Edgar Wallace



Das geheimnisvolle Haus



Kriminalroman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-056-8


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Kapitel 21



Eine Gruppe von Polizisten und Detektiven stand vor dem Tor des "geheimnisvollen Hauses", als das Auto, in dem Ela und Lady Dex saßen, in schärfstem Tempo heranfuhr.

Ela sprang aus dem Wagen, als er noch nicht zum Stillstand gekommen war.

"Sie haben Smith gefangen!" rief er dem Inspektor zu, der den Befehl über die anwesende Truppe hatte. "Schließen Sie die Kette um das Haus! Alle bewaffneten Beamten folgen mir!"

Er eilte den Gartenpfad entlang, aber er wandte sich nicht nach dem Haus, sondern bog zum Kraftwerk ab.

Ein Mann mit grimmigem Gesicht stand im Eingang und maß die Beamten mit bösen Blicken.

Er versuchte, die Schiebetür zu schließen, aber Ela packte ihn am Kragen und schleuderte ihn nach innen.

Im nächsten Augenblick stand er in der Station und war von wütenden Arbeitern umringt. Ein großer, gutaussehender Mann mittleren Alters, der die Oberaufsicht hatte, kam auf Ela zu. Er trug einen großen Schraubenschlüssel in der Hand, um die Eindringlinge abzuwehren.

Aber Elas Pistole sprach von seinen Absichten.

"Treten Sie sofort zurück!" rief er. "Führen Sie hier die Aufsicht?"

Er sprach fließend italienisch.

"Was soll das alles bedeuten, mein Herr?" fragte der Mann.

"Ich gebe Ihnen eine Minute Zeit, die große Dynamomaschine zum Stehen zu bringen."

"Aber das ist unmöglich! Das darf ich nicht tun, das ist gegen jegliche Vorschrift und Ordnung."

"Wollen Sie meinem Befehl nachkommen?" stieß Ela zwischen den Zähnen hervor. "Wenn Sie mir nicht gehorchen, sind Sie ein toter Mann."

Der Italiener zögerte und ging dann zu dem großen Schaltbrett, auf dem eine ganze Reihe von Lampen brannte.

"Ich will es nicht tun", sagte er düster. "Dort ist der Hebel legen Sie ihn selbst um."

Plötzlich leuchtete eine rote Lampe auf dem Schaltbrett auf.

"Was ist das?" fragte Ela.

"Das Signal kommt aus den Kellerräumen", erwiderte der Italiener. "Sie wollen mehr Strom haben."

Ela wandte sich wütend zu dem Mann um und hob seine Pistole. Eine wilde Entschlossenheit lag in seinen Augen.

"Gnade!" brüllte der Mann, streckte die Hand aus, ergriff den großen Hebel, über dem "Gefahr" stand, und legte ihn um.

Plötzlich wurden alle Lichter in dem Raum düster, die großen Schwungräder verlangsamten ihren Lauf und kamen zum Stillstand. Nur das Tageslicht erleuchtete die Kraftstation jetzt. Ela stand auf der erhöhten Plattform vor der großen Schalttafel und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper, als ob er vom Fieber geschüttelt würde.

"Hoffentlich bin ich noch rechtzeitig gekommen!" sagte er leise zu sich selbst.

Die große Maschinenhalle war von vielen Polizisten gefüllt.

"Nehmen Sie diese Leute gefangen", befahl Ela. "Sehen Sie vor allen Dingen zu, dass niemand einen Schalter berührt. Verhaften Sie die Heizer, und trennen Sie sie von den anderen. Nun zu Ihnen", wandte er sich wieder in Italienisch an den Aufseher. "Ich gebe Ihnen jetzt eine Chance. Sie gehen nicht nur frei aus, sondern ich verspreche Ihnen auch eine große Belohnung, wenn Sie mir gehorchen. Ich bin Polizeibeamter und bin hierhergekommen, um dieses Haus zu durchsuchen. Sie sprachen eben von den Kellerräumen, wissen Sie den Weg dorthin?"

Der Mann zögerte.

"Der Fahrstuhl geht nicht mehr, mein Herr", erwiderte er.

"Gibt es keinen anderen Weg?"

Wieder zauderte der Aufseher.

"Es ist auch eine Treppe da", stammelte er nach einer Weile und fuhr dann schnell fort: "Wenn hier ein Verbrechen vorliegt und Signor Moole Anarchist ist, so weiß ich nichts davon, das schwöre ich Ihnen. Ich bin ein ehrlicher Mann aus Padua."

"Ich will Ihnen das glauben", sagte Ela ruhiger. "Sie machen ein großes Unrecht wieder gut, wenn Sie mir den Weg zu den unterirdischen Räumen zeigen."

"Ich werde Ihnen gehorchen und alles tun, was Sie wünschen", erwiderte der Mann hilflos. "Ich rufe hier alle zu Zeugen an, dass ich mein Bestes getan habe, um die Befehle meines Herrn auszuführen." Er ging mit Ela durch den Privatgarten hinter dem Haupthaus und führte ihn zu einem offenen Gang, der am Kellergeschoß entlanglief.

