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Stadt Waldshut-Tiengen, Archiv der Jugendkulturen e. V. (Herausgeber):

„Ich bleib erst mal hier.“

Jugend in Waldshut-Tiengen

Originalausgabe

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim – bugrim.de

ISBN (Dieses Buch gibt es auch als E-Book.)

Gestaltung und Layout: sehen und ernten e.V. – sehenundernten.org

Organisation und Durchführung vor Ort: Stefan Maßmann & Kinder- und Jugendreferat Waldshut-Tiengen

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Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Buchreihe. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist immer an Material jeglicher Art interessiert.

Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen e. V. unterstützen und Teil eines kreativen Netzwerkes werden.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

Kapitel 1 von Karl-Heinz Behr

„Es gibt keine Waldshut-Tiengener“

Ein sozialstrukturelles Mosaik der Doppelstadt am Hochrhein

Kapitel 2 von Stefan Maßmann

Jugend als Zukunft – das Projekt

Kapitel 3 von Artur Grechman

Die Jugend der Zukunft.

Kapitel 4 von Karl-Heinz Behr

„Es hat uns nicht geschadet, dass wir hier aufgewachsen sind.“

Sich engagieren, gesehen werden, Wirkung erzielen – Erwachsen werden im Waldshut der 90er Jahre

Kapitel 5 von Sara Burs, Nicolle Pfaff und Tina-Berith Schrader

Jugend gestern und heute – Biographische Erinnerungen von Angehörigen zweier Generationen

Kapitel 6

Die Studie

Kapitel 7 von Stefan Maßmann

Räume für Jugendliche – drei Gruppenporträts

Kapitel 8 von und mit Anja Tuckermann und Sandra Knecht

„Ich lache, aber ihr ahnt nicht, wie es in mir aussieht.“

Ein Foto- und Schreibworkshop

Anhang

Nur im E-Book:

Die komplette Studie
Der Fragebogen

„Es gibt keine
Waldshut-Tiengener.“

Ein sozialstrukturelles Mosaik der
Doppelstadt am Hochrhein

Von Karl-Heinz Behr

Es gibt keine Waldshut-Tiengener: Man wächst in Waldshut auf oder in Indlekofen, in Gurtweil, Tiengen oder einem anderen der 12 Ortsteile. Die Identifikation mit dem einen schließt häufig andere aus. Das ist auf den Dörfern so. Oberalpfener müssen immer wieder ihren Jugendtreff „Wäschhüsli“ verteidigen bei „Besuch“ von außerhalb, Ortsvorsteher und Ortschaftsrat müssen hin und wieder klärend eingreifen. Das ist aber auch in den Stadtteilen so. In Tiengen kann die Identifikation mit dem Stadtteil dann so klingen: „… Wo hab ich mich rumgetrieben und wie konnten wir nur alle die Kontrolle über unser Leben so verlieren ach ich weiß doch auch nicht wir waren doch den ganzen Tag dicht und jetzt sitzen wir vor Gericht ich hoff ich muss dort nie mehr hin denn dann müsste ich nach Waldshut und darauf hab ich keinen Bock weil ich mich lieber hier in Tiengen City auf irgendeine Bank hock … denn Tiengen ist die beste Stadt der Erde das is der Grund warum ich für immer hier in Tiengen City bleiben werde … und jetzt schreit mit mir Tiengen Tiengen Tiengen.“ `Empire State of Tiengen´ hat der Rapper Gravito, Tiengener, seinen Tiengen-Rap genannt, den er schon mehrfach enthusiastisch im Jugendzentrum vortrug. Ganz ungern geht er damit nach Waldshut.

Im Zuge der Gemeindereform, die zum 1. Januar 1975 die Stadt Waldshut-Tiengen schuf, wurde möglicherweise die Verwaltung gestrafft und vereinfacht, nicht aber das Zusammenleben der Bürger. Es gibt mit Schwyzertag Anfang Juli in Tiengen und der Waldshuter Chilbi Mitte August zwei große Stadtfeste, zwei Vereine kümmern sich um Handel und Gewerbe je in ihrem Stadtteil. Natürlich gibt es zwei Freibäder und zwei Rathäuser. Es gibt nur einen Gemeinderat, aber beispielsweise zwei CDU- und zwei SPD-Ortsvereine, die sich immerhin auf jeweils eine Liste für den Gemeinderat einigen können.

Trägt die Doppelstruktur in mancher Hinsicht zur bereichernden Vielfalt bei, so erhalten sich doch auch immer wieder wenig hilfreiche, manchmal teure Parallelstrukturen. Auch wenn manchem Verein die Aktiven fehlen, werden die vereinseigenen Strukturen und Bestände geschützt.

Die städtische Vereinsdatei weist 376 Einträge auf von A wie Akkordeon-Orchester Tiengen bis Z wie Zierfischfreunde Hochrhein. Vergleichsweise hoch ist die Vereinsbindung von Jugendlichen, stellt die Waldshut-Tiengener Jugendstudie 2014 fest: 73% der an der Studie Teilnehmenden sind in einem Sportverein, 36% in einer Musikgruppe, wobei sich die Zugehörigkeit zum einen oder anderen nach Geschlecht teilt – Mädchen machen eher Musik, Jungen sind mehr im Sport aktiv. Auch die soziale Herkunft spielt dabei eine Rolle. Trotz hoher Mitgliederzahlen klagen Vereine und Verbände über die Schwierigkeiten, einen Vorstand zu besetzen oder Jugendtrainer zu finden. Eigeninitiative und Engagement, so stellt die Jugendstudie fest, ist bei den befragten Jugendlichen gering ausgeprägt. Das entspräche wohl den Einstellungen ihrer erwachsenen Vorbilder, ergänzte ein Kommunalpolitiker bei der Vorstellung der Studie. Nicht überraschend, dass die Stadtjugendringe in Waldshut und Tiengen schon in den 90er Jahren eingeschlafen sind und auch der Kreisjugendring, als einzig verbliebene verbandliche Vertretung Jugendlicher, seit Jahren Nachwuchsschwierigkeiten hat.

