LIVIA KLINGL

Wir können doch nicht
alle nehmen!

Europa zwischen »Das Boot ist voll«
und »Wir sterben aus«

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00985-0
Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
unter Verwendung eines Fotos von Hafidh/AFP/picturedesk.com
Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Warum wir Migration brauchen

Was sie erwartet, auf der Flucht

Der dornige Weg durch die Asyl-Bürokratie

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Menschen mit Migrationsgrund

Bagher Ahmadi: »Wenn du auf einem Weg bist, auch wenn er schwierig ist, musst du ihn gehen.«

Eser Ari-Akbaba: »Egal, wie gut ich bin, ich werde nie als eine der ihren akzeptiert werden.«

Brankica Baričanin: »Wenn man in Österreich etwas erreichen will, dann kann man das auch.«

Susanne B.: »In Österreich ist es schwieriger zu sagen, ich trinke keinen Alkohol, als zu sagen, ich bin Moslem.«

Ruslan Chapkhanov: »Der Unterschied zwischen den Menschen besteht im Talent, nicht in der Nationalität.«

Lejla Cokoja: »Damals dachte keiner, dass wir hier jahrelang würden bleiben müssen.«

Sedat Kaynak: »Ein intelligenter Mensch denkt ja nach, ehe er etwas sagt. Aber die Dummen würde ich gern sehen, wie die schauen würden, wenn die Menschen mit Migrationshintergrund nicht da wären!«

Adalat Khan: »Ich kann der Gesellschaft zeigen, dass wir keine Kriminellen sind und nicht ihr Steuergeld aufessen.«

Mira Kozomarić: »Unwissen macht die Leute gefährlicher.«

Anica Matzka-Dojder: »Ich kam freiwillig. Aber ich kann gut nachvollziehen, was es bedeutet, wenn man unverschuldet Familie, Freunde und alles andere verliert.«

Shahram M.: »Wir hätten uns zu Tode geschämt, hätte man uns Asylanten genannt.«

Anna Nowik: »Ein Leben ohne die deutsche Sprache ist wie ein Leben ohne Hand oder ohne Fuß.«

Aki Nuredini: »Ich bin der einzige Ausländer zu Hause.«

Khaled Ramadan: »Österreich ist schön. Da gibt es Freiheit, Sicherheit, Menschenrechte und Respekt gegenüber den anderen.«

Ahmed Bashir Shacur: »Diese Joghurts sind für dich. Und für die armen Kinder in der Siedlung.«

Serkan Yildiz: »Wenn man keine Daseins- berechtigung hat und einem die Freiheit genommen wird, muss man gehen!«

Warum wir
Migration brauchen

Es lässt sich an keinem genauen Datum festmachen, nicht am Vertrag zwischen Österreich und der Türkei über den Zuzug von türkischen Arbeitskräften vom Mai 1964 und nicht am gehäuften Auftauchen von Menschen aus Titos relativem Paradies namens Jugoslawien. Es lässt sich also nicht mehr genau feststellen, wann es hierorts begann, nicht mehr zu sein, wie es war: grau, verstaubt, zumindest sonntags katholisch, arbeitsam, ohnehin nur als Klischee blond und blauäugig, vielleicht ob der schaurigen Erfahrungen des großen Krieges der Außenwelt gegenüber verschlossen und abgewandt all dem, was der Globus da draußen zu bieten hatte. Spaghetti, die von muslimischen Eroberern nach Italien verfrachteten langen Nudeln, gab es nicht einmal als seltene Delikatesse, erst recht nicht Balsamico-Essig, und von der Existenz eines Döner wusste man gleich gar nichts. Bunt war nicht einmal die Reklame. Und Vielfalt war ein auf die Botanik beschränktes Wort.

Man war »unter sich« in den 1950er- und 60er-Jahren, unter sich als Alt- und Neuösterreicher, als Schmidts und Müllers sowie als Klimas, Vranitzkys, Studenys und wie die alle heißen, deren Vorfahren man im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts die »Ziegelböhm’« genannt hat, auch wenn sie nicht in den Ziegeleien an der Südausfahrt von Wien arbeiteten und nicht aus Böhmen kamen. Der Ziegelböhm’ war ein Oberbegriff für jene Hunderttausende, die damals aus den armen Landstrichen der Kronländer als Gastarbeiter in die Kaiserstadt Wien gekommen waren, um Brot und Lohn vor allem in der Bau- und Textilindustrie zu finden oder als Dienst- beziehungsweise Wäschermädel.

