Der Grenzgänger


Lutz Kreutzer weiß, worüber er schreibt, wenn er über das Bergsteigen Geschichten erzählt. Der promovierte Naturwissenschaftler war in jüngeren Jahren als Kletterer (alpin bis zum 7. Grad), Alpingeologe und einer der ersten Gleitschirmflieger unterwegs, und auch heute noch gehört seine Leidenschaft den Bergen. Als Journalist hat er neben Alpinliteratur zahlreiche populärwissenschaftliche Werke verfasst. Seine abenteuerlichen Reisen als Forscher und Manager nimmt der gebürtige Rheinländer zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Er hat bereits drei Romane veröffentlicht. Einer seiner Thriller wurde als eBook zu einem Platz-1-Bestseller. Lutz Kreutzer, der lange in Wien und Kärnten lebte und arbeitete, wohnt heute in München. Mehr unter www.lutzkreutzer.de

          

Die Handlung ist fiktiv. So mysteriös dieser Fall erscheint: Vergleichbare Täterprofile gibt es tatsächlich. Die Kriminalgeschichte ist voll von Serienmördern, die ähnlich gehandelt haben.

Alle im Buch auftretenden Personen sind frei erfunden. Sollte sich jemand darin wiedererkennen, so ist das Zufall. Die Toten sind mit Sicherheit keiner lebenden Person ähnlich.

          

Interaktive Karte

Die Orts- und Routennamen entsprechen – fast alle – der Realität. Unter folgendem Link gibt es eine interaktive Karte mit den wichtigsten Schauplätzen: http://grenzgaenger.lutzkreutzer.de
Sie finden diesen Link auch auf www.rother.de bei der Titel-Info.

 


Lutz Kreutzer

 



Der Grenzgänger



Eddy Zett
 und der Mörder vom Sternberg

 

 



Bergkrimi

 

 



Bergverlag Rother

 

 

 


       

 

          

 

          

 

          

 

          

 

 

          

 

          

 

          

Umschlagfoto: Reinhard Drescher, Waischenfeld
Foto Karabiner/Seil: © ehrenberg-bilder – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Beate de Nijs, www.denijs.de
Lektorat: Carlos Westerkamp, Berlin; Barbara Wickenburg, Murnau
Originalausgabe

 

 

1. Auflage 2015
© Bergverlag Rother GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7633-7071-9


          

 

          

 

          

 

           »Oh Jungfrau der Gipfeln,
 reiche du die Hand denen,
 die sich zum Himmel bestreben.«

           (Inschrift am Monte Peralba)

 

          

 

CIMA DELLA MADONNA

 

Schleierkante, gegen Mittag (Samstag, 13. Juli 2013)

 

Eddys Oberkörper kippte langsam nach hinten. Sein Herz schlug bis zum Hals. Seine Hände hatten sich geöffnet. Der brennende Schmerz in den Unterarmen ließ nach. Das würde das Ende sein, schoss es ihm in den Kopf. Dann stieß er sich mit den Füßen ab. Eddy fiel.

Seine Angst vor dem Loslassen hatte sich verflüchtigt. Er hatte jetzt Panik erwartet. Doch sie kam nicht. Er war seltsam ruhig.

Fredo hing dreißig Meter tiefer an zwei Haken und sah hinauf. »Eddyyy …«, hallte es dumpf von unten durch die Nebelfetzen an der Schleierkante.

Eine Dohle wurde aufgeschreckt. Eddy hörte das Klatschen ihrer Flügel. Es ging bergab. Sein fallender Körper zerteilte die Wolkenschwaden, die die Kante umwehten.

Fünf Meter. Vorbei an dem Haken, in den er besser das Seil eingehängt hätte. Zehn Meter. Das Seil schlug Wellen. Fünfzehn Meter. Er sauste an dem Haken vorbei, in dem das Seil durch ein schepperndes Karabinerpaar lief. Jetzt noch mal so viele Meter und die Fangdehnung des Seils, das war ihm klar. Fünfundzwanzig Meter. Immer noch im freien Fall. Fredo völlig überrascht und mit aufgerissenen Augen, direkt unter ihm und beide Hände am Seil. Hektisch zog Fredo jetzt so viel Seil ein, wie es der Halbmastwurf im Schraubkarabiner zuließ. Eddys linker Fuß streifte Fredos Kopf und die Schulter. Fredos Helm knallte gegen den Fels. Fünfunddreißig Meter. Das Seil machte zischende Geräusche, es streckte sich. Eddys Fall wurde abgebremst, das Seil knarzte leise, es war gespannt wie eine Bogensehne.

Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert. Der Hüftgurt schnürte Eddy ab. Er rang nach Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Füße schlugen gegen die Wand, als er die Luft mit aufgeblasenen Wangen auspustete. Das Seil wippte zurück, und Eddy wurde federnd etwa zwei Meter nach oben gezogen. Er hing still und ruhig und fühlte sich drei Sekunden lang tot. Aber er war es nicht.

Gut, dass Fredo den Standplatz vier Meter über dem Felsband angelegt hatte. Eddy pendelte jetzt drei Meter unter Fredo einen halben Meter von der Wand weg. Das Seil verband sie, wenn auch über einen fast fünfunddreißig Meter langen Umweg. Eddy starrte das leuchtende Geflecht aus Nylonfasern an und dankte ihm für sein Leben. Dann sah er hoch.

Fredos Gesicht war verzerrt vom Schmerz. Mit der rechten Hand hängte er zitternd einen zusätzlichen Karabiner in den Ring des Bohrhakens und warf schnell einen Mastwurf ins Seil, den er in den Karabiner einhängte, bevor er ihn zuschraubte. Dann erst ließ er mit der Linken das Seil los, das sich sofort straffte, nachdem es Eddy einen halben Meter ruckend nach unten hatte fallen lassen. »Uah!«, rief Eddy.

»Verfluchter Mist!«, brüllte Fredo jetzt und sah seine rechte Hand an. Die Handfläche war blutig. Er schüttelte sie und biss auf die Zähne. Das durchschießende Seil hatte ihm die Haut verbrannt. Er fragte Eddy: »Verletzt?«

»Nein«, erwiderte Eddy. »Verfluchter Scheiß, das war knapp.«

»Eddy, du verdammter Idiot!«, schrie Fredo erleichtert.

»Mann, Eddy. Du Irrer! Gott sei Dank, du lebst!«

Sie schwiegen ein paar Sekunden, sahen sich an. Und wussten: jetzt bloß keine Pause. Wenn Zeit blieb zur Besinnung, würde sich ihr Körper gegen jedes Weitermachen wehren. Und sie würden hier nicht mehr wegkommen.

»Willst du da hängen bleiben?«, fragte Fredo bissig. »Irgendwann musst du wieder rauf zu mir.«

»Ja, irgendwie muss ich jetzt wieder da hoch«, sagte Eddy leise. Er richtete sich auf und schwang hin und her, bis er die Wand berührte. Er bekam einen leistenartigen Griff zu fassen, dann einen zweiten. Seinen rechten Fuß stellte er in eines dieser Löcher im Fels und kletterte schnell zu Fredo hinauf. Er sah ihm in die Augen. »Gut gehalten, mein Freund.« Er sah nach oben und murmelte: »Na dann mal los.« Bevor Fredo überhaupt reagiert hatte, war er drei Meter höher.

»Hey, bist du wahn … sinnig ...« Fredo spürte, wie seine Stimme ins Leere ging. Er zog das Seil durch den Karabiner und sicherte Eddy. Seine Hände schmerzten heftig.