Waldshut-Tiengen wächst.

Trotz des auch hier vorhandenen landesüblichen Geburtendefizits ist die Bevölkerung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen auf 22.700 im Jahr 2013. Das verdankt die Stadt vorwiegend den Gewinnen aus der bundesweiten Nord-Süd-Wanderung, aber auch den Wanderungsgewinnen aus dem Umland. 2012 blieb bei 1.963 Zuzügen ein Plus von 185 Personen. Der Demografiebericht der Bertelsmann-Stiftung, der Waldshut-Tiengen unter „mittelgroße Kommune mit geringer Dynamik im ländlichen Raum“ einordnet, prognostiziert einen weiteren leichten Anstieg bis zum Jahr 2025, bevor die Einwohnerzahl sinken wird. 2.700 Personen klassifiziert die Statistik als Ausländer, also rund 12% der Bevölkerung. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist, wenn man die Definition des Zensus 2011 zugrunde legt („Ausländer und alle nach 1955 nach Deutschland Zugewanderten einschließlich derer, die einen Elternteil haben, der nach 1955 nach Deutschland eingewandert ist“), etwa dreimal so hoch.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in den zwei städtischen und zehn dörflichen Stadtteilen ist, im Gegensatz zur Gesamtentwicklung, schon längst gesunken. Auch damit liegt Waldshut-Tiengen im Landestrend: Das Statistische Landesamt verzeichnete den Höhepunkt schon 2001 mit rund 4.800 jungen Menschen unter 20 Jahren. Der Jugendquotient, also der Anteil der unter 20-Jährigen bezogen auf die Zahl der 20-65-Jährigen, wird bis 2030 mit 4.000 auf 32,8% gesunken sein, wohingegen der Altenquotient, der Anteil der über 65-Jährigen mit 6.000 auf über 50% steigen wird. Folgte man der Logik einer „Demografischen Rendite“, wie sie landesweit derzeit die Kürzungen an Lehrerstellen begründet, dann brauchte man künftig wohl für Kinder und Jugendliche eher weniger als mehr tun.

Wirtschaft

„Die Wirtschaftsstruktur des Landkreises zeigt zwei Besonderheiten: 1. Die Grenzlage zur Schweiz bewirkt enorme Erwerbstätigenströme in die Schweiz und einen hohen Kaufkraftzufluss in den Landkreis. 2. Der Kreis ist dünn besiedelt und stark ländlich geprägt. Funktionen und Einrichtungen, die städtische Räume kennzeichnen, sind nur unterdurchschnittlich vorhanden oder fehlen ganz“, schreibt die „Wirtschaftsförderung des Landkreises Waldshut 2014“. Kennzeichen der gewerblichen Struktur des Landkreises seien ein breiter Branchen-Mix in kleinen und mittleren Unternehmen mit unter 1.000 Beschäftigten. 11.400 Personen waren 2013 in der Stadt Waldshut-Tiengen laut Statistischem Landesamt sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 40% davon arbeiteten im produzierenden Gewerbe, eine im Landesvergleich hohe Quote. „Eine Spezialität der Region ist die qualitativ hochwertige, flexibel auf Nischen und tendenziell auf kleinere Stückzahlen ausgerichtete Produktion. Viele Unternehmen … sind Ableger oder Töchter mit Entscheidungszentralen außerhalb der Region, häufig auch in der Schweiz. … Die stärksten Branchen im Dienstleistungssektor sind der Einzelhandel (am Hochrhein mit rund 40% Schweizer Kundschaft), der Tourismus (mit ca. 9% der regionalen Wertschöpfung) und das Gesundheitswesen mit 3.800 Arbeitsplätzen“, berichten die Wirtschaftsförderer.

Viele Jugendliche wollen weg.

Viele Jugendliche wollen weg, wenn sie erst einmal die Schule hinter sich haben. Aber es kommen auch viele. Nicht nur Touristen, die die Innenstädte von Waldshut und Tiengen bewundern, den Radweg am Rhein entlang nutzen, im Schwarzwald wandern oder klettern. 34.000 Gästeankünfte und 79.000 Übernachtungen verzeichnet die Statistik des Landkreises 2012 in Waldshut-Tiengen. Das Schwyzerdütsch, das in der Kaiserstraße Waldshut an sonnigen Tagen Standardsprache wird, wird nicht nur von Touristen, sondern auch von vielen Tagesgästen gesprochen, die in Deutschland günstig einkaufen oder essen gehen können. Zur Arbeit kommen 8.500 Menschen in die Stadt, 4.800 Arbeitnehmer müssen wegfahren.

4.400 Schülerinnen und Schüler besuchen täglich die 9 städtischen Schulen. Viele von ihnen kommen aus dem Umland. Mit den weiteren Schulen – Gewerbliche Schulen, die christliche Schule und verschiedene Förderschulen – pendeln fast 5.000 Schülerinnen und Schüler täglich in die 18 Schulen im Stadtgebiet ein. Manche haben lange Fahrwege: Sie kommen aus Hohentengen und Jestetten im Osten des Landkreises oder aus Görwihl westlich der Stadt. Dass Wohnort und Schulort sehr weit auseinander liegen und der Busverkehr außerhalb der Schulzeiten zu jugendlichen Lebensrhythmen oft nicht so recht passen will, ist die gemeinsame Erfahrung schon vieler Jugendgenerationen.

