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Iwan Turgenjew

Rauch

(Roman)

 

 

 

Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien 

2. Auflage, 14. Februar 2016 

Alle Rechte vorbehalten 

eBook: Rauch 

ISBN: 978-3-99041-806-2 

1

 

Am 10. August 1862 um vier Uhr nachmittags wimmelte es vor der bekannten „Conversation“ in Baden-Baden von Menschen. Das Wetter war herrlich; alles ringsum - die grünen Bäume, die hellen Häuser der anheimelnden Stadt, das wellige Bergland -, kurz alles dehnte sich festlich und ansehnlich unter den Strahlen einer wohlmeinenden Sonne; über allem lag gleichsam ein absichtsloses, vertrauensvolles und freundliches Lächeln, und das gleiche vage, aber gute Lächeln überzog auch die Menschengesichter, alte wie junge, hässliche wie schöne. Selbst die stark geschminkten Pariser Kokotten vermochten den Gesamteindruck heiterer Zufriedenheit und Lebensfreude nicht zu stören, und die bunten Bänder und Federn, die goldenen und stahlblauen Pailletten an Hüten und Schleiern erinnerten unwillkürlich an die lebhafte Pracht und das leichte Spiel von Frühlingsblumen und regenbogenfarbigen Schwingen. Nur das überall schnarrende, ausdruckslose gutturale Geschnatter der französisch Sprechenden konnte das Vogelgezwitscher weder ersetzen noch sich mit ihm vergleichen.

   Im übrigen verlief alles in gewohnter Weise. Das Orchester im Pavillon spielte bald ein Potpourri aus „La Traviata“, bald einen Straußschen Walzer, bald „Sagt es ihr“, eine russische Romanze, vom beflissenen Kapellmeister instrumentiert. Um die grünen Tische in den Spielsälen drängten sich wie immer die allbekannten Gestalten mit dem ewig gleichen, stumpfen und gierigen, halb fassungslosen, halb erbitterten, doch im Grunde genommen habsüchtigen Ausdruck, den die Spielleidenschaft allen, selbst an aristokratischsten Zügen verleiht. Der etwas korpulente, ungewöhnlich elegant gekleidete Gutsbesitzer aus Tambow verstreute wie gewohnt, mit immer der gleichen unbegreiflichen fieberhaften Hast, die Augen weit aufgerissen, mit dem Oberkörper dicht über den Tisch gebeugt und ohne auf das geringschätzige Lächeln der Croupiers zu achten, im selben Augenblick, da man „Rien ne va plus!“ rief, mit schweißfeuchter Hand die runden goldenen Scheiben der Louisdors über alle Quadrate des Rouletts und beraubte sich damit jeder Möglichkeit, selbst im Falle eines Erfolges etwas zu gewinnen, was ihn aber nicht im geringsten daran hinderte, noch am gleichen Abend dem Fürsten Coco, einem der bekanntesten Anführer der Adelsopposition, mit teilnahmsvoller Entrüstung beizupflichten, demselben Fürsten Coco, der in Paris, im Salon der Prinzessin Mathilde, in Gegenwart des Kaisers so treffend bemerkt hatte: „Madame, le principe de la propriété est profondément ébranlé en Russie.“ Am „Russischen Baum“ - à l'Arbre russe - kamen unsere liebwerten Landsleute wie gewöhnlich zusammen; pompös, nonchalant, elegant fanden sie sich ein, begrüßten einander mit Grandezza, Ungezwungenheit und Charme, ganz wie es sich für Individuen geziemt, die auf der Höhe der modernen Bildung stehen, doch nachdem sie sich zusammengefunden und Platz genommen hatten, wussten sie beim besten Willen nicht, worüber sie sich unterhalten sollten, und begnügten sich entweder mit leerem Gewäsch oder mit den abgedroschenen, höchst gewagten und platten Ausfällen eines längst steril gewordenen französischen Exliteraten mit kleinen Judenschuhen an den winzigen Füßchen und einem lächerlichen Bärtchen in der widerwärtigen Visage, eines Possenreißers und Schwätzers. Er faselte ihnen, à ces princes russes, allen möglichen faden Unsinn aus den alten Almanachen Charivari und Tintamarre vor, und sie, ces princes russes, brachen in dankbares Lachen aus, als erkennten sie unwillkürlich die drückende Überlegenheit des fremdländischen Räsoneurs wie auch die eigene vollkommene Unfähigkeit, sich etwas Amüsantes einfallen zu lassen. Dabei fand sich hier fast die gesamte „fine fleur“ unserer Gesellschaft ein, „des Adels höchste Blüten“. Da war zunächst Graf X., unser unvergleichlicher Dilettant, eine zutiefst musikalische Natur, der wunderschön Romanzen „vorträgt“, im Grunde genommen aber keine zwei Töne aneinanderreihen kann, ohne mit dem Zeigefinger kreuz und quer auf den Tasten herumzutippen, und der halb wie ein schlechter Zigeuner, halb wie ein Pariser Coiffeur singt. Da war auch unser charmanter Baron Z., der sich auf alles Mögliche versteht, der Literat, Administrator, Redner und Falschspieler in einem ist. Und auch Fürst Y. war da, ein Freund der Religion und des Volkes, der ehedem, zu Zeiten der Branntweinpacht seligen Angedenkens, durch den Verkauf von Fusel, dem ein Narkotikum beigemengt war, ein riesiges Vermögen erworben hat. Außerdem ist noch der strahlende General O. O. zu nennen, der irgendetwas unterworfen, irgendjemand befriedet hat und jetzt trotzdem nicht weiß, wo er bleiben und wodurch er sich empfehlen soll. Und schließlich R. R., ein komischer Dickwanst, der sich für sehr krank und sehr klug hält, aber gesund wie ein Stier und dumm wie Bohnenstroh ist. Dieser R. R. hat fast als einziger noch bis heute die Traditionen der Salonlöwen aus den vierziger Jahren bewahrt, der Epoche des Helden unserer Zeit und der Gräfin Worotynskaja. Er hat den wiegenden Gang beibehalten, „le culte de la pose“ (auf Russisch lässt sich das schlecht wiedergeben), die unnatürliche Langsamkeit der Bewegungen, den gelangweilt-blasierten Ausdruck im unbewegten, fast beleidigten Gesicht sowie die Angewohnheit, anderen gähnend ins Wort zu fallen, die eigenen Finger und Nägel eingehend zu betrachten, durch die Nase zu lachen, sich plötzlich den Hut in die Stirn zu schieben und so weiter und so fort. Sogar hohe Staatsbeamte fanden sich da ein, Diplomaten und Größen von europäischem Rang, Männer von Weisheit und Verstand, die der Meinung waren, die Goldene Bulle habe ein Papst erlassen und die englische „poor tax“ sei eine den Armen auferlegte Steuer. Und letzten Endes auch die sehr eifrigen, aber schüchternen Verehrer der Kamelien, weltmännische junge Dandys mit den prächtigsten Scheiteln am Hinterkopf und wunderschönen, lang herabhängenden Backenbärten, in original Londoner Anzügen, junge Dandys, denen es nichts auszumachen schien, genau solche Hohlköpfe zu sein wie der berüchtigte französische Schwätzer. Aber nein! Das Einheimische ist bei uns anscheinend nicht gefragt, und so zog es denn die Gräfin Sch., eine bekannte Königin der Mode und des grand genre, die von den bösen Zungen „Wespenkönigin“ und „Haubenmedusa“ genannt wurde, in Abwesenheit des Schwätzers vor, sich einem der in der Nähe herumscharwenzelnden Italiener, Moldauer, amerikanischen „Spiritisten“, gewandten ausländischen Botschaftssekretäre, Deutschen mit weibischer, aber bereits vorsichtiger Physiognomie und dergleichen mehr zuzuwenden. Dem Beispiel der Gräfin folgend, ließen auch die Fürstin Babette, dieselbe, in deren Armen Chopin starb (in Europa zählt man an die tausend Damen, in deren Armen er seinen Geist aufgegeben hat), die Fürstin Annette, die in allem das Prä hätte, käme nicht von Zeit zu Zeit plötzlich, wie Kohlgeruch zwischen erlesensten Düften, die einfache Dorfwäscherin bei ihr wieder zum Vorschein, die Fürstin Pachette, der folgendes Missgeschick widerfuhr - ihr Mann, in eine angesehene Stellung gelangt, verprügelte eines Tages, Dieu sait pourquoi, das Stadtoberhaupt und veruntreute zwanzigtausend Silberrubel staatlicher Gelder die lachlustige Fürstin Sisi und die zum Weinen neigende Fürstin Soso, sie alle ließen ihre Landsleute links liegen, behandelten sie unwirsch. Und so wollen wir unsererseits auch sie, diese reizenden Damen, links liegenlassen und uns von dem berühmten Baum entfernen, um den herum sie in so teuren, aber etwas geschmacklosen Toiletten sitzen, und möge der Himmel sie von der Langeweile befreien, die an ihnen nagt!

