Wie wir uns die Zukunft vorstellen

»Keine Irren, sondern wirkliche Realisten«

Götz Werner: »Wenn jemand zu mir sagt, ich sei ein Utopist, antworte ich: Schauen Sie mal her, alles, was Sie heute nutzen, Telefon, Auto, Flugzeug, war einmal eine Utopie. Die Utopien von heute sind die Realitäten von morgen.«

Christian Felber: »›U-topos‹ – das heißt wörtlich aus dem Griechischem übersetzt: Es ist der Ort, an dem wir heute noch nicht sind, den wir aber morgen erreichen können.«

Götz Werner: »Daher sind Utopisten keine Irren, sondern die wirklichen Realisten.«

Im Gespräch: dm-Gründer Götz Werner und Gemeinwohl-
Ökonom Christian Felber (Magazin
Farbe des Geldes,
Triodos Bank, 31. Oktober 2014)

Es ist sein großer Tag im Jahr 2050: Markus ist auf dem Weg zu einem bescheidenen Gebäude in der Berliner Innenstadt ganz in der Nähe des ehemaligen Regierungsviertels.

Das wuchtige Kanzleramt aus dem 20. Jahrhundert wurde längst abgerissen, auch die kolossalen Bauten rund um den Reichstag sind verschwunden. Die Spree fließt friedlich durch eine großzügige Gartenlandschaft, in der sich freundliche Pavillons und Bürogebäude erheben. Die Regierenden verschanzen sich nicht mehr hinter Stahl und Beton …

»Es hat sich viel getan in Deutschland«, denkt sich Markus, als er die Lärchenholzfassade des neuen Abgeordnetenhauses betrachtet. Sein Ziel: die große Aula der Berliner Universität, wo ihm heute der Rektor das Abschlusszeugnis überreicht. Markus ist 25 Jahre alt und hat Dialog-Wissenschaften studiert. Zu der Feier kommen alle Absolventen seines Jahrgangs, mit Freunden und Familien. »Gott sei Dank steht auf meinem Zeugnis nicht mehr ›Master‹«, freut sich Markus. Seit mehrere Studien die verheerende Wirkung von Bologna aufgezeigt hatten, gab es in Europa tief greifende Bildungsreformen. Der Effizienzdruck im Bildungssystem nahm ab, die Studierenden bekamen wieder Luft zum Atmen, Forschung und Lehre gewannen deutlich an Qualität. Den Titeln Bachelor und Master weint kein Bildungsforscher eine Träne nach …

Auch in einem anderen Bereich der Bildung weht jetzt ein frischer Wind. Noch bis 2030 glaubte die große Mehrheit der Deutschen, eine total digitalisierte Bildung bringe Glück und Segen: flächendeckend WLAN in deutschen Schulen, Tablets und E-Reader für Millionen Schüler, digitale Gadgets für alle Kindergärten, Bildungsserver, E-Learning, Smartboards, Lern-Apps. Das volle Programm.

Doch Wissenschaftler ruhten nicht – und untersuchten in Langzeitstudien die Effekte der Digitalisierung. Mit erschreckenden Ergebnissen, die alles in den Schatten stellten, was Skeptiker zu Beginn des Jahrhunderts geäußert hatten: Das kindliche Gehirn erleidet erhebliche Entwicklungsdefizite, wenn es zu früh mit digitalen Medien konfrontiert wird. Die Ausbildung sensomotorischer Fähigkeiten ist viel wichtiger als eine primitive Wisch- und Bedienkompetenz. Und: Wer als Kind eine reale Umgebung mit sozialer Interaktion erleben durfte, kann später viel besser mit digitalen Medien arbeiten.

Diese Erkenntnisse hatten erhebliche Konsequenzen, wie Markus in seinem Grundstudium erfahren hat: Für Kindergärten und Grundschulen setzte sich das Konzept der »digitalfreien Zone« durch. Die Bildungspolitik erkannte: Smartphones und Tablets durchdringen sowieso den privaten Raum. Da ist es nicht notwendig, diesen Prozess im öffentlichen Raum zu forcieren. Im Gegenteil: Markus wusste natürlich, wie ein Smartphone zu bedienen ist. Aber seine Lehrer brachten ihm erst ab dem zwölften Lebensjahr systematisch bei, wie Hard- und Software zu nutzen sind. Alles nach einem bundeseinheitlichen Lehrplan.

Und was hatte Markus alles über Pauker der alten Schule gehört: technikverliebte Nerds, die keinen geraden Satz über die Lippen brachten. Herren über Bits und Bytes, aber unfähig, sich in Schüler und ihre Nöte hineinzuversetzen. Wie anders sein Klassenlehrer: Er stand nicht mehr unter dem Druck der IT-Lobby und war in der Lage, Schüler in ihrer ganzen Persönlichkeit zu fördern. Trotzdem war es für ihn selbstverständlich, am Rechner zu arbeiten. Vor dem Abitur zeigte er seinen Schülern, wie sich echte Informationskompetenz aufbauen lässt: Konzentrations- und Kritikfähigkeit – als Schlüssel zum selbstbewussten Umgang mit digitalen Medien. So lernte Markus, seinen eigenen Weg zu gehen, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Etwa, indem er mit Migrantenkindern Deutsch übt, sich in einem politischen Onlinemagazin engagiert oder im Chor singt.

Die alte Zeit kennt er nur aus Geschichtsbüchern: Seit ungefähr 2030 hatte sich ein drastischer Wertewandel in der Gesellschaft abgespielt. Beinharte Gewissheiten lösten sich in Luft auf … zum Beispiel glaubte kein Mensch mehr, Lehrer billig durch Lernvideos ersetzen zu können. Alle MOOC-Anbieter waren pleite. Doch der Wandel ging viel weiter, auch das »Diktat der Verwertbarkeit« verlor seine Macht. Der Schlankheitswahn der Wirtschaft flaute ab; Sozial-Ingenieure konnten die zugehörigen Konzepte nicht mehr verkaufen: »Lean Management«, »Lean Software«, »Lean Economics« oder »Lean People«. Aus, vorbei! Ihre Erfinder mussten aufs Arbeitsamt.