Eine Spezialität der Region ist, dass junge Leute mit Hochschulqualifikation vor Studium und Berufsausbildung abwandern, weil hier „keine Uni um die Ecke ist“ (Fabian Leber), und sie in der Regel nicht mehr zurückkommen. „Ich weiß nicht, ob inzwischen ein Bewusstsein dafür da ist, dass man die Leute auch hier halten muss. Irgendwann hast du dann echt Probleme, da noch Leute zu finden. Diese gut ausgebildeten Leute, die kriegst du dann auch nicht mehr zurück, wenn die einmal weg sind…“ gibt Fabian Leber zu Bedenken. Er ist in Waldshut aufgewachsen und lebt in Berlin (s. auch das Gespräch mit ihm in diesem Buch).

Arbeitslosigkeit und Armut in Waldshut-Tiengen

Die SGB-II-Quote für Waldshut-Tiengen beziffert der Demografie-Bericht der Bertelsmann-Stiftung mit 7,2%, das sind knapp 1.100 Personen zwischen 15 und 65 Jahren. Kinder und Jugendliche, die Leistungen nach dem SGB II erhalten gelten als arm. Im Jahr 2011 waren das 369 Kinder unter 15 Jahren (11%) und 49 Jugendliche zwischen 15 und 17 (7,1%) in Waldshut-Tiengen. Der monatliche Regelbedarf für Alleinstehende, also das Geld, das eine Person laut Sozialhilfegesetzgebung monatlich mindestens zum Leben braucht, liegt zurzeit bei 391 €. Hinzu gerechnet werden noch Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung, Miete und Heizkosten. Im Falle der Grundsicherung für Arbeitssuchende kommen unter Umständen einmalige Leistungen für Erstausstattungen, Mehrbedarf für Schwangere oder Schwerbehinderte, Leistungen für Bildung und Teilhabe oder ein Einstiegsgeld hinzu. Wenn von SGB-II-Beziehern (oder SGB-II-Quote) gesprochen wird, dann sind Arbeit suchende Menschen und deren Angehörige gemeint, die neben anderen Förderungen auch die finanziellen Zuwendungen nach dem 2. Sozialgesetzbuch bekommen.

Offiziell sind in Waldshut-Tiengen 450 Personen arbeitslos gemeldet, das sind 2% der erwerbsfähigen Bevölkerung. Nach anderer Rechnung (der Bertelsmann-Stiftung, die sich auch auf Zahlen aus der Bundesanstalt für Arbeit bezieht) lag 2011 der Arbeitslosenanteil für die Stadt bei 8,3%, das wären dann 1.200 Personen, 90 davon unter 25 Jahre alt. Zum Vergleich: Land und Landkreis liegen bei der Gesamtzahl der Arbeitslosen bei einer Quote um 5,6%. 390 Personen waren 2011 schon ein Jahr oder mehr ohne Arbeitseinkommen. Diese „Langzeitarbeitslosigkeit“ führt zu besonders prekären Lebenslagen. Tafelläden werden dann lebenswichtig. Personen, deren monatliches Gesamteinkommen unter 900 € liegt, dürfen im Tafelladen in der Waldshuter Bergstraße einkaufen. Unter Vorlage eines Einkommensbescheides kann man sich drei Mal pro Woche in der `Tafel´ der Caritas zu günstigen Preisen mit Lebensmitteln versorgen. Das Angebot ist in der Regel begrenzt und hängt davon ab, was an Lebensmitteln und wie viel davon die ehrenamtlichen Abholer des Ladens bei den örtlichen Lebensmittelgeschäften bekommen haben. Manchmal gibt es kein Joghurt und kaum Milch, an anderen Tagen sind Obst oder Eier knapp. Je nach Angebot wird begrenzt, wie viel jeder Kunde kaufen darf.

Kindheit und Jugend

Unter dem Stichwort „Topographie der Kindheit“ stellte das Team um den Freiburger Soziologen Baldo Blinkert fest: „Durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen verändert sich Kindheit.“ Das ist eine Selbstverständlichkeit. Interessant wird es, betrachtet man genauer, was denn die relevanten gesellschaftlichen Bedingungen sind: Auch in Waldshut-Tiengen sei die Situation von Kindern, so die Sozialwissenschaftler, geprägt von Veränderungen im Bereich der Familie, verändertem Medienkonsum, einer Freizeit von Kindern, die zunehmend in organisierter Form unter zunehmend professionalisierter Betreuung stattfindet. Zudem haben Kinder immer seltener Zugang zu naturnahen Flächen, die ihnen freies Spielen ermöglichen. In drei ausgewählten Wohnvierteln, in Waldshut auf dem Aarberg und im Ziegelfeld, in Tiengen westlich des Bahnhofs, wurde 2007 vom Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) die „Aktionsraumqualität von Kindern und Jugendlichen“ exemplarisch untersucht. Befragt wurden in allen drei Gebieten Haushalte, in denen ein oder mehrere Kinder zwischen 6 und 15 Jahren lebten. Es wurden 177 Haushalte mit 266 Kindern in die Untersuchung einbezogen. Christine Schings, die die Untersuchung durchgeführt hat, kommt zu dem Schluss: „Trotz der eher ländlichen Verhältnisse ist bei einem Fünftel der Familien die objektive Aktionsraumqualität als schlecht bis sehr schlecht zu kategorisieren. Auch die Spielmöglichkeiten der Kinder weisen auf Handlungsbedarf hin: Zwar können zwei Drittel der Kinder laut Aussage ihrer Eltern unbeaufsichtigt im Freien spielen, dagegen kann dies ein gutes Viertel nur mit Bedenken der Eltern, fünf Prozent spielen nur unter Aufsicht im Freien und für drei Prozent ist das Spielen im Freien gänzlich unmöglich. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, wie notwendig es ist, vorhandene Aktionsräume für Kinder zu sichern … und dem Verschwinden von naturgerechten Erlebnisräumen entgegen zu wirken.“ Die Studie machte anschließend Vorschläge zu drei Aspekten: 1. Verkehr: Gefahren die vom Verkehr ausgehen, sollten abgemildert werden und auf die Vernetzung von Spielorten sollte geachtet werden. 2. Wohnumfeld: Nicht nur klassische Spielplätze verbessern die Aktionsraumqualität, sondern vor allem auch naturnahe Spielräume, die Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. 3. Um die Aktionsraumqualität dauerhaft zu sichern, muss dafür geworben werden, dass die Bürgerinnen und Bürger der Stadt die Bedürfnisse der Kinder nicht nur akzeptieren, sondern sie darüber hinaus als Bereicherung ihrer Wohn- und Lebensqualität erkennen.