An dessen äußerstem Ende befand sich eine Tür. Der Mann öffnete sie mit einem Schlüssel, den er von einem Bund aus seiner Tasche nahm. Sie mußten noch zwei weitere Türen passieren, bevor sie zu der Wendeltreppe kamen, die in die Tiefe des "geheimnisvollen Hauses" führte. Zu Elas Erstaunen waren die Gänge beleuchtet, und er fürchtete schon, dass gegen seinen Befehl die Lichtmaschine wieder in Gang gebracht worden war. Aber der Italiener beruhigte ihn.

"Die Lampen werden von Reservebatterien gespeist", erklärte er. "Von dort kann man genügend Strom entnehmen, um das ganze Haus zu beleuchten. Aber sie genügen nicht, um Kraftstrom zu liefern."

Sie stiegen hinunter. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Ela zählte siebenundachtzig, als sie schließlich zu einem Treppenabsatz kamen, von dem aus sich eine Tür öffnete. Der Detektiv beobachtete, dass der Italiener sich auf dieselbe Methode Eingang verschaffte, die er selbst vorher angewandt hatte. Der Mann steckte einen eisernen Dorn in ein kaum sichtbares Loch, und die Tür tat sich auf.

Ela eilte mit den anderen Beamten den Gang entlang, bis sie zu der roten Tür kamen, die sich ebenfalls wieder öffnen ließ.

Zwei Lichter brannten düster in dem Raum. Ela sah die Gestalt in dem Stuhl, und sein Mut sank. Er stürzte vorwärts, Farrington hörte ihn zuerst.

Der große Mann wandte sich um. Drei Schüsse fielen kurz nacheinander. Ela stand aufrecht und unverletzt, aber Farrington schwankte und fiel zu Tode getroffen nieder.

"Verhaften Sie diesen Mann!" rief Ela. Im nächsten Augenblick war Dr. Fall gefesselt.


* * *


In seinem Büro in Scotland Yard lehnte sich T.B. Smith in seinem Stuhl zurück und beendete schmunzelnd den Bericht, den er Frank Doughton und dessen Gattin, die ihm gegenüber saßen, gegeben hatte:

"Mein Freund Ela hatte gerade in dem Moment den Strom abschalten lassen, in dem Dr. Fall auf Farringtons Zuruf hin den Schalter drehte. Mich erreichte nur noch ein schwacher Stromstoß, der mich zwar kurze Zeit ohnmächtig werden ließ, von dem ich mich aber, wie Sie ja sehen, wieder glänzend erholt habe." Mr. Smith lächelte dem jungen Paar, das eben von seiner unter so unglücklichen Umständen begonnenen Hochzeitsreise zurückgekehrt war, zu und erkundigte sich nach dem Befinden von Mrs. Doris. Aber ein Blick in ihr Gesicht, das strahlend ihrem Mann zugekehrt war, belehrte ihn, dass diese Frage ganz unnötig war.

In einem wenigstens hatte Farrington recht behalten: Frank und Doris waren doch noch ein glückliches Paar geworden.


Ende

Inhalt




Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

 

Kapitel 1



Unentschlossen stand ein Mann vor dem achtunggebietenden Portal von Cainbury House. In diesem großen Geschäftsgebäude befanden sich zahlreiche kleine Büros, die sich auf etwa dreißig verschiedene Gewerbe verteilten, wie man auf der Tafel lesen konnte. Die abgetragene Kleidung des Besuchers und seine abgetretenen Schuhe verrieten, dass er nicht sehr reich war. Er schien Ausländer zu sein; sein glattrasiertes, scharf geschnittenes Gesicht sah etwas melancholisch aus, und über seine dunklen Augen zogen sich schwarze gerade Brauen.

Er stieg die wenigen Stufen zu der Eingangshalle empor und stand nun nachdenklich vor der Firmentafel. Aber es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Oben auf der Liste der vielen Büros des fünften Stocks war deutlich zu lesen:

Der schlechte Ruf.

Er nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Westentasche und verglich ihn mit dem Schild, dann trat er kurz entschlossen und fast vergnügt in die Halle, als ob all seine Zweifel geschwunden wären, und wartete auf den Fahrstuhl. Er hatte seinen Mantel bis oben zugeknöpft; sein Kragen war etwas abgenützt, sein Hemd trug er schon fast eine Woche lang, sein steifer Filzhut war ausgebessert, und bei näherer Betrachtung hätte man herausgefunden, dass er zwar Handschuhe in der Hand hielt, dass er sie aber nur zum Schein trug, da es zwei linke waren.

Als er den Lift betrat, sagte er mit leicht fremdartigem Akzent:

"Fünfter Stock!"

Bald war der Fahrstuhl oben, die Tür öffnete sich, und der etwas verbissen dreinschauende Liftboy zeigte ihm das gesuchte Büro. Wieder zögerte er und betrachtete die Tür sorgfältig. Die obere Hälfte war mit Milchglasscheiben versehen und trug nur die einfache Aufschrift:

Der schlechte Ruf. Redaktion.
Anklopfen.

Er klopfte, und die Tür öffnete sich, als ob sie von unsichtbarer Hand aufgetan würde. Er staunte, obwohl im Grunde nichts Absonderliches an einer Bürotür war, die sich automatisch öffnen und schließen ließ.