Eddy kletterte schnell und sicher. Vier Meter, dann war er um die Kante des Zagonel-Pfeilers verschwunden.

»Verflucht, Eddy, was machst du? Häng diesmal früher ein!«, schrie Fredo aus Leibeskräften gegen die Stille des Nebels.

»Keine Panik, Fredo, es passiert dir nix!«, klang es dumpf von oben her, und Eddy legte noch einen Lacher hinterher, der in der nebelgedämpften Luft verhallte.

Der Pfeiler war schwierig, er war teilweise absolut senkrecht, unten sogar leicht überhängend. Eddy stieg die helle Wand hoch bis zu dem Haken, den er ausgelassen hatte. Diesmal hängte er einen Karabiner ein und sicherte das Seil. Dann kam er zu der Stelle, wo ihn seine Kräfte verlassen hatten. Er feixte, hängte sich an seine linke Hand und legte eine Bandschlinge um ein Felsköpfl des eisenhart versteinerten Korallenriffs, klinkte ein Karabinerpaar mit dem Seil ein und stieg weiter. Unter ihm klapperte der Karabiner gegen den Fels. Ein gutes Geräusch. Er zog sich an einem kleinen Griff nach oben, unterstützt von seinen gespreizten Füßen, die sich an minimalen Rauigkeiten abstützten. Er erreichte den großen Griff und die Felsschuppe. Ein paar Handgriffe, einige Knoten und ein Schrei: »Staaaand!«

Zwanzig Minuten später war Fredo bei ihm. »Eddy, ich bin irgendwie langsam heut, die Hand …«

Eddy sah sich die verletzte Bremshand Fredos an und sagte: »Durchbeißen, mein Freund. Bald haben wir es geschafft.« Noch zwei Pfeiler mit etwa sieben Seillängen, und sie würden auf dem Gipfel der Cima della Madonna sein.

Fredo nickte und lächelte dünn. Die Dohle zog fast geräuschlos an ihnen vorbei und drehte ab. Fredo griff in seinen Rucksack und holte eine Flasche hervor. »Tee?«

Eddy verdrehte die Augen, doch er nahm einen kräftigen Schluck. »Danke fürs Gesöff! Wenn wir hier raus sind, Fredo, lad ich dich auf ein Fass Bier ein.«

 

UNTER DEM SASS MAOR

 

Rifugio Pradidali, am Abend (Samstag, 13. Juli 2013)

 

Eddy lehnte an dem groben Holzgeländer vor der Eingangstür. Die Hütte war komplett aus den grauen Steinen der Umgebung gebaut. Rot-weiße Fensterläden ließen das Rifugio Pradidali in fast zweitausenddreihundert Metern Höhe aus der Rauheit dieser kahlen Hochebene herausstechen. Wie Kathedralen umringten die Dolomitberge mit ihren Pfeilern den Kessel, der sich vom Passo di Ball bis hierher hinabzog.

Eddy sah nach Süden, wo sich unter der senkrechten Ostwand des mächtigen Sass Maor das Val Pradidali erstreckte. Am Horizont traf sein Blick auf den Monte Pavione, den höchsten Berg der Feltriner Dolomiten, dessen Gipfel jedoch nur unwesentlich höher war als die Terrasse, auf der er sich befand.

»Weißt du, dass die Pradidali-Hütte hier schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden ist?«, fragte Eddy.

»Na, wusst i net«, sagte Fredo, der fast einen halben Kopf kleiner war als Eddy.

»Du wirst staunen, vom Dresdner Alpenverein.«

»Ma, die Deutschen, überall san’s umanant. Mir wurscht, Hauptsach is, sie steht da. Jetzt g’hört sie uns«, sagte Fredo grinsend und verwies auf das Schild der Abteilung Treviso des Club Alpino Italiano an der Außenmauer. Diese Hütte wurde wegen ihrer Lage an der südlichen Öffnung des Pradidali-Kessels von vielen Bergsteigern als die schönste der gesamten Dolomiten bezeichnet. Und das hatte etwas mit ihrer Umgebung zu tun, dem prächtigsten Fleck der Pale di San Martino. Große Wände aus grauem Riffkalk und gelbem Dolomit, wohin die beiden blickten: Cima Canali, Cima Wilma und vor ihnen der Koloss des Sass Maor, hinter dem die Cima della Madonna wie verschämt ihren Schleier aus Fels versteckte.

Jetzt konnten sie all diese Wände sehen, deren Strukturen aus Pfeilern, Rissen und Kanten sich allmählich aus den Wolken herausschälten. Das fast alltägliche Juli-Gewitter war vorüber, im Himmel hing noch ein entferntes Grollen. Eddy und Fredo waren auf den letzten Metern zur Hütte noch tropfnass geworden.

Eddy hielt ein Glas Rotwein in der Hand und prostete der Cima della Madonna zu, von der nur der Gipfelgrat zu erkennen war.

Fredo legte seine Hand auf Eddys Schulter und fragte:

»Eddy, alles okay?«

»Ja, danke. Passt schon.«

»Du siehst nachdenklich aus«, sagte Fredo, dessen schwarze Haare im blassen Abendlicht glänzten.

Eddys Blick fiel wieder auf den Gipfel der Cima della Madonna. »Eigenartig. Wenn ich den Namen des Bergs höre«, sagte er leise, »dann muss ich an die Madonna des Monte Peralba daheim in den Karnischen denken.« Er richtete sich auf. »Wir sind heute auf dem Schleier der Madonna geritten, Fredo. Und wir haben es übertrieben. Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen«, scherzte er.

»Den Monte Peralba machen wir demnächst mal wieder. Mit unseren Familien. Dann wird uns die Madonna am Gipfel sicher verzeihen.« Fredo lachte und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Eddys schlanker Oberkörper machte einen kurzen Ruck nach vorn. Er nickte. »Schöne Idee.«

Fredo hob sein Glas mit verbundener Hand und stieß mit Eddy an. »War eine verdammt gute Sache heut, Eddy. Aber irgendwie hast du recht. Ein Glück, dass wir hier noch stehen.«

»Wie geht’s der Hand?«, fragte Eddy.

»Na ja, hab schon Schlimmeres erlebt.«

»Schulter und Kopf?«

Fredo machte eine abwehrende Bewegung. Eddy blickte ihn dankbar an, sein Freund hatte ihm heute das Leben gerettet. Jetzt sah er nach Osten, wo seine Augen mal wieder an dem grandiosen Riss hängenblieben, der pfeilgerade die Westwand der Cima Canali zerschnitt. »Hermann Buhl. Dieser Teufelskerl. 1950 hat er den Italienern da ein richtiges Ei gelegt«, sagte Eddy und grinste. »Bei schlechtem Wetter eingestiegen und einfach seinen Kumpel den Riss hochgezogen.«

Fredo tat gelangweilt. »Jaja, ihr heldenhaften Österreicher!«

Eddy zog die Augenbrauen hoch, dann lachte er leise. Er legte den rechten Arm um seinen Freund und sagte: »Fredo, ohne dich wär ich jetzt tot!«

»Ja, und ohne dich wär ich auch tot. Ich würd mich nämlich zu Tode langweilen.« Sie lachten und tranken einen Schluck.