2

 

Nur wenige Schritte von dem „russischen Baum“ entfernt, saß an einem Tischchen vor dem Café Weber ein gutaussehender Mann von knapp dreißig Jahren. Er war mittlerer Statur, hager und brünett und hatte sympathische, männliche Gesichtszüge. Vorgebeugt und mit beiden Händen auf den Spazierstock gestützt, saß er ruhig und ungezwungen da - wie jemand, der überhaupt nicht auf den Gedanken kommt, ein anderer könnte ihn bemerken oder sich mit ihm befassen. Seine großen, ausdrucksvollen kastanienbraunen Augen mit dem gelblichen Schimmer hielten gemächlich Umschau, bald kniff er sie, von der Sonne geblendet, zusammen, bald folgten sie beharrlich einer vorübergehenden auffälligen Erscheinung, wobei ein flüchtiges, fast kindliches Lächeln seinen zierlichen Schnurrbart, die Lippen und das stark vorstehende Kinn umspielte. Er trug einen weiten Mantel von deutschem Schnitt, und ein weicher grauer Hut bedeckte zur Hälfte seine hohe Stirn. Auf den ersten Blick machte er den Eindruck eines ehrsamen und tüchtigen, etwas zu selbstbewussten jungen Mannes, wie es sie ziemlich häufig auf der weiten Welt gibt. Er schien von langer Arbeit auszuruhen und sich umso unbefangener an dem Bild vor seinen Augen zu ergötzen, als seine Gedanken weit weg waren und sich in einer Welt bewegten, die derjenigen, die ihn in diesem Moment umgab, in keiner Weise ähnelte. Er war Russe und hieß Grigori Michailowitsch Litwinow.

   Wir müssen ihn kennenlernen, und deshalb ist es erforderlich, in kurzen Worten auf seinen recht alltäglichen und unkomplizierten Lebenslauf einzugehen.