»Es kamen slowakische Pfannenflicker, jüdische Hausierer, böhmische Schuster und Schneider, schlesische Tuchhändler, slowenische Maronibrater. Junge Männer mit dunkel gebräunten Oberarmen und rotbackige Frauen brachten ihre ländlich-agrarischen Lebensformen und Denkweisen, ihr Dorf im Kopf, mit«, beschrieb Die Presse den damaligen Zusammenprall von altem Adel und neuem Geldadel mit dem Lumpenproletariat aus nah und fern in einem Artikel zur Ausstellung »Experiment Metropole« über das Wien von 1870.

Beliebt waren sie nicht, die Zuwanderer, aber benötigt, hatte doch damals jeder Aristokrat und jeder Neureiche seine eigene Zugehfrau, seinen Gärtner, seine Köchin, sein Kindermädel. Und die boomende Industrie der damals noch stabilen Monarchie suchte händeringend nach Arbeitskräften.

Aufschwung zieht Zuzug nach sich, das war damals nicht anders als heute. 1910 hatte die Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie mit zwei Millionen einen Höchststand an Bewohnern erreicht. 50 Jahre und zwei Weltkriege später waren es nur noch 1,6 Millionen. Und 1987, als Ostösterreich noch am Eisernen Vorhang lag und mangels fremdländischer Einsprengsel in der Gastronomie, der Inneneinrichtung, der Musik, der Malerei und dem Film noch nicht den Duft der großen weiten Welt versprühte, verzeichneten die Statistiker wegen der gesunkenen Geburtenrate mit nicht einmal 1,5 Millionen den absoluten Tiefststand.

Heute ist Wien mit 1,8 Millionen Bewohnern, davon fast 52 Prozent Frauen und fast jede und jeder Zweite mit so genanntem Migrationshintergrund, eine nach internationalen Rankings äußerst lebenswerte, pulsierende Stadt – mit den gleichen Bedürfnissen der Wirtschaft und der gleichen Ablehnung gegen Fremde bei den Alteingesessenen wie 100 Jahre zuvor.

In den 1960er-Jahren waren erst Männer aus den relativ wohlhabenden Städten der Türkei aufgetaucht, um mit ihrer Hände Arbeit den hiesigen Arbeitskräftemangel im Wirtschaftsaufschwung nach Krieg und Besatzungszeit auszugleichen. Ein Abkommen mit Spanien war 1962 gescheitert, eines mit Ankara und ein weiteres mit Belgrad 1966 lockten bis zum Rezessionsjahr 1974 mehr als 260.000 Fremdarbeiter nach Österreich.

Es waren Männer mit dunklerer Hautfarbe, armseliger Kleidung, schlechtem Schuhwerk und ebensolchem Gebiss, anderen Gewohnheiten, anderen Religionen. Notwendig für die Wirtschaft und somit den ganzen Staat, aber vielen Österreichern ob ihrer Andersartigkeit ein Dorn im Auge. Niemand in der Politik machte sich die Mühe, den Bedarf an Fremden zu erklären. Damals nicht und heute nicht.

Die Idee des Staates war in der Zeit des Nachkriegs-Aufschwungs, die in ihren Herkunftsländern Angeworbenen jeweils für ein Jahr arbeiten zu lassen und dann gegen neues Personal auszutauschen. Es würde also keine Integration nötig sein und auch nicht mehr als Grundkenntnisse der deutschen Sprache aufseiten der Zuzügler erfordern. Doch die Wirtschaft lehnte sich bald auf gegen diese Fluktuation. Man wollte nicht alle Augenblicke Menschen ausbilden. Und kaum hätten sie gelernt, was ihre Arbeit ist, würden sie samt dem Investment Ausbildung davonziehen und es müsste wieder frisches Personal trainiert werden. Die Geschulten sollten bleiben, lautete die Forderung – und damit war der Grundstein für die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Zugezogenen wie auch der Einheimischen gelegt.

»Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen«, dieser Satz fasst die Kurzsichtigkeit des Umgangs mit der Arbeitsmigration gut zusammen. Der Fremdenfeindlichkeit aus dieser Zeit versuchte die Aktion Mitmensch 1973, während der weltoffenen Regierung Kreisky, mit der Aktion »I haaß Kolarić, du haaßt Kolarić. Warum sogn’s zu dir Tschusch?« beizukommen. Erfolg mehr als dürftig.