Die beiden hatten sich morgens um vier in Corvara getroffen. Eddy hatte von zu Hause aus zweieinhalb Stunden dorthin gebraucht. Fredo übernahm das Steuer, und Eddy war bald eingeschlafen. Unterwegs hatten sie daher kaum ein Wort gesprochen. Um sechs waren sie in San Martino angekommen.

Die Tour danach war enorm. Erst die tausend Höhenmeter bis zum Fuß der Cima della Madonna, um halb neun waren sie am Einstieg und deponierten ihre Rucksäcke in der Nähe. Dann die Schleierkante, und trotz Eddys Sturzeinlage waren sie um kurz vor zwei am Nachmittag am Gipfel. Und dann noch die zweieinhalb Stunden Abstieg und Abseilpiste. Am Wandfuß im sicheren Gelände angekommen, war Eddy versucht, die nahe Velo-Hütte aufzusuchen und dort zu übernachten. Doch Fredo wollte trotz seiner verletzten Hand am nächsten Tag noch eine Tour am Campanile Pradidali gehen. Deshalb hatten sie auf der Pradidali-Hütte gebucht. Sie holten ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg. Für den Klettersteig dorthin hatten sie kaum noch Augen, lang und kraftraubend war er und hatte sie noch einmal zweieinhalb Stunden gekostet, Drahtseile und Eisenkrampen, ein langwieriges Auf und Ab in teilweise steiler Wand.

Jetzt war es acht Uhr am Abend. Der Sass Maor zeichnete sich deutlich vor dem klaren Himmel ab. Eddy prostete Fredo noch einmal zu. »Fredo, ich freu mich, hier mit dir sein zu können.«

Fredo hob die Hand und Eddy wollte einschlagen. Im letzten Moment hielt er jedoch inne. »Wir wollen doch deine Bremshand nicht überfordern.« Er grinste. »Sag mal, glaubst du, dass du damit morgen klettern kannst?«

»Ach, der Kratzer. Wird wohl gehen«, meinte Fredo, wobei er seine verletzte Hand vorsichtig berührte. Er zuckte zusammen und verzog schmerzverzerrt sein Gesicht.

Ihre Augen hingen am Abendhimmel. Sie schwiegen. Dann machte Eddy den Vorschlag, in der Dämmerung ein paar Schritte den Weg entlang zu gehen.

»Schau, die kommen vielleicht aus dem Buhl-Riss!«, sagte Eddy und deutete mit dem Kopf zu den beiden Bergsteigern, die man jetzt am unteren Ende der Schuttrinne aus der Scharte südlich der Cima Canali erkennen konnte. Sie schienen zu kriechen, als wären sie Ameisen.

Als sie die beiden beobachteten, pochte Eddys Herz schneller. Diese Tour wollte er immer schon machen. »Mann, Fredo, wann sind wir dran?«

Fredo grinste. Nach einer halben Stunde konnten sie die beiden Bergsteiger erkennen. Sie trugen knallrote Jacken. Ihre Seile hingen über den Rucksäcken, oben waren die Helme draufgeschnallt sowie ihre leichten Kletterschuhe. An den Füßen trugen sie Turnschuhe.

»Oh, die Elite kehrt ein«, sagte Eddy und setzte eine respektvolle Miene auf. »Das sind Scoiattoli.« Eddy zeigte mit dem Kopf auf die roten Eichhörnchen-Embleme auf ihren Jacken, dem Erkennungszeichen des Ampezzaner Elite-Bergsteigerclubs.

Fredo sah auf die Uhr. »Das Essen«, sagte er, und sie kehrten um.

Die beiden Bergsteiger überholten sie kurz vor der Hütte, der Ältere grüßte verhalten. Er war kräftig und groß, seine Haare waren silbergrau, Eddy schätzte ihn auf Anfang sechzig. Er grüßte zurück. Der Jüngere lächelte freundlich, sagte aber nichts. Er war von ähnlicher Größe und Statur und etwa Anfang dreißig.

Als sie außer Hörweite waren, sagte Fredo voller Abscheu: »Oje! Der hat mir grad noch gefehlt!«

»Hey, nicht neidisch werden!«, erwiderte Eddy. »Die Jungs haben’s drauf!«

»Den Alten kenn ich, na ja, entfernt. Ehemaliger Kollege. Hohes Tier gewesen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den mag. Weiß der Teufel, wie der zu den Scoiattoli kommt.«

Fredo war bei den Carabinieri, der italienischen Exekutiveinheit, die mit der ehemaligen österreichischen Gendarmerie vergleichbar war. Wie auch Eddy bei der österreichischen Polizei, gehörte Fredo der Alpinen Einsatzgruppe der Carabinieri an, als Leiter der Kommandostation in Corvara im Rang eines Maresciallo Luogotenente, womit ihm die Funktionen eines Polizeikommissars übertragen waren.

»Glaubst du, der hat sich bei den Scoiattoli eingeschlichen?«, fragte Eddy witzelnd.

Fredo grummelte. »Keine Ahnung, aber ich will nicht wissen, wer da mitgemauschelt hat. Seine Jacke ist vielleicht echt, aber der Typ ist ein Arsch!«

Die beiden Männer vor ihnen betraten die Hütte. Eddy sah ihnen hinterher. »Na, wenigstens sind sie freundlich, deine Jungs.«

»Das sind nicht meine Jungs«, protestierte Fredo. »Und das war nicht freundlich, das war überheblich. Der Alte, das ist ein echter Widerling. Guckt jedem Rock hinterher und ...«

»… und du nicht?«, spottete Eddy.

Fredo warf Eddy einen scharfen Blick zu. »Ich hab den mal an der Sella getroffen, hat die Kellnerin übel belästigt. Ein echtes Schwein, Eddy!«

»’tschuldige, war nicht so gemeint.« Eddy grinste über Fredos Aufregung.

»Dieser eingebildete Hund«, zischte Fredo verächtlich.

»Erinnere dich, Fredo, als du jung warst und ich dich kennengelernt habe. Da warst du so was von eingebildet, dass du nicht mal gemerkt hast, dass der Hubschrauber einen Piloten hatte.« Eddy lachte.

Fredo wusste, worauf Eddy anspielte. Vor über zwanzig Jahren hatten die Alpinen Einsatzgruppen der Carabinieri und der österreichischen Gendarmerie eine Trainingswoche am Brenner zusammen verbracht. Dort waren sich Eddy und Fredo zum ersten Mal begegnet. Fredo war damals über die Maßen stolz auf seine ladinischen Wurzeln gewesen. Und so hatte er sich auch benommen.

»Wir wollten damals alle nicht fliegen«, sagte Fredo leise und grinste. »Ihr Lackaffen mit eurem Hubschrauber.«

Eddy breitete die Arme aus. »Tja, wir waren euch halt damals schon etwas voraus.«

»Na ja, wir Italiener haben zu der Zeit noch auf die Bergung vom Tal aus statt aus der Luft gesetzt.« Fredo machte damals gerade seine Alpin-Ausbildung bei den Carabinieri.