   Als Sohn eines altgedienten, aus einer Kaufmannsfamilie stammenden Beamten im Ruhestand war er nicht, wie zu erwarten, in der Stadt, sondern auf dem Lande erzogen worden. Seine Mutter, eine Adlige mit Internatsbildung, war ein herzensgutes und recht enthusiastisches Wesen, jedoch nicht ohne Charakter. Obgleich zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, hatte sie ihn beeinflusst, so gut sie konnte, hatte ihn aus der Beamtensphäre in die der Gutsbesitzer herübergezogen und sein herbes, robustes Naturell besänftigt und gemildert. Dank ihren Bemühungen hatte er sich nach und nach auch adretter gekleidet, ein anständigeres Benehmen an den Tag gelegt und sich das Fluchen abgewöhnt. Er hatte die Gelehrten und die Gelehrsamkeit achten gelernt, wenngleich er freilich auch nie ein Buch in die Hand nahm, und sich alle Mühe gegeben, seine Würde zu wahren. Selbst sein Gang war gemessener und seine Sprache leiser geworden, und er redete immer häufiger von erhabenen Dingen, was ihn nicht geringe Mühe kostete. Drein- schlagen möchte man am liebsten! dachte er manchmal im stillen; laut aber sagte er: „Ja, ja, das ist... natürlich, das ist die Frage.“ Ihren Haushalt hatte Litwinows Mutter gleichfalls nach europäischem Muster eingerichtet; sie sprach die Dienstboten mit „Sie“ an und gestattete niemandem, sich beim Mittagessen übermäßig den Bauch vollzuschlagen. Was allerdings das ihr gehörende Landgut betraf, so verstanden weder sie selbst noch ihr Mann, etwas daraus zu machen; es war seit langem vernachlässigt, jedoch sehr ausgedehnt und umfasste die verschiedensten Ländereien, Wälder und einen See, an dem einst eine große Fabrik stand. Sie war von einem recht unternehmenden, aber liederlichen Gutsherrn errichtet worden, hatte in den Händen eines geriebenen Kaufmanns floriert und war unter der Leitung eines ehrlichen deutschen Unternehmers endgültig bankrottgegangen. Frau Litwinowa war schon zufrieden, dass sie ihr Vermögen nicht eingebüßt und keine Schulden gemacht hatte. Leider ließ ihre Gesundheit zu wünschen übrig, und im selben Jahr, in dem ihr Sohn an der Moskauer Universität immatrikuliert wurde, starb sie an der Schwindsucht. Aus bestimmten Gründen (der Leser wird sie später erfahren) beendete Litwinow sein Studium nicht, sondern wurde in die Provinz verschlagen, wo er sich eine Zeitlang ohne Beschäftigung, ohne Verbindungen und fast ohne Bekannte herumtrieb. Dank den ihm missgünstig gesonnenen Adligen seines Kreises, die weniger von der westlichen Theorie der Schädlichkeit des „Absentismus“ als von der primitiven Überzeugung durchdrungen waren, dass „einem das Hemd näher sitzt als der Rock“, geriet er im Jahre 1855 in die Landwehr und wäre auf der Krim, wo er, ohne einen einzigen „Alliierten“ zu Gesicht zu bekommen, ein halbes Jahr in einer Erdhütte am Ufer des Faulen Meeres kampierte, beinahe an Typhus gestorben. Hierauf bekleidete er, freilich nicht ohne Unannehmlichkeiten, einen Wahlposten und fasste schließlich, nachdem er eine Weile auf dem Lande gelebt hatte, eine Neigung für die Landwirtschaft. Er erkannte, dass das von seinem alten und gebrechlichen Vater schlecht und energielos verwaltete Gut seiner Mutter nicht einmal den zehnten Teil dessen abwarf, was es hätte abwerfen können, und dass es sich in klugen und erfahrenen Händen in eine Goldgrube verwandeln würde. Aber er erkannte auch, dass es ihm gerade an Erfahrung und Wissen noch mangelte, und so begab er sich ins Ausland, um dort Agronomie und Technologie zu studieren, und zwar von der Pike auf. Über vier Jahre hatte er in Mecklenburg, Schlesien und Karlsruhe zugebracht, war nach Belgien und England gereist, hatte gewissenhaft gearbeitet und sich Kenntnisse angeeignet, was ihm nicht leichtgefallen war; aber er hatte die Prüfung voll und ganz bestanden und war jetzt, von sich selbst, seiner Zukunft und dem Nutzen überzeugt, den er seinem Gut, ja vielleicht sogar dem ganzen Kreis bringen würde, im Begriff, in die Heimat zurückzukehren, wohin ihn sein Vater mit verzweifelten Beschwörungen und Bitten in jedem seiner Briefe rief; die Bauernemanzipation, die Verteilung der Appertinenzien, die Loskaufverträge, kurzum die neuen Verhältnisse hatten diesen völlig durcheinandergebracht. Was aber hatte sein Sohn in Baden-Baden zu suchen?

   Er hielt sich dort auf, weil er jeden Tag die Ankunft seiner Braut, einer entfernten Kusine namens Tatjana Petrowna Schestowa, erwartete. Er kannte sie fast von Kindheit an und hatte Frühjahr und Sommer bei ihr in Dresden verbracht, wo sie mit ihrer Tante Wohnung genommen hatte. Er liebte seine junge Verwandte aufrichtig und verehrte sie tief, und nun, da seine heimliche Vorbereitungsarbeit beendet war und er sich anschickte, in einen neuen Wirkungskreis einzutreten, eine konkrete, nicht staatliche Tätigkeit aufzunehmen, hatte er ihr als der von ihm geliebten Frau, als seiner Kameradin und Freundin vorgeschlagen, ihr Leben mit dem seinigen zu vereinen, in Freud und Leid, in Arbeit und Musse - „for better, for worse“, wie die Engländer sagen. Sie gab ihm ihr Jawort, und er war nach Karlsruhe gefahren, wo er noch Bücher, Gepäck und Papiere zurückgelassen hatte. Was aber suchte er denn dann in Baden-Baden, werden Sie erneut fragen.

   Er weilte dort, weil Tatjanas Tante Kapitolina Markowna Schestowa, eine alte Jungfer von fünfundfünfzig Jahren, die sie großgezogen hatte, eine herzensgute und grundehrliche, aber etwas wunderliche Seele, eine offenherzige Natur, die vom Geist der Selbstlosigkeit und der Selbstaufopferung erfüllt war, ein esprit fort (sie hatte Strauß gelesen, allerdings ohne Wissen ihrer Nichte), Demokratin und erbitterte Feindin der großen Welt und der Aristokratie, der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich wenigstens einmal ebendiese große Welt an einem so eleganten Ort wie Baden-Baden anzusehen. Kapitolina Markowna pflegte ohne Krinoline zu gehen und ihr weißes Haar kurz geschnitten zu tragen; Luxus und Glanz aber erregten sie insgeheim, und es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, darüber zu schimpfen und ihre Verachtung darüber zu bekunden. Warum hätte er der guten Alten diese Genugtuung nicht verschaffen sollen?

   Litwinow saß deshalb so ruhig und ungezwungen da, er schaute deshalb so selbstbewusst umher, weil sein weiteres Leben klar und deutlich vor ihm lag, weil sein Schicksal entschieden und er stolz darauf war und sich darüber freute, dass er es aus eigener Kraft so gestaltet hatte.