Als 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde und mindestens 120.000 Freiheitshungrige vor dem kommunistischen Regime nach Wien flohen – von denen letztendlich keine 20.000 blieben –, war die Hilfsbereitschaft enorm. Es waren ja echte Flüchtlinge, katholische, äußerlich nicht unterscheidbar von uns und man ahnte vielleicht auch, dass sich die meisten nicht dauerhaft niederlassen würden. Der Umstand des Vorübergehenden mag die Güte gegenüber diesen Hilfebedürftigen befördert haben.

Eine Dekade später, als das zerfallene Jugoslawien, vor allem das ehemals österreichisch-ungarische Bosnien, Hunderttausende Flüchtlinge produzierte, verhärtete der Österreicher Herz. Denn zu den von den türkischen Gastarbeitern nachgeholten, meist sehr traditionell gekleideten »Kopftuchfrauen« kamen nun noch weitere Tausende, von Tito »Moslems« genannte Menschen und machten einem Teil der Österreicher Angst.

Die Angst ist manchmal diffus, manchmal dreht sie sich um den Arbeitsplatz oder die Frau, oft ist sie gespickt mit Unterstellungen, die Neuen seien in hohem Maße kriminell oder nur da, um unsere Sozialsysteme auszunutzen und man selber würde leer ausgehen. Jedenfalls ist Angst die Triebfeder der oft lautstark, oft bösartig vorgetragenen Ablehnung von Menschen, die man in der Masse gar nicht beurteilen kann, weil man sie ja nicht persönlich kennt.

Ob diese heimatvertriebenen Bosnier Atheisten waren, wie so viele im ehemaligen kommunistischen Jugoslawien, oder tatsächlich gläubige Moslems, spielte bei denen, die sich gegen ihre Aufnahme im Staat aussprachen, keine Rolle. Trotz der grausigen Filme von Leid, Zerstörung, bis auf die Knochen abgemagerten Männern hinter dem Stacheldraht von Internierungslagern und den Bildern von geschändeten Leichen, die täglich während der Abendnachrichten über die Fernsehschirme flimmerten, trotz des für jedermann und jede Frau evidenten Kampfes ums Überleben der Bosnier fühlte sich ein großer Teil der Österreicher mit den rund 90.000 Flüchtlingen überfordert, oft auch schlicht abgestoßen.

Ohne Migranten sähe es düster aus

Heute arbeiten Tausende dieser Bosnier, meist längst Österreicher, als Krankenschwestern, Ärztinnen, Anwältinnen oder als so gefragte Putzfrauen, sprechen meist nahezu akzentfrei deutsch, haben Kinder in die Welt gesetzt, die studierten und gute Arbeit fanden und ihrerseits Familien gründeten.

Sie alle tragen bei zum Sozialprodukt eines Landes, wie das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung berechnete. Deutschland, das rechte Politiker gern als »soziale Reparaturwerkstatt Europas« sehen, profitierte demnach 2012 mit 22 Milliarden Euro von seinen 6,6 Millionen Bürgern ohne deutschen Pass. Statistisch zahlte jeder in Deutschland lebende Ausländer 3300 Euro mehr in die Staatskassen ein, als er oder sie an Leistungen erhielt. Auch wenn diese Ausländer statistisch netto um 700 Euro weniger Steuern zahlten als die Deutschen. Aber es seien 67 Prozent der Ausländer auf einen positiven Beitrag gekommen und nur 60 Prozent der Deutschen, errechnete das Wirtschaftsforschungszentrum. Denn die ausländische Bevölkerung ist jünger als die deutsche und somit zu einem höheren Prozentsatz im erwerbsfähigen Alter.

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa, sieht die Effekte durch Zuwanderer genauso. Migranten tragen positiv zur Haushaltsentwicklung bei. Im schlimmsten Fall gebe es keine Auswirkungen. In Österreich haben Migrantenhaushalte statistisch 2400 Euro pro Jahr mehr in die Kassen eingezahlt, als sie entnommen haben, allen einschlägigen Verunglimpfungen von Ausländerfeinden zum Trotz.

Und Zuwanderer tragen dazu bei, dass »wir« nicht »aussterben«. Denn vermehren wollen sich die »Urösterreicher« nicht mehr so recht, trotz Kindergeld und Versprechen für Ganztagsbetreuung. Die Geburtenrate sank von knapp drei Kindern in den 1970er-Jahren auf 1,4. Nicht genug, um auch nur die Bevölkerungszahl zu halten, aber keineswegs außergewöhnlich im heutigen Europa.

In Deutschland gebären noch weniger Frauen noch weniger Kinder. Statistisch 8,4 Geburten kommen auf 1000 Einwohner, das ist, trotz aller Bemühungen der Politik, die niedrigste Rate von allen 28 EU-Staaten. 2012 zählte das Land zu jenen zwölf innerhalb der Union, in denen mehr Menschen starben, als geboren wurden. Dass der 81-Millionen-Koloss Deutschland dennoch einen Bevölkerungszuwachs von knapp 200.000 Personen verzeichnete, lag laut EU-Statistikbehörde Eurostat einzig an der Immigration.

Nahezu zeitgleich mit den Meldungen über neue »Spitzenwerte« bei der Zahl der Asylsuchenden verbreiteten deutsche Medien alarmierende Berichte über den Pflegenotstand. Zwei bis fünf Millionen Pflegekräfte würden in den kommenden Jahrzehnten fehlen. Nun werden nicht zwingend alle Asylwerber und -werberinnen geeignet und willens sein, sich ihr Geld im »Paradies« Europa durch die Pflege der vielen Alten in unserer überalterten Gesellschaft zu verdienen. Aber einen kühlen Gedanken ist es schon wert, diese beiden Fakten einander gegenüberzustellen, sie gar miteinander zu verknüpfen.

Jenen, denen mulmig wird beim Gedanken, »wir« würden die, die wir brauchen, anderswo abschöpfen, wo sie ja auch gebraucht würden, sei mit einer Realität geantwortet: Die Asylwerber sind schon bei uns. Wir haben sie nicht geholt, so wie jahrelang die Abertausenden Fachkräfte etwa im Krankenhausbereich.

Trotz der eindeutigen Positiva bringen Zuwanderer offenbar überall in Europa eine wachsende Minderheit der alteingesessenen Bevölkerung an den Rand ihrer Toleranz und rechten Politikern und Politikerinnen immer mehr Wähler. Das viele Fremde, das so viele fürchten, wiegt in den Reden am Stammtisch, im Boulevard, aber auch zunehmend in gutbürgerlichen Kreisen und Medien weit schwerer als der Nutzen, den Europa aus dem Umstand ziehen könnte, dass es zum Magneten für meist junge, mobile, geistig bewegliche und seelisch kräftige Menschen geworden ist.

Asylsuchende: 0,1 Prozent der EU-Bevölkerung

Es ginge auch ohne weiteren Zuzug aus dem Ausland. Den deutschen Landschaften, den österreichischen Alpen, Wiesen, Wäldern, Seen täten weniger Bewohner biologisch betrachtet durchaus gut. Und für jene große, laute, wählende Minderheit, denen »die Ausländer« den Nerv rauben, die ihnen Angst einjagen, nicht selten die Angst, selber mangels guter Ausbildung und Fleiß an den Rand gedrängt zu werden, wäre kein weiterer Zuzug – scheinbar – Balsam auf die Seele, glaubt man den zahllosen, oft in grauenvoller Orthografie gehaltenen Online-Kommentaren an Zeitungen und in den oft himmelschreiend unsozialen »sozialen« Netzwerken.

Warum also nicht unter sich bleiben und sich nicht immer wieder an neue und an immer mehr Fremde und an immer fremdere Fremde aus immer ferneren Ländern gewöhnen? Warum nicht auf diese Weise versuchen, rechten Parteien die Modernisierungsverlierer als Wähler abspenstig zu machen? Die Heile-Welt-Vision der Abschottung wäre theoretisch umsetzbar. Sie wäre aber mit äußerst schmerzhaften Nebenwirkungen verbunden, die wir alle, die wir derzeit leben, zu erdulden hätten.

Migranten-Zielländer wie Deutschland und Österreich könnten natürlich nur noch Kriegsflüchtlinge aufnehmen sowie Personen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Ausrichtung oder ihrer politischen Betätigung in ihrem Heimatland verfolgt werden.

Von Januar bis November 2014 haben 28.300 Personen an Österreichs Tore geklopft, unter ihnen Hunderte unbegleitete Kinder, die aus Syrien, Afghanistan und anderen schaurigen Weltgegenden vor religiös verbrämtem Fanatismus, vor Diktatur und Dauergemetzel oder vor Hunger und Perspektivlosigkeit das Weite gesucht haben. Die übliche Anerkennungsrate lag bei 28 Prozent und damit im EU-Durchschnitt (28,2 Prozent). In Zahlen waren das 2012 kaum mehr als 7000 Menschen, etwa die Hälfte der Einwohner der überschaubaren burgenländischen Hauptstadt Eisenstadt.

Auch wenn es aufgrund der Kriege an den Rändern Europas nun mehr Asylwerber wurden und weiterhin werden – ein paar Tausend Menschen mehr kann ein 8,5-Millionen-Einwohner-Land ohne gröbere Verwerfungen bewältigen.

Im Jahr 2013 waren überhaupt nur 17.000 Personen in Österreich auf Herbergsuche. Doppelt so viele Niederösterreicher zogen im selben Zeitraum nach Wien und die zweitgrößte deutschsprachige Stadt Europas brach weder unter den einen noch unter den anderen Zuzüglern zusammen.

Zu behaupten, dass es mit Neuankömmlingen aus anderen Kulturkreisen niemals Schwierigkeiten gäbe, war und ist dumm. Selbstverständlich gibt es Probleme, wenn Menschen unterschiedlicher Einstellung und verschiedener Erfahrungen aneinandergeraten. Das allerdings trifft auf alle Menschen zu und nicht nur auf Fremde. Den meisten Ärger hat man im Leben mit einfältigen, starrsinnigen, unprofessionellen oder unerzogenen Leuten. Ob die aus derselben Gasse oder von einem anderen Kontinent stammen, ist nicht von Relevanz.

Selbst jene unter den nach den herrschenden Gesetzen Asylwürdigen, die nicht pünktlich sind, nicht fleißig, nicht freundlich, vielleicht traumatisiert, eventuell dadurch gewalttätig, kaum bis gar nicht integrierbar und womöglich bereit, in einer islamistischen Terrororganisation ihr Heil zu suchen, müsste ein wohl organisierter und -situierter Staat, wie es Deutschland und Österreich nach allen Eckdaten sind, ungern, aber doch, aushalten – wie er ja auch die »eigenen« Kriminellen aushalten muss.

Für nicht und nicht in die Gesellschaft integrierbare Personen wurden Polizei, Juristerei und Strafvollzug erfunden. Und für schwer kriminell gewordene Kriegsflüchtlinge gibt es mittlerweile die Herabstufung des Asylstatus auf die Duldung  – die allerdings auch nicht erlaubt, solche Gestrauchelten aus dem Land zu werfen. Auch wenn manche Zeitungskommentatoren solches vorgaukeln, genauso wie so mancher Politiker aus dem rechten Lager.

Für den durchschnittlichen Medienkonsumenten mag es so aussehen, als würde Europa von Flüchtlingen und Armutsmigranten überrannt. Die Statistik lehrt anderes. Von den mehr als 56 Millionen Menschen, die auf diesem Erdball aus Gründen von Krieg, Vertreibung, Diktatur, Armut und Klimawandel umherirren, bleiben 87 Prozent im eigenen Land oder werden von Entwicklungsländern aufgenommen. Für die »Erste Welt«, Australien, Europa, Kanada, USA mit insgesamt fast 900 Millionen Einwohnern, bleiben theoretisch nur 13 Prozent oder sieben Millionen übrig, von denen auch nicht alle ein Recht auf Aufnahme nach der Genfer Konvention hätten.

Tatsächlich haben im Jahr 2012 nur etwas mehr als 300.000 Personen in der Europäischen Union um Asyl angesucht, oder in Prozenten weit weniger als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU. Jüngere Gesamtzahlen für Europa gab es bis zur Drucklegung dieses Buches nicht – allerdings die Zahl, dass es im ersten Quartal 2014 108.300 Asylwerber waren. Selbst wenn man diese hochrechnet, käme man auf deutlich unter 500.000 Menschen und damit noch immer auf eine Nullkommazahl an Asylwerbern in der 507-Millionen-Einwohner-Union. Das Boot als voll zu bezeichnen, ist ob der Immigranten-Zahlen für Europa nicht nur geschichtsvergessen, sondern auch eine unwürdige und vor allem haltlose Übertreibung. Und eine, die sich mittelfristig gegen die eigene Bevölkerung richtet.