»Wir haben die Verunglückten immer direkt über die Wand rausgeholt.«

»Ich erinnere mich gut. Als du in unseren Heereshubschrauber rein solltest, da hast du so verächtlich gemotzt, als wär’s eine Höllenmaschine.«

»War es für uns ja auch. Wir hatten zwar auch Hubschrauber, vom Militär, die haben uns aber allenfalls bis zum Wandfuß gebracht. Den Rest haben wir kletternd erledigt.«

»Du bist eingestiegen, hast den Piloten angerempelt und irgendwas auf Ladinisch geflucht.«

»Ja, ich hab gesagt, dass uns das Scheißding noch alle um bringt.«

Eddy erinnerte sich schmunzelnd daran, wie es wirklich war. Fredo hatte mit seinen einsneunundsechzig versucht, den Hubschrauber in einem eleganten Schritt zu besteigen, doch das war ihm nicht gelungen. Irgendwie hatte er sich über seine Ungeschicklichkeit geärgert. Eddy hatte sich damals drüber lustig gemacht. Das hatte zu ihrem ersten Streit geführt, noch bevor sie sich richtig kannten.

»Und du hast es überlebt.« Eddy lachte und nahm seinen kleineren Freund in den Arm. »Aber gewachsen bist immer noch net.«

Fredo befreite sich aus Eddys Umarmung und boxte ihm dabei in die Seite, so dass Eddy sich bog. »Aber heute, Eddy, heute hast du halt den Hubschrauber gemacht. In der Wand.« Er pfiff spöttisch und machte eine trudelnde Abwärtsbewegung mit der Hand.

»Signori, la pasta!«, rief die Wirtin aus der Tür. Eddy gab Fredo einen Wink mit dem Kopf. Dann betraten auch sie die Hütte.

          

Der Gastraum war brechend voll. Die beiden Bergsteiger aus der Cima Canali hatten sich an den Tisch gesetzt, wo die Tochter der Hüttenwirtin zuvor für Eddy und Fredo eingedeckt hatte. Sie setzten sich neben die beiden, und Eddy nickte kurz mit dem Kopf. Der Gruß kam höflich zurück.

Eddy bestellte einen Liter Rotwein und vier Gläser. Als die Karaffe kam, schenkte er den beiden Italienern ein und reich te ihnen je ein Glas. Fredo beobachtete das skeptisch, doch Eddy störte das nicht. Der Ältere schaute auf und bedankte sich. »Österreicher?«

»Ich schon«, nickte Eddy, und wie immer, wenn er auf seine Heimat angesprochen wurde, klang Selbstbewusstsein mit. Der Jüngere prostete Fredo verhalten zu. Der Ältere sah nur zu.

»Wir beide sind aus Hayden«, sagte der Jüngere.

»Hayden?«, fragte Eddy.

»Hayden ist das alte deutsche Wort für Anpëz oder Ampezzo, also die Gegend um Cortina«, erklärte der Jüngere. »So hat man dazu gesagt, als die Gegend noch zu Österreich gehörte.«

»Und Sie haben Tiroler Vorfahren? Sie sprechen hervorragend Deutsch …«, sagte Eddy.

»Ladiner. Gustavo Troi«, sagte der Ältere und legte seine Hand aufs Herz.

»Angenehm, ich bin Eddy.«

Sie reichten sich die Hände.

»Und du? Hast sicher auch einen Namen?« Eddy hielt dem Jüngeren das Glas hin.

»Paolo. Ich heiße Paolo.« Er nahm das Glas und trank.

»Mein bester Kletterpartner«, sagte der Ältere, und ein wenig Stolz blitzte durch.

»Ach ja, und euer ladinischer Bruder aus dem Hochabteital hier, das ist Fredo«, stellte Eddy seinen Freund vor. »Immer ein wenig mürrisch, aber wenn man ihn regelmäßig füttert, kann er ganz freundlich sein.« Er zwinkerte Fredo zu.

Fredo nahm sein Glas in die Hand, lächelte überrumpelt und prostete in die Runde. »Wir kennen uns schon«, sagte Fredo und fixierte den Älteren mit festem Blick.

»Ja, das tun wir, Fredo«, gab dieser zurück und bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu wirken.

Die Pasta kam dampfend auf den Tisch.

»Wart ihr heute im Buhl-Riss?«, fragte Eddy, während er sich Parmesan auf die Nudeln streute.

»Ja, ich wollte dem Küken hier mal zeigen, was man in der Gegend so machen kann«, sagte Gustavo und lächelte seinen Kletterpartner grimmig an. »Dabei hat dann er alles geführt, von unten bis oben.«

»Respekt«, sagte Eddy. »Ein richtig guter Mann, was?« Er blinzelte ihm zu.

Fredo saß daneben und sagte nichts.

»Und ihr?«, fragte Paolo freundlich. »Was habt ihr so gemacht?«

»Schleierkante, wollt ich schon immer mal.« Eddy rieb sich die Nase. »Schwerer, als ich dachte.«

Paolo nickte und fragte: »Anfänger?« Dabei zog er provozierend die Augenbrauen nach oben.

»Ich würde eher sagen, alte Hasen, die wissen wollten, wie schnell es noch geht.« Eddy grinste.

»Er meint nach unten«, schob Fredo hinterher und machte eine sinkende Handbewegung, untermalt von einem zischen den Pfiff.

»Oh, geflogen?«, fragte Gustavo Troi.

»Ja, ganz schön heftig«, brummte Eddy. »Bin ein wenig aus der Übung. Aber dann …«

Jetzt bekamen auch die beiden Ampezzaner ihre Pasta. Gustavo nahm zwei Löffel Parmesan, drehte seine Gabel in die Spaghetti und schob sich beherzt eine Portion in den Mund.

»Wo kommst du her in Österreich?«, fragte er. Eddy antwortete: »Aus Kärnten.«

»Kärnten. Was macht man da so den ganzen Tag?«

»Klettern, und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.« Gustavo lächelte, nickte und schwieg.

»Bei euch in Kärnten«, sagte Paolo, »gibt’s da nicht ein paar interessante Wände? Hat man mir erzählt. Ich meine, nicht so im Rampenlicht wie hier in den Dolomiten, nicht überlaufen, sagt man, und sehr reizvoll, weil noch so richtig abenteuerlich. Für Leute, die die Einsamkeit in der Wand zu schätzen wissen.«

»Nun ja, da gibt es was, in den Karnischen«, sagte Eddy.

»Nördliche Kellerwände, Grüne Nase. Sehr alpin, trotzdem ganz gut erreichbar und sehr selten begangen.«

»Ja, die Kellerwände, da soll es tolle Touren geben.« Paolo rührte in seinem Salat. »Auch von Süden, von Friaul her, oder? Die werden mit den Marmolata-Südwänden verglichen.«

»Genau, da sind halt die Zustiege länger, und die Touren sind sehr schwer. Und lang.«

»Ja, aber auch die Wände sonniger.« Paolo grinste.

»Genau, je nachdem, wie man’s mag. Nordwand ist Nordwand, Südwand ist Südwand.«

Paolo und Gustavo sahen sich an. »Wenn wir da was machen wollen, kannst du mir dann weiterhelfen, Eddy?«, fragte Gustavo.

»Wir können Adressen austauschen. Was meinst du?«

Fredo trank seinen Wein aus. »Eddy, ich bin fertig, ich geh schlafen.« Dann wandte er sich an Gustavo Troi. »Und gute Nacht auch den Herren Scoiattoli. Wo habt ihr denn die Jacken aufgegabelt? Gustavo, so einen wie dich hätten die doch niemals aufgenommen.«

»Mich schon, aber so einer wie du, der hätte keine Chance, Fredo. Du bist kein Ampezzaner, so einen nehmen wir nicht«, sagte Gustavo überheblich. Irgendwie hatte Fredo diese Retourkutsche verdient, dachte Eddy und grinste.