3

 

„Ei, ei, ei! Hier also steckt er!“ ließ sich plötzlich dicht an seinem Ohr eine quäkende Stimme vernehmen, und eine fleischige Hand klopfte ihm auf die Schulter. Er hob den Kopf und erblickte vor sich einen seiner wenigen Moskauer Bekannten, einen gewissen Bambajew, einen gutmütigen, nicht mehr ganz jungen Mann und großen Hohlkopf mit schwammigen, wie weichgekocht aussehenden Wangen und ebensolcher Nase, zerzaustem, fettigem Haar und schlaffem, feistem Körper. Ewig ohne einen Groschen in der Tasche und ewig von irgendetwas begeistert, trieb sich Rostislaw Bambajew unüberhörbar, aber ohne Ziel auf dem Antlitz unserer sehr geduldigen Mutter Erde herum.

   „Das nenn ich ein Wiedersehen!“ wiederholte er mehrmals, wobei er die in Fettpolster eingebetteten Äuglein weit aufriss und die wulstigen Lippen spitzte, über denen sich grotesk und unpassend ein gefärbter Schnurrbart sträubte. „Ja, ja dieses Baden! Wie die Schaben eilen alle hierher. Was hat dich denn hergetrieben?“

   Bambajew duzte ausnahmslos alle.

   „Ich bin vorvorgestern hier angekommen.“

   „Von wo?“

    „Wozu willst du das wissen?“

   „Wozu schon! Aber halt, warte mal, du weißt vielleicht gar nicht, wer noch hier ist! Gubarew! In höchsteigener Person! Jawohl! Gestern aus Heidelberg angereist! Du bist natürlich mit ihm bekannt?“

   „Ich habe von ihm gehört.“

   „Nur das? Aber ich bitte dich! Gleich, auf der Stelle führ ich dich zu ihm. Solch einen Menschen nicht zu kennen! Übrigens Woroschilow hier... Moment, am Ende kennst du auch ihn noch nicht? Habe die Ehre, euch miteinander bekannt zu machen! Beides Gelehrte! Der hier sogar ein Prachtexemplar! Küsst euch!“

   Bei diesen Worten hatte sich Bambajew einem neben ihm stehenden, gutaussehenden jungen Mann mit frischem, rosigem, aber ernstem Gesicht zugewandt. Litwinow erhob sich, küsste ihn jedoch selbstverständlich nicht, sondern wechselte nur eine knappe Verbeugung mit dem „Prachtexemplar“, dem, nach seiner strengen Miene zu urteilen, diese überraschende Vorstellung nicht sehr zu behagen schien.

   „Ich sagte ,ein Prachtexemplar', und ich bleibe dabei“, fuhr Bambajew fort. „Geh mal in Petersburg zum ... Institut und sieh dir dort die Goldene Tafel an. Welcher Name steht darauf als erster? Woroschilow, Semjon Jakowlewitsch! Gubarew aber, Gubarew, Freunde! Das ist einer, zu dem man nicht schnell genug hinkommen kann. Diesem Manne bringe ich höchste Verehrung entgegen. Und nicht nur ich; alle durch die Bank verehren ihn. Und was für ein Werk er jetzt schreibt, alle Wetter!“

   „Worüber?“ erkundigte sich Litwinow.

   „Über alles, mein Lieber. In der Art von Buckle, weißt du - bloß tiefgründiger, viel tiefgründiger. Alles wird darin geklärt und verdeutlicht.“

   „Hast du das Werk selbst gelesen?“

   „Nein, das nicht. Und es ist ja auch ein Geheimnis, das nicht ausposaunt werden soll. Aber von Gubarew ist alles zu erwarten, alles! Jawohl!“ Bambajew holte tief Luft und faltete die Hände. „Was wäre, wenn sich bei uns in Russland noch zwei, drei solcher Köpfe fänden, ach, was wäre dann, Herr du meine Güte! Das eine sag ich dir, Grigori Michailowitsch: Womit du dich auch in der letzten Zeit beschäftigt haben magst - ich weiß nicht einmal, womit du dich überhaupt beschäftigst - und was auch immer deine Überzeugungen sein mögen - auch die kenn ich nicht -, bei ihm, bei Gubarew kannst du was lernen. Leider bleibt er nicht lange hier. Da heißt es die Gelegenheit nutzen und ihn aufsuchen. Auf zu ihm, zu ihm!“

   Ein vorübergehender Stutzer mit rotblonden Locken und einem hellblauen Band am flachen Hut drehte sich um und musterte Bambajew mit mokantem Lächeln durch ein Monokel. Litwinow war das peinlich.

   „Was schreist du so?“ sagte er. „Als wolltest du einen Jagdhund auf eine Fährte hetzen. Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen.“

   „Na und? Das kann man doch gleich hier bei Weber... zu dritt... Ausgezeichnet! Kannst du für mich mit bezahlen?“ fügte er halblaut hinzu.

   „Ich könnte schon; aber ich weiß wahrhaftig nicht...“

   „Hör auf, ich bitte dich! Du wirst mir dankbar sein, und er wird sich freuen... Ach, mein Gott!“ unterbrach Bambajew sich selber. „Da spielen sie ja gerade das Finale aus 'Ernannt'. Wie schön! 'A som-mo Carlo...' Was bin ich doch für ein Mensch! Immer gleich zu Tränen gerührt. Nun, Semjon Jakowlewitsch! Woroschilow! Gehen wir?“