Es entstand aber kein Vakuum, weil der gesellschaftliche Diskurs um ein sinnerfülltes Leben seit Jahrzehnten am Laufen war: Die tückischen Mechanismen der Wachstumsökonomie wurden entlarvt, das Motto »Glück durch Konsum« entpuppte sich als Illusion. Tausende von Werbern schulten um – sie wurden zu Medienpädagogen ausgebildet. Ihre Branche ging den Bach runter, unter anderem weil Crossmediales Marketing gegen Kinder verboten wurde. Genauso wie die Zigarettenreklame im Kino Jahrzehnte zuvor.

Markus kennt keinen Marlboro-Mann, dafür aber die moderne Chormusik Europas. Auf seinem Handy blinkt eine Nachricht: die aktuelle Song-Liste, geschickt von seiner Chorleiterin. Gleich steht er mit 60 anderen Absolventen auf der Bühne, um die Zeugnisübergabe musikalisch zu begleiten. Markus betritt die Aula, links und rechts vom Eingang stehen große Stellwände: Absolventen präsentieren ihre Abschlussarbeiten. Markus zeigt den Eltern sein großes Poster in der Mitte: Er hat ein neues Konzept zur Großgruppenmoderation entwickelt, Bilder zeigen ihn in einer Mitarbeiterversammlung. Sein Studienfach: Dialog-Wissenschaften, ein interdisziplinär angelegtes Fach mit Elementen aus Psychologie, BWL und Informatik. Markus lernte auch, virtuelle Konferenzen mit Tausenden von Teilnehmern zu organisieren.

Solche Fächer entstanden an der Universität, weil die Wirtschaft nicht mehr nach maximalen Profiten strebt – im Sinne des »Diktats der Verwertbarkeit«. Vielmehr setzte sich die Einsicht durch, »Wertschöpfung durch Wertschätzung« sei das Motto einer modernen Ökonomie. Dazu brauchen Unternehmen zufriedene Mitarbeiter, die nicht als Humanressource behandelt werden, schnell verschleißbar und austauschbar.

So wurden neue Berufsbilder geschaffen: Markus fängt nach dem Studium als Dialog-Manager an. Klar, dass er auch virtuelle Begegnungen auf die Beine stellt, selbstverständlich bei einem internationalen Unternehmen. Aber in seinem Studium hat er vor allem geübt, die tägliche Kommunikation zwischen Mitarbeitern zu gestalten. Sein Vater erzählte ihm von nutzlosen Meetings, die früher die letzten Nerven raubten. Dank moderner Dialog-Technik passiert das nicht mehr – Markus ist Spezialist für menschliche Begegnungen.

Dieses neue Denken setzte kreative Potenziale frei, die im Effizienzwahn vergangener Tage verschüttet wurden. Damals glaubten Unternehmen, ihre Mitarbeiter wie Zitronen auspressen zu müssen. Heute setzen sie auf selbstbewusste Köpfe, die auch das Querdenken gelernt haben – und alle Spielarten positiver Kommunikation beherrschen.

So wie Markus, der sich jetzt zu den übrigen Sängern stellt. Alle holen ihre E-Reader raus, manche können die Noten auswendig. Dann geht´s los: Das Orchester spielt, der Chor stimmt ein und der Klang der Musik erinnert Markus an seine Kindheit: Solange er denken kann, so lange hat er schon gesungen. Im Kindergarten hatten sie gerade die MP3-Player abgeschafft, die neuen Erzieherinnen ließen ihre Schützlinge selbst tanzen und singen. Sie hatten einen akademischen Abschluss, wozu auch eine Grundausbildung in musikalischer Früherziehung zählte. Die Erzieherinnen hatten ebenfalls gelernt, den Kindern ihre Kindheit zu lassen – mit Klettern, Toben, Springen, Purzeln, Malen oder Basteln. Viel Natur stand auf dem Programm, Ausflüge in den nahen Wald gab es jede Woche.

Computerspiele waren von gestern, alle Bildschirme verschwanden aus Kindergärten und Grundschulen. Das reale Leben hielt Einzug in die Welt der Schüler: Sport, Musik und Kunst wurden endlich aufgewertet, weil diese Fächer einen großen Einfluss auf die kognitive Entwicklung der Kinder haben. Sie stehen heute auf einer Stufe mit Mathe, Physik oder Chemie. Die alte Hierarchie der Fächer wurde eingerissen, gerade auch an den weiterführenden Schulen.

Ein weiteres Lied ist verklungen, der Rektor beginnt seine kurze Ansprache: »Als wir noch den Hype um digitale Produkte hatten, überfluteten uns die Internetkonzerne mit Flatrate-Angeboten ohne Ende. Fernsehen total, Facebook total, SMS total, Apps total«, zählt der Rektor mit lauter Stimme auf – und erntet ungläubiges Staunen bei den jungen Leuten, die vor ihm sitzen. »Technikgläubige Dekadenz« sei das gewesen, sagt der Rektor, »wir hatten vor lauter digitaler Seligkeit den Menschen aus den Augen verloren.« Das habe sich bitter gerächt: »Wir hätten auch fast eine ganze Generation verloren.«

Doch der Wandel habe rechtzeitig eingesetzt – trotz gewaltiger Beharrungskräfte in Wirtschaft und Politik. »Wir haben die Hardware-Gläubigen vom Thron gestoßen und gestalten endlich eine Welt für Menschen«, so der Rektor. Der Hype sei vorbei, ohne Maschinenstürmerei: »Die Macht der Technologie über die Menschen wurde gebrochen.« Trotzdem verzichte niemand auf einen maßvollen Umgang mit digitaler Technik. Er freue sich daher sehr, dass ein zweiter Jahrgang das Fach Dialog-Wissenschaften abgeschlossen hat. »Da liegt die Zukunft, im wertschätzenden Gespräch«, so der Rektor am Ende seiner Rede.

