Thomas Chorherr

Dabei gewesen.
Erinnerungen

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00979-9
Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
unter Verwendung eines Fotos von Detailsinn, www.detailsinn.at
Grafische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Prolog: Erinnerung ist eine Tochter der Zeit

Kinderjahre

Dunkle Zeit

Kriegsende und Neuanfang

Die ersten Nachkriegsjahre

»Glaubt an dieses Österreich«

Berufswunsch: Journalismus

Amerika

Meine Zeit bei der »Weltpresse«

»Österreich ist frei!«

Wien trauert und feiert

Ungarn 1956

John F. Kennedy

Geheimdienstlich erfasst

1968: Ein Jahr, das vieles änderte

Politik der Skandale

Vater des Vaterlandes?

Freundschaften, von Berufs wegen

Bundespräsidenten, wie ich sie sah

1989: Als alles anders wurde

Auf der weltpolitischen Bühne

Die Habsburger

Kirche im Wandel

Wendezeiten

Die Verantwortung der Medien

Epilog: Sechzig Jahre Journalist

Namenregister

Prolog:
Erinnerung ist eine Tochter der Zeit

Dies ist ein Buch der Erinnerungen. Woran wir uns erinnern können, hängt davon ab, woran wir uns erinnern wollen, sagt der Historiker Jürgen Pirker. Ich will mich an alles erinnern. Ich bin ein Journalist. »Jour« heißt »Tag«. Es gibt, sagt man, nichts Älteres als die Zeitung von gestern. Was geschah, ist nicht mehr aktuell. Nur das Heute ist wichtig.

Aber kann man heute bewerten, was gestern geschah? Man spricht gelegentlich von »Erinnerungskultur« und meint, dass die Erinnerung ein Schatz sei, den es zu heben gelte. Ich versuche, ein Schatzgräber zu sein.

Gewiss, es ist wahr, was der Dichter sagt: »Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit.« Als es auf der Mariahilfer Straße noch das Non-Stop-Kino gab, das nur Kulturfilme und Wochenschauen spielte, stand dieser Satz groß auf der Wand neben der Kinokasse. Mein Vater hatte mich als Volksschüler allwöchentlich hingeführt, um mich mit den Zeichen der Zeit vertraut zu machen, und ich war schon damals fasziniert: »Wir laufen mit!« Habe ich schon damals meinen künftigen Beruf geahnt?

Ich bin ein Journalist und war doch zeit meines Lebens von Geschichte fasziniert. Das Wort hat im Deutschen eine doppelte Bedeutung. »Am hellen Tageslichte habe ich es anders gesehen. Gewiss, Geschichten und Geschichte wechseln im Entstehen!«, schrieb Theodor Fontane. »Wien, eine Geschichte« nannte ich vor Jahren eines meiner Bücher. Ich unterschied die Fakten und das, wie sie heute gesehen und verstanden werden.

Trefflicher klingt freilich, was Goethe in den »Maximen und Reflexionen« behauptete: »Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Hals zu schaffen.« Ich muss mir nichts vom Hals schaffen. Wir erleben Geschichte, wir Journalisten. Unser Gedächtnis ist auch in im Zeitalter der Digitalisierung unser wichtigstes Werkzeug. Es kann glücklich machen, aber auch traurig oder ängstlich. Abermals: Das Wort »Erinnerungskultur« ist zwar neu, aber durchaus treffend.

Journalisten seien Taglöhner der Literatur, sagte vor Jahren einer, der es wissen musste. Er war Chef der Chronik-Redaktion der »Presse«. Ich verbesserte ihn. Journalisten, sagte ich, sind Taglöhner der Zeit. Wir sind Historiker aus Neigung. Wir sind Dilettanten der Geschichtsschreibung. Was wir festhalten, wird als Primärquelle geschichtlichen Wissens betrachtet. Trotzdem sind Journalisten im Allgemeinen keine Memoirenschreiber. In einer Zeit, da die Autobiografien von Politikern und vor allem von Schauspielerinnen und Schauspielern – die beiden Berufe haben viel miteinander zu tun – üblich geworden sind, ist diesbezüglich bei den Jüngern der Tagesaktualität Zurückhaltung zu vermerken.

Warum eigentlich? Die Welt, wird gesagt, möchte getäuscht werden. Es gelte, wurde vor geraumer Zeit bei einer einschlägigen Tagung behauptet, die Frage zu klären, ob wir nicht ein Bürgerrecht auf das Vergessen haben, um uns, wie Goethe schrieb, unwillkommenes Vergangenes »vom Hals zu schaffen«. Journalisten sind berufen, dem entgegenzuwirken. Die Zeitung, mehr als Radio und Fernsehen, ist historisches Archiv. Sie ist gedruckte Erinnerung. Sie ist papierenes Gedächtnis.

Allein, man erinnert sich an das, was wichtig ist. Die Journalisten haben alle Mühe, sich vom Wunsch frei zu machen, die Geschichte zurechtzubiegen, je nach der Überzeugung des Autors. Da kommt dann wieder der Begriff »Geschichtskultur« ins Spiel, zusammen mit der bereits erwähnten Erinnerungskultur. Der Begriff ist, wie gesagt, nicht alt. Auch die Erinnerung ist eine Tochter der Zeit. Journalisten, die sich erinnern können, weil sie sich erinnern sollen, ja müssen, haben eine Berufsbedingung erfüllt. Sie sind, wie gesagt, Taglöhner der Zeit.

Mag sein, dass sie auch Pathologen der Geschehnisse sind. Wir haben nicht zu unterscheiden zwischen Gut und Böse, sondern nur zwischen Wahr und Unwahr. Adolf Hitler, gleichsam Inkarnation des Unheils, ist von vielen Zeitungsleuten interviewt worden. Sie wollten informieren – ohne Rücksicht auf Wert oder Unwert. Ich habe in meinem Leben nicht nur Päpste, sondern auch Unholde befragt. Ich habe in all diesen Fällen nicht bewertet, sondern dargestellt. Wir sind folgerichtig auch Taglöhner der Zeitgeschichte. Aber wir können sie nicht zurechtrücken.