   Woroschilow, der noch immer regungslos und aufrecht dastand und seine bisherige, etwas hochmütige, würdevolle Haltung weiter beibehielt, schlug die Augen vielsagend nieder, runzelte die Stirn und brummte etwas vor sich hin, sagte jedoch nicht nein. Litwinow aber dachte: Nun denn, machen wir auch das; wir haben ja Zeit! Bambajew fasste ihn unter, winkte jedoch, bevor er auf den Eingang des Cafes zusteuerte, Isabelle, der bekannten Blumenverkäuferin des Jockeiclubs, mit dem Finger; er gedachte ihr ein Bukett abzukaufen. Das aristokratische Blumenmädchen aber rührte sich nicht. Weshalb sollte sie zu einem Herrn ohne Handschuhe, in einer schmutzigen Plüschjacke, buntem Halstuch und ausgetretenen Stiefeln gehen, den sie auch in Paris noch niemals gesehen hatte? Da winkte Woroschilow sie heran, und zu ihm kam sie. Er suchte sich aus ihrem Korb ein winziges Veilchensträußchen aus und warf ihr einen Gulden zu. Er glaubte ihr mit seiner Großzügigkeit imponieren zu können; sie indessen zuckte nicht einmal mit der Wimper, und als er sich von ihr abwandte, zog sie verächtlich die Mundwinkel herab. Woroschilow war zwar sehr elegant, ja sogar exquisit gekleidet, aber der erfahrene Blick der Pariserin hatte an seiner Toilette, seiner Turnüre und selbst an seinem Gang, der die Spuren frühen militärischen Drills nicht verleugnen konnte, sofort erkannt, dass ihm der wahre, der aristokratische „Schick“ fehlte.

   Nachdem unsere Bekannten bei Weber im Hauptsaal Platz genommen und ein Diner bestellt hatten, entspann sich zwischen ihnen eine Unterhaltung. Bambajew pries laut und voller Eifer die große Bedeutung Gubarews, verstummte aber bald und leerte nur noch, geräuschvoll schnaufend und schmatzend, ein Glas nach dem anderen. Woroschilow aß und trank wenig, gleichsam widerstrebend, und begann dann, nachdem er Litwinow über die Art seiner Studien befragt hatte, seine eigenen Ansichten darzulegen, und zwar nicht so sehr über diese Studien, als vielmehr über verschiedene „Fragen“ im allgemeinen. Unversehens lebte er auf und preschte los wie ein gutes Pferd, wobei er jede Silbe, ja jeden Laut schneidig und scharf artikulierte wie ein braver Kadett beim Abschlussexamen und heftig und abrupt mit den Armen herumfuchtelte. Mit jedem Augenblick wurde er beredter und zungengewandter, zumal ihn niemand unterbrach - es war, als verteidige er eine Dissertation oder halte eine Vorlesung. Die Namen der modernsten Gelehrten samt Geburts- oder Todesjahr, die Titel von jüngst erschienenen Broschüren, überhaupt Namen, Namen und nochmals Namen - in buntem Reigen entquollen sie seinen Lippen und bereiteten ihm selber einen Hochgenuss, der sich in seinen blitzenden Augen widerspiegelte. Woroschilow verachtete offensichtlich alles Alte und schätzte nur den „Rahm“ der Bildung, den letzten fortgeschrittensten Stand der Wissenschaft. Das Buch irgendeines Doktor Sauerbengel über die pennsylvanischen Gefängnisse oder einen Artikel vom Vortrag im „Asiatic Journal“ (er sprach das Wort „Journal“ richtig aus, obwohl er natürlich kein Englisch konnte) über die Veden und die Puranas zu erwähnen, und sei es auch im unrechten Augenblick, war für ihn eine wahre Wonne, machte ihn glücklich. Litwinow hörte ihm aufmerksam zu, konnte jedoch beim besten Willen nicht herausfinden, welches eigentlich sein Fachgebiet war. Bald ließ er sich über die Rolle der Kelten in der Geschichte aus, bald trieb es ihn in die Welt der Antike, und er verbreitete sich über die äginetischen Marmorbildwerke und sprach voll Eifer von dem noch vor Phidias lebenden Bildhauer Onatas, der bei ihm jedoch zu einem Jonathan wurde, wodurch seine ganzen Erörterungen für einen Augenblick ein halb biblisches, halb amerikanisches Kolorit bekamen; dann sprang er plötzlich auf die politische Ökonomie über und nannte Bastiat einen Narren und einen Klotz, „genau wie Adam Smith samt allen Physiokraten“.

   „Physiokraten?“ wiederholte Bambajew flüsternd, „Aristokraten doch wohl?“

   Übrigens rief Woroschilow durch die lässig und ganz beiläufig hingeworfene Bemerkung, Macaulay sei ein veralteter, von der Wissenschaft bereits überholter Schriftsteller, einen Ausdruck von Erstaunen im Gesicht Bambajews hervor. Und was Gneist und Riehl betreffe, erklärte er weiter, wobei er mit den Achseln zuckte, so genüge es, nur ihre Namen zu nennen. Bambajew zuckte ebenfalls mit den Achseln. Und das alles gibt er in einem Atemzug und ohne jeden Anlass von sich, noch dazu vor Fremden in einem Café! dachte Litwinow bei sich und musterte das blonde Haar, die hellblauen Augen und die weißen Zähne seines neuen Bekannten (vor allem diese großen zuckerweißen Zähne und auch die wirr gestikulierenden Hände störten ihn). Auch lächelt er nicht ein einziges Mal. Aber trotzdem scheint er ein braver und noch recht unerfahrener Bursche zu sein. - Endlich wurde Woroschilow ruhiger; seine jugendlich helle und heisere Stimme, die wie die eines jungen Hahnes klang, verstummte kurz. Diesen Moment nutzte Bambajew. Er begann Verse zu deklamieren, wobei er wiederum fast in Tränen ausbrach, was an einem der Nebentische, an dem eine englische Familie saß, als skandalös empfunden wurde und an einem anderen Kichern auslöste. Dort speisten zwei Kokotten mit einem schon recht kindischen Greis, der eine lila Perücke trug. Der Kellner brachte die Rechnung, und die Freunde zahlten.

   „So“, rief Bambajew, sich schwerfällig erhebend, „jetzt noch eine Tasse Kaffee, und dann los! - Hier haben wir es, unser Russland!“ fügte er, in der Tür stehenbleibend, hinzu und wies beinahe begeistert mit seiner weichen roten Hand auf Woroschilow und Litwinow. „Wie gefällt es euch?“

   Ja, Russland! dachte Litwinow; und Woroschilow, der es schon wieder fertiggebracht hatte, eine unnahbare Miene aufzusetzen, lächelte herablassend und schlug leicht die Hacken zusammen.