Fredos Gesicht verspannte sich. Er wollte etwas erwidern, da stand Eddy auf und legte Fredo die Hand auf den Arm. Er sagte leise: »Lass gut sein Fredo, ich komm gleich mit. Geh schon mal vor.«

Gustavo wischte sich die Lippen ab. »Dein Freund ist ein Hitzkopf. Such dir einen besseren Partner.«

Eddy beugte sich vor und sagte leise: »Einen besseren als Fredo? Den gibt es nicht.«

Gustavo nickte und nahm Eddys Einwand an. Dann schob er hinterher: »Eddy, wenn du mal was bei uns in der Gegend brauchst, meld dich bei mir, okay?«

Gustavo riss einen Zettel aus einem kleinen Notizbuch und schrieb ihm seine Adresse auf. Eddy kramte in seinem Geldbeutel. »Ja, mach ich. Hier, meine Adresse.« Er legte eine Visitenkarte hin, stand auf und verabschiedete sich. »Das ist zwar ne Dienstkarte, aber wenn ihr mal in unserer Gegend seid: Meine Frau und ich, wir haben eine Pension. Für euch ist immer ein Zimmer frei. Gute Nacht.« Eddy lächelte. »Wir sehen uns ja bestimmt morgen früh.«

»Wir steigen heute noch ab. Am besten schläft es sich im eigenen Bett«, sagte Paolo.

»Was, im Dunkeln?«

»Den Weg würde ich auch im Schlaf finden«, sagte Gustavo grinsend.

Eddy zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Respekt. Das ist ein langer Weg. Also, gute Heimkehr euch beiden.« Dann ging er auf die Toilette.

 

Paolo nahm die Visitenkarte in die Hand und las versonnen. »Ein österreichischer Polizist und gleich zwei Carabinieri an einem Tisch. Was für ein Zusammentreffen!« Dann schob er die Karte zu Gustavo. Der sah sie an, stutzte und steckte sie in sein Notizbuch.

»Ist was mit der Karte?«, fragte Paolo.

»Eine Dienstkarte.« Er runzelte die Stirn. »Na ja, warum nicht.«

»Woher kanntest du den einen, diesen Fredo?«

Gustavos Mundwinkel zitterten. Er grinste und schenkte sich noch einen Wein ein. »Sagen wir mal, von einer verunglückten Jagd. Auf eine Kellnerin.«

Paolo trank schlürfend seinen Wein aus. Dann packten sie ihre Rucksäcke, bezahlten und verabschiedeten sich von der Wirtin vor ihrem langen Weg ins Tal.

          

Als Eddy zurück an den Tisch kam, nahm er sein Weinglas, füllte es mit dem Rest aus der Karaffe und trat vor die Tür. Sternenklar leuchtete der Himmel. Die Silhouette des Sass Maor rechts über ihm schien alles zu überragen wie der Bergfried einer mächtigen Burg.

Eddy sah auf den Felsvorbau unter sich, auf dem der Steig ins Val Pradidali hinabführte. Die beiden hatten die ersten Kehren bereits hinter sich. Eddy hörte sie noch reden, doch er verstand nicht, was sie sagten. Angesichts des sternklaren Himmels und der zunehmenden, aber hell leuchtenden Mondsichel gingen sie ohne Stirnlampen. Er blickte den beiden so lange nach, bis sie aus seinen Augen verschwunden waren und er sie nicht mehr hören konnte.

 

DER STREIT

 

Auf dem Weg nach Corvara (Sonntag, 14. Juli 2013)

 

Der Himmel war blau und klar. Es war Sonntag. Am Morgen waren sie früh um sechs aufgestanden. Fredos Hand hatte sich entzündet, klettern konnte er damit vorerst nicht mehr. Säuerlich hatte Fredo eingestanden, auf die geplante Tour verzichten zu müssen. So waren sie den langen Weg zum Restaurant Cant del Gal hinabgestiegen. Weit oben, hinter der in der Morgensonne glühenden Ostwand des Sass Maor, lugte der Gipfelgrat der Cima della Madonna hervor.

Vom Cant del Gal aus nahm sie der freundliche Wirt in seinem Wagen mit. Der Mann hatte sein Leben hier als Bergführer zugebracht. Lange unterhielt er sich mit Eddy über Klettertouren, die sie beide hinter sich gebracht hatten. Jedes Mal, wenn Eddy den Namen einer Tour nannte, lachte er glücklich. Und das erinnerte Eddy wieder daran, dass er richtig lebte. Der Wirt hatte sie nach San Martino gebracht, wo Eddy gestern Morgen sein Auto geparkt hatte.

Eddy hatte sich ans Steuer gesetzt und war die Straße über den Rollepass gefahren. Fredo hatte den ganzen Weg über nichts gesagt, seit dem Morgen kein Wort. Jetzt waren sie bereits westlich des Rollepasses. Eddy sah in den Rückspiegel. Immer wieder tauchte in den Kurven der mächtige und hell leuchtende Cimon della Pala auf, der in seiner schlanken Gestalt hier oben alles überragte.

»Sag mal, Fredo, was ist los mit dir? Kann es sein, dass du wegen irgendwas sauer bist?«
 Fredo schwieg weiter. Nach drei Minuten sagte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden: »I wo. Mein bester Kumpel bändelt mit einem Idioten an. Und ich schau einfach zu. Ich sauer? Nein, Eddy, nein.«

»Ach daher weht der Wind. Stört’s dich, dass ich mich mit deinem Kollegen beschäftigt hab?«

»Nenn diesen Idioten nicht meinen Kollegen! Gustavo Troi, der war äußerst unbeliebt bei der Polizei. Ein Aufschneider und Angeber. Hat oft behauptet, irgendwelche Klettertouren gemacht zu haben, und wenn man ihn genau fragte, dann hat er nur schwammig geantwortet. Keine Details, keine Routenkenntnisse. Für mich ist der ein Hochstapler ersten Ranges. Und sein Kletterkumpel scheint ja auch nicht besser zu sein.«

»Fredo, bist du da jetzt net a bisserl voreingenommen?«, fragte Eddy.

»Ah ja, ich bin voreingenommen? Ich hab den Arsch zur Genüge erlebt. Und mein Freund Eddy trinkt mit dem auf die Freundschaft, und ich bin der Trottel!«

»Hey, Fredo, das macht man unter Bergsteigern so.«

»Seine Freunde lässt man nicht hängen, Eddy. Das, mein Freund«, er machte eine Pause und sah Eddy grimmig an, »das macht man unter Bergsteigern so.«

Dieser Rüffel saß. Und Eddy fand ihn irgendwie berechtigt. Fredo starrte eisig nach vorn. »Du kannst ja mal auf deinen wirklichen Freund vertrauen, der hat nämlich so was wie Menschenkenntnis.«

»Fredo, für deine Streitereien kann ich nix. Das is net meine G’schicht!« Eddy sah ihn von der Seite an.

Fredo zeigte keine Regung. Dann platzte es aus ihm heraus: »Wegen dem Arsch hab ich mich damals von Cortina nach Corvara versetzen lassen. Dieser Blödmann. In alles hat er sich eingemischt, nichts hat er sein lassen, wie es war.«

»Ach, der ist das? Wieso hast das net früher gesagt?«

»Weil du schon längst mit ihm im Bett lagst, Eddy!« Fredos Gesicht war jetzt rot vor Wut.

Sie schwiegen wieder für zwei Minuten.

»Willst mich jetzt niemals mehr ansehen?«, fragte Eddy frotzelnd.

