Edgar Wallace


Die blaue Hand


Kriminalroman

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-087-2


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Kapitel 49



Eine kleine Rauchfahne fern im Süden ließ Jim einer falschen Fährte nacheilen, denn das Schiff erwies sich nur als ein Frachtdampfer, der seinen drahtlosen Anruf nicht beantwortet hatte, weil der eine Mann, der den Apparat bedienen konnte, in seiner Kabine schlief. Jim erkannte, den Charakter des Schiffes, als er sich auf zwei Meilen genähert hatte. Sofort warf er seine Maschine herum und verfolgte einen Kurs nach Nordwesten.

Er sah sich nach seinem Passagier um; aber Inspektor Maynard fühlte sich sehr wohl auf seinem Sitz.

Jim wurde ängstlich. Er konnte höchstens vier Stunden in der Luft bleiben, und zwei waren schon vergangen. Er mußte noch genügend Brennstoff behalten, um das Land wieder zu erreichen. Er durfte höchstens noch eine halbe Stunde weiter suchen.

Er war schon fast verzweifelt, als er in großer Entfernung eine dünne Rauchfahne sah. Das Schiff selbst konnte er noch nicht erkennen. Er sandte einen Funkspruch, aber es kam keine Antwort. Er wartete eine Minute, dann klapperte der Sender wieder. Als das Stillschweigen anhielt, wurde er ärgerlich und funkte in scharfem Ton. Dann hörte er plötzlich einen hohen, schrillen Ton, der Dampfer antwortete.

"Was für ein Schiff ist das?"

Er wartete und zweifelte nicht, dass es irgendein kleiner Handelsdampfer sein würde. Wieder kam das hohe Summen.

"P-e-a-l-i-g-o", war die Erwiderung.


* * *


Digby lehnte sich über die Brüstung, um zu sehen, was die Leute taten, die draußen in einem Boot niedergelassen wurden. Als er entdeckte, dass sie den alten Namen 'Pealigo' zustrichen und 'Malaga' daraus machten, war er beruhigt und erfreut.

Er ging in bester Stimmung zum Kapitän. "Das war ein guter Gedanke von Ihnen!"

Der Kapitän nickte: "Natürlich in Ihrem Auftrag."

"Selbstverständlich!" lächelte Digby. "Auf meinen Befehl." Er stand neben dem Kapitän und unterhielt sich mit ihm. Es fiel ihm auf, dass der Mann dauernd nach Norden ausschaute und den Himmel absuchte.

Der Funker kam die Treppe zur Brücke herauf und überreichte dem Kapitän eine Botschaft.

Wenn sie aber entkommen sollten! Es war immerhin möglich, dass sie allen Verfolgungen entgingen, die die Polizei gegen sie inszeniert hatte. Sie konnten auch das Land erreichen, dass er sich als Ziel gesteckt hatte. Vom Kapitän konnte er nicht erwarten, dass er dieses Risiko auf sich nahm, nachdem er die drahtlose Warnung erhalten hatte. Der wollte sich nach jeder Seite decken.

Wenn sie erst weit draußen auf dem offenen Meer waren, entfernt von den allgemeinen Schiffahrtswegen, würde der kleine Brasilianer seine Haltung ändern, und dann ...! Digby nickte. Der Kapitän handelte eigentlich ganz klug. Es war Wahnsinn von ihm, dass er die Erfüllung seiner Wünsche jetzt erzwingen wollte.

Eunice konnte sich ja nicht vom Schiff entfernen. Sie fuhr mit ihm in derselben Richtung, zu demselben Ziel. Und es würden Wochen kommen, erfüllt von heißem, glühendem Sonnenschein, wo sie auf dem Vorderdeck nebeneinander sitzen und miteinander plaudern würden. Er nahm sich fest vor, jetzt vernünftig zu sein und sich nicht mehr wie ein Höhlenmensch zu gebärden. Wenn sie eine Woche lang hier auf dem Schiff zusammengelebt hatten, und er sie nicht in ihrer Freiheit störte, würde sie auch ihr Betragen ändern, aber immerhin gab es noch ein großes Wenn, das sah er wohl. Steele würde nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte. Aber zu der Zeit konnte sich Eunice auch schon an ihn gewöhnt haben und mit ihrem Los zufrieden sein.

Diese Gedanken beruhigten ihn. Er schloß das Glas wieder in den Schrank und schlenderte an Deck zurück. Zum ersten Male sah er das Schiff bei Tage. Es war eine wunderbare Jacht. Die Decks waren schneeweiß gestrichen, die blankgeputzten Messingstücke glänzten, und vorn auf dem Promenadendeck standen unter einem großen Sonnensegel Korbmöbel, die zum Sitzen einluden.

Er beobachtete den Horizont; es war kein Schiff in Sicht. Die vielen kleinen Wellen auf der See glitzerten im strahlenden Sonnenschein. Eine tiefschwarze Rauchfahne zog sich vom Schiff weit über das Meer hin, denn der 'Pealigo' raste jetzt mit einer Geschwindigkeit von zweiundzwanzig Knoten in der Stunde vorwärts. Der Kapitän betrog ihn also nicht; sie fuhren mit Volldampf nach Westen. Digby Groat war beruhigt.

Rechts in der Ferne zeigte sich ein unregelmäßiger, hellroter Streifen; es war die irische Küstenlinie.

Die Stühle sahen so schmuck und einladend aus, dass er sich niedersetzte und sich behaglich ausstreckte.

Wieder wandten sich seine Gedanken Eunice zu, die eben an Deck kam. Zuerst sah sie ihn nicht und ging zur Reling. Sie atmete freier in der erquickenden Morgenluft.

Wie schön sie doch war! Er konnte sich nicht darauf besinnen, einer Frau begegnet zu sein, die eine so schöne Haltung hatte.

Sie wandte sich um und machte eine Bewegung, als ob sie in ihre Kabine zurückgehen wollte. Aber er winkte ihr, und zu seinem Erstaunen kam sie näher. "Stehen Sie nicht auf", sagte sie kühl. "Ich finde schon selbst einen Stuhl. Ich möchte mit Ihnen sprechen, Mr. Groat."

Er schaute sie nur verwundert an.

"Ich habe nachgedacht, und ich kann Ihnen vielleicht einen Vorschlag machen, der Sie veranlaßt, den Kurs des Schiffes zu ändern und mich an der Küste von Irland oder England abzusetzen."

"Was könnten Sie mir denn anderes bieten als sich selbst?"