   Etwa fünf Minuten später gingen sie alle drei die Treppe des Hotels hinauf, in dem Stepan Nikolajewitsch Gubarew abgestiegen war. Dieselbe Treppe herunter kam eilig eine große, schlanke Dame, die einen Hut mit einem kurzen schwarzen Schleier trug. Als sie Litwinows ansichtig wurde, drehte sie sich jäh nach ihm um und blieb, anscheinend betroffen, stehen. Ihr Gesicht wurde unter dem dichten Spitzenschleier augenblicklich flammend rot und erbleichte dann ebenso schnell. Litwinow hatte sie jedoch nicht bemerkt, und so eilte die Dame noch rascher als vorher die breiten Stufen hinunter.

4

 

„Darf ich bekannt machen: Grigori Litwinow, ein prächtiger Junge und eine echt russische Seele“, rief Bambajew aus und führte Litwinow zu einem untersetzten Mann vom Aussehen eines Gutsbesitzers, der in einer kurzen Jacke, mit offenem Kragen, grauen Vormittagshosen und Pantoffeln mitten in dem hellen, tadellos aufgeräumten Zimmer stand. „Und das hier“, fügte er, zu Litwinow gewandt, hinzu, „das ist er höchstselbst, verstehst du? Nun, mit einem Wort, Gubarew.“

   Neugierig musterte Litwinow „ihn höchstselbst“. Auf den ersten Blick vermochte er an ihm nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Er sah vor sich einen Herrn mit achtunggebietendem, aber etwas stupidem Gesichtsausdruck, breiter Stirn, großen Augen, dicken Lippen, vollem Bart, starkem Nacken und schräg nach unten gerichtetem Blick. Dieser Herr lächelte breit, sagte: „Hm ... Ja... Das ist schön ... Sehr angenehm ...“ und führte die Hand an sein Gesicht; gleich darauf kehrte er Litwinow den Rücken zu und wanderte, langsam und eigentümlich hin und her schwankend, gleichsam verstohlen, mehrmals auf dem Teppich auf und ab. Gubarew hatte die Angewohnheit, ständig hin und her zu gehen, dabei an seinem Bart zu ziehen und ihn mit den Spitzen seiner langen, harten Fingernägel zu kraulen. Außer Gubarew befand sich noch eine Dame von etwa fünfzig Jahren im Zimmer; sie trug ein fadenscheiniges Seidenkleid und hatte ein ungewöhnlich lebhaftes zitronengelbes Gesicht, schwarzen Flaum auf der Oberlippe und flinke Augen, die aussahen, als wollten sie ihr jeden Augenblick herausspringen. In einer Ecke saß auch noch zusammengekauert ein untersetzter Mann.

   „Nun, verehrte Matrjona Semjonowna“, wandte sich Gubarew an die Dame, ohne es offenbar für nötig zu halten, ihr Litwinow vorzustellen, „was wollten Sie uns doch gleich erzählen?“

   Die Dame - sie hieß Matrjona Semjonowna Suchantschikowa, war eine kinderlose, wenig begüterte Witwe und reiste bereits das zweite Jahr durch die Lande - nahm sogleich mit besonderem, verbissenem Eifer das unterbrochene Gespräch wieder auf:

   „Nun, er erscheint also beim Fürsten und sagt zu ihm: 'Euer Erlaucht', sagt er, 'Sie stehen so hoch in Rang und Würden, was kostet es Sie schon, mein Los zu erleichtern?! Sie', so sagt er, 'müssen doch die Lauterkeit meiner Gesinnung achten! Kann man denn', fährt er fort, 'heutzutage noch jemand wegen seiner Gesinnung verfolgen?' Und was meinen Sie wohl, was der Fürst, dieser gebildete, hochgestellte Würdenträger, getan hat?“

   „Nun, was hat er denn getan?“ fragte Gubarew und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an.

   Die Dame richtete sich auf und streckte ihre knochige Rechte mit erhobenem Zeigefinger vor.

   „Er hat seinen Diener gerufen und zu ihm gesagt: 'Zieh diesem Menschen da sofort den Gehrock aus und behalt ihn für dich. Ich schenk ihn dir.'“

    „Und der Diener hat es getan?“ fragte Bambajew, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend.

   „Er hat ihm den Rock ausgezogen und ihn behalten. Ja, das hat Fürst Barnaulow fettiggebracht, bekanntlich ein Krösus und ein mit besonderer Macht ausgestatteter Würdenträger, ein Vertreter der Regierung! Was haben wir da wohl noch zu gewärtigen?!“

   Der ganze schwächliche Körper von Frau Suchantschikowa bebte vor Empörung, ihr Gesicht zuckte konvulsivisch, und die magere Brust wogte heftig unter dem flachen Korsett; von ihren Augen, die nur so rollten, wollen wir gar nicht erst reden. Übrigens rollten sie immer, ganz gleich, wovon sie sprach.

   „Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, wahrhaftig!“ rief Bambajew aus. „Es gibt keine Strafe dafür, die schwer genug wäre.“

   „Hm ... Hm ... Von oben bis unten alles faul!“ bemerkte Gubarew, ohne indessen seine Stimme zu heben. „Nicht Strafe ist hier angebracht - hier bedarf es anderer... Maßnahmen.“

   „Aber ist das, was Sie da sagten, denn wirklich wahr?“ zweifelte Litwinow.