Ich habe zu Beginn meiner Karriere das lokale Umfeld und dann zunehmend auch das politische journalistisch erkundet. Ich habe mich, wie es mein Beruf erforderte, aller Informationen bedient, derer ich habhaft werden konnte. Und ich weiß, wie wichtig das journalistische Gedächtnis ist.

Ich hatte das Glück, die entscheidenden Ereignisse der letzten Jahrzehnte beschreiben zu dürfen. Ich war dabei (und habe überlebt), als das Dritte Reich zu Ende ging und Hunderttausende mit sich riss. Ich erlebte die Wiederauferstehung meines, unseres Staates – die Tageszeitung, in der ich meine Arbeit begann, hieß bezeichnenderweise »Neues Österreich«. Ich war dabei, als vor dem Schloss Belvedere in Wien Tausende die Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags bejubelten. Auf meinem Schreibpult liegt ein Stück des Stacheldrahtes vom Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich. Er wurde 1989 niedergerissen – in diesem Jahr der vielfältigen europäischen Wende. Ich möchte die Erinnerung daran nicht missen.

Kinderjahre

Ein Herr in Hut und Mantel

Der Tag: 5. September 1961. Der Ort: der Gehsteig vor dem Hotel Bristol an der Wiener Ringstraße. Die Personen der Handlung: ein grauhaariger Herr in Hut und Mantel und ein junger Mann mit Schreibblock und Kugelschreiber in der Hand.

Der grauhaarige Herr ist 64 Jahre alt, der junge knapp 29. Der alte war Bundeskanzler, der junge ist Reporter der »Presse«. Lokalreporter, um genau zu sein. Der Grauhaarige ist am 11. März 1938 zurückgetreten. Er heißt Kurt Schuschnigg. Der junge Reporter ist von der »Presse« entsandt worden, um den alten österreichischen Ex-Politiker zu interviewen. Die Zeitung hatte – ich weiß nicht mehr, wie – den Aufenthaltsort Schuschniggs herausbekommen. Ich war der einzige, der ihn treffen konnte. Der diese historische Figur, die zu einem ersten kurzen Aufenthalt nach Wien gekommen war, interviewen sollte. Sollte, nicht konnte. Ich hatte den vorletzten österreichischen Regierungschef der Vorkriegszeit (der letzte war Arthur Seyß-Inquart) vor dem Hotel Bristol abgepasst. Er war kurz angebunden. Er sagte, dass er nichts zu sagen habe und vor allem nichts sagen wolle, grüßte höflich und verschwand im Hotel.

Das erhoffte Interview ist demnach eine Pleite geworden. Ich hatte gehofft, vom letzten politischen Exponenten des unabhängigen Österreich zu erfahren, was er über den viel zitierten Klerikofaschismus zu sagen habe. Es hätte mich interessiert – nicht nur als Journalist, sondern auch als geschichtlich interessierter Österreicher.

Stattdessen verbrachte ich die nächste Zeit mit einer Erinnerungs- und Gewissenserforschung. Sollte ich über den Mini-Kurzbesuch Schuschniggs schreiben, ohne mit ihm gesprochen zu haben? Hätte ich im Archiv genug Material gefunden, um mit dem, was ich aus dem Geschichtsunterricht mitbekommen hatte, eine Geschichte – Story, wie wir zu sagen pflegten – zu formulieren? Hatte der erwähnte Geschichtsunterricht genügend Material geboten? Oder, um es kurz zu fassen: Was wusste ich damals, anno 1961, als Redakteur der »Presse« und zudem junger Doktor der Rechtswissenschaften, von Kurt Schuschnigg?

Besser noch: Was wusste ich überhaupt von Geschichte, von der österreichischen zumal? Vielleicht mehr als andere. Aber genug? Was heißt genug? Kann man genügend Geschichtswissen absorbieren, inhalieren, aufhäufen? Noch einmal: Die Erinnerung ist eine Tochter der Zeit. Und wieder wird da der Begriff »Geschichtskultur« aktuell. Man könnte auch sagen: »gefärbtes Geschichtswissen«. Das Wissen um die Vergangenheit entspringt den Umständen der Gegenwart. Die Zeitgeschichte, wie wir sie verstehen und wie sie an den Universitäten gelehrt wird (bisweilen, ja meist, von voreingenommenen Lehrern), ist Geschichte, eingespannt in den Schraubstock historischer Wünsche: Nicht, wie es war, sondern wie es hätte sein sollen, ist die Aussage.

Und wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Das Sprichwort ist, scheint mir, an Wahrheitsgehalt nicht zu übertreffen. Nur dass der Gesang der Alten bisweilen ein dissonanter ist, und sich die Dissonanzen über Generationen fortsetzen.

Schuschnigg hat eine Woche nach dem nicht stattgefundenen Interview einen Vortrag über den Ständestaat gehalten. Ich war nicht dabei.

Mein Vater, der Marineur

Mein Vater, geboren 1894, war mit Leib und Seele das, was man damals »Marineur« nannte. Er hatte einen Dienst in der Österreichisch-Ungarischen k. u. k. Kriegsmarine zum Berufsziel gemacht. In Pola, dem Kriegshafen der Monarchie, hatte er die sogenannte Maschinenschule absolviert – jenes Institut, das das technische Schiffspersonal ausbildete. Anno 1912 wurde er »ausgemustert«, als »Jahrgangserster«, als bester seiner Altersgruppe, wie mir meine Großmutter voll Stolz auf ihren Sohn immer wieder erzählte. Die Eltern der jeweiligen Jahrgangsersten durften auf Kosten des k. u. k. Kriegsministeriums nach Pola reisen und an der Ausmusterungsfeier teilnehmen.

Mein Vater wurde als Maschinenmaat einem Torpedoboot zugeteilt; zwei Jahre lang durchkreuzte er das Meer, zumeist die Adria, bis zum August 1914. Interessant: Er hat mir eigentlich nie von seinen Kriegserlebnissen erzählt, obgleich er mit Leib und Seele Marineur geblieben ist, auch als das große Reich mit seinen Küsten zu einem kleinen Binnenland geschrumpft war. Die »Marineure« der k. u. k. Kriegsmarine hatten bis weit in die Vierzigerjahre hinein einen großen Stammtisch in einem Wiener Gasthaus.