Als er eintrat, befand er sich in einem nur spärlich möblierten Raum. Er sah einen Tisch, auf dem ein paar Zeitungen lagen, und einen Stuhl. Eine alte Schulkarte von England und eine Radierung von Landseer hingen an der Wand. Er lenkte seine Schritte zu der Tür am anderen Ende des Zimmers, und nach einem nochmaligen kurzen Zaudern klopfte er wieder.

"Herein", sagte jemand.

Vorsichtig öffnete der Fremde und trat ein.

Der Raum war größer als der erste und luxuriös ausgestattet. Er bemerkte Stehlampen mit schönen Schirmen zu beiden Seiten eines breiten, reichgeschnitzten eichenen Schreibtisches. An der einen Wand stand ein großer Bücherschrank. Aus der Unordnung, die auf dem Schreibtisch herrschte, war zu entnehmen, dass sich in diesem Zimmer das eigentliche Hauptbüro der Redaktion befand.

Aber das Bemerkenswerteste an dem ganzen Raum war der Mann, der an dem Schreibtisch saß. Er war stark und kräftig gebaut, und nach seiner Stimme zu urteilen, mußte er in den besten Jahren stehen. Der Fremde konnte sein Gesicht nicht sehen, denn es war hinter einem Schleier von feinen, seidenen Spitzen verborgen, die wie ein Beutel über den Kopf gezogen und unter dem Kinn durch eine Schnur zusammengehalten waren.

Der Mann lachte leise, als er das Erstaunen des Besuchers sah.

"Nehmen Sie Platz", sagte er auf französisch, "und erschrecken Sie nicht."

"Mein Herr, seien Sie versichert, dass ich nicht im mindesten erschrocken bin. Mich hat noch nichts in der Welt aus der Fassung gebracht als meine eigene Armut und die Aussicht, einmal arm sterben zu müssen."

Der verschleierte Mann schwieg eine Weile.

"Sie sind auf meine Annonce hin gekommen?" fragte er dann nach einer langen Pause.

Der Fremde verneigte sich leicht.

"Sie brauchen einen Assistenten, der verschwiegen ist, Kenntnisse in fremden Sprachen besitzt und außerdem kein Geld hat. Ich erfülle alle diese Bedingungen. Hätten Sie noch hinzugefügt, dass der Betreffende ein abenteuerliches Leben hinter sich haben müsse und keine Skrupel kennen dürfe, so würde auch das auf mich gepaßt haben."

Der Fremde fühlte, dass der Mann am Schreibtisch ihn genau beobachtete, obwohl er seine Augen nicht sehen konnte. Es war eine lange und sorgfältige Prüfung.

"Ich denke, Sie werden meinen Anforderungen genügen."

"Sicher", entgegnete der Besucher kühl und gleichmütig. "Und nun ist es an Ihnen, mein Herr, mir Ihre näheren Bedingungen zu sagen, damit ich weiß, ob mir der Posten zusagt. Als Geschäftsmann müssen Sie wissen, dass zum Abschluß eines Geschäftes zwei Parteien gehören. Vor allem sagen Sie mir, welche Pflichten ich zu übernehmen habe."

Der Mann am Schreibtisch lehnte sich zurück und steckte die Hände in die Taschen.

"Ich bin der Herausgeber einer kleinen Zeitung, die ausschließlich unter den Dienstboten der besseren Leute zirkuliert. Von Zeit zu Zeit erhalte ich interessante Mitteilungen über die Aristokratie und den Landadel, die von hysterischen französischen Zofen oder rachsüchtigen italienischen Kammerdienern eingesandt werden. Ich bin in diesen Sprachen gerade nicht sehr bewandert, glaube aber, dass in den Briefen viel enthalten ist, was mir infolge meiner Unkenntnis der Sprachen entgeht, was ich jedoch unter allen Umständen wissen möchte. Ich brauche deshalb jemanden, der verschwiegen ist, meine Auslandskorrespondenz erledigt, sie ins Englische übersetzt und mir außerdem kurze Inhaltsangaben der Briefe liefert, die von diesen guten Leuten kommen. Sie wissen, dass die Männer nicht vollkommen sind, noch weniger die Frauen, und am wenigsten diejenigen, die sich Dienstboten leisten können. Gewöhnlich haben diese Angestellten irgendwelche Geschichten zu erzählen, die ihrer Herrschaft nicht sehr zum Vorteil gereichen. Verstehen Sie, lieber Freund? Wie heißen Sie übrigens?"

Der Fremde zögerte einen Augenblick.

"Poltavo", sagte er dann.

"Italiener oder Pole?"

"Pole."

"Nun, ich sagte schon, dass die Redaktion der Zeitung bemüht ist, Nachrichten über alles zu sammeln, was in der Gesellschaft vorgeht. Besonders interessiert uns das, was sich hinter den Kulissen abspielt. Wenn man die Geschichten drucken kann, so drucken wir sie. Wenn sie dagegen nicht zur Veröffentlichung geeignet sind", er machte eine längere Pause, "dann drucken wir sie eben nicht. Aber", er hob warnend seinen Finger, "lassen Sie sich nicht dazu verleiten, solche Nachrichten in den Papierkorb zu werfen, weil sie Details enthalten, die man nicht veröffentlichen kann. Wir nehmen solche Dinge zu den Akten und bewahren sie zu unserem eigenen Vergnügen auf." Er sagte dies leichthin, aber Poltavo ließ sich nicht täuschen.