Zuzug ist notwendig

Würde Österreich gesetzeskonform nur noch EU-Bürger und Kriegsflüchtlinge, aber keine Wirtschaftsmigranten mehr aufnehmen, schrumpfte die Einwohnerzahl bis zum nicht mehr allzu fernen Jahr 2050 auf rund 7,8 Millionen. Unter diesen würde die Zahl der nicht mehr produktiven Alten logischerweise überdeutlich steigen und jene, die überhaupt körperlich in der Lage wären, Kinder in die Welt zu setzen, sinken. Das Gleiche gilt für das zehnmal so bevölkerungsreiche Deutschland. Eine Spirale nach unten setzte ein, wovor Bevölkerungswissenschaftler seit Jahren warnen, würde die Politik der Forderung aus dem rechten Eck nach Abschottung nachgeben. Und der Boulevard müsste nicht titeln »Wir werden überrannt!«, sondern »Wir sterben aus!«

Was dann tun, wenn just jene Arbeitsplätze, die mit dem Alltagsleben eines und einer jeden eng verbunden sind, mangels Menschen nicht mehr besetzt werden könnten? Wer würde in den Restaurantküchen das Gemüse putzen, wer in den Kantinen die Teller waschen? Wer in den Krankenhäusern die Leibschüssel reichen? Wer die Alten betreuen? Und wer würde Steuern zahlen und die Pensionskassen füllen? Bei einer überalterten, immer geringeren Bevölkerungsanzahl immer weniger Menschen? Die Folge wären soziale Einschränkungen, wie man sie sich für sein eigenes Leben nicht vorstellen mag und kaum zu Ende denken kann.

Wie dramatisch sich ein Schrumpfungsprozess auf alle noch verbliebenen Bürgerinnen und Bürger, auf die Infrastruktur, die Sozialsysteme bis hin zur Müllabfuhr auswirkt, erlebten die Ostdeutschen in unserem Jahrtausend. Wegen Abwanderung und Überalterung standen erst ganze Straßenzüge leer, Erdgeschoßläden hatten die Rollbalken unten, Supermärkte machten dicht, ebenso Kinos. Die Versorgung wurde miserabel und der Mistwagen kam nur noch selten durch die menschenleeren Straßen. Mangels Nachfrage und Steueraufkommen schlossen Kindergärten, Schulen und Schwimmbäder. Aus einst belebten Orten wurden Geisterstädte.

Ende 2000 verzeichneten die neuen Bundesländer Deutschlands mit ursprünglich 18 Millionen Einwohnern einen Leerstand von einer Million Wohnungen. Und eine einschlägige Kommission in Berlin empfahl ein Abrissprogramm, das vorsah, innerhalb von zehn Jahren 300.000 bis 400.000 Wohnungen vom Markt zu nehmen. Für die verbliebenen Mieter bedeuteten die nackten Zahlen erst Vereinsamung im nahezu ausgestorbenen Wohnblock, dann Entwurzelung durch Umsiedlung. Meist waren es die Alten, die nach Jahrzehnten aus ihrer lieb gewordenen Umgebung, ihren vier Wänden verschwinden und zusehen mussten, wie die Abrissbirne äußerlich intakte Wohnsiedlungen in staubende Schutthaufen verwandelte.

Den Schrumpfungsprozess erlebte aber nicht nur das durch seine Geschichte sehr spezielle Ostdeutschland. Auch im Westen Deutschlands gibt es längst ein Stadtumbauprogramm wegen leer stehender Gebäude und Brachflächen, dem sich mehr als 300 Kommunen angeschlossen haben.

All die Abstriche vom lieb gewordenen, gewohnten, nach äußeren Rahmenbedingungen betrachtet bestens organisierten Leben, die wir durch eine geringere Einwohnerzahl machen müssten, müssten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, am eigenen Leib erdulden. Erst nach Ihrem Ableben würde das staatliche System auf weniger Bürger angepasst sein, der Übergang wäre für alle derzeit Lebenden äußerst entbehrungsreich. Und einsam.

Trotz dieser Faktenlage meinten im August 2013 in einer Umfrage 40 Prozent der Österreicher, das Land nehme zu viele Asylsuchende auf. Ähnliche Antworten bekäme man von Schweden bis Malta und von Polen bis Portugal. Nicht nur von strammen Rechts-Wählern, aber immer auf Basis von Ängsten, Abneigungen und Vorurteilen, nicht nach kurzem Nachdenken, was einem selber im Alltag nützlich oder gar notwendig ist. Und meist von Leuten, die nicht zwischen Asylberechtigtem, EU-Zuzügler und Arbeitsmigranten von außerhalb der Union unterscheiden können.

Wer allerdings die Erfordernisse in seinem konkreten Alltag betrachtet, etwa einen Installateur braucht, wird wenig Interesse an dessen Geburtsort haben, aber viel daran, dass er kommt, wenn man ihn ruft, und dass er den Schaden behebt, der einen nervt. Wer in der Not Ärztin und Krankenschwester braucht, wird sich nicht nach deren Herkunft, sondern nach der Fähigkeit der Personen orientieren. Und wer eine Putzfrau benötigt, wird daran interessiert sein, dass sie ihre Arbeit verrichtet und nicht, ob sie daheim Ćevapčići isst anstelle von österreichischen Fleischleiberln oder deutschen Frikadellen.

Zuzug zuzulassen ist längst keine Geschmacksfrage und erst recht keine Frage von Humanismus und Empathie mehr. Und schon gar nicht eine des Nachgebens gegenüber angeblich so realitätsfernen »Gutmenschen«, die es kaum ertragen können, dass das Mittelmeer zum Massengrab und Europa zur Festung wurde, die aber trotz milliardenteuren Grenzschutzes und NATO-Stacheldraht mit der Kraft der Verzweiflung gestürmt werden kann und beständig auch wird.

Arbeitsmigranten sind eine schlichte Notwendigkeit und echte Flüchtlinge aufzunehmen ist nicht nur eine Frage christlicher Nächstenliebe, sondern eine der Rechtskonformität. Und insgesamt Fremden die Tür nicht zu versperren, ist auf einem überalterten Kontinent wie dem europäischen mittlerweile eine Überlebensfrage.

»Einheit in Verschiedenheit«

Zuwanderung ist zudem ein Faktum. Jeder fünfte Deutsche und fast jede und jeder fünfte Österreicher haben so genannten Migrationshintergrund. Fast niemanden von diesen Menschen könnte man von Rechts wegen überhaupt aus dem Land werfen, selbst wenn rechte Politiker mitunter vorgaukeln, dass wir wieder unter uns wären, kämen sie ans Ruder.

Denn die Mehrheit der Zuwanderer sind EU-Bürger und die haben Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit bei uns, so wie wir bei ihnen. An erster Stelle der Liste der Ausländer stehen in Österreich längst nicht mehr Türken oder Ex-Jugoslawen, sondern Deutsche. Die führten 2010 auch die Kriminalitätsstatistik für Fremde an, die im Übrigen nur über die polizeilichen Anzeigen Auskunft gibt, nicht über den juristischen Ausgang der Verfahren.

Tumber Fremdenhass entzieht noch dazu einem Tourismusland, wie es Österreich ist, seine beste Einnahmequelle, denn eine solche Haltung spricht sich herum auf einem zumindest kommunikationstechnisch tatsächlich globalisierten Globus. Und Hass auf alle Andersartigen hat im vergangenen Jahrhundert auch zu den zwei größten Tragödien geführt, die nebst den monströsesten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine gigantische Flüchtlingswelle weg von unserem Boden produziert haben. Und nach dem Massensterben eine weitere Welle an Armuts-Auswanderern. Viele packten ihre Koffer, weil sie hier ihre Kinder nicht ernähren konnten. Heute kommen viele mit dem gleichen Primärziel her. Es hat sich also nur die Zielrichtung der Menschen geändert, nicht ihr Verhalten, danach zu streben, ihr Dasein und das ihrer Kinder in äußerer und innerer Sicherheit zu organisieren und zu gehen, wenn das Heimatland kein Überleben garantiert. Wanderungsbewegungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Sie lassen sich auch nicht mit Zäunen, Hunden, Nachtsichtgeräten, Schiffen und Helikoptern abwehren.

Ob wir es wollen oder nicht: Unsere Gesellschaften in Europa werden immer durchmischter, der Kontinent eine »Einheit in der Verschiedenheit«, wie es Papst Franziskus vor dem EU-Parlament ausdrückte. Leben bedeutet Veränderung und für den Kontinent, dass es nie wieder so rein österreichisch, rein deutsch und rein finnisch werden wird, wie es in Wahrheit ohnehin nie war. Und das ist gut so.

Die Rückschau legt über die angeblich so gute alte Zeit nur einen gnädigen Schleier aus selbstbetrügerischer Verklärung. Das Alltagsleben war früher weit weniger vielfältig und weniger bunt. Wer möchte heute gern auf Sushi und Spaghetti, auf Bakhlava und Bohnengulasch, auf Gorgonzola und Granatäpfel, Fladenbrot und Falafel, Tsatziki und Tiramisu, Humus und Huhn süß-sauer verzichten und auf all die vielen anderen lukullischen, musikalischen und sonstigen Freuden, die Immigranten mitbrachten und die wir uns längst einverleibten, als gehörten sie originär zu uns?