»Und dann tauschst du auch noch Adressen mit ihm aus!«, zischte Fredo.

»Fredo, das mach ich so, wenn mich jemand um Rat bittet.«

»Aber nicht …«, und jetzt wurde Fredo laut, »wenn der Jemand zuvor deinen Freund und Kletterpartner verunglimpft hat und dir neue Partner empfiehlt, Eddy!«

Eddy begriff: Fredo hatte das noch mitgehört, und es hatte ihn gekränkt. Er hätte deutlicher zu Fredo stehen müssen.

An der Abzweigung bog er nach Osten in Richtung Vallespass ab. Die Kurve war spitzwinkelig, und Fredo hing im Sicherheitsgurt. Danach zog sich die Straße weitgehend eben dahin. Fredo schwieg jetzt wieder.

»Fredo, übertreibst net a bissl?«

»Hey, Eddy, ich übertreib gar nix. Das ist passiert. Und wenn du mir noch mal so eins drehst, dann kannst dir einen neuen Depp suchen, der dich an der Leine hält«, rutschte es Fredo raus.

»Gut, dann lässt eben nächstes Mal die Leine durchlaufen. Einfach so. Toller Freund.« Eddy schlug aufs Lenkrad. Seine Züge verhärteten sich. »Ich glaub, du hast sie nicht alle.«

»Das sagt der Richtige! So eine Scheiß-Situation will ich nicht mehr erleben, das sag ich dir.«

»Boooo, der Herr trumpft noch mehr auf. Na servus! Welche Situation meint denn der Herr Graf Fredo, die in der Wand oder die auf der Hütt’n?« Eddys blaue Augen funkelten.

»Weißt was, Eddy, du bist echt der volle Depp!«

Vor ihnen tauchte das Gasthaus am Vallespass auf. Eddy trat auf die Bremse, dass die Reifen quietschten. Er stürmte aus dem Wagen, knallte die Tür zu und lief in die Bar.

»Einen Espresso, bitte«, sagte er außer Atem zu der dunkelhaarigen Kellnerin.

»Kommt sofort«, antwortete sie. Sie war bereits dabei, den Kaffee zu brühen, als Fredo langsam in die Bar schlenderte. Er stellte sich eineinhalb Meter neben Eddy. Beide sahen die Likörflaschen an, die auf dem Glasregal an der Spiegelwand über der Kaffeemaschine standen.

»Habe die Ehre, Moni«, sagte Fredo leise zu der Kellnerin.

»Ja servus, Alfredo, lang net g’sehn.«

Verächtlich musterte Fredo Eddy und bestellte: »Auch einen Espresso, bittschön.«

Auch er bekam sein Getränk. Beide standen wortlos da, nahmen einen Löffel Zucker, rührten stoisch in ihrer kleinen Tasse und sahen dem Kaffee zu, wie er kalt wurde. Ihre Stimmung war miserabel, die Luft um die beiden herum war zum Schneiden.

Die Kellnerin warf Fredo einen verstohlenen Blick zu. »G’hört der zu dir?«, fragte sie auf Tirolerisch. Sie erhielt keine Antwort.

Drei Minuten später nahm Moni zwei Löffel in die Hand und reichte sie ihnen. Fredo und Eddy sahen fragend von ihrer Tasse auf. »Nach fünf Minuten san die aufg’löst«, sagte sie und deutete auf die Löffel, mit denen die beiden immer noch in ihrem Kaffee rührten. »Dann braucht’s neue.«

Eddy grinste und hob seinen Löffel hoch. »Der geht noch.«

Fredo machte dasselbe. »Meiner auch.«

»Ward’s klettern?«, fragte sie. »Scheißtour g’habt, was? Was meint’s, wie viel i von euch hier seh, wie sie sich streiten nach der Partie. Und wisst’s was? Das Klettern ist die eine Sach, ihr Helden, aber das Z’ammenraufen a andere. Wenn ihr g’scheide Mander seid’s, dann gebt’s euch d’Händ, und gut ist. Is ja nit zum Aushalten mit euch! Ah was, was reg i mi auf.« Sie drehte sich um und verschwand in der Küche.

Eddy legte das Geld auf den Tresen und ging hinaus. Fredo folgte ihm ebenso muffelig wie er. Die weitere Fahrt über redete Eddy kein Wort. Fredo sah die ganze Zeit starr zum Fenster hinaus. In Corvara angekommen, rangen sie sich zu einer leidenschaftslosen Verabschiedung durch.

Eddys letztes Wort war ein gemurmeltes »Blödmann«. Fredo sah noch einmal durchs Fenster, nachdem er die Tür wuchtiger als notwendig zugeschlagen hatte, und antwortete:

»Rindvieh!« Dann trat Eddy aufs Gas und fuhr weiter.

 

DER TOTE HAP

 

Hochalpljoch, ein Jahr später, im Sommer (Mittwoch, 9. Juli 2014)

 

Der Kadaver lag entstellt im harschen Schnee. Die vier Beine wiesen bizarr in den Himmel. Das Tier stank bestialisch nach Verwesung. In seinem Maul steckte ein Erlenzweig. Es war Frühsommer, doch über der Rinne etwa zweihundert Meter oberhalb des Hochweißsteinhauses lag fast den ganzen Tag der Schatten.

Eddy verzog angeekelt das Gesicht und pustete leise die Luft aus. Sein schlanker Oberkörper war weit vorgebeugt zwischen seinen Wanderstöcken, an denen er sich festhielt, um das tote Schaf zu betrachten.

»Aufg’schlitzt«, sagte Eddy trocken.

»Tot«, sagte Roland Nosterer. »Wenn i die Sau darwisch!«, rief er und schlug Eddys Dienstmütze auf einen Felsblock.

»Hey, die brauch i noch«, sagte Eddy. »Halten sollst sie, net prügeln!«

»Das Schwein!« Nosterer reichte Eddy die Mütze. »Das ist jetzt schon der dritte Hap seit letztem Sommer! I dreh der Drecksau den Hals …«

»Das tust net!«, sagte Eddy bedrohlich und ruhig zugleich, strich über seine kurzen braunen Haare und setzte seine Mütze auf. Mahnend sah er Nosterer an. »Wenn da jemand wem den Hals umdreht, dann bin des i, klar?«

Nosterer nickte. Dann beugte sich Eddy erneut vor. Er nahm dem Kadaver den verdorrten Erlenzweig aus dem Maul und betrachtete ihn mit einer dunklen Vorahnung. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Viecher aufschlitzen und liegen lassen …«, sagte er leise zu sich.

»Was meinst?«, fragte Nosterer laut.

Eddy richtete sich wieder auf. »Ah, nix! Warum hast di net früher gemeldet, i mein beim ersten Schaf, beim ersten Hap?«

Der Bauer rückte seinen kleinen grauen Hut zurecht und murmelte: »Na ja, das erste war net so heftig zug’richtet. Der Hap war bloß tot. Und verwest, man hat nix mehr g’sehn. I hab ’dacht, der wär zu Tode g’jagt worden, von an Hund oder so. Und in die Schlucht g’stürzt. So was kommt ja vor, wenn die Wanderer ihre blöden Hundsviecher net im Griff haben. Aber die darf i ja net derschieß’n.« Nosterer gluckste hämisch.

»Die Hund oder die Wanderer?«, fragte Eddy.