Es trat wieder ein längeres Schweigen ein. Der Mann mit dem verschleierten Gesicht schien nachzudenken.

"Wo wohnen Sie?" fragte er schließlich.

"Im vierten Stock eines kleinen Hauses in Bloomsbury."

"Wann sind Sie nach England gekommen?"

"Vor sechs Monaten."

"Warum kamen Sie hierher?"

Poltavo zuckte die Schultern.

"Warum kamen Sie hierher?" wiederholte der Herausgeber der Zeitung mit Nachdruck.

"Es gab eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und dem verehrungswürdigen Polizeichef von San Sebastian", sagte Poltavo ebenso gleichgültig wie vorhin der andere.

"Hätten Sie mir etwas anderes erzählt, so wären Sie nicht engagiert worden."

"Warum?" fragte Poltavo erstaunt.

"Weil ich weiß, dass Sie die Wahrheit sprechen. Ihr kleines Zerwürfnis mit der Polizei in San Sebastian hatte einen ganz bestimmten Grund. In dem Hotel, in dem Sie wohnten, wurde nämlich eine größere Geldsumme vermißt. Der Raum, in dem der Betrag verschwand, stieß direkt an Ihr Zimmer, er hatte sogar eine Verbindungstür zu diesem. Wenn also jemand schlau genug war, diese Tür mit einem Nachschlüssel zu öffnen, so war die Sache sehr einfach. Ihre Abreise ist auch beschleunigt worden, weil Sie nicht in der Lage waren, die Hotelrechnung zu bezahlen."

"Sie sind ein tüchtiger Mann!" sagte Poltavo anerkennend, aber er zeigte sich nicht im geringsten bestürzt oder verwirrt.

"Es gehört zu meinem Geschäft, von allen Leuten etwas zu wissen, nebenbei bemerkt, können Sie mich Mr. Brown nennen. Wenn ich manchmal nicht aufmerksam scheine, wenn Sie mich so nennen, so müssen Sie das entschuldigen, denn in Wirklichkeit heiße ich nicht so. Sie sind also der Mann, den ich gebrauchen kann."

"Es ist merkwürdig, dass Sie mich gefunden haben. Die Annonce" er zeigte denselben Ausschnitt vor "wurde mir nämlich von einem unbekannten Freund zugeschickt."

"Dieser unbekannte Freund war ich selbst. Verstehen Sie jetzt den Zusammenhang?"

"Dann begreife ich allerdings. Aber das wichtigste ist für mich, wieviel Gehalt ich bekomme."

Mr. Brown nannte eine Summe, die für Poltavo einen großen Betrag bedeutete. Der Herausgeber der Zeitung beobachtete ihn scharf und freute sich, als er erkannte, dass sein neuer Assistent weder erstaunt noch beeindruckt war.

"Sie werden mich selten in diesem Büro sehen. Wenn Sie gut arbeiten und ich Ihnen trauen kann, werde ich Ihr Gehalt verdoppeln. Wenn Sie mich aber enttäuschen sollten, dann können Sie sich in acht nehmen. Ich lasse nicht mit mir spaßen!"

Er erhob sich.

"So, das wäre alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie werden sich morgen früh selbst die Tür öffnen. Hier ist der Schlüssel, und hier ist ein Schlüssel zu dem Geldschrank, in dem ich alle Korrespondenzen aufbewahre. Sie finden viele Schriftstücke darin, die die vornehmsten Mitglieder der Gesellschaft belasten, aber verflucht wenig, die irgendwie zu meinen Ungunsten sprechen. Ich erwarte, dass Sie Ihrem neuen Posten Ihre ganze Aufmerksamkeit widmen", sagte er langsam und bedeutungsvoll.

"Sie können sich darauf verlassen ...", begann Poltavo.

"Warten Sie, ich bin noch nicht fertig. Wenn ich sage, dass Sie Ihrer neuen Stellung Ihre ganze Aufmerksamkeit widmen sollen, so meine ich damit, dass Ihnen keine Zeit bleiben darf, irgendwelche Nachforschungen nach meiner Persönlichkeit anzustellen. Durch eine besondere Einrichtung, die ich Ihnen nicht näher zu erklären brauche, bin ich nämlich in der Lage, dieses Haus zu verlassen, ohne dass jemand merkt, dass ich der Herausgeber dieser interessanten Zeitung bin. Wenn Sie mit der Lektüre der fremdsprachigen Korrespondenz fertig sind, so übersetzen Sie die Schreiben, die die wichtigsten Einzelheiten enthalten. Übergeben Sie die Übersetzungen dem Boten, der jeden Abend um fünf Uhr hierherkommen wird. Ihr Gehalt wird regelmäßig bezahlt werden. Um weitere Pflichten der Redaktion brauchen Sie sich nicht zu kümmern, auch haben Sie mit der Herausgabe der Zeitung selbst nichts zu tun. Warten Sie jetzt bitte fünf Minuten in dem äußeren Zimmer, dann können Sie zurückkommen und mit diesem Stoß von Briefen hier beginnen."