Deutschland bekennt sich längst dazu, ein Einwanderungsland zu sein. Und Österreich ist es ebenso, ob das nun Politiker laut sagen oder nicht. 1,37 Millionen der 8,5 Millionen in Österreich lebenden Menschen haben eine andere als die österreichische Staatsbürgerschaft, das sind 16 Prozent. Und ein erklecklicher Anteil derer mit österreichischem Pass ist auch zugewandert, nur eben ein bisschen früher. Im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2013 sind laut Statistik Austria 132.000 Menschen nach Österreich gekommen, um zu bleiben. Rund 15.000 davon waren rückkehrende Österreicher, mehr als die Hälfte waren Personen mit EU- oder Schweizer Pass.

Sie alle hatten und haben vor allem eines: einen Migrationsgrund – ob es der Krieg, die Liebe, die Kultur, der gute Job oder der Wunsch nach einem ökonomisch besseren Leben ist, was der Staat ohnehin nur im Rahmen seiner Bedürfnisse zulässt. Es sind übrigens meist geistig mobilere Menschen, die sich in ein neues Dasein aufmachen und vielfach die Gebildeteren, finanziell nicht ganz Benachteiligten, denn andere schaffen den weiten Weg gar nicht bis zu uns.

Im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt etwa haben die Menschen mit Migrationshintergrund im Schnitt eine höhere Bildung als die Sachsen-Anhalter selbst.

Und jede Statistik wird belegen, dass jene, die von Harz IV in Deutschland oder der Arbeitslosenunterstützung in Österreich leben müssen, sich vielleicht sogar im sozialen Netz heimelig niedergelassen haben, nicht ausschließlich Neuzuwanderer sind.

Selbst mit Zuwanderung wird Österreich laut Statistik Austria im Jahr 2060 zwischen 28 und 35 Prozent über 65-Jährige aufweisen, also Menschen, die nicht in die Pensionskassen einzahlen, sondern im Gegenteil die Kassen Geld kosten. Kommen heute auf 1000 Arbeitnehmer noch 626 Ruheständler, werden es – trotz des aktuellen Bevölkerungswachstums – in 45 Jahren 850 Rentner pro 1000 Aktiven sein. Für Deutschland gelten gleiche Relationen. Wir steuern auch mit Zuzug von Flüchtlingen, Bürgern anderer EU-Staaten und Arbeitsmigranten auf Seniorenrepubliken zu.

Am günstigsten sind die Prognosen für Wien – und das ausschließlich wegen der Zuwanderung. Denn Zuwanderer sind im Schnitt jünger als die Durchschnittsbevölkerung und bekommen statistisch mehr Kinder. Und die brauchen wir auf dem alten Kontinent, ob sie nun eine böhmische Großmutter haben wie anno dazumal oder eine türkische oder bosnische, wie es heute wohl eher der Fall ist.

Aus reinem Eigennutz benötigen wir eine Politik, die Zuzug nicht verhindern will, sondern im Gegenteil ermöglicht. Einen Zuzug in geordneten Bahnen und nach Maßgabe der Bedürfnisse sowie mit Respekt gegenüber denen, die kommen, und denen, die hier leben.

Oder, um mit den Worten des berühmten italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu sprechen, dessen Name zum Synonym für das tragische Scheitern europäischer Flüchtlingspolitik mit Zehntausenden Ertrunkenen an unseren Küsten wurde: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.«

Auch wir selber.

Was sie erwartet, auf der Flucht

»Wenn Sie mich jetzt zurückschicken,
liefern Sie mich den Leuten aus,
denen ich gerade entkommen bin.«

Bruno Kreiskys Appell an die
dänischen Behörden, 1938

»Mörder«-Rufe hatte sich José Manuel Barroso in seiner Karriere nicht erwartet. Und doch verfolgten sie ihn vom Flughafen auf Lampedusa, bis er sich in die für ihn dort bereitgestellte Limousine mit den dunkel getönten Scheiben retten konnte. Auch auf dem Weg zu seinem Zielort war Barroso nicht sicher vor Menschen am Straßenrand, Weißen und Dunkelhäutigen, die ihn beschimpften und Fotos von namenlosen Schwarzen hochhielten. Schwarzen, die auf dem Weg in ein besseres Leben ihr Leben gelassen hatten und die niemals so viel Aufmerksamkeit bekommen sollten wie als aufgedunsene Leiber ohne Puls und Herzschlag. Aus dem Meer gefischt am 3. Oktober 2013 nach der größten Flüchtlingstragödie in Europa seit Beginn des neuen Jahrtausends.