»Mir doch wurscht, irgendwen halt.«

Sie feixten. Dann fragte Eddy: »Wann war das?«

»Letztes Jahr, Mitte August.«

»Und das zweite?«

»Was?«

»Das zweite Schaf, der zwoate Hap«, setzte Eddy nach.

Nosterer kratze sich die Stirn. »Der zwoate Hap, jo der, der hat ähnlich do g’legen wie der do.« Er zeigte auf den Kadaver in der Schneerinne. »Abseits vom Weg, aber auch die Beine weg’streckt, genau so. Unten, bei der Ingrid-Alm.«

»Wann?«

»G’funden? Letzte Woch’.«

Eddy sah ihn an. »Und? Aufg’schlitzt auch, oder weißt des net?«

Nosterer hob die Schultern und zog die Mundwinkel nach unten. »Na, net.«

»Was net? Net aufg’schlitzt oder net wissen?«

»Vielleicht aufg’schlitzt, vielleicht net«, sagte der Bauer verärgert. Ihm war sichtlich unwohl. »Weniger stark verwest. Aber die Bartgeier warn vor mir da. Sah übel aus. Und g’stunken hat des.« Nosterer spuckte aus.

»Und hat dem auch a Ohr g’fehlt?«, fragte Eddy und zeigte auf den Kopf des Schafes. Mit seinem Bergstock drehte er den Schädel etwas nach oben, sodass Nosterer die linke Seite besser einsehen konnte.

Nosterer zuckte überrascht zurück. »Ah jo, do fehlt a Ohr.«
 »Abg’schnitten, glatt durchtrennt«, sagte Eddy.

Nosterer hob die Schultern. »Was woaß i«, sagte er leise. »I hab’s vergraben.«

Eddy richtete sich auf und klopfte dem Bauern auf den Arm.

»Lass gut sein. Is schon in Ordnung. Kannst ja net wissen.« Eddy setzte seinen Rucksack ab und nahm eine Kamera he raus. Dann machte er von allen Seiten detaillierte Fotos. Auch von dem kleinen, fast nicht sichtbaren Einschussloch an der Seite des Tieres und von dem verstümmelten Ohr.

»Krieg i da was von der Versicherung?«, fragte der Bauer zaghaft.

»In dem Fall nix. Weil des eine Gewalttat is. Oder hast für deine Hap a Lebensversicherung abg’schlossen?«, frotzelte Eddy.

»Ma Eddy, du bist a fester Trottel«, rief Nosterer und lachte.

»A Lebensversicherung für die Hap. Des hab i net mal für mi und mei Frau!« Er schüttelte lachend den Kopf.

Eddy grinste. »Lassen wir es liegen?«, fragte er dann ernst.

»Klar.«

Eddy nahm eine kleine Lawinenschaufel aus dem Rucksack und bedeckte den Kadaver mit dem Harsch. Dann gingen bei de zurück ins Tal. Eine Stunde schlenderten sie bergab, vorbei am Hochweißsteinhaus, ohne dass ein Wort fiel. An der Ingrid-Alm stieg Nosterer auf seinen Traktor, ließ den Motor an und rief Eddy zu: »Mogst noch an Schnops? Kimmst zu mir, da gibt’s den besten, den du kriegen kannst!«

»Ja, vom Überkontingent, was der Zoll net g’sehen hat beim Brennen, net?«

Nosterer lachte, legte ruckend den Gang ein, und der Traktor rumpelte den ausgefurchten Fahrweg entlang.

 

UNTERHALB DER PORZESCHARTE

 

Ingrid-Alm, gegen Mittag (Mittwoch, 9. Juli 2014)

 

Als Eddy in seinem Dienstwagen saß, wurde ihm schlecht. Er nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Beifahrersitz und rieb sich den Schweiß von der Stirn. Verdammt, dachte er. Es kribbelte, und er wusste, dass er aufpassen musste, dass er nicht wieder diese Scheißangst bekam. Langsam, mein Eddy, langsam, dachte er. Also: Erst mal überlegen!

Die Schafe vom Nosterer waren nicht das einzige Problem. Vor vier Wochen hatte ein italienischer Jagdgast eine aufgeschlitzte Gams gefunden. Ihr fehlte auch das linke Ohr. Sie hatte ebenfalls einen Zweig im Maul gehabt. Der Jagdaufseher des Waldbesitzers hatte mit Eddy darüber gesprochen, wollte aber keine Anzeige erstatten, da der Eigentümer keinen Skandal haben wollte. Eddy hatte sich darauf eingelassen. Eigentlich hätte er jetzt die Kriminalpolizei einschalten müssen, doch er wollte keine Unruhe im Tal haben. Und dann gab es noch eine aufgeschlitzte Hirschkuh im oberen Gailtal. Sie war ähnlich zugerichtet wie die Gams und die Schafe.

Doch ein anderer Gedanke quälte Eddy noch mehr. Das hatten wir schon mal, dachte Eddy, vor zwanzig Jahren, und die Erinnerung drehte ihm den Magen um. Eddys Hände wurden klamm, als er die Bilder jetzt wieder vor Augen hatte. Damals war es sehr ähnlich gewesen: tote Schafe, aufgeschlitzt, einfach liegen gelassen. Dann kamen ein paar Gämsen hinzu. Alles im Abstand von jeweils einigen Wochen. Mit einem Kleinkaliber angeschossen, aufgebrochen und nicht ausgeweidet. Allen fehlte ein Ohr, immer das linke. Und im Maul ein Zweig. Und dann hatte Eddy das Schwein erwischt. Im Obertilliacher Tal, unterhalb der Porzescharte.

 

Eddy war gerade drei Jahre bei der Alpinen Einsatzgruppe der Bundesgendarmerie gewesen. Revierinspektor und für Oberkärnten zuständig. Seit den Vorfällen war er oft auf Streifzug am Karnischen Hauptkamm gegangen, entlang der österreichisch-italienischen Grenze. Dabei war er auch im benachbarten Osttirol unterwegs. Gebirge machten vor Bundesländern keinen Halt, sagte er sich, und Wilderer auch nicht. Und seine Osttiroler Kollegen und er hatten einen guten Draht zueinander und informierten sich stets gegenseitig. Eddy war gerne in den Bergen, und das wussten die Kollegen und seine Vorgesetzten zu schätzen. Er tat das, um mit den Hüttenwirten zu reden, denn Eddy wollte ein Gefühl dafür bekommen, was in den Bergen los war.

An jenem Tag kehrte er bei der Porzehütte oberhalb von Obertilliach in Osttirol ein. Der Hüttenwirt, ein Aussteiger aus der Oststeiermark, der mit seiner Weltsicht nicht immer die Meinung und den Geschmack der Einheimischen traf, berichtete Eddy nach einem Fünfminutengespräch über Gott und die Welt von einem Vorfall: »Stell dir vor: I geh raus vor die Hütt’n und hinunter zum Gerätehaus, weil der Kompressor mal wieder ausgefallen war. Totenstill war’s draußen. Dann der Knall.«

»Was für ein Knall?«, fragte Eddy.