Poltavo verneigte sich leicht und schloß dann die Tür sorgfältig hinter sich. Er hörte das Klappen eines Metallschlosses und wußte, dass dieselbe elektrische Anlage, die die äußere Tür geöffnet hatte, nun die innere schloß. Nach fünf Minuten drückte er auf die Klinke, sie gab nach, und er trat wieder in das innere Büro. Der Raum war leer. Eine Tür führte auf den Korridor hinaus, aber Poltavo war überzeugt, dass sein Chef nicht auf diesem Wege den Raum verlassen hatte. Er sah sich sorgfältig um, es war keine andere Tür zu entdecken. Aber hinter dem Stuhl, auf dem der verschleierte Mann gesessen hatte, stand ein großer Schrank. Er machte ihn auf, ohne jedoch der Lösung des Geheimnisses näherzukommen, wie Mr. Brown verschwunden war. Der Schrank war mit Büchern, Papier und Akten gefüllt. Poltavo begann nun, den ganzen Raum systematisch zu untersuchen. Er probierte alle Schubladen des Schreibtisches und fand sie unverschlossen, worauf sein Interesse an ihrem Inhalt sofort erlosch, denn er wußte genau, dass ein Mann von Mr. Browns großer Erfahrung schwerlich wichtige Schriftstücke in unverschlossenen Fächern zurücklassen würde. Achselzuckend begann er einen vorbereiteten Brief durchzulesen.

Sechs Wochen lang hatte Mr. Poltavo mit unermüdlichem Fleiß in seiner neuen Stellung gearbeitet. Jeden Freitagmorgen hatte er auf seinem Schreibtisch einen Briefumschlag gefunden, der an ihn adressiert war und zwei sorgfältig zusammengefaltete Banknoten enthielt. Jeden Abend um fünf Uhr kam ein Bote mit verschlossenen Gesichtszügen und nahm in einem großen Umschlag die Übersetzungen mit sich, die der Pole tagsüber angefertigt hatte.

Poltavo durchforschte alle Nummern der kleinen Zeitung, die er sich jede Woche kaufte. Er stellte fest, dass nur ein geringer Teil seiner Übersetzungen im Druck erschien. Offensichtlich verfolgte Mr. Brown mit der Herausgabe dieses Skandalblattes noch andere Zwecke. Der Schleier dieses Geheimnisses wurde teilweise gelüftet, als eines Nachmittags laut an der äußeren Tür des Büros geklopft wurde. Poltavo drückte auf den Knopf unter der Schreibtischplatte,, wodurch sich die Tür öffnete, und gleich darauf wiederholte sich das Klopfen an dem inneren Eingang.

Dann stand eine junge Dame zögernd in der Tür.

"Wollen Sie nicht näher treten?" fragte Poltavo und erhob sich.

"Sind Sie der Herausgeber dieser Zeitung?" fragte sie, als sie eintrat.

Poltavo verneigte sich. Er war immer bereit, irgendwelche Ehren entgegenzunehmen, die man ihm antun wollte. Hätte sie ihn gefragt, ob er Mr. Brown selbst sei, so würde er sich auch verneigt haben. Es kam ihm gar nicht darauf an.

"Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen." Sie trat an die andere Seite des Tisches, legte ihre Hand auf die Kante und sah ihn halb verächtlich, halb furchtsam an, wie ihm schien.

Er verneigte sich wieder. Er hatte zwar außer seinem Chef niemandem geschrieben, aber er hatte ein weites Gewissen.

"Ich schreibe viele Briefe", erwiderte er gleichgültig, "und ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen geschrieben habe oder nicht. Vielleicht kann ich den Brief einmal sehen?"

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm einen Umschlag heraus, zog das Schreiben hervor und reichte es dem jungen Mann, der es interessiert betrachtete. "Der schlechte Ruf" stand als Briefkopf auf dem Bogen, aber die Adresse war durch einen dicken Federstrich unleserlich gemacht worden. Der Brief lautete:

Sehr geehrte gnädige Frau,

ich habe einige sehr wichtige Nachrichten erhalten, die Ihre Beziehungen zu Captain Brackly betreffen. Ich bin sicher, Sie können nicht dulden, dass Ihr Name mit diesem Mann in irgendeiner Weise verknüpft wird. Als Tochter und Erbin des verstorbenen Sir George Billk könnten Sie natürlich denken, dass Ihr Reichtum und Ihre Stellung in der Gesellschaft Sie von dem Gerede anderer Leute unabhängig machen, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Mitteilungen, die mir zugegangen sind, schwerwiegende Folgen haben würden, wenn ich sie Ihrem Gatten unterbreitete.