"Ich biete Ihnen Geld", erwiderte sie kurz. "Ich weiß nicht, durch welches Wunder es geschehen ist, aber ich bin die Erbin eines großen Vermögens, und Sie wissen, dass Sie durch meine Erbschaft arm geworden sind."

"Aber abgesehen davon verfüge ich auch über große Mittel", sagte er offensichtlich erheitert. "Was wollen Sie mir denn anbieten?"

"Die Hälfte meines Vermögens; wenn Sie mich nach England zurückbringen."

"Und was wollen Sie mit der anderen Hälfte anfangen?" fragte er ironisch. "Wollen Sie mich damit vor dem Galgen retten? Nein, nein, meine junge Freundin, ich habe mich zu sehr verstrickt, als dass Ihr Plan ausführbar wäre. Ich werde Sie nicht mehr stören und werde warten, bis wir unser Ziel erreicht haben. Dann werde ich Sie um Ihre Hand bitten. Ihr Angebot war fair, das muß ich zugeben. Aber ich bin jetzt zu weit gegangen, um umkehren zu können. Im Augenblick hassen Sie mich, das Gefühl wird sich legen."

"Niemals!" Sie erhob sich und wollte gehen; aber er ergriff sie bei der Hand und zog sie zurück. "Sie lieben einen anderen?"

"Sie haben kein Recht, diese Frage an mich zu stellen."

"Ich frage Sie ja gar nicht, ich stelle nur fest. Sie lieben einen anderen und zwar Jim Steele." Er beugte sich vor. "Aber merken Sie sich, bevor ich Sie diesem Mann überlasse, bringe ich Sie um!"

Sie lächelte nur verächtlich.

"Was ist es?" fragte Digby schnell.

Ohne ein Wort reichte ihm der Brasilianer das Blatt.

'Weißes Schiff nach Westen, sendet Name, Nummer und Heimathafen.'

"Woher kommt das?"

Der Kapitän erhob sein Fernglas und suchte wieder den nördlichen Himmel ab. "Ich kann nichts sehen", sagte er stirnrunzelnd. "Möglicherweise ist es ein Anruf von einer Landstation. Ein Schiff kann ich auch nicht entdecken."

"Wir wollen anfragen, wer es ist", sagte Digby.

Die drei Männer gingen in die Funkkabine, und der Funker hängte die Hörer um. Plötzlich begann er zu schreiben. Digby beobachtete atemlos die Bewegung seines Bleistifts.

'Drehen Sie bei, ich komme an Bord.'

"Was soll das heißen?" fragte Digby.

Der Kapitän trat unter dem Sonnensegel vor ins Freie und richtete sein Glas aufs neue zum Himmel. "Ich kann es nicht verstehen", sagte er.

"Das Signal kam von ganz nahe, Kapitän, es war kaum drei Meilen entfernt", unterbrach ihn der Funker.

Der Kapitän rieb sich das Kinn. "Dann wäre es das beste, wenn ich stoppte."

"Sie werden keinen solchen Unsinn machen!" rief Digby stürmisch. "Sie werden weiterfahren, bis ich Ihnen den Befehl gebe, zu halten!"

Sie gingen zur Brücke zurück. Der Kapitän legte die Hand auf den Maschinentelegrafen. Er war unentschlossen.

Plötzlich fiel dicht vor ihnen, keine halbe Meile entfernt, etwas in die See, und das Wasser spritzte hoch auf.

"Was war denn das?" fragte Digby.

Als Antwort schoß an der Stelle eine große Rauchwolke empor, die sich immer mehr verbreiterte und einen undurchdringlichen Schleier bildete. Der Kapitän hielt sich die Hand über die Augen und schaute empor. Direkt über dem Schiff erblickte er ein silberhelles Flugzeug. Es war so klein, dass er es kaum ausmachen konnte.

"Sehen Sie, in der Luft kann sich viel ereignen." Er drehte den Maschinentelegrafen auf 'Halt'.

"Was war das?" fragte Digby wieder.

"Eine Rauchbombe. Und ich ziehe eine Rauchbombe in einer halben Meile Entfernung einer echten Bombe auf mein schönes Schiff vor!"

Digby starrte ihn einen Augenblick entsetzt an, dann sprang er mit einem Wutschrei auf ihn zu und riss den Maschinentelegrafen auf 'Volldampf voraus'. Aber zwei Matrosen packten ihn sofort von hinten, und der Kapitän drehte den Maschinentelegrafen wieder auf 'Halt'. "Melden Sie dem Flieger, dem Sie eben ja auch den Namen des Schiffes gesendet haben", wandte er sich an den Funker, "dass ich Mr. Digby Groat in Ketten legen lasse."

Aus dem blauen Himmelsgewölbe fiel das silberhelle Flugzeug herab, kreiste erst in großem Bogen um das Schiff und ging dann wie ein Vogel aufs Wasser nieder, ganz dicht neben der Jacht.

Schon vorher hatte der Kapitän ein Boot heruntergelassen, und während sich die Matrosen noch abmühten, Groat in Fesseln zu schließen, der wie ein Wahnsinniger um sich schlug, kam Jim Steele an Bord und folgte dem Kapitän nach unten.

Eunice hörte trotz, des Geräusches der Schiffsmaschinen das Summen des niedergehenden Flugzeuges. Sie eilte zum Fenster und zog die seidenen Gardinen fort.

Nun konnte sie das weiße Flugzeug sehen, das wie eine Mücke summte und jetzt aus der Sicht verschwand, weil es auf die andere Seite des Schiffes wechselte. Was hatte das wohl zu bedeuten? In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann ohne Kragen und Weste, mit verwildertem Haar und zerrissenem Hemd, stand im Eingang. Sein verzerrtes Gesicht blutete. Ein Glied einer Handschelle war um sein Handgelenk befestigt. Es war Digby Groat, der von teuflischer Wut besessen war.

Sie wich nach dem Bett zurück, als er auf sie zukam. Heller Wahnsinn loderte in seinen Augen. Und plötzlich trat ein zweiter Mann in den Raum. Groat fuhr herum und begegnete dem stahlharten, kalten Blick Jim Steeles.

Mit einem markerschütternden Schrei sprang er wie ein wildes Tier den Mann an, den er so tödlich haßte. Aber er konnte den Schlag mit der schweren Handschelle nicht mehr ausführen, denn Jim traf ihn zweimal mit der Faust, so dass er bewußtlos zu Boden taumelte.

Im nächsten Augenblick lag Eunice in den Armen Jims.