Ein Bild vom Torpedoboot meines Vaters (von ihm selbst gemalt) hatte meine Mutter schließlich der Tischrunde gespendet. Als Künstler war er ein Dilettant, aber in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Er hat Kunst als Vergnügen – diletto – ausgeübt. Und er war darin überaus bewandert. Er hat gemalt, modelliert, er hat mir ein Marionettentheater gebastelt, das im wahrsten Sinne des Wortes alle Stückeln gespielt hat. Und er hat vorzüglich Geige gespielt.

Aber er hat nicht viel vom Krieg erzählt, obwohl er viel zu berichten gehabt hätte. Zum Unterschied von meiner Mutter, die es tat – oft und gerne. Sie berichtete etwa, dass sie immer wieder auf dem Gehsteig der Mariahilfer Straße gestanden war, als Kaiser Franz Josef in offener Kutsche und nur von einem Adjutanten begleitet von Schönbrunn in die Hofburg fuhr. Die Herren zogen die Hüte und die Damen knicksten, erzählte meine Mutter. Und sie selbst knickste auch – immer wieder. Einmal habe der Kaiser sogar grüßend die Hand an den federgeschmückten Hut gelegt – und sie bezog den Gruß natürlich auf sich selbst. Sie war damals noch keine zwölf. Und sie hat – apropos Geschichte! – noch erlebt, wie der erste Mensch, der Amerikaner Neil Armstrong, am 21. Juli 1969 den Mond betrat. Sie war dabei – das Fernsehen machte es möglich.

Als ich geboren wurde, gab es noch kein Fernsehen. »Wir 32er erblickten das Licht der Welt in einer düsteren Zeit. Doch inmitten aller Angst vor Arbeitslosigkeit und Sorge ums Überleben waren wir für unsere Eltern ein Lichtblick, der ihnen neue Kraft gab: 102.277 Mal begrüßten wir im Jahr 1932 irgendwo in Österreich mit einem kleinen, kläglichen Schrei unsere glücklichen Eltern.« Im Wartberg-Verlag ist 2011 in der Reihe »Kindheit und Jugend in Österreich« der Band »Wir vom Jahrgang 1932« erschienen. Es stimmt, die Zeit war düster, wie ich später immer wieder las. Aber sie war vor allem unsicher.

Kindheit in der »Systemzeit«

Gegen Ende des Jahres geboren, war ich in der »Systemzeit« im Kindergarten- und Vorschulalter. Systemzeit – so wurden in meiner Familie die Jahre zwischen 1933 und 1938 bezeichnet, die später gerne »Austrofaschismus« genannt wurden. Der Historiker Gerhard Jagschitz warnt vor schnellen Urteilen. In dem von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik herausgegebenen Band I von »Österreich 1918–1938 – Geschichte der Ersten Republik« schreibt er: »Das Fehlen von Antisemitismus und Antiklerikalismus in der offiziellen Politik sowie der mangelnde Imperialismus allein können noch nicht ausreichen, Bedenken über die vorbehaltlose Etikettierung mit dem Begriff Faschismus zu haben. In Österreich fehlte die Identität von politischer und militanter Organisation.«

Jagschitz ist in der Tat unsicher, was den »Ständestaat« betrifft und was die Kennzeichen dieser sogenannten »Systemzeit« waren. Der Begriff »Austrofaschismus« werde mitunter global und unreflektiert angewendet, schreibt er. Mein Vater, als Geschäftsmann später Präsident der sogenannten »Kleinkaufmannschaft«, war jedenfalls Mitglied der »Vaterländischen Front«, der damals existierenden Einheitspartei. Von Handelsminister Stockinger erhielt er einen Orden. Ich habe ihn später unter seinen Dokumenten gefunden – mitsamt der Verleihungsurkunde, die das väterliche Bemühen um das österreichische Geschäftsleben rühmte. War diese Vaterländische Front das, was man heute »faschistisch« nennen würde? Sie war, las ich später bei Jagschitz, »als einzige zugelassene politische Willensorganisation nur der unzulängliche Versuch eines faschistischen Instrumentariums, das erst von dem im Entstehen begriffenen autoritären Staat überhaupt geschaffen wurde.«

Mein Vater, der k. u. k. Marineur, verheiratet mit der Tochter eines Juden, wovon ich später erzählen will: Keine Spur von Faschismus in meiner Familie.

Aber erlebte Geschichte? Für mich noch nicht. Bis auf Weiteres. Klerikofaschismus? Ich war im Vorschulalter. Regime und Kirche – das fiel dem Kind nicht auf. Dass an Prozessionen auch Abteilungen der bewaffneten Macht teilnahmen, schien selbstverständlich. Als zu Fronleichnam (es muss wohl 1937 gewesen sein) vor der Elisabethkirche auf der Wieden, dem vierten Wiener Bezirk, eine Kompanie des Bundesheeres mit eichenlaubgeschmücktem Stahlhelm auf Kommando vor dem »Allerheiligsten« einen Ehrensalut abfeuerte, war dies offenbar nichts Ungewöhnliches. Trotzdem – ich erinnere mich noch genau – zuckte ich zusammen. Ob ich zu weinen begann, weiß ich nicht mehr.

Aber ich weiß, dass ich ganz sicher meine Tränen hinuntergeschluckt hätte. Ich bin immer schon ein Sonntagskind gewesen. Ein echtes noch dazu. Um zwölf Uhr Mittag geboren. Sonntagskinder, heißt es, haben nebst vielem anderen auch ein gehöriges Maß Optimismus in die Wiege gelegt bekommen. Ich habe ihn später immer wieder gebraucht. In der »Systemzeit« noch nicht. Aber für sie war ich ohnehin zu klein – in jeder Beziehung.