Noch einmal singt der Chor, dann ist die kleine Feierstunde vorbei. Markus geht mit seinen Eltern durch Berlin, in Gedanken noch ganz bei der Rede des Rektors. Waren das wirklich so verrückte Zeiten? Sein Vater zeigt auf ein Plakat am Straßenrand: »Wollt Ihr das totale digitale Lernen?«, ist in einer Sprechblase zu lesen. Darunter: »Jaaaaa!« – »Irgendeine Splitterpartei«, erklärt Markus, »früher einmal ein globaler Konzern aus Kalifornien.«

Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn

Erkenntnisse der Neurobiologie zum Lernen mit digitalen Medien

Von Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt i. R., ehemalige Leiterin des Bereichs Neuroanatomie/Humanbiologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Biologie

»Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«

Johann Wolfgang von Goethe,
Brief an Carl Friedrich Zelter, 6. Juni 1825

1. Drei zentrale Erkenntnisse

Über Risiken und Chancen digitaler Medien entscheidet nicht der Konsument und seine Kaufkraft, sondern das Gehirn selbst. Nämlich das Gehirn des Kindes, des Jugendlichen und besonders das Stirnhirn des Erwachsenen, der zu Reflexion und Verantwortung begabt ist.

Der große Erkenntnisgewinn in der Hirnforschung stammt aus dem vergangenen halben Jahrhundert. Ganze Bataillone junger Forscherinnen und Forscher waren daran beteiligt, neurochemische, -anatomische, -physiologische, -molekulare und genetische Details zusammenzutragen. Es ging um die zentrale Frage, wie dieses »Haus« in unserem Kopf entsteht. Schließlich wollen wir uns für ein ganzes Leben darin einrichten und wohlfühlen. Als Mitgift erhält das Gehirn 100 Milliarden »dumme« Nervenzellen, die in ca. 70 Millionen Modulen untergebracht werden, von denen jedes maximal 120 bis 180 Nervenzellen enthält. Jede Zelle kann im Schnitt 10.000 bis 40.000 Kontakte knüpfen, die uns zur Intelligenz verhelfen. Das sind galaktische Dimensionen, in die es nicht so einfach war, Ordnung und Sinn zu bringen. Und für den gesamten Kosmos des Gehirns ist das überhaupt noch nicht gelungen.

Zunächst ist ein Rückblick in die Vorgeschichte nötig, bis in die Zeit der Vor- und Frühzeitmenschen. Sie haben über Gene den Grundsockel und den Gerüstbau für das Haus geliefert. Daran gibt es kein Vorbei, auch nicht, wenn digitale Medien als Revolution ausgerufen werden. Diese bestimmenden Grundelemente sind später im Verlauf des Hausbaus nur sichtbar, wenn wir genau hinsehen. Ob es eine solide und praktisch gebaute wunderschöne Villa, eine einsturzgefährdete Baracke oder ein digitales Luftschloss wird – das hängt nicht von den Genen ab. Aber wovon sonst? Auf diese Frage wollen wir eine Antwort finden.

Die theoretischen Konzepte für den Ausbau des Hauses stammen von den Psychologen und Neurowissenschaftlern Donald O. Hebb, Jean Piaget und Joachim R. Wolff. Ohne ihre Denkarbeit wäre aus dem Riesenhaufen neurobiologischer Daten nur ein »Monte Scherbelino« entstanden. Werfen wir als Erstes einen Blick auf die Konzepte der drei Forscher.

Donald O. Hebb (1) formulierte die Idee einer »Lernsynapse«: Die wiederholte Aktivierung von Nervenzellen in einem frühkindlich labilen Nervennetz (…) führe zu erhöhter Effizienz und Stabilisierung des Kontaktspektrums. Damit ist gemeint, dass sich bleibende Kontakte (= Synapsen) zwischen Nervenzellen nur durch Aktivierung aufbauen lassen. So bildet sich die Lernleistung des Gehirns aus. Daher heißt das Hebb’sche Bauelement Aktivität. Sein Nervennetz wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Funktionsmodul identifiziert. Ebenso fanden Forscher heraus, dass die Lernsynapse ein hochkomplexes Rezeptorsystem darstellt. Es macht gerade in höheren Hirnregionen die nötige Aktivität verfügbar, damit Lernen und Gedächtnisbildung stattfinden können.

Aktivität nehmen wir über die Sinne aus der Umwelt auf. Zusätzlich ist Aktivität in unserem Gehirn verankert. Diese endogene Aktivität steuert uns wie von unsichtbarer Hand. Es handelt sich um die »endogenen Rhythmen«, die das Gehirn selbst erzeugt. Sie reagieren wie der Herzrhythmus hochsensibel auf Umweltreize. Die Kernfragen lauten also: Wie verhalten sich die sinnesbezogene und die hirneigene Aktivität zueinander? Wie beeinflussen sie gemeinsam die Hirnreifung? Diese Fragen sind von zentraler Bedeutung, wenn wir die Wirkung elektronischer Medien auf das kindliche Gehirn betrachten.

