnräume, während die Räume um den äußeren Hof zum Empfang der Gäste und zum Aufenthalt der Dienerschaft verwendet wurden.

Der innere Hof und die Flucht der Zimmer, die ihn umsäumten und deren Türen und Fenster ihm sämtlich zugekehrt waren, bildete das Reich meiner Mutter. Hier war alles nach ihrem Geschmack eingerichtet, denn der Vater ließ ihr darin völlig freie Hand. Sie verbannte daraus jedes Ding, das sie an die verhasste Fremde hätte erinnern können, selbst die schön geknüpften persischen Teppiche, die auf Truhen und Lagerstätten ausgebreitet lagen, mussten nach und nach jenen weichen, die sie mit eigener Hand herstellte oder nach ihren Entwürfen von Mägden herstellen ließ.

Ihre Dienerschaft bestand ausschließlich aus Georgiern. Mein Vater holte ihre unglücklichen Landsleute zusammen, wo immer er sie auftreiben konnte. In den ersten Jahren meiner Kindheit hörte ich fast nur die Laute dieser Sprache, meine Mutter jedenfalls richtete nie ein anderes Wort an mich, und selbst mein Vater erlernte sie mit mir zusammen und erfreute damit meine Mutter unbeschreiblich.

Der innere Hof enthielt ein nicht allzu kleines Wasserbecken, etwa eine Elle tief, in das aus dem Staubecken am Markt das Wasser durch eine Bleiröhre geleitet wurde wie in alle Häuser von Samarkand. Hier planschte ich mit meinen Spielkameraden, den Kindern unseres Gesindes, die neben mir aufwuchsen. Geschwister hatte ich nicht. Zum Leidwesen meiner Eltern blieb ich ihr einziges Kind.

Sommers sprangen wir im Schatten der alten Platane zwischen Blumenbeeten herum, kletterten auch, als wir älter wurden, in ihre Äste hinauf und bauten uns dort luftige Nester. Winters hockten wir um die Kohlenfeuer der Mangale und hörten den Geschichten zu, die die Erwachsenen sich und uns erzählten: Es waren georgische Märchen, georgische Geschichten, georgische Lieder, denn meine Mutter duldete keine anderen. So wurde mir die heilige Nino bald eine vertraute Gestalt, sie, die als Kriegsgefangene in das Haus des Königs Mirian kam und ihn zum Glauben an Jesus Christus bekehrte und somit von Gott gewürdigt wurde, den Grundstein zur Ausbreitung des Christentums in Georgien zu legen (oh, meine Mutter war stolz, ihren Namen zu tragen!). Mit keinem Wort erwähnt wurde jedoch der Prophet Muhammad, dessen Lehre seine Anhänger mit Feuer und Schwert weit in die Länder Asiens und Afrikas hineingetragen haben, die aber die Herzen der Georgier niemals erreicht hat.

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter diesen Teil des Hauses und den inneren Hof jemals verlassen hat. Da sie keine Muselmanin war, hätte niemand es ihr verargt, wenn sie sich in der Stadt gezeigt, den Basar besucht und sich an seinem bunten Treiben ergötzt hätte. Und in meines Vaters Begleitung wäre sie auch durchaus keinen Belästigungen dabei ausgesetzt gewesen. Doch sooft er es ihr auch anbot, lehnte sie es immer ab. Sie hatte keine Lust, die Stimme eines Muezzins von einem der Minarette zu vernehmen, keine Lust, dem Feilschen und Handeln der Tataren, das stets mit Beteuerungen beim Barte oder beim Augenlicht des Propheten einherging, zuzuhören, und am allerwenigsten wohl Lust, meine ich, zuzusehen, wie ihr eigener Mann, in muselmanischer Kleidung einhergehend, den Turban fest um die Pelzmütze geschlungen, seinen Bekannten den Gruß nach Art dieser »Heiden« entbot.

Auch mich ließ sie nicht auf die Straße. Kaum, dass es mir gelang, durch das Pförtchen in den äußeren Hof zu schlüpfen, wo mein Vater seine Besucher empfing. Ich war natürlich neugierig, wie alle Kinder sind, und hätte mich am liebsten heimlich hinausgeschlichen, doch ihrer Aufmerksamkeit entging es niemals, wenn ich mich von ihr entfernte, und immer ließ sie mich schleunigst von einer alten Dienerin zurückholen, noch ehe ich das Eingangstor unseres Hauses erreicht hatte. Ich mochte trotzig sein soviel ich wollte – schreien, mit den Füßen aufstampfen – sie schlug mich nie, gab mir kein böses Wort, umschlang mich nur mit den Armen und weinte, und ihre Tränen konnte ich nicht ertragen. So kam es, dass ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr völlig von der Außenwelt abgeschirmt war und nichts von dem erfuhr, was sich außerhalb meines so eng begrenzten Lebensraumes abspielte.

Dieses friedlich abgesonderte Leben meiner Kindheit wurde eines Tages jäh durchbrochen.

Ganz außergewöhnlich und mich im tiefsten Herzen erschreckend war ein erregter Wortwechsel zwischen meinen Eltern. Noch niemals hatte ich meine Mutter so schreien und weinen gehört. Ich lief hinzu, sah sie vor meinem Vater am Boden liegen, seine Knie umfassend, und hörte immer nur dieselben Worte: »Nein, du darfst mir das nicht antun! Nein, du kannst mir das nicht antun!« Und die Antwort meines Vaters: »Er ist mein Sohn! Ich kann ihn nicht auf ewig hier in deinem Schneckenhause eingesperrt halten.« Um mich also ging es, um mich! Was hatte mein Vater mit mir vor?

Ich drängte mich zwischen die beiden, und meine Mutter ließ die Knie meines Vaters los, erhob sich, schloss mich in die Arme, und ihre Tränen flössen auf meinen Scheitel. »Beruhige dich, Liebe«, sprach mein Vater nun begütigend auf sie ein. »Du musst mich anhören. Du musst mich verstehen. Ich habe dich immer verschont mit Berichten von den Kämpfen, die ich hier mit all den Neidern und Widersachern auszufechten hatte. Ich habe dir ein Leben ermöglicht, das deiner Art und deinem Wunsch entsprach, und habe es dir gegönnt. Dass Timur von seinem Feldzug gegen China nicht als Sieger heimkehrte, dass er seine gewalttätige Seele einem noch Gewalttätigeren, nämlich dem Tod, überlassen musste, hast ja selbst du erfahren. Was meinst du, wie viele es da an diesem Hof gegeben hat, die mir, dem ehemaligen Stallknecht, dem Emporkömmling, am liebsten an die Gurgel gefahren wären!

Zum Glück fanden sich andere einflussreiche Männer, die mir wohlwollten, so Muhammad Ben Ala-eddin, dem ich in der Falknerei zur Hand ging und der mir bereitwillig seine Kunst beibrachte, als er merkte, dass ich mit Leib und Seele bei der Sache war, und nicht zuletzt der Perser Achmad ben Nisam, einer der einflussreichsten Männer am Hofe Timurs, dem ich einmal einen großen Dienst geleistet hatte.

Er schlug sich auf die Seite von Timurs Enkel Chalil, der sich nach dem Tode seines Großvaters Samarkands bemächtigt hatte, und führte ihm auch seine geliebte Sklavin Schad-i Mulk wieder in die Arme, die Chalil nun endlich zu seiner Gattin machen konnte …«

Hier unterbrach ihn meine Mutter. »Schad-i Mulk?« fragte sie bewegt, »die kenne ich gut! Tökel hatte ja Timur gegen Chalil aufgehetzt, weil er diese Sklavin heiraten wollte, eine Frau, die ihm nicht ebenbürtig war – und die vielen Demütigungen, die die Arme von der hochmütigen Chanstochter zu erdulden hatte, wird sie freilich niemals vergessen. Vielleicht aber auch nicht, dass ich es war, die der Weinenden oft Trost zugesprochen hat. Bring mich zu ihr! Sicherlich werde ich sie dir günstig stimmen.«

»O du Kind!« antwortete mein Vater. »Sie kann uns nichts mehr nützen. Chalil musste gegen seinen ehemaligen Erzieher Chodaj-dad zu Felde ziehen, er wurde geschlagen und samt seiner Gattin gefangen genommen. Chodaj-dad setzte sich in Samarkand fest, wollte aber schließlich mit Schach Ruch, dem einzigen noch lebenden Sohne Timurs, ins Einvernehmen kommen, räumte die Stadt, nahm Chalil mit sich fort und lieferte Schad-i Mulk an Schach Ruch aus. Wie es dieser Gattin Chalils nun erging, kannst du dir vorstellen.« »Hat man sie getötet?«