Der Zahnarzt Dr. Reisberg

Die Erinnerung geht weiter: zu einem Balkon im zweiten Stock eines gutbürgerlichen, der zweiten Ringstraßenzeit entstammenden Wohnhauses gegenüber der Oper. Zeit der Handlung: der 14. März 1938. Personen der Handlung: Zahnarzt Dr. Reisberg, seine Frau, meine Eltern und ich, damals fünfeinhalb Jahre alt. Weitere Personen: das ekstatische Spalier, das die Ringstraße säumte. Wir alle auf dem Balkon, auch die Reisbergs, warteten auf die Kolonne riesiger schwarzer Autos, die der jubelnden, winkenden, lärmenden Menge entlang an der Staatsoper vorüberfuhr. Im ersten Auto stand aufrecht ein Mann mit Schirmkappe und braunem Uniformrock. Die Hand hatte er zum Gruß erhoben.

Man sagte mir nicht, wer es war. Später erfuhr ich, dass es »der Führer« war. Der Führer Adolf Hitler. Er sei soeben angekommen und jetzt unterwegs in sein Hotel. Dass die Leute schrien und winkten, sah ich. Aber ich wusste nicht, warum sie es taten. Offenbar war der Mann mit der Schirmkappe und dem ausgestreckten Arm ein freudig erwarteter Gast. Erwartet von wem? Der Zahnarzt Dr. Reisberg war Jude. Das Ehepaar Reisberg war mit meinen Eltern eng befreundet. Papa und Mutti hatten viele jüdische Freunde. Aber ich wusste noch nichts von Problemen der Abstammung. Auch nicht von meiner eigenen. Ich sollte sie erst 1942 erfahren.

Dr. Reisberg nahm die umjubelte Fahrt des Mannes mit der Schirmkappe mit interessiertem Gleichmut, wie mir als Fünfjährigem schien, zur Kenntnis. Interessiert, weil er genauso wie meine Eltern und vor allem meine Mutter, die Tochter eines Juden, offenbar nichts Böses ahnte. Und gleichmütig, weil er, ein in ganz Wien bekannter Mediziner, die Auffassung vertrat, dass ihm nichts geschehen könne. Dr. Reisberg hatte vor Jahren an der Lösung eines Kriminalrätsels mitgewirkt, ja, er war die wichtigste Figur in diesem Rätsel gewesen. Er hatte das Gebiss eines halbverbrannten weiblichen Mordopfers identifiziert. Die Frau war im Lainzer Tiergarten gefunden worden, und es hatte sich herausgestellt, dass sie Dr. Reisbergs Patientin gewesen war. Kurze Zeit später wurde der Mörder gefunden und verhaftet. Mehr weiß ich nicht.

Ich weiß nur (die Erwachsenen hatten es leise gesagt, aber ich habe es gehört), dass alles nicht so arg sein werde nach dem »Anschluss«. Anschluss? Das Wort kannte ich nicht. Damals noch nicht. Es werde nicht so arg werden, sagte Dr. Reisberg. Er ist dann in Auschwitz ermordet worden, seine Frau überlebte.

Noch einmal: Anschluss? Was heißt das? Ein paar Wochen später wusste ich es. Im Stadtschulratsgebäude saß ich einem strengen Herrn gegenüber, der erfahren wollte, ob ich als Fünfjähriger reif für eine Altersdispens sei, um ein Jahr früher in die Volksschule zu kommen. Ich weiß nicht mehr, welche Fragen er mir stellte, aber offenbar habe ich sie alle richtig beantwortet. Aber dann kam’s. »Wie grüßt man den Führer?«, wollte der Prüfer wissen. Ich verstand ihn nicht, wusste nicht, was er meinte, und schwieg. »Na, wie grüßt man den Führer?« Dann plötzlich glaubte ich es zu wissen: »Sieg Heil!« Diesen Schrei hatte ich immer wieder gehört.

Aber der strenge Herr war keineswegs ruhig gestellt. Nur weil ich die anderen Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, half er mir bei der letzten: »Heil Hitler! Hast du das noch nicht gehört?« Ich schämte mich. Dass man den »Führer« mit »Heil Hitler!« begrüßte, war mir zwar neu – man könne, dachte ich, ja jemanden nicht mit seinem eigenen Namen begrüßen, aber sei’s drum! Ich hatte bestanden. Dem frühen Schuleintritt stand nichts im Wege.

Und auch der erste Schultag ist mir noch in Erinnerung. Der Lehrer saß in SA-Uniform am Katheder. Er war ein »Illegaler« gewesen – so nannte man in der »Systemzeit« die geheimen Nationalsozialisten. Jetzt konnte er seine Vorliebe offen ausleben. Ob es ihm bei seiner Karriere genützt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass viele Ehepaare, die bei und mit uns verkehrt hatten, gute Freunde meiner Eltern, plötzlich verschwunden waren. Ich habe sie vermisst, die Damen, die mich jeweils mit einem in eine Parfümwolke gehüllten Küsschen begrüßt hatten. Sie waren einfach nicht mehr da. Meine Eltern blieben, obwohl Freunde sie zur Auswanderung überreden wollten. Einer schwärmte von Australien. Jahre später hat er uns dann Lebensmittelpakete geschickt. Und noch mehr Jahre später wollte ich ihn in Melbourne aufsuchen. Da war er schon tot.

Nur nicht auffallen

Es wird schon nicht so arg werden? Meine Mutter, im Nazijargon Halbjüdin, versuchte meinen Bruder und mich zu schützen, indem »nur nicht auffallen« ihre Devise war. Mein Vater entwarf Verkehrserziehungs-Plakate für die Polizei, weil er für den Militärdienst ungeeignet war. Und ich, der M2, der jüdische Mischling zweiten Grades, wusste nichts von meiner Abstammung.

Noch nicht. Ich wusste, dass alles Unglück dieser Welt von den Juden kam. Das hatte ich in der Schule gehört, und meine Eltern beließen es dabei. Nur nicht auffallen! Wir wurden von Lehrern in die Ausstellung »Der ewige Jude« geführt. Fragen wurden knapp beantwortet. Auch ich fragte. Zuhause wurde geschwiegen.