Die Stadtverwaltung sieht Erhalt und Verbesserung von Spiel- und Aktionsräumen als Querschnittsaufgabe. „Ich würde mir wünschen, dass bei allen Leuten in verantwortlichen Positionen, ob jetzt in der Schule, im Betrieb oder im Verein, Jugend eine Rolle spielt“, sagte Martin Albers, Oberbürgermeister von Waldshut-Tiengen, den Interviewern der Jugendstudie. Die Stadtverwaltung bemüht sich um die 63 „offiziellen“ Spiel- und Bolzplätze, meist in kleinen Schritten, aber stetig. Wo immer möglich, werden Kinder und Anwohner in Bau- und Umgestaltungsprojekte einbezogen, ihre Ideen und Vorstellungen sind gefragt, sie können mithelfen beim Pflastern oder Pflanzen. Hinzu kommt eine weitere Aufgabe: Es gilt, Flächen für kindliches Spiel zu sichern, die keine Spielplätze sind, aber offensichtlich Spielpotenzial aufweisen: Verwilderte Grundstücke, Uferflächen, die nicht bewirtschaftet werden, Waldränder oder Böschungen bieten Kindern vielfältige Spielmöglichkeiten. In Waldshut-Tiengen sind solche „weißen“ Flächen kartiert und den in verschiedenen Ämtern genutzten Geo-Informationskarten hinterlegt. Soll eine dieser Flächen bebaut oder anderweitig genutzt werden, kommt ein verwaltungsinternes Prüfverfahren in Gang, das die Nutzung entweder verhindert oder die Suche nach geeigneten Ersatzflächen initiiert.

Und für Jugendliche?

550 Schülerinnen und Schüler an Waldshuter Schulen sind mit dem, was man in der Freizeit in Waldshut machen kann, nicht zufrieden. 580 meinen, dass Waldshut ein Jugendhaus braucht. Das war 1994. Jugendliche einer Waldshuter „Jugendhausinitiative“ hatten nach einer eigenen Umfrage 670 Fragebogen ausgewertet, um ihrer Forderung nach einem Jugendhaus Nachdruck zu verleihen. Im Oktober 1997 wurde das „Jugendcafé im Kornhaus“ Waldshut eingeweiht. Da war der größte Teil der engagierten Jugendlichen schon weggezogen, zu Zivildienst oder Bundeswehr, zum Studium oder für eine Berufsausbildung. „Nichts wie weg!“ war das bestimmende Gefühle der letzten Schuljahre, erinnert sich Fabian Leber, der einer der Initiatoren dieser Umfrage war.

20 Jahre später stellt die aktuelle Jugendstudie fest: 55% der Jugendlichen sind nicht zufrieden mit den Freizeitmöglichkeiten vor Ort. Auch hier wurden wieder fast 700 Fragebogen ausgewertet. Geantwortet hatten aber nicht nur Waldshuter, sondern eine breite Auswahl von Jugendlichen, die in Waldshut-Tiengen zur Schule gehen und zwischen 14 und 18 Jahre alt sind.

Und wie steht es inzwischen mit den Fluchtgedanken? 36% der Jugendlichen leben gern an ihrem Wohnort, stellt die Studie weiterhin fest, nur 6% nicht gern. Aber über ein Viertel der Jugendlichen möchte die Region nach dem Schulabschluss verlassen. Dabei gibt es Unterschiede nach Bildungsniveau, Migrationshintergrund, Alter und Geschlecht.

Was sie sich wünschen, trugen auf Einladung des Kinder- und Jugendreferates 50 Jugendliche im Rahmen einer Zukunftswerkstatt im Dezember 2013 zusammen: Das sind weitere Sportangebote jenseits von Fußball, informelle Treffmöglichkeiten im Freien, vielleicht Grillplätze, mehr, unterschiedliche und für ihren Geldbeutel erreichbare Einkaufsmöglichkeiten („ein H&M wäre toll“), Musikveranstaltungen für Jüngere und Treffpunkte ohne erwachsene Kontrolle oder pädagogische Aufwartung. Eine Jugendbar wäre gut. Am Ende des Tages wurden Initiativen und Maßnahmen vorgeschlagen, wie diese Wünsche verwirklicht werden könnten.