Ende

 

 

Inhalt



Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20
 
Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

 

 

 

Kapitel 1



Mr. Septimus Salter drückte schon zum dritten Male die Klingel auf seinem Tisch und brummte unzufrieden.

Er war ein gesetzter, älterer Herr mit großem, rotem Gesicht und weißen Koteletten und glich mehr einem wohlhabenden Landwirt als einem erfolgreichen Rechtsanwalt. Es gab keinen gescheiteren und tüchtigeren Rechtsanwalt in London, aber in seiner Kleidung und seinem Äußeren blieb er der Zeit treu, in der er jung gewesen war.

Er drückte ungeduldig noch einmal auf den Knopf.

"Verdammter Kerl", murmelte er vor sich hin, erhob sich und ging in den kleinen Raum seines Sekretärs.

Er hatte eigentlich erwartet, das Zimmer leer zu finden, aber er irrte sich. Seitwärts von dem alten, tinten beklecksten Tisch stand ein Stuhl, auf dem ein junger Mann kniete. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und war in das Studium eines Schriftstückes vertieft.

"Steele", sagte Mr. Salter scharf. Der junge Mann schnellte auf und sprang auf die Füße.

Er war groß und hatte breite Schultern, aber trotzdem waren seine Bewegungen geschmeidig und biegsam. Sein gebräuntes Gesicht erzählte von Tagen, die er draußen im Freien verbracht hatte. Eine gerade Nase, ein fester Mund und ein hartes Kinn gaben ihm das charakteristische Aussehen eines früheren Offiziers.

Nun war er etwas verwirrt und erinnerte eher an einen bei einer Unaufmerksamkeit ertappten Schüler als an einen schneidigen Offizier, der das Viktoriakreuz erhalten und in hartem Luftkampf zwanzig feindliche Flugzeuge heruntergeholt hatte.

"Sie sind wirklich zu unaufmerksam, Steele. Ich habe nun viermal vergeblich nach Ihnen geklingelt", sagte Mr. Salter vorwurfsvoll.

"Es tut mir furchtbar leid", entschuldigte sich Jim Steele und sah Mr. Salter mit dem Lächeln an, dem er nicht widerstehen konnte.

"Was machen Sie denn hier?" brummte der Rechtsanwalt und besah sich die Dokumente, die auf dem Tisch lagen. "Haben Sie immer noch nicht genug von dem Fall Danton?" fragte er seufzend.

"Nein, noch nicht", war die gelassene Antwort. "Ich habe das Gefühl, dass Lady Mary Danton gefunden werden kann. Und wenn man sie erst gefunden hat, wird sich auch ihr damaliges plötzliches Verschwinden befriedigend aufklären lassen. Dann würde jemand sehr außer Fassung geraten ..." Er hielt plötzlich inne, aus Furcht, eine Indiskretion zu begehen.

Mr. Salter sah ihn scharf an.

"Sie mögen Mr. Groat nicht?" fragte er.

Jim lachte. "Es ist ja nicht meine Sache, ihn sympathisch oder unsympathisch zu finden. Persönlich kann ich solche Leute nicht leiden. Als einzige Entschuldigung für einen Mann von dreißig Jahren, der nicht im Felde war, kann ich nur gelten lassen, dass er zu der Zeit tot war."

"Er hatte doch ein schwaches Herz", meinte Mr. Salter, aber er sprach ohne große Überzeugung.

"Das wird schon stimmen", entgegnete Jim ironisch.

Mr. Salter sah wieder auf die Papiere, die auf dem Tisch umher lagen.

"Legen Sie das ruhig weg, Steele. Sie. werden doch keinen Erfolg damit haben, wenn Sie eine Frau suchen wollen, die verschwand, als Sie noch ein Junge von fünf Jahren waren."

"Ich möchte ...", begann Steele, zögerte dann aber. "Sie haben recht, es ist nicht meine Sache", sagte er lächelnd. "Ich habe kein Recht, Sie zu fragen, aber ich möchte gern mehr Einzelheiten über das Verschwinden jener Frau hören, wenn Sie einmal freie Zeit hätten und dazu aufgelegt wären. Ich hatte früher niemals den Mut, Sie direkt zu fragen, wie verschwand sie denn eigentlich?"

Mr. Salter runzelte erst die Stirn, dann hellten sich seine Gesichtszüge wieder auf.

"Steele, Sie sind der schlechteste Sekretär, den ich jemals hatte", sagte er. "Und wenn ich nicht Ihr Patenonkel wäre und mich moralisch verpflichtet fühlte, Ihnen zu helfen, würde ich Ihnen einen kleinen, höflichen Brief schreiben, dass Ihre Dienste ab Ende dieser Woche nicht mehr benötigt werden."

Jim Steele lachte.

"Das habe ich schon immer erwartet!"

Der alte Rechtsanwalt zwinkerte freundlich mit den Augen. Er hatte Jim Steele außerordentlich gern, obwohl er es nach außen hin nicht eingestehen wollte. Der junge, hübsche Mensch war ihm viel mehr ans Herz gewachsen, als er selbst ahnte. Aber nicht allein aus Freundschaft und einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl heraus behielt der alte Salter Jim in seinen Diensten, der junge Mann war ihm auch sehr nützlich. Und obgleich er die traurige Veranlagung hatte, Klingelzeichen zu überhören, wenn er sich mit seinem Lieblingsstudium beschäftigte, war er doch sehr vertrauenswürdig.

"Schließen Sie die Tür", sagte Salter etwas schroff. "Wenn ich Ihnen diese Geschichte erzähle" er hob warnend den Zeigefinger, "so tue ich es nicht, um Ihre Neugierde zu befriedigen, sondern weil ich hoffe, dass ich Ihr Interesse an dem geheimnisvollen Fall Danton damit für immer beseitige!

Lady Mary Danton war die einzige Tochter des Lord Plimstock, ein Adelsprädikat, das jetzt erloschen ist. Sie heiratete als junges Mädchen Jonathan Danton, einen Reeder, der ein Millionenvermögen besaß. Aber die Ehe war nicht glücklich. Der alte Danton war ein harter, unangenehmer und auch kranker Mann. Wir sprachen eben davon, dass Digby Groat herzkrank sei. Jonathan hatte aber wirklich kein gesundes Herz. Seine Krankheit war wohl auch teilweise dafür verantwortlich, dass er seine Frau so schlecht behandelte. Auch das kleine Mädchen, das ihnen geboren wurde, brachte sie einander nicht näher; sie wurden sich immer fremder. Danton mußte eine Geschäftsreise nach Amerika antreten. Vor seiner Abreise kam er in mein Büro, und an diesem Tisch hier unterzeichnete er ein Testament, das eins der seltsamsten und merkwürdigsten war, die ich jemals aufgesetzt habe. Er hinterließ sein ganzes Vermögen seiner kleinen Tochter Dorothy, die damals drei oder vier Monate alt war. Im Falle ihres Todes sollte das Geld an seine Schwester, Mrs. Groat, fallen, aber erst zwanzig Jahre nach dem Tode des Kindes. In der Zwischenzeit sollte Mrs. Groat nur die Einnahmen aus seinem Landgut erhalten."