Es wurde auch geschwiegen, als in der zweiten Volksschulklasse ein Herr in der goldbraunen Uniform eines »politischen Leiters« etliche Schüler, die ihm von der Direktion genannt worden waren, einer Eignungsprüfung für die NAPOLA unterzog – für die »Nationalpolitische Erziehungsanstalt«, die NS-Kaderschmiede. Die Direktion der Volksschule hatte keine Ahnung, dass ein Teil meiner Vorfahren Juden waren. Ich wurde als Kandidat für die NS-Eliteschule genannt. Aber nur so lange, bis es ans Turnen ging. Weil ich ein Seil nicht emporklimmen konnte, wurde ich ausgeschieden – »Zu schwammig!«. Noch heute frage ich mich, wer daran schuld gewesen wäre, dass ein jüdischer Mischling in die NAPOLA gelangte.

Und dann, im Gymnasium, kam urplötzlich die Wahrheit zutage. Unsere Wahrheit. Meine Wahrheit. Plötzlich sind die sogenannten Arier-Nachweise Pflicht gewesen. Es nützte nichts, dass meine Mutter angsterfüllt den verräterischen Vornamen ihres Großvaters Nathan auf »Mathias« umgefälscht hatte – »Dokumentenfälschung« würde man heute sagen. Es nützte nichts, dass ihr Vater, der Jude, mein Großvater, 1936 gestorben war. Nichts half: Sie musste bekennen, dass ich, dem in der Schule Judenhass gepredigt worden war, selbst einer von deren Abkömmlingen sei. Unter Tränen sagte sie es. Und ich war geschockt. Ich bin also ein jüdischer Mischling? Ein Vierteljude?

Und doch verspürte ich damals so etwas wie Abenteuerlust. Ich wollte so sein wie auch die anderen Buben meiner Klasse, die »Arier«. Ich wollte – ja doch –, ich wollte dabei sein. Gewiss, in der Schule, dem Akademischen Gymnasium, wusste man es. Der Klassenvorstand (Geschichte, Geografie, Parteiabzeichen am Revers) wusste es genau. Aber ich muss ihm zugutehalten, dass er den M2 nicht anders behandelt hat als dessen »arische« Mitschüler. Nur einmal wurde es knapp, sehr knapp. Ich schwätzte. »Chorherr, gib Ruh«, sagte der Klassenvorstand, Richter hieß er. Und dann fügte er hinzu: »Sonst müsste ich etwas sagen!«

Ich wusste genau, was er hätte sagen müssen, aber nicht sagte. Ich gab Ruh.

War es in jener ersten Gymnasial- oder noch in der Volksschulzeit, dass ich in meinem Ferienort Loipersbach im Burgenland Freundschaft mit den beiden Kindern des dortigen NS-Ortsgruppenleiters schloss, einem Buben und einem Mädchen, beide in meinem Alter? Der Vater war Bauer, die Mutter liebenswürdig und freundlich, und die Kleinen waren blond, wie es sich damals gehörte. Wir haben viel miteinander gespielt. Und dann kamen, wie mir später erzählt wurde, 1945 die Russen auch nach Loipersbach. Der Ortsgruppenleiter hat seine Frau, seine beiden Kinder und sich selbst erschossen.

Theaterglück und Kinofreuden

Aber 1944 spielten noch die Theater. Schon als Primaner besuchte ich begeistert Burg und Oper, auf Stehplatz natürlich. Im Burgtheater sah ich Schillers »Wallenstein«, alle drei Teile an einem Abend, mit Ewald Balser und Fred Liewehr. Ich sah Max Mells »Der Nibelunge Not«. Fast ein Durchhalte-Stück. Ich hörte in der Oper fast allen Wagner, sogar den »Parsifal«. Und ich besuchte Max Lorenz, den berühmtesten Heldentenor dieser Zeit, in seiner Wohnung, um ein Autogramm zu ergattern.

Ich muss zugeben: Das Kulturprogramm in Wien war bis zur Theatersperre ein ausgezeichnetes. Auch für, besser: gerade auch für Gymnasiasten. Die »Staatstheater«, wie die heutigen Bundestheater hießen, spielten (offenbar in Ermangelung geeigneter, soll heißen: »völkischer« Dramen) zu meiner Freude nahezu alle mir bekannten Klassiker. Kriegsbedingte Einschränkungen merkte man nur an der Größe der Programmzettel. Diese bestanden aus einem einzigen kleinen Blatt. Und zwischen Linien stand fett gedruckt, dass das p. t. Publikum gebeten werde, »sich, wenn unsere verwundeten Frontsoldaten die Mittelloge betreten, von den Plätzen zu erheben«.

Ich habe mir alle diese Programme aufgehoben. Ich tue dies als »Theaterfreak« bis heute. Ich erinnere mich an meinen ersten Burgtheaterbesuch an der Hand meiner Eltern. Es war Raimunds »Bauer als Millionär«, mit Hermann Thimig in der Titelrolle. Die anderen Personen sind meinem Gedächtnis entschwunden.

Im Herbst 1944 wurden die Theater gesperrt. Staatsoper und Burgtheater wurden geschlossen, die Volksoper in ein Großkino umgewandelt. Schon vorher war das Kino für uns Buben die primäre Unterhaltungsstätte. Ich war im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal in eine spätere Schauspielerin verliebt. Sie hieß Elfriede Datzig, war, wie ich mich erinnere, eine herzige junge Wienerin und spielte in jenen Streifen, die, wie es später hieß, die Österreicher vom Grauen des Krieges ablenken sollten. Einige Filme aus dieser Zeit mit ihr in der weiblichen Hauptrolle sind viele Jahre später im Fernsehen noch einmal gezeigt worden – »Reisebekanntschaft« etwa, mit Wolf Albach-Retty, oder »Schwarz auf Weiß« mit Hans Holt und Hans Moser. Elfriede Datzig ist, wie ich später erfuhr, relativ jung gestorben. An Lungenentzündung, wie es hieß.

Aber es waren auch und vor allem die Kriegsfilme, die uns Lust machen sollten, später einmal Wehrmachtsuniform zu tragen. Einer, der mir besonders imponierte, hieß »Kadetten«, spielte im 18. Jahrhundert und handelte von einer Gruppe von Buben meines Alters, die ihre in einer Festung untergebrachte Schule gegen russische Kosaken verteidigte. Mathias Wieman spielte den Kadettenlehrer. Er rettete sie unter Aufopferung seines Lebens – wenn ich mich nicht irre.

Da war überdies – Stück für Stück, Szene für Szene sehe ich sie plötzlich alle vor mir, diese Filme, die ich als Gymnasialanfänger sah – ein Streifen, der mir, fragen Sie mich nicht warum, besonders imponierte. Er hieß »Kopf hoch, Johannes!« und handelte von einem Buben, der in einer Erziehungsanstalt »gemobbt« wurde, wie man heute sagen würde, bis er einen Boxkampf gewann. Die Parallele zum Kriegsgeschehen war leicht zu durchschauen. So wie beim letzten Film, der in der Volksoper gespielt wurde. Er hieß »Kolberg« und beschrieb die Geschichte jener preußischen Stadt, die sich gegen die napoleonische Übermacht verteidigte, bis sich die politischen und militärischen Gewitterwolken unvorhergesehen aufhellten. Ein letztes Aufgebot deutscher Schauspielkunst war zu sehen, und bataillonsweise wurden Soldaten als Statisten verwendet, die man in diesen letzten Kriegsmonaten anderswo bitter gebraucht hätte.

Und da war der als »Film der Nation« ausgeschilderte Streifen »Der große König« mit Otto Gebühr als Friedrich. Preußen contra Österreich. »Zu wem hast du gehalten?«, fragte ich einen Klassenkameraden. »Natürlich zu den Österreichern«, erwiderte er. »Ich auch!«, sagte ich.

Dunkle Zeit

Ein Chemiker in spe

Aber jetzt waren wir Deutsche. Da war etwa ein Aufsatzheft, es muss aus meiner ersten Gymnasialzeit stammen, der Schrift nach zu schließen. Es war jedenfalls in einer Zeit, da wir Kinder, von der NS-Propaganda getrieben, vom Endsieg Deutschlands überzeugt waren. Und ich, der M2, der Judenstämmling, der damals von seiner Abstammung noch nichts wusste, schrieb auf, wovon ich überzeugt war: »Die Herren an der Themse und im Kreml sollen sich ja nicht einbilden, das deutsche Volk zu besiegen.« Aus, punktum. Ich glaubte es, und meine Eltern hüteten sich, mich eines Besseren zu belehren. Die Herren an der Themse und im Kreml. Wie man »Washington« schrieb, wusste ich nicht.

Aber ich wusste, dass ich dabei sein wollte. Dass ich das Braunhemd, die kurze schwarze Hose und den »Überschwung«, den Schulterriemen, tragen wollte wie meine Alterskollegen. Meine Mutter, die »Halbjüdin«, hatte mir die Uniform gekauft – nur nicht auffallen! »Südost Wien« stand auf dem Ärmeldreieck. Es war die Bezeichnung der Einheit, des »Banns« im Jungvolk.

Ich trug das Emblem nicht lange. Schon ein paar Monate später hieß es am Ärmel »Rundfunkspielschar Wien«. Meine Knabenstimme hatte zur Überstellung beigetragen. Ich war zwar zu schwammig für die NAPOLA, aber ich konnte gut singen.

Und ich sang. »Lieder der Bewegung«, wie es damals hieß. Wieder diese Skurrilität ersten Ranges: Ein nichts ahnender und von seiner jüdischen Abstammung nicht wissender Zehnjähriger sang im großen Saal des Wiener Funkhauses in der Argentinierstraße begeistert nationalsozialistische Kampflieder ins Mikrofon.

Und dann kam der Tag X, an dem mir meine Mutter mitteilen musste, dass ich Judenstämmling war. Der Schock wich schließlich der Erkenntnis, dem Prinzip zu folgen, das meinen Eltern und daher auch mir die ganze Nazi-Zeit hindurch richtig schien: keine Wellen machen. Eben nicht auffallen, in keiner Weise.

Von Deportationen wusste ich nichts, von Vernichtungslagern hatte ich keine Ahnung, und ich wunderte mich auch nicht, warum mir meine Eltern immer vorschwärmten, wie hochinteressant doch der Beruf eines Chemikers sei. Sie richteten mir sogar ein kleines Laboratorium mit Kolben und Eprouvetten und einem Bunsenbrenner ein und kauften mir etliche einschlägige Jugendbücher: »Chemie des Alltags« etwa oder »Chemische Experimente, die gelingen«.

Gewohnt, das zu tun, was Vater und Mutter von mir verlangten, da ich ja wusste, dass sie es nur gut meinten – gewohnt also, zu gehorchen, las ich die Bücher über das Abenteuer Chemie und wusste doch nicht, warum gerade dieses Studium (und studieren wollte ich ja, wenn die Zeit dafür reif sein sollte) für mich das geeignetste sei.

Später erfuhr ich es. Fast jedes andere Fach (also etwa Medizin, Jus usw.) war für mich ausgeschlossen, aus Abstammungsgründen. Ich hätte Chemie studieren dürfen. Warum gerade Chemie? Ich weiß es nicht. Aber ich tauchte ein in das Organische und Anorganische, in die Welt der Formeln, kindergerecht aufbereitet. Und im Abendgebet bat ich den Lieben Gott: »Lass mich mit deiner Hilfe ein guter Chemiker werden!«

Nicht: ein guter Journalist. Vom Zeitungsgewerbe hatte ich damals keine Ahnung, wusste auch nicht, dass mich der Liebe Gott in dieser Branche recht erfolgreich würde Fuß fassen lassen. Aber schreiben – das machte mir, wie ich dem erwähnten Deutsch-Schularbeitsheft aus der ersten oder zweiten Gymnasialklasse entnehme, es muss also ungefähr 1942 gewesen sein –, schreiben also machte mir schon damals offenbar Spaß. Mag es konform gewesen sein mit der Indoktrination, der wir Buben damals unterlagen – sei’s drum!