»Ein Schuss, hell, nicht allzu laut, vielleicht ein Kleinkaliber. Nix Großes. Aber es war ein Schuss.«

»Wann war das?«

»Vorige Woche mal, abends, so gegen sechs auf d’Nacht.«

»Und was hast’ dann gemacht?«

»Nix. Hören tut ma ja alleweil irgendwas.«

»Hmm«, hatte Eddy gemurmelt. »Und woher kam der Schuss?«

»Von weiter oben, in der Nähe der Grenz.«

»Hast mit den Kollegen in Obertilliach oder Sillian gesprochen? Die sind dafür zuständig.«

»Geh komm, Eddy. Wenn i denen des erzähl, die machen doch nix. I bin a Steirer und sing englische Liadln, des ist so wie wenn du a Neger in Wien bist. Da bist so fremd wie nur irgendwie. Da in der Gegend gibt’s ja noch Wilderer. Und da kennt doch jeder jeden.«

Eddy verstand, was er meinte. »Hör zu, du gehst heut noch ins Tal und zeigst das den Kollegen an. Verstehst? Des war a Italiener!«

»Woher willst des wissen, Eddy?«, fragte der Wirt scharf.

»Weil die Wilderer aus Osttirol weiter drüben unterwegs sind, in Villgraten und so, aber net da, drei Meter von der italienischen Grenz weg!«

Der Hüttenwirt sah über seine runden Brillengläser und nickte zaghaft.

»Wenn du’s dir net verderben willst mit die Leut. Okay?« Zwei Tage später rief der Kollege aus Obertilliach an und informierte Eddy über den Vorfall, von dem er nicht wusste, dass Eddy ihn schon kannte. Sie verabredeten gegenseitige Unterstützung.

 

Zwei Wochen später, an einem sonnigen Samstag, fuhr Eddy wieder nach Obertilliach, wo er nach Süden zum Dorfer Bach hin abbog. Immer die mächtigen und hellleuchtenden Felspfeiler der Porze vor Augen, fuhr er bis zum Talschluss, wo er am Klapfsee seinen Dienstwagen parkte. Dann stieg er den Weg zur Porzehütte auf. Diesmal in Zivilkleidung. Er wusste, dass der Wilderer bisher immer am Wochenende zugeschlagen hatte. Und mehrfach hintereinander an nicht weit voneinander entfernten Tatorten.

An der Hütte angekommen, begrüßte er den Wirt freundlich und bestellte einen Tee. Als der Wirt ihn brachte, fragte Eddy noch mal genau nach dem Schuss. Der Wirt ging mit ihm hinaus um die Ecke der Hütte. Über ihnen standen unerschütterlich die zerklüfteten Pfeiler in der Nordwand der Porze, als hätte sie jemand in den blauen Himmel gehängt. Der Hüttenwirt wandte sich nach Süden und zeigte nach oben in Richtung Porzescharte. »Da, irgendwo bei den letzten Latschen, unterhalb der Scharte, glaub ich. Aber genau …«

»… kannst du es nicht sagen.« Eddy nickte und bedankte sich, nahm seinen Rucksack, trank seinen Tee aus und stieg hinauf in Richtung Porzescharte.

Etwa zweihundertfünfzig Meter unterhalb der Scharte suchte er sich einen halbwegs ebenen Platz hinter einem Felsblock. Er blinzelte in die Sonne, breitete seine Jacke aus und machte es sich bequem. Dann legte er sich ausgestreckt hin und starrte in den Himmel. Ein Glücksgefühl überkam ihn. Er dachte an seine Klettertouren, die er in den letzten Jahren gemacht hatte. Große Dolomitenwände. Und auch in den Westalpen war er unterwegs gewesen. Mit einer Freundin. Aber sie war ihm mit einem Franzosen durchgebrannt, einem Typen, der dick war und eine Glatze hatte. Eddy hatte das immer noch nicht verstanden, doch er konnte mittlerweile wenigstens darüber lächeln. Der Typ hatte seine Freundin bald wieder zum Teufel gejagt.

Irgendwann dämmerte er vor sich hin und war kurz vor dem Einschlafen. Doch der Schatten hatte längst die Einschartung überstrichen und Eddy fröstelte. Er richtete sich auf und zog seine Jacke an. Da hörte er einen hell klingenden Schuss.

Er hielt inne und konnte es kaum glauben. Ein kleinkalibriges Gewehr. Er lauschte. Doch nichts mehr. Langsam schlich er in die Richtung, aus der er den Schuss vermutete. Etwa zweihundert Meter weiter östlich und weiter oben.

In gebückter Haltung eilte er den Graben hinauf, stets darauf bedacht, keine Geräusche zu machen, dann über die nächste Kante. Zwischen den Latschen hindurch sah er, wie in etwa dreißig Metern Entfernung ein Mann kniete und sich an einem liegenden Wild zu schaffen machte. Die Hirschkuh lebte noch. Der Mann trug eine schwarze Ganzkopfmaske, eine Art Wollmütze mit Sehschlitzen. Neben ihm lag ein kurzes Gewehr. Etwas weiter weg stand ein Rucksack.

Eddy beobachtete, wie der Mann das Tier mit einem Schnitt aufbrach. Der Mann atmete heftig, dann stöhnte er. Er zog seine dunkelgrüne Jacke aus. Darunter trug er nichts. Er sah nach links und rechts und zog auch die Maske aus. Dann riss er das Tier an seinem präzise gesetzten Schnitt auseinander. Immer mehr verschwand der Oberkörper des Mannes in dem Leib der toten Hirschkuh. Er begann sich in den blutigen Eingeweiden zu suhlen.
 Eddy traute seinen Augen nicht, er schluckte und atmete schwer vor Abscheu. Nach einigen Sekunden fing er sich wieder. Er hatte von Eskimos gehört, die so was machten, um in allzu großer Kälte zu überleben. Aber hier, im Sommer?

Eddys Herz raste. Er nahm seine Dienstpistole und ging auf den Mann zu. »Stehen Sie auf!«, schrie er so laut er konnte. »Alzarsi, alzarsi!«

Der Mann hielt inne. Allmählich kroch er aus dem dampfenden Leib heraus. Das Blut der Hirschkuh floss ihm von Oberkörper und Armen, sogar von seinem Kopf tropfte dunkles Blut. Das Schlimmste aber war die Kälte in den Augen des Mannes, als er Eddy mit seinem blutüberströmten Gesicht ansah.

Eddy ekelte der Anblick des Mannes so sehr, dass er einen Moment lang zur Seite blickte. Blitzschnell bückte sich der Mann, hob sein Gewehr auf und zielte auf Eddy. Doch Eddy begriff und zog im letzten Moment den Abzug seiner Pistole durch. Eddys Schuss traf den Mann genau ins Herz. Er war auf der Stelle tot. So war das vor zwanzig Jahren, am 23. Juli 1994.

 

Eddy erwachte aus seinen Gedanken. Er saß im Wagen und schüttelte sich erneut. Seine Hände waren nass vom Schweiß. Dann riss er sich zusammen und fuhr los.

Als er am Nosterer-Hof ankam, begann es heftig zu regnen. Er stieg aus und setzte seine Mütze auf. Der Regen war für ihn wie eine reinigende Wohltat. Die Haustür war offen, wie es üblich war in der Gegend.

»Nosterer!«, rief er.

»Kimm her, du Super-Gendarm!«, schrie der Bauer.

Eddy ging in die Stube und nahm die Mütze ab. »Gendarmerie gibt’s nimmer. Polizei heißt das jetzt. Wo is dei Schnops?«

»Ganz bleich bist um die Nasen, Eddy! Vertragst keine toten Hap?«

Eddy sah ihn an. »Das sein net die Hap, Nosterer«, sagte Eddy leise. »Da gibt’s einen, der sich einen Spaß draus macht.«

Der Bauer goss einen doppelten Obstbrand in ein italienisches Amaro-Glas und reichte es Eddy.