"Warum hat er denn diese merkwürdige Bestimmung getroffen?" fragte Jim verwundert.

"Das ist doch leicht zu verstehen. Er wollte vor allen Dingen, verhindern, dass das Kind in früher Jugend beiseite geschafft wurde. Auf der anderen Seite sah er voraus, dass das Testament von Lady Mary angefochten werden würde. So, wie das Testament aufgesetzt war, ich habe nicht alle Details erwähnt, konnte es während zwanzig Jahren nicht angefochten werden. Und es ist auch kein Einspruch dagegen erhoben worden. Während Danton in Amerika war, verschwand Lady Mary mit ihrer Tochter Dorothy.

Niemand wußte, wohin sie gegangen war, aber die Spur der kleinen Dorothy und ihres Kindermädchens führte nach Margate. Vielleicht war Lady Mary auch dort. Es steht jedenfalls fest, dass das Kindermädchen, die Tochter eines dortigen Fischers, die sehr gut rudern konnte, an einem schönen Sommertage das Kind in einem Boot mit aufs Meer nahm. Dort wurde sie vom Nebel überrascht. Allem Anschein nach wurden sie von einem Passagierdampfer überrannt. Die Überreste des zertrümmerten Bootes wurden aufgefischt, und eine Woche später wurde die Leiche des Kindermädchens ans Ufer gespült. Man hat aber niemals erfahren, was aus Lady Mary wurde. Danton kam zwei Tage nach, dem Unglücksfall zurück, und seine Schwester, Mrs. Groat, brachte ihm die Nachricht von dem Unglücksfall. Das gab ihm den Rest. Er starb."

"Und Lady Mary hat man nie wieder gesehen?"

Salter schüttelte den Kopf.

"Sie sehen also, mein lieber Junge, selbst wenn Sie durch ein Wunder Lady Mary fänden, könnte das doch nicht den geringsten Einfluß auf die Position der Mrs. Groat oder ihres Sohnes haben. Nur Dantons Tochter könnte die Erbschaft antreten und die liegt wahrscheinlich auf dem Meeresgrund", schloß er leise und traurig.

"Ich verstehe jetzt die Zusammenhänge", sagte Jim Steele ruhig, "nur ..."

"Was haben Sie noch?"

"Ich habe den starken Eindruck, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmt, und ich bin fest davon überzeugt, dass das Geheimnis gelöst werden könnte, wenn ich meine ganze Zeit dieser Aufgabe widmen dürfte."

Mr. Salter sah seinen Sekretär scharf an, aber Jim Steele hielt seinem Blick stand.

"Sie sollten eigentlich Detektiv werden", meinte der Rechtsanwalt ironisch.

"Ich wünschte nur, ich wäre einer", erwiderte Jim. "Vor zwei Jahren habe ich Scotland Yard meine Dienste angeboten, als die Bande der Dreizehn die Banken beraubte, ohne dass man einen dieser verwegenen Verbrecher fassen konnte."

"Sehen Sie einmal an", sagte Salter ein wenig spöttisch und öffnete die Tür, um zu gehen. Aber plötzlich wandte er sich wieder um. "Warum habe ich Ihnen denn eigentlich geklingelt? Ach so, ich brauche alle Pachtverträge, die sich auf den Grundbesitz des alten Danton in Cumberland beziehen."

"Will Mrs. Groat die Ländereien verkaufen?"

"Sie kann sie jetzt noch nicht verkaufen. Erst am dreißigsten Mai erhält sie die Verfügung über das Millionenvermögen Jonathan Dantons, vorausgesetzt, dass kein Einspruch dagegen erhoben wird."

"Oder ihr Sohn erhält das große Vermögen", meinte Jim bedeutungsvoll. Er war seinem Chef in dessen Zimmer gefolgt. An den Wänden standen viele Aktenregale. Abgenutzte Möbel und ein schon etwas fadenscheiniger Teppich bildeten die weitere Ausstattung des Raumes, in dem es nach staubigen Akten roch.

"Detektiv möchten Sie werden?" fragte Mr. Salter unwirsch, als er sich an seinem Schreibtisch niederließ. "Und welche Ausrüstung bringen Sie denn für diesen neuen Beruf mit?"

Jim lächelte, aber in seinem Blick lag Begeisterung.

"Glauben", sagte er ruhig.

"Was nützt Ihnen als Detektiv Glaube?"

"Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht."

Jim zitierte diesen Bibelspruch feierlich, und Mr. Salter schwieg eine Weile. Dann nahm er ein Stück Papier, auf das er einige Notizen geschrieben hatte, und reichte es Jim.

"Sehen Sie einmal, ob Sie mit dem Spürsinn eines Detektivs diese Aktenstücke auffinden können, sie liegen unten in der Stahlkammer." Aber obwohl er scherzte, hatten Jims Worte doch Eindruck auf ihn gemacht.

Jim nahm den Zettel, las ihn durch und wollte eben eine Frage an Mr. Salter stellen, als ein Schreiber hereinkam.

"Wollen Sie Mr. Digby Groat empfangen, Sir?"

Kapitel 2



Mr. Salter schaute mit einem humorvollen Lächeln in den Augen auf.

"Ja", sagte er nur kurz und wandte sich zu Jim, der schnell das Büro verlassen wollte. "Sie können ruhig hierbleiben, Steele. Mr. Groat schrieb mir, dass er die Akten durchsehen will, und wahrscheinlich müssen Sie ihn zur Stahlkammer führen."

Jim sagte nichts.

Der Schreiber öffnete die Tür für einen elegant gekleideten jungen Herrn.

Jim kannte ihn schon von früher, aber je öfter er ihn sah, desto weniger konnte er ihn leiden. Er hätte mit geschlossenen Augen das schmale, wenig freundliche Gesicht mit dem kurzen, schwarzen Schnurrbart, die müden Augen, die blasierten Züge, das große, vorstehende Kinn und die etwas abstehenden Ohren malen können, wenn er Zeichner gewesen wäre. Und doch machte Digby Groat in mancher Beziehung einen guten Eindruck, das konnte selbst Jim nicht bestreiten. Er mußte einen erstklassigen Kammerdiener haben, denn von seiner tadellos glänzenden Frisur bis zu den blitzblanken Schuhen war nichts an seiner Erscheinung auszusetzen. Sein Anzug war nach dem modernsten Schnitt gearbeitet und stand ihm außerordentlich gut. Als er ins Zimmer trat, verbreitete sich ein leiser Duft von Quelques Fleurs. Jim verzog die Nase. Er haßte Männer, die sich parfümierten, so dezent sie es auch tun mochten.

Digby Groat schaute von dem Rechtsanwalt zu Steele, und in seinen dunklen Augen lag jener nachlässige und doch so unverschämte Ausdruck, den weder der Rechtsanwalt noch sein Sekretär vertrugen.

"Guten Morgen, Salter", sagte er.

Er zog ein seidenes Taschentuch hervor, staubte einen Stuhl damit ab und nahm Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Seine Hände, die in zitronengelben Handschuhen steckten, ruhten auf dem goldenen Knopf eines Ebenholzspazierstockes.

"Sie kennen Mr. Stelle, meinen Sekretär?"

Der andere nickte.

"Ach ja, er war doch früher Offizier und hat das Viktoriakreuz erhalten?" fragte Digby müde. "Vermutlich finden Sie es jetzt sehr öde hier, Steele? Eine solche Stelle würde mich zu Tode langweilen."

"Das glaube ich auch. Aber wenn Sie sich an der Front den Wind hätten um die Nase wehen lassen, gefiele Ihnen die himmlische Ruhe dieses Büros sehr."

"Da mögen Sie recht haben", erwiderte Digby kurz. Er fühlte sich peinlich dadurch berührt, dass Jim erwähnte, dass er nicht im Felde gewesen war.

"Nun. Dr. Groat ...", begann der Anwalt, aber der elegante junge Mann unterbrach Salter durch eine Geste.

"Nennen Sie mich bitte nicht Doktor", sagte er mit einem schmerzlichen Ausdruck. "Vergessen Sie, dass ich ein medizinisches Studium durchgemacht habe und mein Examen als Chirurg bestand. Ich tat das nur zu meiner eigenen Befriedigung, und es wäre mir sehr unangenehm, eine Praxis ausüben zu müssen. Ich würde es nicht aushalten, zu jeder Tages- und Nachtzeit von Patienten gestört zu werden."

Für Jim war es eine Neuigkeit, dass dieser Stutzer einen medizinischen Grad erworben hatte.

"Ich bin hierhergekommen, um die Pachtverträge der Besitzungen in Cumberland einzusehen, Salter", fuhr Groat fort. "Es ist mir ein Angebot gemacht worden, ich sollte eigentlich sagen, es ist meiner Mutter ein Angebot gemacht worden, und zwar von einem Syndikat, das ein großes Hotel dort errichten will. Soviel ich weiß, ist eine Klausel in den Verträgen, die einen solchen Bau verhindert. Wenn es so ist, war es niederträchtig gedankenlos von dem alten Danton, solche Ländereien zu erwerben."

"Mr. Danton tat nichts Gedankenloses und nichts Niederträchtiges", entgegnete Salter ruhig. "Wenn Sie diese Frage in Ihrem Brief erwähnt hätten, würde ich Ihnen telefonisch darüber Auskunft gegeben haben, und Sie hätten sich nicht hierher bemühen müssen. Aber da Sie nun einmal hier sind, wird Sie Steele zur Stahlkammer führen. Dort können Sie die Pachtverträge einsehen."

Groat sah argwöhnisch zu Jim hinüber.

"Versteht er denn etwas von Pachtverträgen?" fragte er. "Und muß ich denn tatsächlich in Ihren schrecklichen Keller hinuntersteigen, um mich auf den Tod zu erkälten? Können die Akten denn nicht für mich heraufgebracht werden?"

"Wenn Sie so liebenswürdig sind, in Steeles Zimmer zu gehen, kann er sie Ihnen ja dorthin bringen", entgegnete Salter, der Mr. Groat ebenso wenig liebte wie sein Sekretär. Außerdem hatte er den nicht unbegründeten Verdacht, dass sich die Groats in dem Augenblick, in dem sie in den Besitz des Dantonschen Vermögens kämen, einen anderen Rechtsanwalt zur Verwaltung ihres Eigentums wählen würden.

Jim nahm die Schlüssel und kehrte bald mit einem Paket Akten wieder zu seinem Chef zurück.

Mr. Groat hatte das Büro Mr. Salters verlassen und saß schon in Jims eigenem kleinen Zimmer.

"Erklären Sie Mr. Groat alles, was er über die Pachtbriefe wissen will. Wenn Sie mich dazu brauchen, dann rufen Sie mich."

Jim fand Digby in seinem Raum. Er blätterte in einem Buch, das er sich genommen hatte.

"Was bedeutet denn Daktyloskopie?" fragte er und sah zu Jim auf, als er eintrat. "Das Buch handelt von diesem Gegenstand."

"Das ist die Lehre von den Fingerabdrücken", sagte Jim kurz. Er haßte diese anmaßende Art und war sehr ärgerlich, dass Mr. Groat eines seiner Privatbücher genommen hatte.

"Interessieren Sie sich denn für dergleichen?" fragte Groat und stellte den Band wieder an seinen Platz zurück.

"Ein wenig. Hier sind die gewünschten Pachtbriefe. Ich habe sie eben oberflächlich durchgesehen. Es gibt keine Klausel darin, die die Errichtung eines Hotels ausschließen könnte."

Groat nahm die Dokumente in die Hand und sah sie Seite für Seite durch.

"Nein", sagte er schließlich, "es steht nichts davon da, Sie haben recht." Bei diesen Worten legte er das Aktenstück auf den Tisch zurück. "Sie interessieren sich also für Fingerabdrücke? Ich wußte noch nicht, dass sich der alte Salter auch mit Strafprozessen abgibt. Was ist denn das?"

Neben Jims Schreibtisch stand ein Bücherbrett, das mit schwarzen Heften gefüllt war.

"Das sind meine Privatnotizen", erklärte Jim.

Digby wandte sich mit einem maliziösen Lächeln um.

"Worüber machen Sie sich denn Notizen?" fragte er, und bevor ihn Jim daran hindern könnte, hatte er eins der Hefte in der Hand.

"Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie doch bitten, mein Privateigentum in Ruhe zu lassen", sagte Jim entschieden.

"Tut mir leid, ich dachte, alle Dinge in Salters Kanzlei hätten mit seinen Klienten zu tun."

"Sie sind eben nicht der einzige Klient", entgegnete Jim. Er konnte sich im allgemeinen gut beherrschen, aber dieser anmaßende Mensch fiel ihm auf die Nerven.

"Wozu machen Sie denn das alles?" fragte Groat, als er Seite für Seite umblätterte.

Jim stand Mr. Groat am Schreibtisch gegenüber und beobachtete ihn scharf. Plötzlich sah er, dass das gelbe Gesicht des anderen einen Schein dunkler und der Blick der schwarzen Augen hart wurde.

"Was bedeutet das?" fragte Groat scharf. "Was, zum Teufel, haben Sie ..." Er hielt inne, nahm sich zusammen und lachte. Aber Jim hörte wohl, wie gekünstelt und gequält es klang. "Sie sind ein prächtiger Kerl, Steele", sagte er in seinem alten, nachlässigen Ton. "Sie sind töricht, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen."

Er stellte das Schreibheft an den Platz zurück, von dem er es genommen hatte, nahm einen anderen Pachtbrief und gab sich den Anschein, eifrig darin zu lesen. "Es ist alles in Ordnung", sagte er schließlich, legte das Aktenstück beiseite und griff zu seinem Hut. "Vielleicht besuchen Sie mich einmal und essen mit mir zu Abend, Steele. Ich habe ein ganz interessantes Laboratorium, das ich mir an der Rückseite meines Hauses am Grosvenor Square erbaut habe. Der alte Salter nannte mich eben Doktor!" Er lachte, als ob das ein guter Scherz sei. "Nun gut, wenn Sie zu mir kommen, kann ich Ihnen verschiedenes zeigen, was zum mindesten meinen Titel rechtfertigt."

Seine großen, dunkelbraunen Augen waren auf ihn gerichtet, als er in der Tür stand.

"Nebenbei bemerkt, Mr. Steele, Ihre Privatstudien führen Sie auf ein gefährliches Gebiet, für das Sie selbst ein zweites Viktoriakreuz kaum genügend entschädigen könnte."

Er schloß die Tür behutsam hinter sich. Jim sah ihm stirnrunzelnd nach.

'Was meint er nur damit?' überlegte er. Dann erinnerte er sich daran, dass Mr. Groat sein Notizbuch in der Hand gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte ihm das zu denken gegeben. Er nahm das Heft von dem Brett herunter, schlug die erste Seite auf und las: 'Einige Bemerkungen über die Bande der Dreizehn.'

Kapitel 3



An demselben Nachmittag trat Jim in Mr. Salters Büro.

"Ich gehe jetzt zum Tee", sagte er.

Mr. Salter schaute auf die altmodische Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

"Es ist gut. Sie gehen in letzter Zeit immer sehr pünktlich zum Tee, Steele, warum werden Sie denn rot? Handelt es sich um ein Mädchen?"

"Nein", erwiderte Jim unnötig laut. "Ich treffe zwar ab und zu eine Dame beim Tee, aber ..."

"Machen Sie, dass Sie fortkommen", sagte der alte Mann ärgerlich. "Grüßen Sie sie von mir."

Jim mußte lachen, während er die Treppe hinunterstieg und auf die Marlborough Street hinaustrat. Er beeilte sich, weil es schon etwas spät war. Erleichtert atmete er auf, als er in das stille, ruhige Lokal trat und den Tisch, an dem er gewöhnlich saß, noch unbesetzt fand.

Als er am Tisch Platz genommen hatte, kam die Kellnerin strahlend auf ihn zu, um nach seinen Wünschen zu fragen.

"Ihre junge Dame ist noch nicht gekommen, Sir", sagte sie.

Es war das erste Mal, dass sie Eunice Weldon erwähnte, und Jim war es höchst peinlich.

"Die junge Dame, die manchmal mit mir Tee trinkt, ist nicht meine junge Dame", erwiderte er etwas kühl.

"Ich bitte um Verzeihung", sagte die Kellnerin und kritzelte auf ihrem Notizblock, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

"Sie bestellen wohl wie gewöhnlich?"

"Ja. Bringen Sie alles wie sonst."

In diesem Augenblick trat eine Dame zur Tür herein, und er erhob sich schnell, um sie zu begrüßen.

Sie war von schlankem Wuchs und ging sehr, aufrecht. Etwas Liebenswürdiges und Elegantes lag in ihren Bewegungen, so dass die Herren, die auf den Straßen umher schlenderten, stehenblieben, wenn sie vorbeiging. Eunice hatte ein reines, fast madonnenhaftes Gesicht, aber ihre fröhlich lachenden, blauen Augen und ihre schön geschwungenen Lippen waren sehr lebhaft und schienen nicht gewillt, das Leben in klösterlicher Abgeschlossenheit zu vertrauern. In ihren Augen lag ein eigentümlicher Glanz, in dem sich eine Bitte und auch zugleich eine Warnung ausdrückte. Es lag Reinheit in ihrem ganzen Wesen, in all ihren Zügen, in dem ausdrucksvollen Mund, in dem runden, jugendlichen Kinn. Es lag wie ein Hauch von Taufrische über ihrer weißen, klaren, fast durchsichtigen Haut. Alle Schönheit der Jugend schien in ihr vereinigt zu sein.

Sie ging Jim mit ausgestreckter Hand entgegen.

"Ich bin etwas spät dran", sagte sie vergnügt. "Wir hatten eine langweilige Herzogin im Atelier, die ich in siebzehn verschiedenen Stellungen aufnehmen mußte, sie sah nicht besonders schön aus, aber gerade mit den unansehnlichsten Menschen hat man meistens die größte Mühe."

Sie setzte sich, zog ihre Handschuhe aus und erwiderte freundlich den Gruß der Kellnerin.

"Die einzige Möglichkeit, schön zu sein, besteht für Leute mit Durchschnittsgesichtern in einer effektvollen Fotografie", sagte Jim.

Eunice Weldon war in einem bekannten fotografischen Atelier in der Regent Street angestellt. Jim hatte sie vor einiger Zeit erst in dem Lokal, in dem sie augenblicklich saßen, beim Tee kennengelernt, und zwar bei einer besonderen Gelegenheit. Die Gardinen am Fenster, in dessen Nähe sie saß, hatten Feuer gefangen. Jim löschte die Flammen und verbrannte sich dabei die Hand. Und Miss Weldon hatte ihn verbunden.

Wenn ein Herr einer Dame einen Dienst erweist, so führt das meistens nicht zu einer näheren Bekanntschaft. Wenn aber umgekehrt eine junge Dame einem Mann hilft, so ist das unweigerlich der Beginn einer Freundschaft.

Seit dieser Zeit hatten sie sich täglich hier beim Tee getroffen. Einmal versuchte Jim auch, sie zum Theater einzuladen, aber sie schlug seine Bitte ab.

"Haben Sie weitere Erfolge gehabt bei Ihrer Suche nach der verlorenen jungen Dame?" fragte sie, während sie sich Marmelade auf ein Brötchen strich.

Jims Stirn legte sich in Falten.

"Mr. Salter hat mir heute klargemacht, dass es wenig an den Verhältnissen ändern würde, wenn ich sie fände."

"Es wäre aber doch wundervoll, wenn das Kind gerettet worden wäre. Haben Sie jemals an diese Möglichkeit gedacht?"

Er nickte. "Leider dürfen wir uns keine Hoffnung in dieser Richtung machen, so schön es auch wäre. Und am meisten würde ich mich freuen", meinte er lachend, "wenn Sie die vermißte Erbin wären!"

"Das ist hoffnungslos", sagte sie kopfschüttelnd. "Ich bin die Tochter armer, aber ehrlicher Eltern, wie es immer so schön heißt."

"Ihr Vater lebte immer in Südafrika?"

"Ja, er war Musiker. Auf meine Mutter kann ich mich kaum besinnen, sie muß sehr lieb gewesen sein."

"Wo wurden Sie denn geboren?"

"In Kapstadt-Rondebosch, um genau zu sein. Aber warum geben Sie sich denn solche Mühe, die verlorene Dame aufzufinden?"

"Weil ich nicht will, dass dieser schreckliche, ungebildete Mensch, das große Erbe der Danton-Millionen antreten soll."

Sie richtete sich erstaunt auf.

"Wer ist denn dieser ungebildete Mensch? Sie haben mir bis jetzt seinen Namen noch gar nicht genannt."

Das stimmte, Jim Steele hatte ihr erst vor ein paar Tagen von dieser Sache erzählt, die ihn so sehr beschäftigte.

"Der junge Mensch heißt Digby Groat."

Sie schaute ihn verwirrt an.

"Was haben Sie denn?" fragte er erstaunt.

"Als Sie vorhin den Namen Danton erwähnten, erinnerte ich mich daran, dass unser erster Fotograf neulich sagte, Mrs. Groat sei die Schwester Jonathan Dantons", sagte sie langsam.

"Kennen Sie die Familie Groat?"

"Ich kenne sie nicht", sagte sie langsam, "wenigstens nicht sehr gut ..." Sie zögerte. "Aber ich werde eine Stellung bei Mrs. Groat als Sekretärin annehmen."

Er sah sie groß an. "Und davon haben Sie mir noch nichts gesagt?"

Aber als sie die Augen niederschlug, erkannte er, dass es falsch von ihm war, so zu fragen.

"Natürlich", fügte er schnell hinzu, "es liegt ja kein Grund vor, warum Sie mir das sagen sollten."

"Ich weiß es selbst erst seit heute. Mr. Groat ließ sich fotografieren, und seine Mutter begleitete ihn zum Atelier. Sie waren schon ein paarmal da, aber ich habe kaum von ihnen Notiz genommen. Heute rief mich der Chef zu sich und sagte, dass Mrs. Groat eine Sekretärin brauchte und dass es eine sehr gute Stelle für mich sein würde. Sie will fünf Pfund die Woche zahlen, die ich vollständig sparen kann, denn ich werde in ihrem Hause wohnen."

"Wann hat sich denn Mrs. Groat entschlossen, eine Sekretärin anzustellen?"

"Das weiß ich nicht, warum fragen Sie mich, danach?"

"Ich habe sie vor einem Monat in unserer Kanzlei gesehen. Mr. Salter machte ihr damals den Vorschlag, sich eine Sekretärin zu halten, um ihre Korrespondenz in Ordnung zu bringen. Sie erklärte aber, dass sie das unter keinen Umständen täte, sie wolle keine Fremde um sich haben, die weder Dienstbote noch Freundin sei."

"Sie wird ihre Absicht eben geändert haben", meinte Eunice lächelnd.

"Das bedeutet also, dass wir uns nicht weiter beim Tee treffen können. Wann werden Sie Ihre neue Stelle antreten?"

"Schon morgen früh."

Jim ging in düsterer Stimmung in sein Büro zurück. Sein Leben schien plötzlich arm und traurig geworden zu sein.

'Du hast dich verliebt, alter Kerl', sagte er zu sich selbst.

Es gehörte zu seinen Pflichten, das große Tagebuch zu führen, und wütend blätterte er die Seiten um.

Mr. Salter war schon nach Hause gegangen. Jim steckte seine Pfeife an und trug die Vorgänge nach den kurzen Bleistiftnotizen seines Chefs ein, die er auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.

Als er fertig war, ging er noch einmal in das Zimmer seines Chefs, um zu sehen, ob er nicht etwas vergessen hätte.

Mr. Salters Schreibtisch war für gewöhnlich in bester Ordnung, aber er hatte die merkwürdige Angewohnheit, wichtige Akten oder Notizen beiseite zu legen, man hätte fast sagen können, sie zu verstecken. Jim hob alle Gesetzbücher auf, die auf dem Tisch standen, ob er nicht noch irgendeine Notiz darunter finden könnte. Ein dünnes, goldgerändertes Notizbuch war zwischen zwei Bänden eingeklemmt gewesen und fiel nun auf die Tischplatte. Er konnte sich nicht besinnen, es früher gesehen zu haben. Als er es öffnete, entdeckte er, dass es ein Tagebuch für das Jahr 1929 war. Mr. Salter pflegte für seinen Privatgebrauch Notizen zu machen und tat das in einer sonderbaren, nur ihm verständlichen Kurzschrift. Keinem seiner Schreiber oder Sekretäre war es jemals gelungen, sie zu entziffern. Auch dieses Tagebuch war in dieser Geheimschrift abgefaßt.

Jim drehte die Blätter neugierig um und wunderte sich, dass ein so vorsichtiger und ordentlicher Mann ein Tagebuch herumliegen ließ. Er wußte, dass in dem großen, grünen Geldschrank ganze Stapel solcher kleinen Bände aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte der Rechtsanwalt einen herausgenommen, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Es waren Hieroglyphen für Jim. Nur ab und zu stand ein Wort in offener Schrift dazwischen.

Aber plötzlich stutzte er, denn unter dem vierten Juni fand er eine lange Eintragung. Sie schien erst später von dem Rechtsanwalt gemacht worden zu sein, denn sie war mit grüner Tinte geschrieben. Aus diesem Umstand konnte er feststellen, wann sie geschrieben war, denn vor achtzehn Monaten hatte ein Augenarzt Mr. Salter gesagt, dass es ihm leichter fiele, grüne Schrift zu lesen, und seit diesem Zeitpunk hatte der Rechtsanwalt stets grüne Tinte für seine Schriftsätze benutzt. Jim hatte den Absatz gelesen, bevor er sich darüber klar wurde, dass er eigentlich nicht dazu berechtigt war.

"Ein Monat Zuchthaus im Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli. Madge Benson (dieser Name war unterstrichen) 14, Palmer's Terrace, Paddington. 74, Highcliffe Gardens, Margate. Hatte lange Besprechungen mit dem Bootsmann, dem die 'Saucy Belle' gehörte.

Keine Spur von ..."

Hier endete der Abschnitt in offener Schrift.

"Was, in aller Welt, mag das bedeuten?" murmelte Jim vor sich hin. "Das muß ich mir notieren."

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er im Begriff war, etwas Unehrenhaftes zu tun, aber er war so interessiert an diesem neuen Hinweis, dass er seine Bedenken überwand.

Offenbar bezog sich diese Bemerkung auf die verschwundene Lady Mary. Wer diese Madge Benson war, und was die Erwähnung des Gefängnisses in Holloway bedeutete, wollte er herausbringen.

Als er die Notizen abgeschrieben hatte, ging er in sein Zimmer zurück, schloß seinen Schreibtisch ab, ging nach Hause und überlegte angestrengt, welche weiteren Nachforschungen er anstellen könnte.

Er hatte eine kleine Wohnung in einem Häuserblock, von dem aus man Regent's Park übersehen konnte. Von seinen eigenen Zimmern aus hatte man allerdings keinen Blick ins Freie. Man konnte nur die unangenehmen Rückseiten anderer Mietshäuser sehen, und unten führte die Eisenbahn vorbei. Er hätte von seinem Fenster aus Kupfermünzen auf die vorbeifahrenden Wagen werfen können, so dicht lagen die Schienen bei seinem Hause. Dafür war aber auch die Miete nur halb so hoch wie für ähnliche Wohnungen in besserer Lage. Er hatte ein kleines Privateinkommen von zwei bis drei Pfund wöchentlich, und wenn er sein Gehalt dazunahm, konnte er verhältnismäßig gut leben. Seine drei Zimmer waren mit wertvollen, alten Möbeln ausgestattet, die er aus dem Zusammenbruch seines väterlichen Vermögens gerettet hatte; denn als sein etwas leichtsinniger Vater starb, konnten von seiner Hinterlassenschaft gerade die zahlreichen Schulden beglichen werden.

Jim war im vierten Stock aus dem Lift gestiegen und wollte eben aufschließen, als er hörte, dass die gegenüberliegende Tür sich öffnete. Er wandte sich um.

Die ältere Frau, die heraustrat, trug die Tracht einer Krankenschwester. Sie nickte ihm freundlich zu.

"Wie geht es Ihrer Patientin?" fragte Jim.

"Es geht ihr gut. Das heißt, so gut es einer so kranken Dame eben gehen kann. Sie ist Ihnen sehr dankbar für die Bücher, die Sie ihr schickten."

"Die arme Frau", meinte Jim bedauernd. "Es muß doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr ausgehen kann."

"Sicherlich, aber Mrs. Fane scheint es nichts mehr auszumachen. Man gewöhnt sich daran, wenn man schon sieben Jahre krank liegt."

Es kamen Schritte die Treppe herunter, und sie schaute hinauf.

"Der Postbote kommt", sagte sie. "Ich dachte, er wäre schon dagewesen. Vielleicht bringt er uns etwas."

Die Briefträger ließen sich im Fahrstuhl bis zum sechsten Stock fahren und teilten im Hinuntergehen die Post aus.

"Ich habe nichts für Sie, Sir", sagte er zu Jim, während er das Paket Briefe in seiner Hand durchsah.

"Miss Madge Benson, das sind Sie doch, Schwester, nicht wahr?"

"Jawohl", entgegnete die Frau schnell, nahm dem Postboten den Brief aus der Hand, verabschiedete sich durch ein kurzes Kopfnicken von Jim und ging die Treppe hinunter.

Madge Benson! Der Name, den er eben in Salters Tagebuch gelesen hatte!

Kapitel 4



"Du langweilst mich zu Tode, Mutter", sagte Digby Groat, "wenn du mir immer wieder dieselben Geschichten erzählst." Er goss sich ein Glas Portwein ein. "Es kann dir doch genügen, wenn ich dir sage, dass ich die junge Dame als Sekretärin herhaben will. Ob du etwas für sie zu tun hast oder nicht, ist mir gleichgültig. Aber eins mußt du dir merken: Sie darf niemals den Eindruck bekommen, dass sie aus einem anderen Grund engagiert ist, als deine Briefe zu schreiben oder deine Korrespondenz zu erledigen."

Die Frau, die ihm auf dem Sofa gegenüber saß, sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Jane Groat war über sechzig, aber manche hielten sie für zwanzig Jahre älter. Ihr gelbliches Gesicht war von vielen Runzeln und Falten durchzogen, und auf ihren blassen Händen traten die blauen Adern hervor. Nur ihre dunkelbraunen Augen machten noch einen lebendigen Eindruck, und in ihrem Blick lag Neugierde, beinahe Furcht. Ihre Gestalt war gebeugt. Ihr Benehmen ihrem Sohn gegenüber war fast kriechend, Sie sah ihm nicht in die Augen, sie sah überhaupt selten jemand an.

"Die wird hier herumspionieren, sie wird stehlen!" sagte sie mit weinerlicher Stimme.

"Nun sei aber ruhig von dem Mädchen", sagte er böse. "Und da wir uns nun einmal allein sprechen, möchte ich dir etwas sagen."

Ihre unsteten Blicke schweiften nach rechts und links, aber sie vermied es ängstlich, seinen Augen zu begegnen. Es lag eine Drohung in seinen Worten, die sie nur allzu gut kannte.

"Sieh einmal hierher!"