Ich legte auch ein Album an, in das ich Fotos von Kriegshelden klebte – Bilder, die man in den Trafiken erhielt und die begehrte Sammelobjekte waren, die man auch tauschen konnte. Vor allem die erfolgreichen Jagdflieger waren es, deren Konterfeis ich sammelte. Und geradezu gehuldigt haben wir Buben den »Lufthelden« Werner Mölders und Adolf Galland und dem U-Boot-Kommandanten Günther Prien, der in einem, wie es hieß, »verwegenen Handstreich« in der Bucht von Scapa Flow einen Teil der dort liegenden britischen Kriegsflotte torpediert hatte. Mölders ist bereits 1941 umgekommen. Ich malte ein dickes Kreuz unter das Bild.

Bomben auf Wien

Es war dies die Zeit, da die Wiener Straßen des Abends und Nachts finster waren. »Verdunkelung« hieß das Schlagwort. Die Fenster der Straßenbahnwagen waren bis auf einen Streifen blau gefärbt und auch die Wohnungsfenster durften kein Licht nach außen dringen lassen – am Abend mussten die Rollos heruntergelassen werden. Wer es nicht tat, riskierte eine Strafe.

Die Verdunkelungsvorschriften betrafen auch uns Buben. Wir hatten Leuchtknöpfe an den Hemden, die mit einer phosphoreszierenden Masse versehen waren. Ich trug einen solchen Knopf immer dann, wenn ich in die wöchentliche abendliche »Seelsorgestunde« ging, die in der benachbarten Pfarrkirche stattfand. Religionsunterricht in der Schule gab es damals nicht.

Und dann kamen die Bomben. Ich habe sie zum ersten Mal im August 1943 in unserem burgenländischen Ferienort Loipersbach, knapp an der ungarischen Grenze, nichts ahnend miterlebt: das dumpfe Brummen amerikanischer Bombengeschwader, die Kondensstreifen am blauen Himmel – und dann jenseits des Horizonts dumpfe Detonationen und gewaltige Rauchwolken.

Es war der erste Angriff auf Ziele in der damaligen Ostmark, im Speziellen auf Wiener Neustadt und dessen Flugzeugwerke. Ich hatte von der zerstörerischen Wucht der Bombardements auf Hamburg und vom Feuersturm dort gehört, war mit einem Buben befreundet, der von der Elbe nach Wien evakuiert und von einer Tante aufgenommen worden war. Aber bis jetzt war die zitierte Ostmark »Luftschutzkeller des Reichs« gewesen.

Bis zum August 1943. Bis zum Zeitpunkt, da die Amerikaner in Italien Luftstützpunkte eingerichtet hatten, von denen aus sie Ziele in Österreich erreichen und wieder zurückkehren konnten. Noch wussten wir nicht, zu welcher Schreckensinszenierung dieser erste Luftangriff die Ouvertüre war. Es sollte ärger kommen, als ich es mir vorstellen konnte.

Das Akademische Gymnasium wurde wie die meisten anderen Wiener Schulen geschlossen und die Kinder, deren Eltern ihre Söhne und Töchter nicht der »Kinderland-Verschickung« anvertrauen wollten, wurden auf sogenannte »Restschulen« aufgeteilt. Ich kam in das Bubengymnasium Fichtnergasse in Hietzing, und als dann auch dieses wegen Bombengefahr gesperrt wurde, war meine letzte Wiener Schule im Krieg das Gymnasium in der Hagenmüllergasse im dritten Bezirk.

Anfangs freilich waren auch mein Bruder und ich »verschickt« worden. Ich besuchte bis Sommer 1944 das Gymnasium in Hollabrunn, wo ich bei einer Oberlehrer-Familie wohnte. Mein Bruder, noch Volksschüler, war im Burgenland untergebracht, die Ferien verlebten wir zusammen mit unserer Mutter in Loipersbach, das damals noch ein richtiges Dorf war – der Bach plätscherte über den staubigen Hauptplatz.

Und wieder eine Erinnerung, diesmal an den 20. Juli 1944. Meine Mutter versuchte von einer Bäuerin Eier zu ergattern, und gerade dann hörten wir im Küchenradio (es war natürlich ein »Volksempfänger«) die Stimme des Ansagers: »Attentat auf den Führer – der Führer unverletzt«. Was folgte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass meine Mutter ein Wort sagte, das für sie verhängnisvoll hätte werden können, wenn die Bäuerin nicht offenbar der gleichen Meinung gewesen wäre. »Leider!«, sagte meine Mutter. Und: »Schade!«

Der Führer unverletzt – leider. Aber hätte es etwas genützt? Jahre später sah ich im Fernsehen eine Spieldokumentation mit der Annahme, das Attentat wäre gelungen. Der Film endete mit der feierlichen Aufbahrung des Hitler-Sarges, und sechs Feldmarschälle hielten die Totenwache.

Im Herbst 1944 kamen mein Bruder und ich wieder nach Wien; meine Eltern meinten, der immer ärger werdende Bombenkrieg sollte – wenn schon, denn schon – uns alle gemeinsam treffen. So kam es, dass ich das schwerste Bombardement, das Wien und vor allem die Innenstadt erlebte, als Elfjähriger im Luftschutzkeller des Jesuitenklosters überstand.

Aber hatte ich Todesangst? Schon die Wochen davor, als täglich um die Mittagsstunde die Sirenen heulten (die Amerikaner griffen zum Unterschied von den Engländern stets bei Tageslicht an), saßen wir im Keller unseres Wohnhauses und trugen einen Weitling, eine große Metallschüssel, als notdürftigen Schutz auf dem Kopf. Es sah urkomisch aus. Wir grinsten.

Das Grinsen ist uns vergangen, als das Licht flackerte und man ein lauter werdendes und dann langsam verebbendes Pfeifen hörte. Ich wurde aufgeklärt: Eine Bombe pfeift, wenn sie über das Haus fliegt und anderswo einschlägt. Anderswo. Bei einem Volltreffer hört man kein Pfeifen mehr.

Kindheitserlebnisse, im Gedächtnis notiert im Winter 1944/45. Da war etwa der Christbaumschmuck, den die amerikanischen Piloten spendierten, unfreiwillig, versteht sich. Es waren Unmengen von Silberfäden, die, wie es hieß, von den Bombern abgeworfen wurden, um die Zielgeräte der Luftabwehr zu verwirren. So ungefähr hat man es uns erklärt. Egal: Wir Kinder sammelten die Silberfäden auf und behängten den Christbaum, sofern einer da war. Wir hatten einen.

Und noch etwas ist mir in Erinnerung aus dieser Zeit, da wir meinten, das alles könne doch nur ein vorübergehender Albtraum sein. Wir sammelten und hüteten Seidenraupen. Jawohl, Seidenraupen. In Loipersbach krochen sie in der Scheune herum, von uns mit Salatblättern gefüttert. Seidenraupen: Sie würden, sagte man uns, für Fallschirmseide gebraucht. Sie waren demnach »kriegswichtig«. Ob, von wem und wie sie schließlich »eingesammelt« wurden, weiß ich nicht mehr. Aber wir fühlten uns als Züchter – und hatten Spaß daran.

Auch am 12. März 1945 war kaum Todesangst in mir, als ich von der Hagenmüllergasse, wo der Unterricht unterbrochen worden war, bis in die Postgasse lief, wo mein Vater als Polizeizeichner arbeitete. Die Dienststelle war im ehemaligen Jesuitenkloster untergebracht, dessen zweistöckige unterirdische Gewölbe als sichere Luftschutzkeller dienten. Ich spürte die Einschläge der Bomben und sah, wie das Licht immer wieder flackerte. Aber das alte Gebäude hielt stand.

Und dann: das Chaos. Die Amerikaner hatten ohne Rücksicht auf die Kulturdenkmäler diesmal vor allem den ersten Bezirk ins Visier genommen. Die Staatsoper war zur Brandruine geworden, das Burgtheater war schwer beschädigt, die meisten Ringstraßengebäude lagen teilweise in Trümmern, etliche Kirchen gleichfalls. Selten ist mir der Begriff »Terrorangriff« so deutlich geworden wie an jenem 12. März, von dem es nachher hieß, der Angriff sei bewusst für den Vortag des 13. März geplant gewesen. Den Vortag des 13. März 1938.

Wollten die Amerikaner absichtlich zerstören, was es in Wien an Kultur gab? Man konnte es nicht glauben. Als der amerikanische Bomberkapitän erfuhr, dass seine Bomben die weltberühmte Wiener Staatsoper zerstört hatten, soll er Selbstmord begangen haben, erzählten die Wiener später – und hielten es für die Wahrheit.

Kriegsende und Neuanfang

Im Niemandsland

»Wien ist zum Kriegsgebiet erklärt worden. Frauen und Kindern wird geraten, die Stadt zu verlassen.« Große Plakate verkündeten es, wir taten es  – der Not gehorchend, aber auch dem eigenen Triebe.

Mein Vater hatte – er war ja, wie gesagt, als Plakatzeichner zur Polizei »eingerückt« – es seiner Familie ermöglicht, sich einigen Polizisten höheren Ranges anzuschließen, die in einem Bus das Weite suchten, wobei dieses Entfernungsmaß bereits auf die Steiermark zutraf. Ich erinnere mich: stockende Kolonnen auf der Straße, die in Serpentinen zum Semmering hinaufführte, ein Hotel in Mürzzuschlag, das uns ein Notquartier bot, und dann am Bahnhof Fliegeralarm. Nach der Entwarnung weiter mit einem der letzten Züge bis Unzmarkt, dazwischen Halt irgendwo zwischen Zeltweg und Knittelfeld. Fliegeralarm diesmal, weil amerikanische Tiefflieger Lokomotive und Waggons angriffen. Angreifen wollten. Wir rannten in den nahegelegenen Wald. Die Tiefflieger schossen nicht, sondern kurvten ein und suchten das Weite. Die Piloten hatten offenbar gemerkt, dass kein militärisches Ziel vorhanden war. Die Fahrt ging weiter. In Unzmarkt umsteigen in die schmalspurige Murtalbahn.

Und wieder eine Erinnerung – eine von vielen in jenen April- und Maitagen 1945. Wir hatten unser Ziel erreicht, Mauterndorf im Lungau. Vier Personen, zwei Betten, ein Fenster. Wir haben nichts dabei gefunden. So war es eben zu Kriegsende. Noch hatte die deutsche Wehrmacht nicht kapituliert. Noch konnten britische Kriegsgefangene, bewacht von ein paar Soldaten, auf einer Wiese neben dem Haus lagern. Sie waren vom Internationalen Roten Kreuz verpflegt worden – mit Konserven, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte: Fleisch, Sardinen, Obstsalat. Zwei Tage später waren Russen auf demselben Areal einquartiert. Sie baten um Brot und revanchierten sich mit selbstgebastelten Puppen.

Es war die Zeit, da plötzlich auffallend viele SS-Leute im Ort zu sehen waren, vor allem rund um die Mauterndorfer Burg, die, wie ich später erfuhr, einem Verwandten Hermann Görings gehört hatte. Weil der Reichsmarschall im letzten Augenblick Kontakte zu den Amerikanern spinnen wollte, wurde Göring noch knapp vor Kriegsende verhaftet und nach Mauterndorf gebracht. Von dort schaffte man ihn in einem einmotorigen Fieseler-»Storch« nach Westen. Ich sah, wie sich das Flugzeug von einer Wiese unweit des Bahnhofs der Murtalbahn in die Luft hob. Ich wusste nicht, wer da transportiert wurde.

Und dann: eine Kolonne, die sich über die Straße zum Tauernpass hinzog. Ein Rest der deutschen Süd-Armee, unterwegs nach Salzburg. Ich erinnere mich an die großen Plakate, die in Wien an den Stadtbahnstationen verkündet hatten, welches Schicksal die Amerikaner den Deutschen zugedacht hätten: Hunger. Darunter stand der Name des Erfinders dieses Plans: Finanzminister Morgenthau. Irgendwie blieb ein Rest dieser Propaganda im Gedächtnis haften. Ich fragte den Gleichaltrigen, der neben mir am Straßenrand saß und wie ich die Heereskolonne betrachtete: »Glaubst du noch an den Endsieg?«

Es war eine Scherzfrage. Wir waren zwölf Jahre alt. Nein, wir glaubten nicht mehr an den Endsieg.

GIs und Tommies – die Besatzer