   „Ob es wahr ist?“ griff die Suchantschikowa seine Frage auf. „Darüber besteht nicht der leiseste Zweifel, nicht der lei-ei-ei-seste!“ Sie sprach dieses Wort mit solchem Nachdruck aus, dass sie sich dabei sogar zusammenkrümmte. „Ich habe es von einem äußerst zuverlässigen Menschen. Sie, Stepan Nikolaje- witsch, kennen ihn. Es ist Kapiton Jelistratow. Er hat es selber von Augenzeugen dieser empörenden Szene gehört.“

   „Was für ein Jelistratow?“ erkundigte sich Gubarew. „Etwa der, der in Kasan war?“

   „Ja, derselbe. Ich weiß, Stepan Nikolajitsch, über ihn wurde das Gerücht verbreitet, er habe dort von irgendwelchen Lieferanten oder Branntweinbrennern Geld angenommen. Aber wer behauptet das? Pelikanow! Und kann man denn Pelikanow glauben, wo doch jedermann weiß, dass er nichts weiter als ein Spitzel ist?!“

   „Aber erlauben Sie mal, Matrjona Semjonowna“, schaltete sich Bambajew ein, „ich bin mit Pelikanow befreundet. Wieso ist er denn ein Spitzel?“

   „Jawohl, ein ausgesprochener Spitzel!“

   „Aber hören Sie mal, ich bitte Sie...“

   „Ein Spitzel, ein Spitzel!“ schrie die Suchantschikowa.

   „Aber nicht doch, nein, hören Sie auf! Ich will Ihnen mal was sagen“, versetzte Bambajew, nun ebenfalls schreiend.

   „Ein Spitzel, ein Spitzel!“ wiederholte die Suchantschikowa stur.

   „Nein, nein! Tentelejew, ja, das ist etwas anderes!“ brüllte Bambajew aus vollem Halse.

   Die Suchantschikowa verstummte augenblicklich.

   „Von diesem sauberen Herrn weiß ich zuverlässig“, fuhr er in seiner gewöhnlichen Lautstärke fort, „dass er, als er vor die Dritte Abteilung zitiert wurde, zu Füßen der Gräfin Blasenkrampf herumkroch und immerfort winselte:, Retten Sie mich! Setzen Sie sich für mich ein!' Pelikanow hingegen hätte sich niemals dermaßen erniedrigt.“

   „Hm. Tentelejew...“, murmelte Gubarew. „Das ... Das muss man sich merken.“

   Die Suchantschikowa zuckte verächtlich mit den Achseln.

   „Beide sind sie saubere Patrone“, sagte sie. „Aber über Tentelejew kenn ich eine noch bessere Geschichte. Er war, wie allgemein bekannt, seinen Leuten ein entsetzlicher Tyrann, obwohl er ebenfalls behauptete, für die Emanzipation zu sein. Nun, einmal sitzt er doch in Paris bei Bekannten, und plötzlich erscheint Madame Beecher Stowe - Sie wissen schon, Onkel Toms Hütte. Tentelejew, ein schrecklich eitler Mensch, bittet den Hausherrn, ihn ihr vorzustellen. Kaum aber hat Madame seinen Namen gehört, ruft sie schon aus: 'Was? Sie wagen es, die Bekanntschaft der Schöpferin von Onkel Tom machen zu wollen?' Und sie haut ihm eine runter. 'Hinaus!' sagt sie. 'Und zwar auf der Stelle!' Und was meinen Sie, was passierte? Tentelejew nahm seinen Hut und zog mit eingekniffenem Schwanz ab.“

   „Nun, das scheint mir denn doch übertrieben zu sein“, meinte Bambajew. „.Hinaus!“ hat sie wirklich zu ihm gesagt, das ist Tatsache; aber eine Ohrfeige hat sie ihm nicht verabreicht.“

   „Doch, hat sie, sie hat ihm eine verabreicht!“ bekräftigte die Suchantschikowa heftig. „Ich werde hier doch keinen Unsinn erzählen! Und mit solchen Menschen sind Sie befreundet!“

   „Aber Moment mal, Matrjona Semjonowna, erlauben Sie, ich habe niemals behauptet, dass Tentelejew mir menschlich nahestehe; das hab ich nur von Pelikanow gesagt.“

   „Nun, wenn nicht Tentelejew, dann eben ein anderer. Michnew zum Beispiel.“

   „Was hat denn der nun wieder angestellt?“ fragte Bambajew, schon von vornherein skeptisch.

   „Was? Als ob Sie das nicht wüssten! Auf dem Wosnessenski-Prospekt hat er in aller Öffentlichkeit geschrien, alle Liberalen gehörten ins Gefängnis. Und ein andermal erscheint ein alter Internatskamerad bei ihm, ein armer Schlucker natürlich, und bittet: 'Kann ich bei dir vielleicht zu Mittag essen?' Jener aber gibt ihm zur Antwort: 'Nein, das geht nicht; bei mir speisen heute zwei Grafen. Mach, dass du wegkommst!'„

   „Aber ich bitte Sie, das ist doch Verleumdung!“ heulte Bambajew.

   „Verleumdung? Verleumdung? Erstens hat Fürst Wachruschkin, der ebenfalls bei Ihrem Michnew zu Mittag aß...“

   „Fürst Wachruschkin“, intervenierte Gubarew streng, „ist ein Vetter von mir. Aber ich empfange ihn nicht. Es ist also ganz unangebracht, ihn zu erwähnen.“

   „Zweitens“, fuhr die Suchantschikowa fort, nachdem sie Gubarew gehorsam zugenickt hatte, „hat es mir Praskowja Jakowlewna selber erzählt.“

   „Da haben Sie ja die richtige Gewährsmännin! Sie und Sarkisow - das sind doch die ärgsten Gerüchtemacher.“

   „Aber entschuldigen Sie mal! Sarkisow ist ein Lügner, das stimmt - hat er doch sogar von seinem toten Vater das brokatene Leichentuch wieder heruntergezogen, das werde ich niemals bestreiten. Wie aber kann man Praskowja Jakowlewna mit ihm vergleichen! Erinnern Sie sich doch nur, wie anständig sie sich bei der Trennung von ihrem Mann benommen hat! Sie jedoch, das weiß ich, sind immer bereit...“

   „Hören Sie auf, Matrjona Semjonowna, hören Sie auf“, fiel ihr Bambajew ins Wort. „Lassen wir doch diese Streitereien und wenden wir uns erhabeneren Dingen zu. Ich bin nun mal ein Mann vom alten Schlag. Haben Sie Mademoiselle de la Quintinie gelesen? Einfach zauberhaft! Und mit Ihren Prinzipien übereinstimmend.“

   „Ich lese keine Romane mehr“, erwiderte die Suchantschikowa kalt und scharf.

