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Kirstie Papers

Am Ende der Insel





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Am Ende der Insel

Am Ende der Insel

 

Kirstie Papers

 

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Sämtliche Namen, handelnden Personen und Begebenheiten

entspringen der Fantasie der Autorin.

 

 

***

 

 

Dieses Kribbeln im Bauch Das man nie mehr vergisst Als ob da im Magen der Teufel los ist Dieses Kribbeln im Bauch kennst du doch auch Wenn man glaubt fast überzuschäumen vor Glück

 

 

(Aus: „Kribbeln im Bauch“ von Pe Werner)

 

 

***

Kapitel 1

 

„Setz deine Mütze auf, es ist sehr windig draußen!“, rief meine Mutter mir hinterher, als ich zur Tür stürmte. Mützen waren etwas für Babys. Mit elf Jahren trug keiner aus meiner Klasse etwas auf dem Kopf und auch ich dachte nicht im Traum daran, auf Mamas Rat zu hören.

„Ja, mach ich“, log ich, setzte mir die hässliche blaue Wollmütze mit der Rosenapplikation auf und zog die Wohnungstür hinter mir zu. Der Wind fegte mir um die Ohren und ich hielt meine Nase nach oben. Wie ich meine Insel liebte! Ein Blick nach oben zum Küchenfenster verschaffte mir die Gewissheit, dass ich nicht von meinen Eltern beobachtet wurde. Schnell stopfte ich die Mütze auf den Gepäckträger meines Fahrrads und fuhr den schmalen roten Weg entlang zum Osten der Insel.

 

Auf Westerup gab es keine Autos und man musste nur aufpassen, dass man keiner Pferdekutsche den Weg versperrte. Aber so schnell fuhren die Pferdekutschen nicht und meine Freunde und ich waren es gewohnt, in Schlangenlinien um alle Hindernisse zu kurven. Jetzt im Herbst war auf Westerups Spazierwegen nichts mehr los, denn die Gäste mochten den rauen Nordseewind zu dieser Jahreszeit nicht. Ich aber war begeistert davon, wenn die Insel uns ganz allein gehörte.

 

„Du bist eine richtige Insulanerin!“, hatte mir im Sommer meine Freundin Elli vom Festland bewundernd gesagt. Begeistert nickte ich. Ja, ich war ein Insulanerkind und verdammt stolz darauf. Ich war nie erkältet und schon im März braun. Die Gästekinder kreischten ängstlich auf, wenn sie mitten im Sommer in der Nordsee badeten. Dabei war das doch gar nichts – meine Klassenkameraden und ich badeten immer im April an. Dann war das Wasser wirklich kalt und alle Insulaner juchzten vor Vergnügen. Wenn ich zitternd aus dem eiskalten Meer zurück an den Strand lief, stand meine Mutter schon mit meiner dicken Winterjacke bereit und ich kuschelte mich dankbar hinein.

 

Kräftig trat ich in die Pedale und der Wind blies mir ins Gesicht. Ich fuhr vorbei am Supermarkt und dem Schwimmbad und guckte nach, ob das Pony meiner Freundin Inga auf der Wiese hinter ihrem Haus stand. Ob ich eben anhalten sollte? Aber nein, ich wollte lieber allein weiter radeln, denn ich hatte ein Geheimnis, das ich noch keinem verraten hatte. Noch nicht mal Inga wusste davon. Meine neuen Gefühle waren mir irgendwie peinlich. Sonntagmorgens waren nicht viele Leute unterwegs, nur der alte Jürgens lief ohne Jacke herum. Papa sagte, der alte Jürgens sei ein
Trinker, aber ich wusste gar nicht, was das überhaupt ist. Ohne Jacke fand ich es an diesem Tag auf jeden Fall wirklich zu kalt.

„Moin Svea, du hast es aber eilig“, brüllte der alte Jürgens, als ich schon an ihm vorbei war.

„Moin“, rief ich mit einem schnellen Blick nach hinten, aber meine langen blonden Haare wehten mir vor die Augen und ich konnte ihn nicht mehr erkennen.

 

Endlich war ich an der Turnhalle angekommen. Die Fahrräder der Großen standen vor der Halle in den dafür vorgesehenen Ständern und ich fuhr ganz langsam heran, damit mich niemand bemerkte. Glück gehabt, offenbar waren schon alle in der Halle, denn das Training musste schon angefangen haben. Sonntags um zehn Uhr hatten die älteren Jungs Basketball. Eigentlich fand ich alle Großen doof. Bis auf einen. Er hieß Leif und war neu auf Westerup. Leif ging in die neunte Klasse und hatte fast so lange Haare wie ich. Er sah aber trotzdem nicht wie ein Mädchen aus, sondern beinahe schon wie ein Mann. In der Schule musste ich während der Pausen einfach immer zu ihm hinstarren, weil ich ihn so schön fand. Meistens saß er mit ein paar anderen Großen auf dem schmalen Holzzaun am Rande des Pausenhofs. Julia aus der Neunten lachte immer ganz laut, wenn Leif an ihr vorbeiging, aber Leif lächelte nur freundlich zurück. Er war bestimmt nicht in Julia verliebt.

 

Mich hatte er noch nie gesehen. Ich war Luft für ihn, ein kleines Kind, das von nichts eine Ahnung hatte. Dabei war ich mir sicher, dass er mich sehr liebt, wenn er mich nur einmal kennenlernen würde. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich traute mich noch nicht einmal ihn anzuschauen – wie sollte ich so jemals mit ihm sprechen? Seine Eltern hatten das Hotel von Wiebkes Familie auf Westerup übernommen, das wusste ich von Papa. Wiebke war vor einigen Monaten weggezogen und das Hotel stand danach zum Verkauf. Jetzt wohnte dort Leif. Er hatte noch eine kleine Schwester, die in den Kindergarten ging. Die Kleine hatte genau solche gewellten, dicken Haare wie er; nicht so glatt wie meine.

 

Auf Westerup kannte jeder jeden, was daran lag, dass es nur rund vierhundert Einwohner gab. Leifs Familie war deshalb für einige Wochen das Thema Nummer Eins an unserem Küchentisch.

„Ich glaub nicht, dass die Sörens lange auf der Insel bleiben!“, hatte Mama gesagt.

„Die passen hier auch gar nicht her. Hast du mal gesehen, was die Frau für Schuhe trägt? Mit hohen Absätzen zum Bäcker! Das ist ja peinlich“, meinte Papa.

„Worauf du so achtest“, sagte Mama schnippisch und meine große Schwester Rieke und ich warfen uns einen verstohlenen Blick zu.

„Die haben doch zwei Kinder, oder?“, erkundigte ich mich so uninteressiert wie möglich.

„Ja, ich glaube schon. Die Haare des Jungen... na ja, mich geht es nichts an.“ Mama war wirklich zickig an diesem Tag.

 

Leifs Haare waren die schönsten, die ich je gesehen hatte. Man konnte seine Augenbrauen fast gar nicht sehen, so hell waren sie. Am tollsten fand ich seine strahlend blauen Augen und die verwaschenen Jeans, die er immer anhatte. Sein Gesicht war gebräunt, das gefiel mir auch, weil ich selbst so aussah. Ich dachte den ganzen Tag an Leif, sogar während der Schulstunden. Dabei war ich viel zu jung fürs Verliebtsein. Wer hatte denn in der fünften Klasse einen richtigen Freund? Niemand außer Silke, aber die tat auch nur so und ging nur aus Angeberei mit Dirk. Ich war aber richtig verliebt in Leif und wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.

 

Ich stieg von meinem Fahrrad ab, lehnte es an die pieksige Sanddornhecke und lief um die Turnhalle herum. Wenn man sich hinter dem Gebäude duckte, konnte man durch ein schmales Fenster runter in die Halle schauen, denn die Sporthalle war schräg in eine Düne eingebaut worden. Da, da war er! Ich konnte meinen Schwarm mühelos erkennen, denn mit ihm zusammen waren nur noch fünf weitere Jungs mit Basketballspielen beschäftigt plus Herrn Jakobs, dem Sportlehrer von Westerup. Ich setzte mich ins hohe Gras und beobachtete Leif, bis das Training zu Ende war. Dann lief ich schnell zurück zu meinem Rad und peste nach Hause, damit ich pünktlich zum Mittagessen zurück war.

 

Jeden Nachmittag schnappte ich mir mein Tagebuch und berichtete von Leif. Wenn ich mit dem Schreiben meiner intimsten Gedanken fertig war, schloss ich das Büchlein ab und versteckte den kleinen goldenen Schlüssel in meinem Schmuckkasten. Ich träumte in der Nacht von ihm und am Tag fuhr ich überall dort hin, wo er auch war. Keiner wusste von meinem Geheimnis und niemals erwischte Leif mich bei meinem Versteckspiel. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass er immer Pfefferminzkaugummis in seiner rechten hinteren Hosentasche aufbewahrte und dass er, wenn er sich ungestört fühlte, seinen langen Pony mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand nach hinten strich. Alles in mir sehnte sich nach diesem unerreichbaren Jungen, doch ich sah keine Chance, ihn jemals kennenzulernen. Ich wusste so viel von ihm und er nichts von mir. Bestimmt würde ich niemals einen anderen Jungen so toll finden wie Leif.

 

Ich wurde älter und beschloss, dass ich mir Leif aus dem Kopf schlagen musste. Doch das war gar nicht so leicht. Einmal saß ich am Heiligabend direkt hinter ihm in der kleinen Inselkirche. Er hielt wohl nach jemandem Ausschau und drehte sich um. Dabei trafen sich unsere Blicke und er lächelte kurz und sagte „Hallo“. Danach habe ich wochenlang keine Predigt mehr verpasst, doch Leif kam nicht mehr in die Kirche. Abends ging er mit seinen Freunden in den Jugendtreff und rauchte heimlich Zigaretten. Das fand ich widerlich. So sehr ich mich auch anstrengte, ich wurde einfach nicht schneller älter.

 

Leifs Eltern hatten nur wenige Kontakte auf der Insel geknüpft. „Das werden nie richtige Insulaner“, erklärten meine Eltern an einem Sonntag im Sommer. Sie hatten sich ausnahmsweise zwei Stunden frei genommen und waren mit Rieke und mir an den Strand gegangen. Insulaner gingen sonst nicht an den Strand, schon gar nicht wenn ihre Gäste dort auch waren. Aber Rieke und ich hatten so lange gebettelt, bis sie weich wurden. Ausgerechnet an diesem Tag, als ich wie ein kleines Gästekind mit meinen Eltern am Strand war, spielte Leif mit seinem Vater Beachvolleyball – direkt vor unserem Strandkorb! Schnell zog ich mir ein T-Shirt über meinen Bikini, damit er nicht sah, dass ich fast noch gar keinen Busen hatte. Unauffällig kauerte ich mich in den Sand und suchte Schutz hinter unserer Sandburg. Dann passierte das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Zwei etwa sechzehnjährige Mädchen machten sich an Leif heran und fragten, ob sie mitspielen dürften. Sie wackelten mit ihren Hintern und kicherten gekünstelt. Eine viertel Stunde lang versuchte ich mir einzureden, dass Leif auf so eine doofe Show nicht reinfallen würde. Doch er schien geradezu begeistert zu sein. Als sein Vater lachend sagte: „Na, dann lass ich euch drei Quatschköpfe mal allein!“ und anschließend verschwand, nahm Leif in jeden Arm eines der beiden blöden Mädchen und ging lachend mit ihnen fort. Rieke und meine Eltern fragten mich, warum ich so rote Augen habe, aber ich redete mich raus und behauptete, dass mir Sand ins Gesicht geweht sei. Nachts weinte ich mich in den Schlaf. Ich würde Leif niemals bekommen.