Der Schweizer Jean Piaget (2) war es, der für unser Haus mit seinem Konzept die Stufen der Entwicklung geliefert hat. Sein entscheidendes Bauelement heißt Dynamik. Es geht um die dynamische Entwicklung des Kindes – vom Baby über das Schulkind bis zum jungen Erwachsenen. In Kapitel 5 (Denken lernen) wurde ausführlich gezeigt, wie Kinder diese Stufen biologisch bedingt bewältigen müssen. Piaget blieb aber verschlossen, welche Instanz – außer den Genen – diese Stufen der Hirnreifung steuert und ihre Übergänge fließend gestaltet. Außerdem konnte er noch nicht erkennen, wie diese Instanz der Umwelt einen großen Einfluss einräumt, sobald die kognitiven Prozesse in Gang kommen. Die Zeit war für die Hirnforschung noch nicht reif, solche Früchte der Erkenntnis zu ernten. Aber bald wurde ein neuer Durchbruch erzielt.

Die Philosophen und Neurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco Varela (3) verbreiteten Ende der 1970er-Jahre die aufregende Botschaft: Das Gehirn ist ein sich selbst organisierendes System, etwa wie ein eigenständiges Ökosystem. An dieser Erkenntnis entzündete sich die Frage, wie die Bauelemente Aktivität und Dynamik eine flexible Statik erhalten. Wissenschaftler fragten sich zum ersten Mal konkret, wie im Gehirn Struktur und Funktion miteinander verkoppelt sind. Diese Frage lässt sich auch auf ein Auto übertragen: Seine Technik stellt die Struktur dar. Seine Funktion ist es, auf einer Straße gefahren zu werden. Dabei stellt sich für die Konstrukteure immer die Frage: Wie sollten die technischen Eigenschaften des Autos (Struktur) aussehen, damit es sich gut fahren lässt (Funktion)? Ähnlich lässt sich über die sogenannte Struktur-Funktionskoppelung im Gehirn nachdenken.

Eine Antwort wurde in den 1980er-Jahren gefunden: In dieser Zeit »entwichen« die wachstumsfördernden »Morphogene« aus den Laboratorien, viele Wissenschaftler erforschten diese faszinierenden Substanzen: Hormone und Neurotransmitter wie Serotonin oder Dopamin. Träufelt man ein paar Tropfen dieser Transmitter auf junge Nervenzellen, beginnen diese Zellen Ausläufer zu bilden und Synapsen sprießen zu lassen. Daher der Name Morphogene, denn sie lösen genau diese »Morphogenese« aus, was sich aus dem Griechischen mit »Entstehung der Form« übersetzen lässt. Dieser Vorgang macht es erst möglich, dass sich Aktivität und Dynamik in Szene setzen.

Joachim R. Wolff (4) verpackte diese Erkenntnisse in seiner »Kompensationstheorie«. Für den Hausbau lieferte er die Morphogene, an deren Erforschung er an vorderster Front beteiligt war. Vor dem Hintergrund der Selbstorganisation erklärt seine Theorie, wie unser Haus Stufe für Stufe entsteht, und zwar mithilfe der Morphogene als Mörtel. Das war ein großer Schritt: Zum ersten Mal wurde geklärt, unter welchen physiologischen Voraussetzungen sich das Gehirn zuverlässig sinnbezogen und flexibel entwickelt. Gene sorgen dafür, dass einzelne Transmitter und Hormone im richtigen Moment und in den richtigen Hirnfeldern reifen. Dadurch veranlassen sie Nervennetze, zu einer neuen Entwicklungsstufe aufzusteigen. Dieser Prozess heißt Kompensation (oder Reorganisation). Oftmals ist einfach auch von remodeling die Rede.

Dieser Mechanismus der Kompensation stellt den genialen Wurf der Evolution dar, Gene und Umwelt zuverlässig miteinander zu verkoppeln und in eine dynamische Entwicklung einzubinden. Piaget nannte diese Vorgänge Assimilation und Akkommodation, die Wissens- und Handlungsmuster an neue Situationen anpassen (siehe Kapitel 5, Denken lernen). Wolffs Verdienst ist es, diese Abläufe physiologisch konkretisiert zu haben. Er beschreibt, wie das Gehirn ständig versucht, einen gleichgewichtigen Dialog zwischen erregenden und hemmenden synaptischen Kontakten herzustellen. Dazu hatte auch Piaget einen empirischen Zugang gefunden: Er nannte dasselbe Phänomen Äquilibration, also die Suche nach einem Gleichgewicht in kognitiven Konflikten. Dank Wolff wurde es nun möglich, Piagets Entwicklungsstufen mit reifenden Transmittern in einen direkten Zusammenhang zu stellen. Damit lassen sich erstmals »kritische Phasen« der Entwicklung über physiologische Parameter präzise definieren.

Das hat Konsequenzen: Der Hirnreifung im Kindes- und Jugendalter ist unterschiedlich viel, manchmal sehr viel Zeit einzuräumen, weil diese neuronalen Stoffwechselprozesse sehr individuell verlaufen. Sie brauchen viel mehr Zeit als ein Lernprozess selbst. Daher wäre es sinnvoll, Unterrichtsstunden in der Schule für Erholungsphasen zu reduzieren. Schließlich finden die energetisch aufwendigsten Stoffwechselprozesse nicht im Magen oder in der Leber statt, sondern im Gehirn, wenn die Produktion von Hormonen und Transmittern auf Hochtouren läuft. Dafür ist deutlich mehr Zeit nötig, als wenn wir am Sonntag einen Gänsebraten zu verdauen haben.

Unumstößlich gilt die Regel: Solange der Mörtel nicht hart geworden ist, kann der Hausbau nicht weitergehen! Wenn das geschehen ist, können weitere Funktionseinheiten an die Reihe kommen, so wie es das Piaget’sche Entwicklungsmodell beschreibt. Unter diesen Umständen wächst den »dummen« Nervenzellen bereits frühkindlich eine erste »Klugheit« zu, und zwar unter dem Einfluss von Sinneseinflüssen (= Aktivitäten) aus der Umwelt. Von Anfang an gilt das Motto: Reifung und Lernen gehen Hand in Hand!