Damit die Sache keine weiteren Kreise zieht und um Ihre Verleumder zum Schweigen zu bringen, ist unser Nachforschungsdepartement bereit, diese Skandalgeschichte zu unterdrücken. Die Kosten hierfür belaufen sich auf zehntausend Pfund, die in Banknoten an mich bezahlt werden müssen. Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, setzen Sie bitte eine Annonce in die Spalte "Verloren und gefunden" des "Megaphone". Ich werde dann eine Zusammenkunft arrangieren, bei der Sie mir das Geld zahlen können. Versuchen Sie aber unter keinen Umständen, an mein Büro zu schreiben oder mich persönlich dort sprechen zu wollen.

Hochachtungsvoll
J. Brown

Poltavo las den Brief, und nun war ihm plötzlich die Aufgabe dieser Zeitung klar. Er faltete den Brief wieder zusammen und händigte ihn der jungen Dame aus.

"Vielleicht ist es nicht sehr klug von mir gehandelt", sagte sie, "aber ich weiß, was Erpressung ist und wie Erpressung bestraft wird."

Poltavo befand sich in einer gewissen Verlegenheit, aber nur einen Augenblick.

"Ich habe diesen Brief nicht geschrieben", erwiderte er freundlich, "er wurde ohne mein Wissen abgesandt. Wenn ich vorhin sagte, ich sei der Herausgeber der Zeitung, so wollte ich damit nur andeuten, dass ich der stellvertretende Redakteur bin. Mr. Brown führt seine Geschäfte ganz unabhängig von mir. Ich weiß natürlich alles, was in der Redaktion vorgeht", fügte er eilig hinzu, denn er war sehr begierig auf weitere Informationen, die ihm die junge Dame sicher nicht verweigerte, wenn sie ihn für einen maßgebenden Redakteur hielt. "Und ich kann Ihnen nachfühlen, dass Sie durch diesen Brief sehr beunruhigt worden sind."

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Poltavo war ein scharfer Beobachter von Frauen und wußte sofort, dass sie nicht nachgiebig und furchtsam war, sich auch nicht aus Angst vor Bloßstellung einschüchtern ließ.

"Ich kann diese Sache Captain Brackly und meinem Mann zur Regelung überlassen. Diesen Brief werde ich meinen Rechtsanwälten zeigen und ebenso den beiden Herren, die er angeht."

Poltavo hatte gesehen, dass der Brief vor vier Tagen geschrieben war, und er sagte sich, dass "die beiden Herren, die er anging", ihn niemals zu sehen bekommen würden, wenn er ihnen nicht schon in der ersten Erregung und im ersten Ärger gezeigt worden war.

"Ich glaube, Sie sind sehr klug", erwiderte er beschwichtigend. "Was bedeutet überhaupt eine so kleine Unannehmlichkeit? Wer kümmert sich denn um die Veröffentlichung von ein paar Briefen?"

"Hat er tatsächlich Briefe?" fragte sie schnell mit verändertem Ton.

Poltavo verneigte sich wieder.

"Werden sie bestimmt zurückgegeben, wenn die Summe bezahlt wird?"

Poltavo nickte, und sie biß sich nachdenklich auf die Lippen.

"Ich verstehe."

Sie schaute wieder auf den Brief, und ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum.

Poltavo begleitete sie bis zur äußeren Tür.

"Das ist die gerissenste Art der Erpressung", sagte sie, als sie fortging, aber sie sprach ohne Erregung. "Ich habe jetzt nur noch zu überlegen, wobei ich am besten fahre."

Poltavo ging in das innere Büro zurück. Als er die Tür öffnete, blieb er erstaunt stehen, denn in dem Stuhl, den er eben verlassen hatte, saß der verschleierte Mann.

Er lachte über die Verwunderung, die er in Poltavos Zügen las, aber er schien sich auch noch über einen anderen Gedanken zu amüsieren.

"Das haben Sie gut gemacht, Poltavo. Sie haben sich glänzend aus der Affäre gezogen."

"Haben Sie denn die Unterredung belauscht?" fragte der Pole, der wirklich sehr überrascht war.

"Jedes Wort. Nun, was halten Sie davon?"

Poltavo zog einen Stuhl heran und setzte sich seinem Chef gegenüber.

"Ich halte die ganze Sache für sehr klug und schlau angelegt", sagte er bewundernd. "Aber auf der anderen Seite glaube ich, dass ich zu wenig Gehalt bekomme."

Mr. Brown nickte.

"Ich denke, Sie haben recht", stimmte er zu. "Ich will sehen, dass Ihr Einkommen erhöht wird. Wie töricht war es doch von der Frau, hierherzukommen!"

"Entweder war sie eine dumme Person oder eine schlechte Schauspielerin!"

"Wie meinen Sie das?" fragte Mr. Brown schnell.

Poltavo zuckte die Schultern.

"Ich zweifle nicht daran, dass alles, was ich eben erlebt habe, eine abgekartete Komödie war. Die Sache hat auch ihren Zweck erfüllt, denn es ist alles erreicht worden, was beabsichtigt wurde."

"Und was wurde beabsichtigt?" fragte Mr. Brown neugierig.