Nicht weniger, sondern mehr muss auch für Jugendliche getan werden, wenn sie weniger werden. Immer schwieriger wird es für sie, ihre Interessen zu organisieren. Sie finden zunehmend weniger Gleichgesinnte, besonders im ländlichen Raum. Verschiedene jugendliche Initiativen zur Einrichtung eines Jugendgemeinderats in Waldshut-Tiengen in den letzten Jahren sind neben anderem auch daran gescheitert. Zum anderen haben Jugendliche immer weniger freie, unverplante Zeit. Engagieren können sie sich fast nur noch in „vorbereiteten“ Bereichen in Verein oder Jugendarbeit, in pädagogisierten Lern- und Bildungsräumen. Andererseits äußerten Jugendliche ihre Überraschung angesichts der Verwirklichung eines Parkour-Trainingsplatzes den Interviewern der Jugendstudie gegenüber: „… Sozusagen aus´m Nix ist es entstanden, obwohl das unser Traum eigentlich schon früher war, einen Parkour-Park zu haben. Und dann haben wir das halt gemacht und dann lief das eigentlich und Stefan [Stefan Maßmann im Jugendzentrum Tiengen] unterstützt uns auch immer und alles. Ja, das macht Spaß mit denen zu arbeiten … Also, wenn man `ne Idee hat, man ist bei denen immer willkommen.“ Tatsächlich wird im öffentlichen Raum wenig jugendliche Initiative sichtbar. Mehr wäre möglich. Die Bemerkung anderer Jugendlicher in der Jugendstudie illustriert das: „… Was aber echt cool ist, dadurch dass es so wenig Jugendliche sind in den Vereinen und überall, wenn man was macht, rennt man echt offene Türen ein bei den Erwachsenen.“ Und nun, folgerichtig, steht die Jugendbar auf der Wunschliste. Auf die Frage, was denn als erstes zu tun sei, wenn sie einen solchen Treffpunkt verwirklichen wollten, lautet die Antwort: Dann gehen wir zum Oberbürgermeister einen Kaffee trinken. In ihre Erfahrung offener Türen werden offenbar alle Entscheidungsebenen mit einbezogen.

Dabei entsteht ein Widerspruch: Angesichts der wenigen, frei planbaren Zeit und den geringer werdenden gestaltbaren Räumen erscheint der Wunsch nach „Zonen zum Chillen“, Bereiche, in denen Erwachsene nicht vorkommen, vielleicht eine Jugendbar, konsequent. Solche weniger kontrollierten Bereiche müssten aber von den Erwachsenen ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden. Oder sollten Erwachsene einfach manche Zeiten und Orte frei lassen – frei von Einrichtungen und Nutzung, frei von Erwartungen?

Demografischer Wandel

Der demografische Wandel ist die derzeit am meisten unterschätzte Herausforderung für die Kommunen im Land, ist in Politikerreden und öffentlichen Statements zu hören. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung stellte fest: „Das Statistische Bundesamt erwartet …, dass in Deutschland 2050 mindestens zwölf Millionen Menschen weniger leben als heute. Gleichzeitig schafft der wirtschaftliche Strukturwandel zwar neue Arbeitsplätze – aber sie entstehen vor allem in den Metropolregionen, zu denen auch das ländliche Umland der Großstädte gehört. In ländlich-peripheren Gebieten geht dagegen Beschäftigung verloren. Besonders junge Menschen, und damit potenzielle Eltern, folgen dem Ruf der Zentren. Beide Prozesse sorgen dafür, dass der entlegene ländliche Raum überproportional von Alterung und Abwanderung betroffen ist. Und anders als früher wird die Landflucht nicht mehr durch hohe Kinderzahlen ausgeglichen. … Die geografische Lage der Orte, die Siedlungsstruktur sowie die Möglichkeit, wichtige Infrastrukturen wie Schulen, Ämter oder städtische Zentren in kurzer Fahrzeit zu erreichen, wirken sich auf die Bevölkerungsentwicklung aus. Aber auch die Frage, wie aktiv sich die Bürger um ihre Belange kümmern, hat einen Einfluss auf die demografische Stabilität.“ Waldshut-Tiengen ist weder entlegener ländlicher Raum noch ländliches Umland einer Großstadt. Die Befunde treffen aber trotzdem zu. Was heißt das folglich?

„Ich bleib erst mal hier nach dem Abi“, kündigte ein Jugendlicher aus der Parkour-Gruppe an. Er hatte durch die Einrichtung des Parkour-Trainingsplatzes erlebt, dass man tatsächlich etwas bewegen und gestalten kann, wenn man zusammen mit anderen aktiv wird. Und dass sich das lohnt.

Quellen

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die Zukunft der Dörfer. Zwischen Stabilität und demografischem Niedergang, Berlin 2011, S. 6f.

Blinkert, Baldo: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Eine Untersuchung im Auftrag der Stadt Freiburg, Pfaffenweiler: Centaurus 1996 (FIFAS-Schriftenreihe). Demografie-Bericht der Bertelsmann-Stiftung: Online-Abfrage Mai 2014. Haushaltsplan der Stadt Waldshut-Tiengen

Landkreis Waldshut: Daten und Informationen zur Kreistagswahl 2014, S. 113.

Landkreis Waldshut: Tourismus in Zahlen – Statistik des Landkreises Waldshut 2012.

FIFAS/Schings, Christine: Aktionsraumqualität von Kindern und Jugendlichen in Waldshut- Tiengen. Freiburg 2007. Kostenloser Download: www.fifas.de/all/pdf/Bericht_Aktionsraumqualitaet_Waldshut_Tiengen_2007.pdf.

Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Zensus 2011 – Bevölkerung Waldshut-Tiengen, Stuttgart 201

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Jugend als Zukunft
– das Projekt

Von Stefan Maßmann

Ausgangspunkt für den Entschluss, eine umfassende Jugendstudie für die Stadt Waldshut-Tiengen erstellen zu lassen, war die Feststellung, dass Jugendarbeit, geleistet in Vereinen, Verbänden oder als städtische, häufig vor der Problematik stand, Jugendliche zu erreichen, zu begeistern und dauerhaft an sich zu binden. Die Erfahrung war, dass man die jungen Menschen oftmals nur für einzelne, überschaubare Projekte gewinnen konnte und man sie nach Abschluss, häufig auch schon während des Ablaufs, wieder verlor. Wichtige Aspekte der Jugendarbeit wie eine Vereins-/Verbandsidentifikation, Beziehungskultur, Teilhabe an öffentlichem Leben über Institutionen, wurden erschwert.