2. Dreiklang aus Aktivität, Dynamik und Kompensation

Vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse stellt sich die Preisfrage »Wie kann sich der moderne Mensch auf intelligente Weise im digitalen Zeitalter einrichten?« Die Ambivalenz unserer Zeit haben bereits Gerald Lembke und Ingo Leipner in ihrem Buch Zum Frühstück gibt’s Apps (5) herausgestellt. Diese Ambivalenz liegt auch in den Mechanismen des menschlichen Gehirns verborgen. Einerseits profitieren Erwachsene auf geniale Weise von den Möglichkeiten der digitalen Medien. Andererseits beeinträchtigt Digitalität Babys, Klein- und Schulkinder fatal in der Hirnentwicklung.

Denn elektronische Medien nehmen im Gehirn des Kindes genau diejenigen Areale unter Beschuss, die für Lernen, Denken und Handeln im ganzen Leben verantwortlich sind. Heranwachsende müssen auf dem Weg zur Intelligenz über mehrere neuronale Hürden springen, die ihnen niemand ersparen kann. Warum erschweren oder verhindern das digitale Medien? Um das zu verstehen, schauen wir uns diese Hürden genauer an:

Hürde 1 (Körperbewegung): Die Bewegungen von Körper und Gliedmaßen bestimmen, in welcher Weise bei Kleinkindern in einer frühen Phase Funktionsmodule des Klein- und Großhirns reifen. Wir bewegen uns im Leben in drei Dimensionen – und die entsprechenden Raumkoordinaten werden buchstäblich in die reifenden Module der Hirnrinde einprogrammiert. Sie heißt lateinisch cortex und ist die äußere Schicht des Groß- und Kleinhirns, die jeweils sehr reich an Nervenzellen sind. Die rund 70 Millionen Funktionsmodule der Großhirnrinde quasseln nahezu pausenlos miteinander und aneinander vorbei, und zwar über flächige Fasersysteme, die vertikal und horizontal ausgerichtet sind. Diese Verschaltungen schaffen gewaltige Kommunikations- und Speicherkapazitäten.

Die Areale der Bewegungsrinde starten ab dem Babyalter damit, gezielte Verbindungen anzubahnen. Fingerspiele sind Vorübungen für das allgemeine Greifen. Das Greifen nach Bauklötzchen und mehr ist wiederum die Vorübung des präzisen Ergreifens der Schreibfeder. Nur der Mensch erwirbt diese Fähigkeit zum Präzisionsgriff. Auf den Punkt gebracht: Nur so konnte ein Kölner Dom gebaut werden. Spätestens das Schulkind sollte in der Lage sein, den Präzisionsgriff zum Schreiben einzusetzen.

Besonders fällt die räumliche Organisation der Module im Kortex des Kleinhirns auf, das dem Großhirn unmittelbar vorgeschaltet ist. Die drei Schaltebenen dieser Module entsprechen in ihrer Anordnung exakt den drei Bogengängen des Gleichgewichtsorgans, die im Innenohr senkrecht aufeinanderstehen. 15 Millionen Purkinjezellen liegen dicht gepackt und senkrecht zu den gefalteten Blättern der Rinde, die dünn wie Folien sind. Jede Zelle hat die Möglichkeit, etwa 180.000 Kontakte mit T-Fasern zu bilden, die aus der Tiefe aufsteigen und parallel zu den Rindenfolien verlaufen. So können sie eine maximale Zahl von Bäumen aus Purkinjezellen durchqueren. Außerdem empfangen diese T-Fasern in der Tiefe Signale von den Sinnesorganen. Die Aufschlüsselung der Sinnesreize am Eingang in die Rinde des Kleinhirns liegt noch um viele Potenzen höher als die der T-Fasern. Wozu diese komplexen Verschaltungen?

Kurz gesagt: Es geht um Gleichgewichtsspiele, die gleichzeitig Kleinhirnspiele sind. Kinder und Jugendliche brauchen vielfältige körperliche Aktivitäten, damit das Gehirn gesund reifen kann. Nur so lassen sich seine Module ebenso vielfältig strukturieren. Kinder greifen, malen, basteln, purzeln, klettern und tollen herum – genau in der kritischen Phase, in der sich zeitgleich (!) modulare Groß- und Kleinhirnfelder funktional organisieren.

Was passiert, wenn digitale Medien ins Spiel kommen? Sie schränken automatisch das Bewegungsverhalten der Kinder ein, was diese hochgradig aktive und dynamische Phase der Hirnreifung beeinträchtigt. Die Folge ist ein enormer Stress für den Stoffwechsel. Wie uns Forschungen an einem Tiermodell gezeigt haben, reagieren gewisse Funktionsmodule in höchsten Rindenfeldern, indem sie eine Fehlanpassung vornehmen. Im Wolff’schen Sinne bedeutet das eine Dekompensation (6–8), das heißt, es kommt zu einer Fehlschaltung (Kapitel 2, Brillante Babys). Der Aufbau kognitiver Fähigkeiten wird gestört.

Hürde 2 (Verankerung kognitiver Funktionen): Wenn motorische Regelkreise reifen, verankern sich auch kognitive Funktionen im Gehirn. Denn das Kleinhirn und die motorische Großhirnrinde regen über vielfältige Bewegungen Denkleistungen an. Das wird bei einem Spaziergang auch Erwachsenen bewusst, wenn sie an der frischen Luft auf »gute« Gedanken kommen. Die logische Folge lautet, dass für Schulkinder der Pausenhof ein wichtiger Lernort ist. Das Kleinhirn registriert alle Aktivitäten, die ihm Spannungs- und Dehnungsrezeptoren des Bewegungsapparats melden. An diesem Informationsfluss ist speziell der Gleichgewichtssinn beteiligt. So bildet die frühkindliche Reifung von Kleinhirn und Bewegungsschaltkreisen das Fundament, damit sich über sensomotorische Rindenfelder hinaus assoziative Felder des Großhirns entwickeln können.

Daher erwächst aus dem kindlichen »Greifen« das »Begreifen« im Jugendalter, wie es in Kapitel 5 (Denken lernen) dargestellt worden ist. Daniel Ansari (9) hat 2003 herausgefunden, dass sich ein räumliches Verständnis der Welt (»be-greifen«) unmittelbar in mathematische Fähigkeiten umsetzt: Wir ordnen zum Beispiel Zahlen auf einem Zahlenstrahl an oder sprechen in der Geometrie von Würfeln und Quadern.

Ein weiterer Aspekt kommt dazu, den jeder in Lehrbüchern der medizinischen Neurobiologie schwarz auf weiß nachlesen kann: Koordinierte Bewegungen lösen nach der Geburt Gleichgewichtsreflexe ab, wozu hin- und herschaltende Bahnsysteme nötig sind, die das Kleinhirn mit dem motorischen Großhirn verbinden. Das Großhirn steuert nämlich die willkürlichen Bewegungen, die uns bewusst zur Verfügung stehen. Dabei haben zahllose rückgekoppelte Regelkreise die Aufgabe, die Koordination und Glättung von Bewegungssequenzen einzuüben.

Es entstehen Bahnungen, durch die sich Bewegungsabläufe verselbstständigen. Motorische Aktivitäten wie Balancieren, Springen oder Klettern fördern diesen frühkindlichen Prozess. Diese wichtigen Bahnungen lassen sich im Kindes- und Jugendalter in geistige Zusammenhänge überführen. Kinder lernen leicht schreiben, rechnen und denken, wenn sie diese sensomotorische Phase (Piaget) gesund durchlaufen haben.

Wieder wird deutlich: Drei Bauelemente sind notwendig, damit Nervennetze gut reifen. Dieser jahrelange Vorgang erfordert Hebbs Aktivität und Piagets getimte Dynamik, damit die Hirnreifung in der richtigen Reihenfolge abläuft. Hinzu kommt in den kritischen Reifephasen Wolffs Kompensation, um Ereignisse aus der Umwelt plastisch zu integrieren. Erst diese Bauelemente zusammen führen zu Lernerfolgen. Wenn aber die Kindheits- und Jugendjahre verpasst werden, bleibt die Entwicklung elementarer Funktionen auf der Strecke. Das passiert dann, wenn Kinder die dazu notwendige Zeit vertrödeln, etwa durch stundenlanges Sitzen vor Fernseher und Computer. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, hat Michail Gorbatschow gesagt. Und mancher Erwachsene kann diesen Satz bestätigen, sollte er sich mit 40 Jahren zum ersten Mal mit Skiern auf eine Piste gewagt haben.

Hürde 3 (Neuroplastizität): Nervenzellen, Synapsen und ganze Hirnareale sind in der Lage, sich flexibel neuen Bedingungen anzupassen. Das heißt in der Fachsprache Neuroplastizität. Sie ist in der frühen Kindheit enorm hoch, besonders in der sensomotorischen und assoziativen Großhirnrinde. Dieses Potenzial will genutzt werden!

Körperliche Aktivitäten schlagen sich eins zu eins in den Rindenfeldern des Großhirns nieder, wobei sie die Struktur und Ausdehnung der neuronalen Netze beeinflussen. Soll das gut gelingen, müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten entwickeln. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder Bastelarbeiten zu machen. Dadurch werden Vernetzungen in den sensomotorischen und assoziativen Rindenfeldern angelegt, die zeitgleich mit dem Kleinhirn reifen. Gerade präzise Handlungssequenzen der Feinmotorik lassen Synapsen aussprossen, wodurch differenzierte Verschaltungen entstehen. Dann fällt es Kindern später leicht, schreiben und lesen zu lernen.

Der Umkehrschluss lautet: Wischen, tippen und klicken Kinder auf Tablets, schadet das ihrer Gehirnentwicklung. Die flüchtigen Digi-Händchen führen keine differenzierten, feinmotorischen Bewegungen aus, was zu einer geringer ausgeprägten Vernetzung führt. Das betrifft die Module der sensomotorischen Hirnrinde und die feinmotorischen Schaltkreise des benachbarten Assoziationskortex. Spätere Auswirkungen? Abwarten …. Es dauert vermutlich nicht lange, bis diese Kinder als schuluntauglich eingestuft werden. Denn schon heute fallen immer mehr Kinder beim Test auf Schultauglichkeit durch.

Diese Überlegungen lassen sich durch einen der größten Arzneimittelskandale in Deutschland stützen. Es geht um die Opfer des Beruhigungsmittels Contergan, das in den 1950er-Jahren Schwangeren verschrieben wurde. Weltweit kamen 5.000 bis 10.000 geschädigte Kinder zur Welt, die unter fehlenden oder missgebildeten Gliedmaßen zu leiden hatten. Neurobiologisch betrachtet erhielten sie aber eine kleine »Entschädigung«: Auch wenn sie nur Stummelhändchen hatten, mussten in der Gehirnrinde bestimmte Zielfelder nicht schrumpfen, die eigentlich den mangelhaften Extremitäten zugeordnet waren! Mit anderen Worten: Contergan-Geschädigte waren in der Lage, eine gesunde kognitive Entwicklung zu durchlaufen.

Warum? Die Betroffenen lernten von früher Kindheit an, mit den Füßen zu malen, zu basteln oder zu schreiben. Später erwarben sie zum Teil auch die Fähigkeit, mit ihren Füßen eine Schreibmaschine zu bedienen. So floss Aktivität aus benachbarten Regionen den Zielfeldern ihrer Gehirnrinde zu, die geistige Entwicklung nahm einen normalen Verlauf. Klug war die Reihenfolge: Wer Malen, Basteln und Schreiben beherrscht, dem stehen entsprechende Module auch für weniger anspruchsvolle motorische Abläufe zur Verfügung, wie etwa das Tippen auf einer Schreibmaschine. Daher ist es heute unsinnig, Kinder zum Schreiben vor eine Tastatur zu setzen, statt ihnen einen Stift in die Hand zu drücken.

Mehr noch: Dieses schreckliche »Experiment« mit Contergan dokumentiert, dass körperliche Aktivitäten nicht in der motorischen Verarbeitung hängen blieben, sondern sich nah und fern gelegenen Modulen beider Gehirnhälften mitteilten. Diese Aktivitäten bereiten die Fähigkeit zum Denken vor – daher konnten auch Contergan-Geschädigte höhere Berufslaufbahnen einschlagen.

Aus der Aktivierung sensomotorischer Rindenfelder erwächst die Hemisphärendominanz. Dieser Fachbegriff steht für die Zuordnung der Gehirnhälften zu spezifischen Funktionen: Auf der einen Seite geht es um analytisches, auf der anderen Seite um ganzheitliches Denken, das im Kindesalter einzuüben ist. So lassen sich beide kognitiven Qualitäten im ganzen Leben nutzen. Wenn das Kind schreiben lernt, übernimmt in der linken Gehirnhälfte eine seriell geschaltete Bahnung die Führung – von den sensorischen zu den motorischen Feldern. Das ganzheitliche Denken kann in der rechten Gehirnhälfte nur über Parallelschaltungen reifen, wenn es zu beidhändigen Aktivitäten kommt: Ballspiele, Jonglieren, Musizieren oder Singen. Das sollten Angebote sein, die ständig die Grundschulzeit begleiten. Auf diese Weise gelingt es, analytisches und ganzheitliches Denken zu kombinieren und im ganzen Leben zu einem intelligenten Einsatz zu bringen. Es fällt nicht schwer, an dieser Stelle wieder querzudenken: Der differenzierte Netzausbau dieser speziellen Bahnungen wird »Digi-Kindern« verwehrt – und das bereits im Vor- und Grundschulalter! Später ist das kaum noch nachzuholen, die Karawane ist längst weitergezogen.

Hürde 4 (motivational-emotionale Zuwendung): Diese Zuwendung ist für die kindliche Reifung des Hippocampus und des Stirnhirns absolut notwendig. Der Hippocampus und das Belohnungssystem unter seiner Führung beherrschen die frühkindliche Entwicklung. Er sendet niedrig schwingende Theta-Wellen aus und sorgt dadurch für ein hohes Maß an allgemeiner Wachheit und Neugierde. Das Kurzzeitgedächtnis und die Emotionalität hängen ebenfalls von seiner Aktivität ab. Auf diese Weise wird ab dem frühesten Kindesalter die Grundlage geschaffen, um ein Gedächtnis auszubilden. Der großen Bedeutung des Hippocampus ist sich wohl auch die Medienindustrie bewusst, denn sie hat als Zielgruppe kleine Kinder im Visier – als spätere potenzielle Konsumenten (Kapitel 3, Im Kreuzfeuer der Werbung).

Warum fliegen Kinder auf digitale Medien, als ob sie aus Schokolade wären? Warum merken sie nicht, dass es sich in Wirklichkeit um Bitterschokochips handelt, wenn Erwachsene den Zugang verbieten? Warum wischen Kinder mit ihren kleinen Händchen leidenschaftlich über die Tablets, obwohl sie von den Inhalten nichts verstehen? Macht sie die digital beschleunigte Welt süchtig? Fragen über Fragen …

Antworten gibt der Hippocampus mit seinen systemischen Eigenschaften: Er ist lebenslang ausgestattet mit einer neuronalen und synaptischen Plastizität (10), die buchstäblich unverwüstlich ist, wie wir zum ersten Mal am Tiermodell erarbeiten konnten. Der Hippocampus ist so in der Lage, extrem flexibel auf soziale Isolation, Psychopharmaka oder verschiedene Stressfaktoren zu reagierten (11–13). Anders ausgedrückt: Der Hippocampus ist extremsten Belastungen gewachsen. Das zeigt sich gerade im Umgang mit elektronischen Medien. Doch die Schwachstelle liegt in einer anderen Region des Gehirns: Wer nicht mitspielt, sind die höheren Rindenfelder des Stirnhirns, die vom Hippocampus abhängig sind. Wie sie durch digitale Medien gefährdet sind, wird weiter unten geschildert.

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Quelle: Teuchert-Noodt

Zunächst beschäftigen wir uns weiter mit dem Hippocampus, der den Kleinhirnrechner auf besondere Weise ergänzt. Über ihn wird nämlich »berechnet«, wo sich welche Objekte im Raum befinden. Dafür gibt es einen neuronalen Mechanismus, den John M. O’Keefe bereits vor über 30 Jahren analysiert hat. Für diese Leistung erhielt er 2014 den Nobelpreis.

Der Wissenschaftler fand heraus, dass sich zwei Bahnen ständig aus der Sehrinde aktualisieren, die auf die sogenannten Platzneuronen im Hippocampus zulaufen (14). Die »Was-Bahn« erkennt Objekte, die »Wo-Bahn« verortet sie im Raum. Dieses System springt schon im Babyalter an, und zwar beim Wiedererkennen der Mutter. Das ist der früheste Lernerfolg des Babys, wenn es die Mutter an Nase, Augen und Mund (»Was-Bahn«) im Gesicht (»Wo-Bahn«) erkennt. Dabei schaltet sich unmittelbar das Belohnungssystem ein, das dem Hippocampus unterstellt ist. Es wird über Opiate und Dopamin angefeuert. Außerdem verstärkt die »Hebb’sche Lernsynapse« diese Reize, denn sie befindet sich an der Eintrittspforte der »Was- und Wo-Bahn«.

Dieser Mechanismus weckt im Baby ein positives Gefühl der Vertrautheit, sobald es im Arm der Mutter liegt (Belohnung!). Später erweitert das Kind seine räumliche Innenwelt, indem es zum Beispiel Teddys aus dem Bettchen immer wieder herausholt und zurücklegt. Das ist ganz ähnlich wie bei einem Hund, der einen geworfenen Stock wieder und wieder herbeischleppt. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass der Hund sein ganzes Leben auf diesem Level der Selbstbefriedigung verharrt. Für das Kind ist es lediglich ein Durchgangsstadium, das jedoch absolut wichtig ist. So entfaltet es auf kognitiver Ebene eine frühe Raumerfahrung und bahnt die Reifung des Stirnhirns an.

Digitale Medien schlagen nun voll auf dieser Ebene der kognitiven Entwicklung zu, denken wir nur an Piaget und Wolff: Die Kinder werden quasi gezwungen, sich in Tablets und Co. zu vernarren. Das digitale Feuerwerk schneller Videos und bunter Animationen löst ein Reizbombardement aus, das auf den Hippocampus niedergeht. Sein Belohnungssystem überdreht; es werden unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen abgefeuert, die das Stirnhirn massiv überfordern. Bestimmte Module reifen vermutlich zu schnell und unzulänglich (Notreife!). Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn nicht im Ansatz in der Lage ist, die notwendige Kontrolle über kognitive Konflikte auszuüben. Wie ein traumatisches Erlebnis wird sich dieser Vollrausch auf das Stirnhirn auswirken, wenn weitere Negativfaktoren dazukommen. Ein Super-GAU bei der Gehirnentwicklung.

Der Hintergrund für diesen Super-GAU: Das Stirnhirn ist die Instanz, in die sich menschlicher Raum und menschliche Zeit einschreiben. Daher ist es die übergeordnete Drehscheibe für alle Teilleistungen, die aus vielen Bereichen des Gehirns und des übrigen Körpers einlaufen, zum Beispiel aus den Sinnesorganen. Da geht es zu wie in einem Bürgermeisteramt: Dort treffen alle Teilinformationen ein, werden geprüft und an die Langzeitspeicher im Großhirn weitergereicht (Assoziationskortex). Auf diese Weise entsteht das menschliche Arbeitsgedächtnis.

Es ist völlig logisch, dass ein Baumeister den Dachstuhl seines Hauses zuletzt baut. So geschieht es auch mit dem Stirnhirn. Es entsteht als Letztes unter allen Funktionssystemen, wofür es zwei Gründe gibt: Der gesamte Bau des Gehirns folgt einem klar festgelegten Zeit-Konzept, und alle Hirnfunktionen unterliegen einer hierarchischen Gliederung. Schließlich trägt das Stirnhirn auch die höchste Verantwortung dafür, dass alle anderen Bereiche koordiniert reifen.

Es mag nicht so existenziell sein, mit einer körperlichen Behinderung durchs Leben zu gehen. In früher Kindheit aber ein Stirnhirnsyndrom zu erleiden, bedeutet großes Leid: Es stellen sich gravierende Kontrollverluste ein; Angstzustände und psychische Beeinträchtigungen können die Folge sein. Wenn wir dieses bedeutsamste aller Hirnsysteme genauer betrachten, wird schnell klar, welche Probleme uns künftig digitale Medien bescheren werden – und heute bereits bescheren!

Denn bereits eine teilweise gestörte Reifung des Stirnhirns kann bewirken, dass es höheren Anforderungen nicht mehr gewachsen ist; Konzentrations- und Denkfähigkeiten versagen. Das könnte bereits bei Studierenden der Fall sein, die mit digitalen Medien groß geworden sind. Dafür sind die immer noch hohen Abbrecherzahlen an den Universitäten ein Hinweis, genauso wie die stark wachsende Zahl von Burn-out-Fällen in der Gesellschaft.

Um diese fatalen Entwicklungen besser zu verstehen, sind weitere Aspekte der Stirnhirnentwicklung zu klären: Seine Allmacht zeigt sich besonders in der ausgeprägten Kontrollfunktion, die alle anderen Bereiche des Gehirns beherrscht: Im vierten Kapitel (Impulskontrolle) ist schon allgemein von der Impulskontrolle die Rede gewesen. Hirnphysiologisch lassen sich sehr konkrete Teilleistungen diesen Kontrollleistungen zuordnen: Eine spezielle Instanz zur Konfliktbewältigung kontrolliert das Belohnungssystem. Versagt diese Instanz, heißt die Antwort: Sucht. Eine weitere Instanz zur Angstbewältigung überwacht den Gehirnbereich der Amygdala. Wenn sie den Geist aufgibt, heißt die Antwort: Angstsyndrom. Und eine dritte Instanz passt auf die assoziativen Rindenfelder auf. Deren Aufgabe besteht darin, Wahrnehmungen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen und als Informationen zu speichern. Versagt diese Instanz, heißt die Antwort: Kontrollverlust über die Körperbewegungen sowie Konzentrations-, Merk- und Denkschwäche.

Wenn wir die exekutiven Funktionen des Stirnhirns so beschreiben, lässt sich das zentrale Problem digitaler Medien an der Wurzel packen. Sobald die Ortsverrechnung im Hippocampus und das Belohnungssystem bei Kindern übermäßig strapaziert werden, können sich Teilleistungen des Stirnhirns nicht voll entfalten, und zwar in kritischen Phasen der Reifung. Die frühkindliche Notreifung der Kommunikation von Stirnhirn und Hippocampus führt zu schweren Funktionsstörungen im kognitiven Bereich (17, 18). Die Folgen können sein: Hyperaktivität bei Kindern und Burn-out bei Erwachsenen.

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