"Sie wollten mir den wahren Charakter Ihres, Geschäfts enthüllen. Ich schließe das aus folgenden Anhaltspunkten." Er zählte sie der Reihe nach an seinen langen weißen Fingern ab. "Nach der Adresse auf dem Briefumschlag hieß die Dame Lady Cruxbury, aber ihr wirklicher Name begann mit einem W, wie ich deutlich auf dem Silberbeschlag ihrer Handtasche lesen konnte. Denselben Buchstaben habe ich auch auf ihrem Taschentuch gesehen, das sie aus der kleinen Handtasche herauszog. Deshalb konnte sie nicht die Frau sein, an die der Brief gerichtet war, oder wenn sie es war, so war der Brief nur ein Bluff. In einer so wichtigen Angelegenheit wäre Lady Cruxbury in eigener Person gekommen. Ich glaube, dass es überhaupt keine Lady Cruxbury gibt und dass das Schreiben nur erfunden und mir überreicht wurde, um meine Verschwiegenheit zu prüfen. Sie beobachteten mich währenddessen von einem Versteck aus. Außerdem verfolgten Sie noch den Zweck, wie ich Ihnen ja schon sagte, mir die anderen Geschäfte Ihrer kleinen Zeitung klarzumachen."

Mr. Brown lachte leise vor sich hin.

"Sie sind ein kluger Kopf, Poltavo", sagte er dann bewundernd, "und sicher verdienen Sie eine Gehaltsaufbesserung. Ich gebe gern zu, dass die ganze Sache nur eine Komödie war. Sie kennen jetzt mein Geschäft. Sind Sie unter diesen Umständen bereit, Ihre Stellung beizubehalten?"

"Unter einer Bedingung."

"Sagen Sie, was Sie wollen."

"Ich bin ein armer Abenteurer", begann Poltavo. "Mein Leben ..."

"Hören Sie mit diesem Zeug auf", unterbrach ihn Mr. Brown schroff. "Es fällt mir gar nicht ein, Ihnen ein Vermögen zu schenken. Ich habe die Absicht, Ihnen alles zu geben, was zum Lebensunterhalt notwendig ist, und außerdem noch so viel, dass Sie sich etwas Komfort und Luxus gestatten können."

Poltavo ging zum Fenster und starrte hinaus. Plötzlich wandte er sich wieder um.

"Zu meinem Lebensunterhalt gehört aber auch eine Wohnung in der St. James's Street, ein Auto, eine Loge in der Oper ..."

"Von alledem werden Sie nichts bekommen. Nehmen Sie doch Vernunft an!"

Poltavo lächelte.

"Ich bin Ihnen ein Vermögen wert, weil ich Phantasie besitze. Zum Beispiel hier." Er nahm einen Brief aus dem großen Stoß, der auf dem Pult lag, und öffnete ihn. Die Handschrift war südländisch großzügig, zeigte aber ein schlechtes Schriftbild. "Hier ist ein Brief von einem Italiener", fuhr er fort, "der für die meisten Leute nur unangenehme Geschäftsdetails enthalten würde, aber für einen Mann meiner Art birgt er reiche Möglichkeiten in sich." Er lehnte sich über den Tisch, und seine Augen glänzten vor Begeisterung. "Es ist möglich, dass man aus diesem Brief ein großes Vermögen schlagen kann. Das ist ein Mann, der mit den großen englischen Zeitungen in Verbindung kommen möchte, um die Identität und Lebensweise eines gewissen Mr. Fallock zu ergründen."

Mr. Brown stutzte. "Fallock?" wiederholte er.

Poltavo nickte.

"Unser Freund Fallock hat ein 'großes, wunderbares Haus' gebaut, um den Brief unseres Korrespondenten zu zitieren, und in diesem Haus ist ein Millionenvermögen verborgen. Regt das Ihre Phantasie nicht an, mein lieber Kollege?"

"Er hat ein großes Haus gebaut?"

"Diese Leute berichten mir, habe ich eigentlich schon gesagt, dass dieser Brief von zwei verschiedenen Männern geschrieben wurde ... dass sie einen Anhaltspunkt gefunden haben und dass sie sogar die Adresse Mr. Fallocks kennen. Sie sind sicher, dass er Verbrechen begeht. Aber sie brauchen eine Bestätigung ihrer Entdeckung."

Mr. Brown schwieg und trommelte nervös mit seinen Fingern auf der Schreibtischplatte. Er hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, als ob er über ein schwieriges Problem nachdächte.

"Das ist alles Kindergewäsch", sagte er plötzlich rau, "all dieses Gerede von verborgenen Schätzen. Ich habe früher auch schon von der Sache gehört. Es sind eben zwei Südländer mit einer lebhaften Phantasie. Wahrscheinlich haben sie angefragt, ob Sie ihnen das Fahrgeld schicken würden?"

"Genau das haben sie gefordert."

Mr. Brown lachte unangenehm hinter seinen Schleiern und erhob sich.

"Das ist der spanische Gefängnistrick. Sie lassen sich doch durch derartige Skandalgeschichten nicht täuschen?"

Poltavo zuckte die Schultern.