»Das nicht. Aber grausam misshandelt. Ich selbst sah zu, wie sie rücklings auf einem Esel durch den Basar geschleift wurde und die Menge ihr Schmährufe nachschrie und sie mit Kot bewarf. Ihr Hemd war zerrissen, die Schultern blutig von den Geißelhieben, die ihr die Haut zerfetzt hatten.«

»Die Ärmste! Wie konnte man ihr das antun, nur weil sie Timurs Enkel liebte?«

»Darum nicht. Aber deshalb, weil sie Tökel und Saraj Chanum, zwei Witwen des lahmen Timur, hat umbringen und deren abgeschnittene Köpfe in ihrem Schlafzimmer hat aufstellen lassen, um sich am Anblick ihrer toten Feindinnen zu weiden.«

Meine Mutter schlug die Hände vors Gesicht, wie um das Bild nicht sehen zu müssen, das diese Worte ihr vor die Augen gestellt hatte. »O Gott, mein Gott«, rief sie, »wie strafst du die Verächter deines Sohnes damit, dass sie sich selbst zerfleischen!«

Sie ließ mich aus und lehnte sich an meines Vaters Brust. Und er legte die Hand auf ihr schwarzes Haar und sprach auf sie ein. Da drückte ich mich in die dunkelste Ecke des Zimmers und verhielt mich dort so still wie alle Kinder, die etwas Verbotenes tun, denn ich wusste, dass das, was mein Vater mit meiner Mutter nun besprechen würde, nicht für meine Ohren bestimmt war, wollte aber keinesfalls ein Wort davon verlieren, war es doch erregender als jedes Märchen, das ich jemals zu hören bekommen hatte. Erregender, weil es sich nicht um Dinge handelte, die sich vor langer, langer Zeit jenseits der sieben Berge und der sieben Meere im Lande irgendwo zugetragen hatten, sondern um solche, die kürzlich und keine hundert Schritte von uns entfernt geschehen waren.

Hatte ich nicht den Mann, von dem mein Vater erzählte, sogar schreien gehört, als er die Bastonade bekam? Jedenfalls bildete ich es mir ein und sah ihn vor meinen geschlossenen Augen, wie er, die Füße in den Block gespannt, die nackten Sohlen den Stockschlägen preisgegeben, bei jedem Hieb zuckte und sich in seinen Fesseln wand. Und warum wurde er geschlagen?

Weil er seinen Freund erdolcht hatte, den Scheich Nur-ed-Din, meuchlings, bei einer Umarmung. Und warum hatte er das getan? Weil er bestochen worden war von Schah Malik, dem Statthalter von Samarkand und Erzieher unseres jungen Prinzen Ulug Beg, der allerdings seine Gründe hatte, den Scheich aus der Welt zu schaffen, denn Nur-ed-Din hatte gegen ihn rebelliert, und er hatte sich ihm im Felde nicht gewachsen gezeigt.

Aber nun war doch der Vater des jungen Prinzen, Schach Ruch, mit einem großen Heer von Herat herbeigeeilt, hatte die Aufständischen in die Flucht geschlagen und den Scheich zu Friedensverhandlungen gefügig gemacht – warum also wollte Schah Malik das verhindern?

Weil ein toter Feind besser ist als ein unterwürfiger.

Dann aber – was für eine Ursache hatte Schach Ruch, seinem Statthalter zu zürnen, ihn abzusetzen und den Mörder so hart zu bestrafen?

Hart? Milde! Auf Mord steht Todesstrafe. Und Ursache? Nein, einen Vorwand: Ulug Beg wollte seines Vormunds ledig werden und Schach Ruch seinem Sohn gefällig sein. »Und was hat das alles mit meinem Giorgi zu schaffen?« hörte ich meine Mutter rufen.

Es hatte mit mir zu schaffen. Der Vorgesetzte meines Vaters, Achmad ben Nisam, war es gewesen, der dem Schah Malik jenen bösen Rat gegeben hatte. Er war nach Chalils Sturz bemüht gewesen, sich beim neuen Machthaber beliebt zu machen, und da jener Freund Nur-ed-Dins sein Milchbruder war, dessen Habgier er sehr wohl kannte, kam er auf diesen Einfall. Und mein Vater war es gewesen, den er mit einem Beutel voll Gold zu seinem Milchbruder geschickt hatte. (Nein, mein Vater wusste nicht, wozu dieses Gold bestimmt war, sonst hätte er sicherlich alles getan, ihn von diesem bösen Vorsatz abzubringen!)