Die Analyse dieser Situation, die sich über einige Jahre entwickelte, war für alle Beteiligten ausgesprochen schwierig und es fanden sich letztendlich auch keine umfassenden Situationsbeschreibungen beziehungsweise greifbare Lösungsansätze. Beschreibungen wie „Generation online“, „Generation Spaß“, „Generation Suff“ „Generation Praktikum“ und so weiter deuteten mit erhobenen Zeigefinger auf einzelne Aspekte, die dann pars pro toto eingesetzt wurden und die Jugend pauschal disqualifizierten – oftmals entgegen besseren Wissens und der Kenntnis aktueller Zahlen. Hilfreich hingegen war die Lektüre bekannter Jugendstudien wie beispielsweise der Shell-Studie oder der SINUS-Jugendstudie. Die vor Ort erkannten Probleme folgten demnach einem bundesweiten Trend, der sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen speist; ein Zusammenspiel aus Faktoren, wie

Computerisierung und Medialisierung des Alltags,

Soziale Netzwerke und veränderte Kommunikationskulturen,

demografischer Wandel,

Stigmatisierung von Jugend,

deutlich steigende Bedeutung formaler Bildung,

Veränderungen in Familiensituationen und teilweise dem Selbstverständnis von Elternschaft,

Globalisierung mit den entsprechenden Chancen und Risiken,

um einige bedeutende zu nennen. Deutlich wird, dass Jugendlichen den von außen an sie gestellten Ansprüchen eigenes Denken und Handeln entgegenstellen, um sich strategisch gut zu positionieren. Begriffe wie eine „konservative“, „pragmatische“, „angepasste“ Jugend spiegeln dies wider. Damit ist ein Verhalten beschrieben, das sich weitgehend an den Normen eines liberalisierten Arbeitsmarktes orientiert.

Wertigkeiten, die in der Jugendarbeit bedeutsam sind, wie individuelle Persönlichkeitsentwicklung, stabiles Verhalten innerhalb unterschiedlicher sozialer Gruppen, Solidarität, eigenverantwortliches Verhalten, rücken in der empfundenen Notwendigkeit zurück und damit auch die Einschätzung von Freizeit.

Freizeit wird, zumindest subjektiv, ein knapperes Gut für Jugendliche – sie dient heute stärker der Reproduktion eines „verschulten“ Alltags, bestimmt durch Nachhilfe, Wegzeiten, Aufbaukurse, Praktika und die Schulzeit selbst. Zeit zu finden für Kontemplation, Kreativität, perspektivisches Engagement wird schwieriger – obwohl gerade diese Bildungserfahrungen aus dem non-formalen Bildungsbereich für die Entwicklung von jungen Menschen von Bedeutung sind. Die anfangs erwähnten Phänomene sind abstrakt erklärbar, doch wie vor diesem Hintergrund eine gelingende Beteiligung am öffentlichen Leben in dessen Mannigfaltigkeit möglich wird, wird nur in Grundgedanken angedeutet – man erhält keine fertigen Handlungskonzepte.

Was heißt dies für Waldshut-Tiengen?

Die Stadt hat ein Eigeninteresse, ihren Jugendlichen Rahmenbedingungen der Entwicklung bereitzustellen, die diese zu selbstbewussten und gemeinschaftsfähigen Erwachsenen werden lässt, die sich auch zukünftig aktiv in die Stadt einbringen wollen. Ein Teil dieser Rahmenbedingungen wird über die Arbeit von Schule, Vereinen, Verbänden und weiteren Angeboten offener Jugendarbeit gewährleistet. All diese Institutionen sind Teil der städtischen Jugendarbeit, die sich aufgrund der veränderten Bedingungen neu aufstellen und vernetzen müssen, um bestehenden und zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.

Aus diesem Grunde wurde die vorliegende Jugendstudie initiiert, die entgegen klassischer, ausschließlich deskriptiver Studien, von vorneherein die Gedanken der Vernetzung und Beteiligung als zentrale Bereiche ansah, die bereits während der Studiensituation berücksichtigt und aktiviert werden sollten.

Auf lokaler Seite wurde die Studie durch eine Reihe von Veranstaltungen, die diesem Ansinnen entsprachen, begleitet.

Die Auftaktveranstaltung

Nachdem im Vorfeld alle Schulen über deren Schülervertretungen und die Rektoren von der Studie in Kenntnis gesetzt waren, erfolgten die persönlichen Einladungen für die Auftaktveranstaltung im Juni 2013. Es wurde von Anfang an darauf geachtet, dass möglichst viele AkteurInnen, die in der Stadt mit Jugendlichen zu tun haben, in die Untersuchung und deren Ausgestaltung miteinbezogen waren. So wurden für die Auftaktveranstaltung neben den Rektoren der weiterführenden Schulen auch Verbands- und VereinsvertreterInnen eingeladen, die Jugendabteilungen unterhalten. Darüber hinaus waren VertreterInnen aus Politik, Polizei, Stadtverwaltung, Offener Jugendarbeit und engagierte BürgerInnen eingeladen. Jugendliche standen bei diesem Termin nicht im Fokus, da mehrere eigene Veranstaltungen für sie folgen sollten; trotzdem waren sie herzlich willkommen und einige fanden auch den Weg zu diesem Start-Event. Insgesamt war die Teilnehmerzahl von zirka sechzig Anwesenden bei dieser zweistündigen Abendveranstaltung erfreulich.

Inhaltlich fand, gemäß der Methode „World Café“, ein Austausch an vorbereiteten Thementischen statt. Zu den einzelnen Aussagen „Wer beteiligt wird, engagiert sich“, „Jugend und andere Krankheiten – Bild der Jugend in der Öffentlichkeit“, „Jugend ohne Freizeit“ und „Waldshut-Tiengen ohne Jugend – die Folgen des demografischen Wandels“, tauschten sich die eingeladenen Gäste aus. Zu jedem Thema gab es einleitende Fragen, die die Diskussion in Schwung bringen, aber den Gesprächsverlauf nicht festlegen sollten. Die Gedanken der Teilnehmenden wurden während des Gespräches notiert mit der Maßgabe, dass keine Idee verloren gehen sollte. Als ein Beispiel sei hier die Aussage eines Schulrektors erwähnt, der in das Gespräch einbrachte, dass er sich durchaus über Jugendliche in seiner Schule ärgern könne und Probleme sehe – aber wenn er sich das Verhältnis der wenigen Einzelfälle, die ihn beschäftigten, zur Gesamtheit der mehr als tausend SchülerInnen an seiner Schule betrachtet, seien die Auffälligen ein verschwindend kleiner Teil. In diesem Stil füllten sich die Papierbögen mit individuellen Erfahrungen, die dann in den Runden angesprochen wurden, ohne dass ein abschließendes Ergebnis angestrebt wurde. Den Gesprächsrunden kam sicherlich zugute, dass die Beteiligten sich zwar nach eigenen Interessen an die Thementische begeben konnten, in dieser Personenzusammensetzung im Alltag aber eher selten oder gar nicht austauschen.

Als Abschluss des Abends wurden die Ideennotizen von den Tischmoderatoren kurz zusammengefasst. Im Anschluss wurde eine ausführliche Dokumentation der Gedankengänge erstellt, die dann als Grundlage der nächsten Veranstaltung – diesmal mit Jugendlichen als Adressaten – dienten.

Die Zukunftswerkstatt

So wichtig es war, die unterschiedlichen Erwachsenen nach ihren Einschätzungen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu fragen – im Zentrum der Studie und aller damit verbundenen Beteiligungsaspekte sollten die Jugendlichen stehen. Mit einer Vorbereitungsgruppe aus sechs bis acht Jugendlichen stellten wir uns der Aufgabe, eine zentrale Veranstaltung zu organisieren, die möglichst viele Jugendliche für eine Mitarbeit motivieren sollte. Dafür konfrontierten wir die Jugendlichen erstmals mit Kernthesen, die die Erwachsenen formuliert hatten, und baten sie, diese in ihrer Bedeutung für Jugendliche einzuordnen. Konkret befassten sich die Jugendlichen beim ersten Treffen mit folgenden Aussagen der Erwachsenen:

Beteiligung/Teilhabe: Jugendgemeinderat/Wahlrecht ab 16 / Erwachsene müssen was tun für die Jugend / Aufgaben und Verantwortung an Jugendliche

Kommunikation: anarchisch – organisiert – virtuell – real …

Mobilität

Freizeit vs. Schule: Schule klaut Zeit / Soziale Schulprojekte sind attraktiv

Freizeit: Veranstaltungen und Unterhaltung / Shoppen: Ich kaufe, also bin ich / In WT ist nix los / Vandalismus + Alkohol

Ehrenamt: Vereine sind attraktiv / Zeit wird in Vereinen und Verbänden absorbiert / Jung + alt: Toleranz nimmt ab / Anerkennung fehlt

Territorien / Räume: Treffpunkte organisiert + spontan / Sportstätten / keine Aufenthaltsorte / Vandalismus + Alkohol

Zukunft / Perspektive: Nichts wie weg

Recht schnell kristallisierte sich heraus, dass für die Jugendlichen drei Themenkomplexe von besonderer Bedeutung waren, die die Erwachsenenideen subsumierten und variierten. In einem zweiten und dritten Vorbereitungstreffen ging es darum, diese Themen authentisch von Jugendlichen für Jugendliche zusammenzufassen und aufbereiten zu lassen. Diese drei Komplexe sind als wichtig eingestuft worden:

Mobilität:

a.In der Freizeit

b.Schulwege

Veranstaltungen:

a.Neue, andere Veranstaltungen

b.Mehr Veranstaltungen, auch für Jüngere

Treffpunkte / Räume:

a.Gezielte Treffpunkte in der Stadt

b.Aktionsräume – wo man in der Stadt seinen Interessen nachgehen kann

Die Jugendlichen aus dem Vorbereitungsteam übernahmen jeweils zu zweit die Patenschaft für ein Thema. In deren Rahmen führten sie dann bei der eigentlichen Zukunftswerkstatt die anderen Jugendlichen in das Thema kurz ein und betreuten, gemeinsam mit einem Sozialpädagogen, die Thementische der ersten Arbeitsrunde am Veranstaltungstag.

Für die Veranstaltung luden wir die SchülerInnen ab der achten Klassenstufe ein. Die Veranstaltung war ganztägig konzipiert und konnte, dank der Unterstützung durch die Schulen, an einem Schultag stattfinden. Über fünfzig junge Menschen nahmen die Gelegenheit wahr und beteiligten sich an dem Projekt.

Wichtig bei der Konzeption der Zukunftswerkstatt war, dass bereits an diesem Tag konkrete Ergebnisse herauskommen sollten, an deren Umsetzung wir sofort weiterarbeiten konnten. Dank der Unterstützung durch einen erfahrenen Moderator für Jugendbeteiligung konnten wir eine Struktur für eine solche Veranstaltung entwickeln und diese durchführen.

In der ersten Arbeitseinheit stellten die Themenpaten kurz ihre jeweiligen Themen und die Überlegungsschritte, die dazu geführt haben, vor und luden die anwesenden Jugendlichen für eine erste Runde an die Thementische. Es wurden zu jedem Thema zwei Tische gebildet zuzüglich eines „Offenen Tisches“, an dem alle Ideen diskutiert werden konnten, die bislang thematisch noch nicht gefasst worden waren. Auch in dieser Arbeitseinheit wurden die Diskussionsbeiträge schriftlich festgehalten, damit Ideenstränge nicht verloren gingen und diejenigen, die sich in einer zweiten Runde an den Thementisch setzten, die Gedanken, die bislang schon geäußert wurden, aufgreifen und ergänzen konnten.

In einem zweiten Arbeitsschritt der Zukunftswerkstatt ging es um die Strukturierung und Konkretisierung der Ideen. Hierfür teilten sich die Jugendlichen, begleitet von Moderatoren, in unterschiedliche Räume auf. Nach folgender Struktur:

Was machen wir?

Was brauchen wir?

Wo finden wir Unterstützung?

Welche Arbeitsschritte sind nötig?

Bis wann können wir starten / die Idee umsetzen?

Wer will an der Idee weiterarbeiten?

Die Vorschläge wurden dann auf Plakaten für alle sichtbar zusammengefasst – außerdem sollte so den Jugendliche aus anderen Arbeitsgruppen die Möglichkeit gegeben werden, sich noch für die Mitarbeit oder die Informationen zu einem Thema eintragen zu können.

In einem letzten dritten Arbeitsschritt präsentierten die Jugendlichen dann ihre Ideen vom Vormittag erwachsenen ExpertInnen. Hierfür waren für den Nachmittag ein Gastwirt aus Waldshut, ein lokaler Verkehrsexperte, eine Konzertveranstalterin, eine Geschäftsinhaberin und der Betreiber des lokalen Partyportals eingeladen. Dies sollte den Jugendlichen die Möglichkeit geben, weitere Informationen zu erhalten und auch schon Kontakte zu knüpfen und erste Schritte in Richtung Umsetzung zu gehen.

Die Stimmung war während der gesamten Veranstaltung locker und interessiert. Auch wenn an diesem Tag keine Schule war, waren die Jugendlichen über die ganzen Stunden hinweg konzentriert bei der Sache. Spannend war für viele – weil es auch für einige das erste Mal war –, mit SchülerInnen aus anderen Schulen und Stadteilen an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Als vorläufige Bilanz ist sicherlich zu sagen, dass solche Beteiligungsprojekte in Zukunft ein fester Bestandteil in Waldshut-Tiengen sein werden.

So ging es mit den Ideen aus der Zukunftswerkstatt weiter:

Wir trafen uns mit Jugendlichen zu verschiedenen Themen und entwickelten daraus ganz konkrete Projekte, die sofort in Angriff genommen werden konnten:

Eine Gruppe ist derzeit dabei, einen Jugendpub-Betrieb in den Räumen des Jugendcafés in Waldshut auszuprobieren.

Es fanden Treffen mit Jugendlichen statt, die das Thema „Austausch von Jugend und Politik zum Thema“ hatten – ein konkretes Ergebnis ist eine Veranstaltung zur Kommunalwahl 2014.

Im Jugendzentrum Tiengen wird ein Tonstudio eingerichtet.

Ebenfalls wird dort gemeinsam mit Jugendlichen ein Format entwickelt, bei dem lokale Bands bessere Auftrittsmöglichkeiten erhalten sollen.

Eine Initiative arbeitet gerade an der Umsetzung eines neuen Skateparks in der Stadt.

Es wurde eine Mitfahrerbörse online eingerichtet.

Selbstverständlich sind dies nur einige der Ideen, die geäußert wurden. Auch haben sich einige Arbeitsgruppen inzwischen verlaufen, da der Alltag nach einer solchen Veranstaltung dann doch schnell wieder kommt und die Jugendlichen keine Zeit mehr haben.

Der Fachtag

Als letzte Veranstaltung während der Studien-phase wurde anlässlich der Präsentation der Ergebnisse aus der SchülerInnenbefragung und den ExpertInneninterviews ein Fachtag abgehalten, der sich an die Fachöffentlichkeit (Schulleiter, interessierte Politiker, Polizei, Sozialarbeit) richtete, aber grundsätzlich allen Interessierten offen stand. In diesem Rahmen wurden auch die Ergebnisse der Zukunftswerkstatt berichtet. Die Anwesenden waren an diesem Tag angehalten, sich am Nachmittag über Ergebnisse und Fragen auszutauschen, die ihnen morgens bei der Vorstellung kamen. Die Ergebnisse dieser Diskussionsrunden werden in weitere Planungen einfließen.

Insgesamt bildete die Studie, neben ihrer inhaltlichen Notwendigkeit, die Möglichkeit mit allen relevanten Beteiligten in Austausch zu treten und gemeinsame Entwicklungsmöglichkeiten anzusprechen. Damit sind neue Knoten in einem Netzwerk für die Jugendlichen in Waldshut-Tiengen geknüpft worden und alte konnten öffentlich dargestellt werden. Letztendlich war allen Beteiligten klar, dass bei aller Unterschiedlichkeit, es die gemeinsame Kernaussage gibt, dass die Jugendlichen wichtig für die Stadt sind. Dies heißt im Detail, dass mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung für sie notwendig sind, dass man bessere Perspektiven schaffen muss, dass man aber auch mehr Vertrauen in die Jugend setzen und ihnen die Freiräume, die sie zur Entwicklung braucht, gewähren muss.

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Die Jugend der Zukunft.

Von Artur Grechman

Wir schreiben das Jahr 2673. Kein Schwein weiß mehr, wer Sokrates war, Nordkorea droht immer noch damit, Atombomben zu schmeißen, und fliegende Autos sind bereits aus der Mode. Und doch stellt sich allen nur eine Frage: Was ist aus der Jugend geworden?