"Ich spreche als ein Mensch, der selbst in einem spanischen Gefängnis geschmachtet hat", erwiderte er lächelnd. "Auch ich habe, früher an wohlhabende Leute in England Briefe geschickt und sie gebeten, mich aus meiner bedrückten Lage zu befreien. Diese Befreiung konnte aber nur durch Zahlung großer Summen bewerkstelligt werden. Ich verstehe durchaus alle Einzelheiten dieses Manövers, aber wir spanischen Räuber, mein lieber Kollege, schreiben nicht in der Landessprache, wir schreiben in gutem oder schlechtem Englisch. Wir schreiben nicht in schlechtem Italienisch, weil wir doch wissen, dass die Empfänger unserer Briefe sich nicht die Mühe geben, diese übersetzen zu lassen. Nein, Mr. Brown, das ist kein spanischer Gefängnistrick. Dieser Brief ist echt, und alles, was darin steht, ist wahr."

"Kann ich ihn einmal sehen?"

Poltavo reichte ihm das Blatt über den Tisch hinüber. Mr. Brown wandte einen Augenblick seinem Angestellten den Rücken zu, lüftete den Schleier und las den Brief. Dann faltete er ihn wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche.

"Ich werde noch auf die Sache zurückkommen", sagte er dann mit rauer Stimme. "Ich will es mir aber vorher noch überlegen."

"Ich möchte Sie außer der Gehaltserhöhung noch um eine andere Gunst bitten."

"Was soll das denn sein?"

Der Pole streckte die Hände mit einer Geste aus, die eine gewisse Selbstverachtung ausdrücken sollte.

"Ich gebe zu, dass es eine Schwäche von mir ist, aber ich möchte zu gern wieder in guten Kreisen verkehren, Sie verstehen, bei feingekleideten Herren und schönen Damen. Ich sehne mich nach einem Leben in der großen Gesellschaft. Ich weiß wohl, es ist töricht, aber ich möchte mit reichen Leuten, die an der Börse spekulieren, mit Finanzleuten, Politikern und Industriemagnaten auf gleichem Fuß verkehren. Auch ich möchte ein großzügiges Leben führen, ich liebe es, schöne Musik zu hören und gute Weine zu trinken."

"Und was soll ich dabei tun?" fragte Brown argwöhnisch und unangenehm berührt.

"Verschaffen Sie mir Eingang in die große Gesellschaft", erwiderte Poltavo liebenswürdig. "Besonders gern möchte ich diesen großen Handelsherrn kennenlernen, von dessen Geschäften ich schon so viel in den Zeitungen gelesen habe. Wie ist doch gleich sein Name? Richtig: Farrington."

Mr. Brown saß eine Minute lang ruhig da. Dann erhob er sich, öffnete den Schrank und faßte mit der Hand hinein. Poltavo hörte ein Klicken, der Schrank mit seinem ganzen Inhalt schwang nach rückwärts, und er konnte einen Raum sehen, der zu einer anderen Reihe von Büros gehörte, die Mr. Brown auch gemietet hatte. Schweigend stand der verschleierte Mann in der Öffnung, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände auf dem Rücken.

"Sie sind wirklich sehr klug, Poltavo", sagte er dann und ging in das andere Zimmer. Der Schrank schob sich wieder vor und verdeckte den Zugang.

Poltavo blieb ein wenig überrascht zurück.

Kapitel 2



"Meuchelmörder!"

Dieser Schrei schrillte durch die stille Nacht und weckte auch das Interesse und die Neugier eines Bewohners des Brakely Square, der noch wach war. Es war Mr. Gregory Farrington, der gewöhnlich an Schlaflosigkeit litt. Er hörte den Ruf, legte das Buch, in dem er gelesen hatte, stirnrunzelnd aus der Hand, erhob sich aus seinem Lehnstuhl, zog den Schlafrock dichter um seinen etwas behäbigen Körper und trat an das Fenster. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber er steckte die Finger zwischen zwei Brettchen und bog sie so, dass er durchschauen konnte.

Die Fenster waren beschlagen, und die Straßenlaternen waren nur undeutlich und verschwommen zu sehen. Er rieb die Scheiben mit den Fingerspitzen klar.

Zwei Männer standen vor dem Haus, mitten auf dem einsamen Fahrdamm. Sie sprachen erregt miteinander. Mr. Farrington konnte selbst durch das geschlossene Fenster ihre harten Stimmen hören. An ihren heftigen Gesten erkannte er sie als Italiener.

Er sah, dass der eine seine Hand hob, um den anderen zu schlagen, und er sah das Blitzen eines Pistolenlaufes.

"Hm!" sagte Mr. Farrington.

Er war allein in seinem schönen Haus am Brakely Square. Der Hausmeister, die Köchin und ein Stubenmädchen, auch der Chauffeur waren zu einem Dienstbotenball gegangen. Die Stimme auf der Straße wurde lauter.

"Dieb!" hörte er plötzlich in französischer Sprache rufen. "Soll ich mich denn bestehlen lassen ..." Den Rest konnte er nicht mehr verstehen.

Auf der anderen Seite des großen Platzes war ein Polizist erschienen. Mr. Farrington rieb die Glasscheibe energischer und schaute ängstlich nach dem Beamten. Dann ging er die Treppe hinunter, öffnete die Metallklappe seines Briefkastens und lauschte. Es war nicht schwer, alles zu verstehen, was sie sagten, obgleich sie jetzt leiser sprachen, denn sie standen am Fuß der Stufen, die zu der Haustür führten.