   „Warum nicht?“

   „Weil nicht die Zeit dafür ist. Ich habe jetzt nur eines im Kopf: Nähmaschinen.“

   „Was für Maschinen?“ frage Litwinow.

   „Nähmaschinen! Alle, alle Frauen müssen sich Nähmaschinen anschaffen und Genossenschaften bilden. Auf diese Weise können sie sich ihr Brot selber verdienen und mit einem Schlage unabhängig werden. Anders wird es ihnen nicht gelingen, sich zu emanzipieren. Das ist ein sehr, sehr wichtiges soziales Problem. Ich hatte darüber eine Auseinandersetzung mit Boleslaw Stadnicki. Ein prächtiger Charakter, dieser Boleslaw Stadnicki, aber er hat schrecklich leichtfertige Ansichten über diese Dinge. Er lacht immer nur, der dumme Kerl.“

   „Von einem jeden wird zu gegebener Zeit Rechenschaft gefordert, ein jeder zur Verantwortung gezogen werden“, verkündete Gubarew halb belehrend, halb prophetisch.

   „Jawohl, zur Verantwortung gezogen“, wiederholte Bambajew, „genau das. - Wie ist es, Stepan Nikolajitsch“, fügte er leiser hinzu, „macht Ihre Arbeit Fortschritte?“

   „Ich sammle noch Material“, antwortete Gubarew stirnrunzelnd und fragte dann Litwinow, dem von diesem Durcheinander ihm unbekannter Namen und toller Klatschereien schon ganz wirr im Kopf wurde, womit er sich beschäftige.

   Litwinow befriedigte seine Neugier.

   „Aha! Also mit Naturwissenschaften. Das ist nützlich, als Schule; als Schule, nicht als Ziel! Das Ziel muss jetzt sein... hm ... muss ... ein anderes sein. Welche Ansichten, wenn ich mir die Frage erlauben darf, vertreten Sie?“

   „Welche Ansichten?“

   „Ja, ich meine: Welche politischen Überzeugungen haben Sie eigentlich?“

   Litwinow lächelte.

   „Eigentlich habe ich gar keine politischen Überzeugungen.“

   Bei diesen Worten hob der Untersetzte, der in der Ecke saß, plötzlich den Kopf und musterte Litwinow aufmerksam.

   „Wie denn das?“ erkundigte sich Gubarew merkwürdig sanft. „Haben Sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, oder sind Sie es schon müde geworden?“

   „Wie soll ich Ihnen das sagen? Mir scheint, für uns Russen ist es noch zu früh, politische Überzeugungen zu haben oder uns einzubilden, welche zu haben. Beachten Sie, dass ich dem Wort .politisch' jene Bedeutung beilege, die ihm von Rechts wegen zukommt, und dass...“

   „Aha! Also noch unreif“, unterbrach ihn Gubarew genauso sanft wie vorher, ging auf Woroschilow zu und fragte ihn, ob er die Broschüre, die er ihm gegeben, schon gelesen habe.

   Woroschilow, der zu Litwinows Erstaunen seit ihrer Ankunft noch kein einziges Wort gesprochen, sondern nur eine finstere Miene aufgesetzt und bedeutungsvoll umhergeblickt hatte (überhaupt war es so, dass er entweder unaufhörlich redete oder gar nichts sagte), warf sich stramm in die Brust, schlug die Hacken zusammen und nickte bestätigend.

   „Na und? Hat Sie der Inhalt befriedigt?“

   „Was die Hauptprinzipien betrifft, ja. Aber mit den Schlussfolgerungen bin ich nicht einverstanden.“

   „Hm! Andrej Iwanytsch hat mir gegenüber diese Broschüre aber sehr gelobt. Sie müssen mir nachher noch Ihre Einwände darlegen.“

   „Wünschen Sie sie schriftlich?“

   Gubarew war sichtlich erstaunt; darauf war er nicht gefasst gewesen. Nach kurzem Überlegen sagte er jedoch:

   „Ja, schriftlich. Außerdem möchte ich Sie bitten, mir auch Ihre Gedanken ... zu ... zu den Genossenschaften darzulegen.“

   „Nach der Methode Lassalles oder der Schulze-Delitzschs?“

   „Hm ... Nach beiden. Hierbei, müssen Sie wissen, ist für uns Russen vor allem die finanzielle Seite wichtig. Na und das Ariel... als Kern... Das alles muss man zur Kenntnis nehmen. Das muss man untersuchen. Dann ist da auch noch die Frage des bäuerlichen Bodenanteils...“

   „Und Sie, Stepan Nikolajitsch, was meinen Sie zu der Anzahl Desjatinen, die den Bauern zusteht?“ erkundigte sich Woroschilow mit ausgesuchter Höflichkeit.

   „Hm ... Und die Gemeinde?“ sagte Gubarew tiefsinnig und starrte, ein Büschel Barthaare zwischen den Zähnen, auf ein Tischbein. „Die Gemeinde... Verstehen Sie? Das ist ein großes Wort! Und dann, welche Bedeutung haben diese Brände ... diese ... Regierungsmaßnahmen gegen Sonntagsschulen, Lesestuben und Zeitschriften? Und die Weigerung der Bauern, die Urbialurkunden zu unterschreiben? Und schließlich das, was in Polen vorgeht? Ja, sehen Sie denn nicht, wohin das alles führt? Sehen Sie denn nicht, dass ... hm ... dass wir ... wir uns jetzt mit dem Volk vereinigen, dass wir... seine Meinung erkunden müssen?“ Gubarew wurde auf einmal von einer heftigen, fast wütenden Erregung gepackt; sein Gesicht lief dunkelrot an, und er atmete schwer, blickte jedoch noch immer nicht auf und kaute nach wie vor auf seinem Bart herum. „Sehen Sie denn nicht...“

   „Jewsejew ist ein Schuft!“ stieß die Suchantschikowa plötzlich hervor, der Bambajew aus Rücksicht auf den Hausherrn halblaut etwas erzählt hatte. Gubarew drehte sich jäh auf dem Absatz um und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf.