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Prinzessin der Nacht

Der Zettel ...

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25.

Der Autor …

… und die Muse

Wenn Dir die Geschichte gefallen hat ...

Impressum

Prinzessin der Nacht

 

Ein phantastischer Roman

von Thomas Endl

 

 

Die E-Books aus dem Hut


In ihrer Jugend war meine Großtante Opernsängerin gewesen, doch als sie eines unglücklichen Tages ein ganzes Orchester verschluckte, war es aus mit ihrer Karriere. Sie bekam nirgends mehr eine Rolle. Kein Dirigent der Welt wollte das Risiko eingehen, plötzlich ohne Musiker dazustehen. Meine Großtante beendete also ihre Laufbahn und unterrichtete fortan Gesang. Sie hatte einen schwarzen, glänzenden Flügel mitten im Wohnzimmer stehen, auf dem sie ihre Schüler begleitete. Wenn sie selbst sang, spielte niemand auf dem Flügel. Sie spürte ja in sich das ganze Orchester, und das war ihr Begleitung genug. So konnte sie sogar Arien schmettern, wenn sie in der Metzgerei um Rinderhack anstand oder im Hallenbad auf eine freie Umkleidekabine wartete.

 

 

In meiner Familie gab es einige, die nicht nett über Großtante Lulu sprachen, aber ich mochte sie gerne. Als kleiner Junge legte ich oft meinen Kopf an ihren Bauch und lauschte, ob das Orchester etwas Schönes spielt. Meistens machte es gerade Pause, aber einmal hörte ich ganz deutlich Geigen, Klarinetten und eine Trommel.

„Tatsächlich?“, rief meine Großtante. „Dann ist es bestimmt die Ouvertüre, also das Vorspiel zur ‚Prinzessin der Nacht.’ Die üben sie zurzeit andauernd.“ Mir reichte das damals als Erklärung, denn dass die „Prinzessin der Nacht“ eine Oper war, wusste ich von einem der vielen Theaterzettel, die sich meine Großtante gerahmt an die Wand gehängt hatte. Später fragte ich mich manchmal, wo sie den Zettel eigentlich herhatte, denn dieses Werk war in keinem einzigen Musikführer verzeichnet.

Die Antwort fand ich erst in diesem Sommer. Großtante Lulu war im Alter von 107 Jahren verstorben, und ich suchte in ihrer Wohnung das zusammen, was vor dem Müllcontainer gerettet werden musste. Dabei rutschte mir ausgerechnet der Rahmen mit dem Theaterzettel der ‚Prinzessin der Nacht’ aus den Händen und fiel scheppernd zu Boden. Vorsichtig fischte ich den Zettel zwischen den Scherben hervor. Ich dachte an das kleine Orchester im Bauch meiner Großtante und las, was der Zettel versprach.


Versonnen wollte ich den Zettel schon weglegen, als ich bemerkte, dass die Rückseite ebenfalls beschrieben war. Warum hatte ich das nicht gleich gemerkt? Dabei begann der Text sogar mit einer recht groß gedruckten Null. Vielleicht war es aber auch ein O.

 

Wer war genervt? Ich kapierte nichts. Was war das für ein Text? Und warum brach er am Ende der Seite mitten im Satz ab? Merkwürdig ...

Wo war denn der Premierenhinweis geblieben? Dort, wo ich eben noch die Rollen und die Besetzung studiert hatte, stand jetzt ein ganz anderer Text. Under führte die auf der Rückseite begonnene Erzählung fort. Das konnte doch gar nicht sein! Immer wieder wendete ich den Zettel. Und jedes Mal ging der seltsame Text weiter. Es war unglaublich. Ich musste lachen, so grotesk kam mir die Situation vor. Es konnte nur Einbildung sein. Ich schloss die Augen, wartete einige Sekunden und öffnete sie wieder. Noch einmal drehte ich den Zettel um. Es blieb dabei: Er erzählte eine Geschichte.

Nirgendwo sonst hätte ich so etwas für möglich gehalten. Nur in der Wohnung von Großtante Lulu, die zu jedem Biedermeiersessel und zu allen Rokkokofiguren ein Geheimnis aus der Vergangenheit anzudeuten wusste, konnte ich dem glauben, was ich sah.

„Bloß erzählen darf ich das keinem“, murmelte ich vor mich hin. Dann drehte ich im Schein des gläsernen Lüsters den alten Theaterzettel um. Wieder und immer wieder. Und las:

1.

Skaia wusste, dass sie zu spät kommen würde. Die Stundenkugel an ihrer Halskette hatte sich schon feuerrot verfärbt. Als Skaia zu rennen begann, hüpfte die Kugel im Takt auf und ab, sprang ihr grell vor die Augen und schlug ihr hart auf die Brust. Genervt versuchte Skaia, das dumme Ding einzufangen. Doch das war schwierig im Laufen. Bis zur Eingangstür der Erziehungsanstalt bekam Skaia die Kugel nicht zu fassen, aber als sie die Treppen hinauf in den dritten Stock hetzte, hielt sie sie fest umschlossen in der linken Hand. In der rechten hing schwer die alte Tasche, vollgestopft mit Büchern, Heften, Stiften, Ordnern, einem Lineal, einem Zirkel, einer Rechenmaschine, einem Kompass, einem Diktiergerät, einem Lötkolben, einem Mikroskop mit drei Wechselobjektiven, 18 Tütchen mit Pflanzensamen und einer Brille, durch deren dunkelblaue Gläser man gefahrlos direkt in die Sonne blicken konnte. Garantiert würde sie im heutigen Unterricht nur einen Bruchteil all dieser Dinge benötigen, nur hatte Skaia keine Ahnung, welche davon.

Natürlich war ihr vor ein paar Tagen der neue Lehrmittelplan in die Hand gedrückt worden, und auf dem hatten die Erzieher alles ganz genau aufgelistet. Aber was nützte ihr der Zettel, wenn sie ihn in der morgendlichen Hektik nicht fand? Sie hatte sogar kräftig in den Spalt zwischen dem Fußboden und der schweren, alten Kleiderkiste gepustet und auf ein Flattergeräusch gehofft. Warum sollte der Zettel nicht versehentlich darunter gesegelt sein? Immerhin war dort schon einmal ein kompletter Bastelbogen des Weisheitstempels zum Vorschein gekommen. Diesmal aber wirbelte ihr nur Staub entgegen, sodass sie husten und sich die Augen reiben musste. Der Zettel blieb verschwunden. Also hatte Skaia kurzerhand so ziemlich alles eingepackt, was man als Mädchen an einer solterranischen Erziehungsanstalt brauchte.

Mit Schwung schlitterte sie die letzten Meter über den glatten Steinboden bis zur Tür des Klassenzimmers. Da gongte die Stundenkugel in ihrer Hand. Fast schien es Skaia, als sei sie noch lauter als sonst, um sogar durch die Finger hindurch deutlich vernehmbar zu sein. Schlagartig wich das Rot aus der Kugel und machte dem üblichen, milchig-trüben Weiß Platz. Skaia kam aus ihrer Rutschpartie gerade noch zum Stehen, da flog vor ihrer Nase die Tür auf.

Heraus trat ausgerechnet ihr Haupterzieher Klirr. Seine fettig glänzende Stirn warf sich gefährlich in Falten, und seine Augen quollen hinter den dicken Brillengläsern noch weiter aus dem Kopf. Hinter seinen beträchtlichen Ausmaßen drängte, zu Paaren geordnet, die ganze Klasse nach. Die beiden Kinder, die den Zug anführten, tuschelten miteinander, als sie Skaia erblickten. Klirrs Arm schnellte wie ein Schwert in die Luft und blieb dort stocksteif stehen. Augenblicklich verstummte jedes Getuschel. Und niemand drängelte. Klirr starrte Skaia an. Sie hasste das. Unter seinem Blick wurde sie klein und hässlich. Da knickten ihre langen, kräftigen Beine, mit denen sie so gut rennen und klettern konnte, beinahe ein. Die dunklen Locken schienen sich plötzlich widerborstig in die Kopfhaut zu krallen. Sie spürte es förmlich, wie ihre Wangen jede Farbe verloren, hohl in sich zusammenfielen und ihr Gesicht viel spitzer machten, als es war. Und das Strahlen in Skaias hellbraunen Augen zog sich zurück.

In Klirrs Blick lag ein ganzer Katalog anklagender Fragen und dazu passender Verurteilungen. Er hätte gar nicht seine schneidende Stimme erheben müssen, um Skaia zu maßregeln. Natürlich tat er es trotzdem. „Warum bist du schon wieder zu spät? Was willst du mit einer derart vollgestopften Tasche, obwohl nur Notizblock und Stifte verlangt waren? Hast du überhaupt eine Ahnung, was heute auf dem Erziehungsplan steht? Ich sehe, du hast den Ernst des Lebens noch immer nicht begriffen! Ich kann wohl wieder nicht befürworten, dass du in die nächsthöhere Klasse versetzt wirst! Ich werde einen Brief an deinen Bruder schreiben müssen!“

„Es ... es tut mir Leid!“, brachte Skaia nur heraus.

Klirr schnaufte so lautstark wie ein Stier kurz vor dem Angriff.

„Ich, äh, ... ich ... bin zu spät aufgewacht. Weil ... meine Kugel manchmal nicht richtig funktioniert“, fiel Skaia noch ein, aber sie hatte wenig Hoffnung, dass sich Klirr mit diesem Gestammel zufrieden geben würde.

Hinter ihm prustete ein Kind, hielt sich aber schnell die Hand vor den Mund.

Klirr schnaufte. Schüttelte den Kopf und griff mit spitzen Fingern nach der Stundenkugel, zog an der Kette und beugte sich zu Skaia hinunter. „Bist du dumm!“, las sie in seinen Augen. „Ausreden, immer nur Ausreden, du hast nichts gelernt!“ Mit einem Mal ließ Klirr die Kugel los. Überrascht stolperte Skaia nach hinten, während sich der Erzieher wieder zu seiner ganzen Größe aufrichtete. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Was für ein Glück du hast. Wie du ja sicher deinem Erziehungsplan entnommen hast, besuchen wir heute die Meister der Zeit. Sie werden zweifellos daran interessiert sein, deine Kugel genauestens unter die Lupe zu nehmen. Denn wenn sie nicht richtig funktionieren sollte, wäre sie die erste defekte in ganz Solterra!“ Dann warf Klirr seinen Schwertarm nach vorne, und augenblicklich zog er mit der ganzen Klassenkarawane an Skaia vorbei.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich hinten einzureihen. Dümmer hätte es kaum laufen können. Jetzt würde Klirr bei den ‚Meistern der Zeit’ ihre Ausrede aufs Peinlichste überprüfen lassen.

 

Das Haus, zu dem Klirr die Klasse führte, war nicht weit von der Erziehungsanstalt entfernt. Es lag, wie alle wichtigen Gebäude, in der Nähe des Burg- und Tempelbezirkes. Dennoch war es Skaia noch nie aufgefallen, denn es unterschied sich in nichts von den meisten anderen Häusern der Stadt. Es war der übliche weiße Würfel mit den üblichen drei Stockwerken und einem rot schimmernden Dach, gebaut im üblichen Abstand zu den benachbarten Würfeln, ein x-beliebiger Punkt im immer gleichen Raster der Stadt. Neben der Eingangstür war die Hausnummer in die Mauer gestanzt. ‚1791’ stand dort, und jedes Kind konnte daran ablesen, wo es sich befand: im ersten Bezirk, auf dem siebten Strahl, vor dem 91. Haus. Die ganze Stadt gruppierte sich um den Burg- und Tempelbezirk herum. Die zwölf Strahlen, die von dort aus sternförmig in alle Richtungen liefen, waren die Hauptverkehrswege.

Klirr nannte sie auch ‚Adern der Tugenden’. Mit ihrer schönen Symbolik durchzögen sie die ganze Stadt und erinnerten ihre Bewohner immer an das Wesentliche.

 

Als Skaia einmal nachgefragt hatte, was das bedeuten solle, hatte er seinen grässlichen Blick auf sie gesenkt und ihr entgegengezischt: „Haben dir denn deine Eltern gar nichts beigebracht? Nicht einmal das! Und dein Bruder ist nicht besser! Ich werde ihm einen Brief schreiben müssen!“ Seine Stimme schien er nur mühsam bändigen zu können. „Die zwölf Strahlen und ihre Bedeutung! Die Säulen unserer Gesellschaft!! Unverzichtbar!!!“ Dann schnellte sein Arm mit ausgefahrenem Zeigefinger auf Skaias Banknachbarn Kygo zu. „Aufzählen! Erstens, zweitens, drittens ...!! Los!!!“

Kygo, der nicht der Hellste, aber einer der Umgänglichsten in der Klasse war, versank fast unter der Tischplatte. Vor Klirrs Zeigefinger ging er in Deckung, bis nur noch sein Gesicht zu sehen war ― das allerdings deutlich. Kygo leuchtete so sehr, dass man ihn als Warnlampe vor jede Gefahrenquelle hätte stellen können ― vor furchtbare Erzieher zum Beispiel, dachte sich Skaia. Mit dünner Stimme begann Kygo seine Aufzählung: „Die Eins, das ist der Wille, denn der bringt ..., der bringt dich ...“

„Voran! Voran bringt er dich!“, keifte Klirr.

Kygos Miene hellte sich auf. Er schien sich zu erinnern.

„Die Zwei, die mäßigt dich dann und wann!“, sagte er schnell.

„Nein, nein, nein!“ Klirr sprang kreischend vor Kygo herum. Dann rief er im Staccato kreuz und quer Mädchen und Jungen auf. Niemand konnte die Merkverse fehlerfrei aufsagen. Damit war der Rest des Tages gelaufen. In den nächsten Stunden wurde auswendig gelernt, welcher Strahl für welche Tugend stand und wie das in Reimform zu klingen habe.

Als sich die Stundenkugeln allmählich rot färbten und so das nahende Ende des Unterrichts ankündigten, forderte Klirr die Klasse unerbittlich auf, das lange Gedicht noch einmal laut und deutlich „und vor allem völlig korrekt“ aufzusagen. Skaia war offenbar nicht die einzige, die von den dauernden Wiederholungen schon ganz belämmert im Kopf war. Die meisten ihrer Mitschüler verzogen die Mundwinkel oder rollten mit den Augen, sofern sie sicher waren, dass Klirr nicht gerade zu ihnen sah. Klirr schwang seinen gefürchteten Arm wie einen monströsen Dirigentenstock. Er gab den Einsatz, und die ganze Klasse plärrte:

 

„Die Eins ist der Wille,

er bringt dich voran,

die Zwei ist die Klarsicht,

sie mäßigt dich dann,

die Drei fordert ständiges

Lernen von dir,

‚Und das mit Geduld’,

rät weise die Vier,

zum Glauben an dich

sei die Fünf deine Wahl ...“

 

Über diese Zeile stolperte Kygo. Skaia hätte schwören können, dass er gesagt hatte: „... sei die Fünf deine Qual“, dabei kam die „Qual“ erst bei der „Sechs“. Aber gut, Kygo murmelte sowieso so leise, dass ihn außer Skaia niemand verstand.

 

„... doch ohne die planende

Sechs wird’s zur Qual,

den Ausgleich, den lobet

dir wissend die Sieben,

die Acht mahnet alle,

das Schweigen zu lieben,

Gerechtigkeit möchte

die Neun von dir seh’n,

‚Sei standhaft!’,

so lautet das Motto der Zehn,

‚Erforschen, erfinden!’,

ruft da noch die Elf,

und allen zu Hilfe

kommt immer die Zwölf.“

 

Kaum war das letzte Wort im Klassenraum verhallt, gongten die Stundenkugeln. Die Kinder schlugen erleichtert die Hefte zu und freuten sich, das Gedicht über die Tugenden zwischen Büchern, Ordnern und Stiften in den Taschen verschwinden lassen zu können.

Klirr rief ihnen ein markiges „Das wird wieder abgefragt!“ zu. Dann rauschte er nach draußen.

Während die ersten Kinder an Skaias Bank vorbeigingen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, bemühte sie sich, Kygo aufzumuntern. Er hatte immer noch rote Flecken im Gesicht. „Ist doch gut gelaufen. Klirr hat deinen Fehler gar nicht bemerkt.“ Verschwörerisch zwinkerte sie Kygo zu. Aber der drehte sich weg und räumte seine Hefte in die Tasche.

„Habe ich was Falsches gesagt?“, fragte Skaia verwundert. Er antwortete nicht. Da griff sie nach seiner Schulter.

Zornig drehte sich Kygo wieder zu ihr um. „Genau, Skaia, du hast etwas Falsches gesagt. Du hast nämlich gefragt, was Klirr mit diesen doofen ‚Adern der Tugenden’ meinte. Nur deswegen hat er mit diesen blöden Merkversen angefangen. Und weil ich Idiot ausgerechnet neben dir sitzen muss, hat es mich erwischt. Du musst nicht die spielen, die alles ganz genau wissen will. Sag einfach mal gar nichts, Skaia!“ Mit hochrotem Kopf wandte sich Kygo ab und rannte aus dem Klassenraum. Skaia blieb verdutzt zurück.

Seitdem war das Verhältnis zwischen Kygo und ihr gespannt.

 

„Wenn Sie bitte so freundlich sein mögen, mir Ihre persönliche Kennnummer zu nennen“, flötete der Portiersrobold, der die Klasse im Eingangsbereich des Hauses der Zeit empfing. Sein Lautsprecherschlitz verzog sich trotz der freundlichen Worte kein bisschen zu einem Lächeln, und seine Kameraaugen schwenkten gleichgültig über die Kinderschar hinweg, bis sie auf Klirr scharf stellten. Gleichzeitig sprang an seinem stahlblauen Brustkorb eine Klappe auf und offenbarte ein Tastenfeld.

„00-08-15-666-17-4“ gab Klirr zackig zu Protokoll und setzte hinzu: „Ich bin Haupterzieher und mit meiner Klasse angemeldet!“ Dann winkte er den Kindern, ihm zu folgen und tat einen entschlossenen Schritt am Robold vorbei. Weit kam er nicht.

Obwohl der Maschinenmann noch damit beschäftigt war, mit der einen Hand die letzten Ziffern in seine Brust zu tippen, griff er mit der anderen eisern zu. Die Metallglieder knackten, als sie Klirr stoppten. Sie schnappten so plötzlich nach dem Arm des Erziehers, dass dieser das Gleichgewicht verlor und stürzte. Noch bevor Klirr erschrocken aufschrie, piepste es aus der Brusttastatur. „Vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft“, säuselte der mechanische Portier nach unten. „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Nummer anerkannt wurde. Liebend gerne begleite ich Sie ins Innere des Hauses der Zeit!“

Klirr warf seinen schlimmsten verfügbaren Blick auf den Robold. Er war eindeutig nicht begeistert von dieser Begleitung. Der Robold machte keinerlei Anstalten, ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. So rappelte Klirr sich alleine hoch und klopfte den Staub aus seinem grauen Anzug.

„Wenn Sie gütigst mitkommen möchten“, bat der Robold und ging voran.

Mit Bittermiene und in vorsichtigem Abstand folgte Klirr, hinter sich die feixenden Schüler. Skaia hatte sich schon öfter gewundert, wie geschmeidig sich die Robolde inzwischen bewegten. Fast wie Menschen. Allerdings schepperten sie bei jedem Schritt, den sie machten.

Der Robold führte sie durch einen blendend weißen, schmalen Gang. Alle paar Meter war links oder rechts eine ebenso weiße, schlichte Tür. Auf den meisten dieser Türen stand in Rot geschrieben: „Kein Eingang!“ Auf den anderen hieß es: „Kein Ausgang!“ Die Türen hörten auch nicht auf, als der Gang eine nicht enden wollende Kurve machte. Auf einmal stockte der ganze Zug. Skaia stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der anderen Kinder blicken zu können. Doch sie sah nur eine Wand direkt vor dem Robold. Sie wunderte sich noch, dass ausgerechnet darauf groß „Eingang“ stand, aber da glitt die Wand sanft zur Seite und entpuppte sich als Schiebetür.

„Herzlich willkommen im Zentrum der Zeit“, sagte der Robold und ließ Klirr und die Klasse an sich vorbeiziehen in eine mächtige Halle voller Maschinen. Die Schiebetür schloss sich. Der Robold war draußen im Gang geblieben. Wahrscheinlich eilte er sogar schon zurück, um auch den nächsten Besuchern mit erbarmungsloser Freundlichkeit entgegenzutreten.

„Und jetzt“, hob Klirr deutlich erleichtert an, „werden wir Skaias Stundenkugel untersuchen lassen.“

Skaia machte sich auf das Schlimmste gefasst.

„Dabei werden wir viel lernen.“ Klirr holte hörbar Luft, um zu einer ersten, vermutlich weitausgreifenden Lektion in Zeitkunde anzusetzen. „Denn ihr müsst wissen, die Stunden, Minuten, Sekunden, die uns das Schicksal ...“

„Was man halt so Schicksal nennt, ja“, unterbrach ihn da eine Stimme, die so kratzig und widerborstig klang, als sei sie ein Dutzend Mal über ein Reibeisen geschrappt worden. Sie war so unerfreulich wie acht haarige Spinnenbeine, die auf der Ohrmuschel Tango tanzen.

Klirr fuhr herum. Zwar hatten einige der Kinder längst bemerkt, dass ein seltsames Paar aus den Tiefen der Halle auf sie zu gekommen war, aber natürlich hatten sie Klirr nicht darauf aufmerksam gemacht. Keiner wagte es ungestraft, ihn bei seinen Erläuterungen zu unterbrechen.

Noch nie hatte Skaia zwei derart unterschiedliche Menschen nebeneinander gesehen. Die Frau war hoch gewachsen. Sie trug eine imposante Steckfrisur und ein perfektes Lächeln zur Schau. Ihre Haut war makellos glatt. Der Mann mit der widerlichen Stimme war kaum größer als Skaia. Er steckte in einem überlangen weißen Kittel, der am Boden aufstieß und dabei jede Menge Falten warf. Wenn der Mann nicht gerade sprach, hing seine klumpige, raue Zunge aus dem leicht geöffneten Mund und rutschte unkontrolliert hin und her, vor und zurück. Auf dem Nasenhöcker wuchsen zwei dicke, graue Haare, und aus den Ohren, von denen eines verwegen abstand, quollen gleich ganze Büschel.

‚Der ist bestimmt schwerhörig’, flüsterte Skaia ihrer Mitschülerin Ana zu. Doch die stellte sich taub. Dafür drehte das Männchen seinen Kopf forschend zu Skaia herüber.

„Wir wollen nicht von Schicksal sprechen“, ergänzte die Begleiterin des Männchens sanft. „Besser von Chancen. Aber das können wir ja alles während unserer Besichtigungstour klären.“

Klirr schob mit einer Hand seine Brille auf die Stirn und neigte seinen Kopf der Frau entgegen. Fast stieß er mit der Nase an ihren weißen Kittel, der wie angegossen saß. Das Schildchen, das sie in Brusthöhe angesteckt hatte, schien das zu sein, was Klirr am meisten an ihr interessierte.

„MDZ“, entzifferte Klirr und folgerte: „Ah, ein Meister der Zeit!“

„Zwei Meister, zwei“, erwiderte die Frau und wies auf den Gnom neben sich.

„Einer allein könnte die ganze Zeit gar nicht meistern, ja“, gab der seinen Kommentar dazu ab. „Also los!“, kommandierte er und eilte auf eine der grasgrünen Maschinen zu, die überall in der Halle lärmten. Bei jedem Schritt verfing er sich in seinem Kittel, stolperte, aber stürzte doch nicht.

Die erste Maschine war scheinbar nichts weiter als ein großer, massiver Kasten. Doch seine Rückseite zierten zahlreiche Schlitze, die mit Nummern und Buchstabenkombinationen gekennzeichnet waren. Ein Techniker schob runde, beige Plättchen in diese Schlitze. Der Gnom nickte ihm kurz zu, bevor er erklärte: „Hier kommen die Daten rein, ja. Von allen. Auch die von euch sind hier durchgelaufen, ja“, krächzte er und sah in die Runde.

„Können Sie das einmal genauer ...“

„Aber sicher“, unterbrach die Meisterin Klirrs Einwurf. „Von allen Kindern, die in Solterra zur Welt kommen, werden ihre besonderen Begabungen, ihre Schwächen und vor allem ihre Charaktere erfasst. Und mit diesen Angaben wird der Computer gefüttert.“

„Und das ist nicht immer eine leckere Mahlzeit, ja“, knörzte der Gnom.

Skaia glaubte gern, dass dem Computer manchmal furchtbar schlecht wurde. Zum Beispiel, wenn er Daten von Leuten zum Abendbrot serviert bekam, die so unappetitlich waren wie dieser Wicht.

Ein Schlauch, der aus der Datenfressmaschine kam, leitete eine farblose Flüssigkeit in einen riesigen grünen Trog. Dort war eine ganze Armee von Greifarmen damit beschäftigt, kleine, gläserne Scheiben in die Flüssigkeit zu tunken, sie blitzschnell wieder herauszuziehen und auf eines der vielen Fließbänder zu legen, die in alle Richtungen der Halle führten.

Klirr nickte wissend. „Und das ist“, begann er.

„Die Kompatibilitätsanlage, natürlich“, ergänzte die Meisterin. „Ihr seht hier, wie die Datenbündel den Anforderungen der wichtigsten Berufe in unserem Land zugeordnet werden.“

„Erzieher hauptsächlich, ja“, mischte sich der Gnom ein und schielte mit schiefem Maul zu Klirr hoch.

Wenn das ein Lächeln gewesen sein sollte, dachte sich Skaia, dann gönnte sie es Klirr von ganzem Herzen.

„Denker aller Art, natürlich, Verwalter, Schlafforscher. Das wisst ihr ja alles selbst“, konkretisierte die Meisterin.

Am Ende jedes Fließbandes fielen die Scheiben auf eine Leuchtfläche. Licht durchdrang sie, an manchen Stellen mehr, an manchen Stellen weniger. Dann begann es von oben zu tropfen.

„Da regnet es Zeit! Ohne Ende, ja“, knarzte der Gnom, und die Meisterin erklärte: „Jeder Solterraner erhält genau die seinen Talenten angemessene Zeit zugeteilt. Soundso viele Stunden für Lernen, soundso viele für Basteln und Bauen, für gedanklichen Austausch, Auseinandersetzung mit sich selbst und was es alles an sinnvollem Zeitvertreib gibt.“

Als sich die gerade vollgetröpfelte Scheibe zu einer Kugel krümmte, die nur noch ein winziges Loch oben offen ließ, ging durch die Reihen der Kinder ein Raunen. Ana flüsterte ergriffen: „So entstehen also die Stundenkugeln ...“

„Wieder was gelernt, ja“, kommentierte der Gnom. „Und da hinten wird dann das Gonggebräu zugesetzt, ja.“ Der Kauz zeigte auf einen überdimensionalen Bottich, in dem eine rote Pampe schwamm. „Kennt ja jeder. Wenn’s rot wird, gongt’s, und dann geht’s weiter mit dem Leben, zack zack, nur nicht trödeln. Man hat ja nicht ewig Zeit, ja.“

Skaia hatte das nervige Rot in ihrer Kugel noch nie leiden können. Und hier gab es gleich einen ganzen Bottich davon. Angenehm fand sie dieses Haus der Zeit nicht. „Noch so ’ne Brühe“, murmelte sie trübsinnig, als die Gruppe über eine Brücke gelotst wurde, unter der ein braunes, schäumendes Nass gurgelte.

„Richtig erkannt, ja“, plärrte das hässliche Männchen über alle Köpfe hinweg Skaia zu. So zu gewuchert seine Ohren auch waren, offenbar hörte es jede Bemerkung. „Das ist Abschaum. Unnötige Minuten, Zeit, die heutzutage keiner mehr hat.“

Die Klasse war auf der Brücke stehen geblieben und sah fragend auf die beiden Meister der Zeit.

„Jeden Tag ein paar Minuten sparen, das ist immer drin! Wer muss schon in den Himmel schauen, wenn er nicht gerade Wettervorhersager ist, wer muss an einem Kanal entlanggehen, wenn er nicht die Fahrrinnentiefe für die Schnelllastboote auszumessen hat, und wer muss sich sinnlos mit seinen Geschwistern streiten? Niemand! Dafür gibt’s keine einzige Minute mehr bei den neuen Stundenkugelmodellen. So gelingt es uns, immer effektiv zu bleiben!“ Es war nicht zu überhören, wie stolz die Meisterin auf diese Entschlackungstat war.

Begeistert begann Klirr zu klatschen. Kygo, Ana und die meisten der anderen Kinder fielen in den Applaus ein.

Und dann kam, was kommen musste. Klirr legte den Kopf schief und erkundigte sich treuherzig bei der Meisterin: „Ist es denn möglich, dass eine Ihrer Stundenkugeln nicht richtig funktioniert?“ Bevor diese noch antworten konnte, hastete er auf Skaia zu und riss an ihrer Kugel. „Das Mädchen“, fuhr er fort und blickte Skaia scheinheilig bedauernd an, „hat ein Problem damit! Es ist nicht rechtzeitig aufgewacht, weil die Kugel versagt hat.“

„Bist du mit gutem Schlaf gesegnet, ja?“, wollte der Gnom wissen.

Doch Skaia konnte gar nicht antworten, denn schon rief Klirr, und seine Stimme verstieg sich in schrille Höhen: „Wollen Sie das nicht untersuchen?“

„Seltsam ist das“, gab die Meisterin nachdenklich zu.

„Wenn nicht gar komisch, ja.“

„Gibst du mir die Kugel, mein Mädchen?“ Die Meisterin streckte ihre Hand mit den schlanken, zarten Fingern nach Skaia aus.

„Natürlich“, rief Klirr und zerrte an Skaias Kette. Sie verfing sich in ihren Haaren. Skaia schrie auf und versuchte, die Kette zu fassen. Aber Klirr war schneller, zog ihr die Kette samt Kugel über den Kopf und präsentierte sie der Meisterin. Skaia wusste nicht, ob sie heulend davonlaufen oder lieber Klirr mit aller Kraft gegen das Schienbein treten sollte. Sie tat weder das eine noch das andere. Sie stand nur stumm da und ertrug die ebenso hämischen wie erwartungsvollen Blicke ihrer Mitschüler.

Die Meisterin hob Skaias Kugel hoch und hielt sie prüfend vors Auge. Die milchige Flüssigkeit suppte wie gewöhnlich mit trägen Schlieren darin herum.

„Sieht gut aus“, urteilte die Meisterin. Trotzdem reichte sie die Kugel an den Gnom weiter. Der griff danach, als könne er es kaum erwarten, das Ding gründlichst zu untersuchen. Aber natürlich würde dabei nichts herauskommen ― außer Klirrs Triumph, Skaia als Lügnerin überführt zu haben. Und was war in Solterra schlimmer als die Unwahrheit? Mit Inbrunst schüttelte der Gnom die Kugel erst vor seinem rechten, dann vor seinem linken Ohr. „Hm, hm, hm, hm ..., ja“, grummelte er und blickte kritisch drein. Dann führte er die Kugel an seinen Mund und begann zu röcheln. Angeekelt musste Skaia mit ansehen, wie er ihre Kugel mehr anhustete als anhauchte. Doch das Glas beschlug nicht. Stattdessen war zu sehen, wie die Flüssigkeit im Inneren wild umherwirbelte. Als sie sich wieder beruhigt hatte, ähnelte sie einer gelben, durchsichtigen Vitaminbrause. Und in ihr torkelten jede Menge schwarzer Zahlen und Buchstaben. Einzelne von ihnen schwammen in rascher Folge nach vorne an die Glaswand und glitten gut lesbar vorbei. Beide Meister der Zeit starrten auf das Zeichengestöber. Der Gnom stöhnte: „Ach, die! Hätte ich mir denken können. Himmel, war das furchtbar damals mit ihrer Kugel, ja.“ Er schaute fast vorwurfsvoll zu Skaia. „Ich bin ja auch nur ein einfacher Mann. Immer müssen wir alles richtig machen. Richtig, ja“, schnauzte er sie an.

Auch die Meisterin konnte ihren Schreck schlecht verbergen: Aus ihrem Gesicht verschwand die dezente Bräune, und ihr verbindliches Lächeln gefror.

„Da“, krähte der Gnom und drückte Skaia ruppig die Kugel in die Hand, „alles in Ordnung.“

Bevor ihn Skaia verunsichert fragen konnte, was seine Bemerkungen zu bedeuten hätten, schaltete sich Klirr ein. „Und sie“, deutete er mit zitterndem Zeigefinger auf Skaia, „hat behauptet, die Kugel sei nicht in Ordnung.“

„Na, dann ist sie es eben nicht, ja“, rief der Gnom erregt.

Klirr starrte ihn verblüfft an. „Aber, wie ...“, stammelte er.

Doch die Meister der Zeit achteten nicht auf ihn. „Aus! Die Führung ist zu Ende, ja“, schnappte der Gnom. Und die Meisterin, die ihre Fassung allmählich wiederfand, räusperte sich, um einigermaßen überzeugend zu klingen. „Wir bedanken uns für euer Interesse. Und merkt euch immer eines: Die Zeit ist dein Freund. Sie will dir nichts Böses. Nimm’s, wie sie kommt, nutz‘, was sie bringt! Mit der Zeit wird alles gut.“ Ihr Blick wanderte über die Kinder. Am Ende blieb er an Skaia hängen. „Geh’ mit der Zeit!“

„Wohin auch immer, ja“, meckerte der Gnom und schob die Klasse samt Klirr durch eine Tür, auf der „Kein Ausgang“ stand. Kaum waren die Kinder und ihr Erzieher draußen, fiel sie hart ins Schloss.

2.

 

Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, und wenn sie sich noch so bemühte. Skaias Augen schweiften zwar über den Text, aber er kam nur bruchstückhaft in ihrem Hirn an. „Geschichte der Zeit“ hieß der dicke Wälzer, den ihr Klirr für die Hausaufgaben zugeteilt hatte. Wie sollte sie das denn alles zusammenfassen? Den anderen Kindern hatte Klirr beim Marsch durch die Anstaltsbibliothek dünne Bücher und Bildbände zugeworfen. In dem Werk, das vor Skaia lag, gab es fast nur Text. Ein einziges Foto fand sie. Und das zeigte auch noch den Meister der Zeit, dem ein Orden ans Revers seines wallenden, dunklen Anzugs gesteckt wurde. Schiefäugig dreinblickend, hatte er seine Zunge im rechten Mundwinkel hängen, während er den linken nach oben zog. Das war wahrscheinlich der beglückteste Gesichtsausdruck, den der Mann zustande brachte. Unter dem Bild hieß es: „Anlässlich des 150. Gründungstages des Hauses der Zeit ehrten die Eingeweihten die derzeitigen MDZ mit der Verleihung des Sonnenordens siebter Klasse für ihre Verdienste.“ Das Kapitel, das mit dem Bild eingeleitet wurde, pries denn auch die großartigen Fortschritte, die die Stundenkugeln gebracht hatten. Keiner musste mehr überlegen, wann er was als nächstes zu tun hatte. Klare Tagesabläufe und das rechtzeitige Gongen der Kugel machten das Leben in Solterra viel nutzbringender. Und weil die Kugeln mit den Daten ihrer Träger gespeist waren, ließen sie jedem genau die Zeit, die er für seine Aufgaben brauchte. Wer sich schwer tat, Lehrstoff zu wiederholen, bekam automatisch mehr Zeit für die Hausaufgaben. Freilich wurde ihm selbige dann bei den Erholungsphasen abgezwackt.

Skaia betrachtete das Bild von der Ordensverleihung und fragte sich, wie man diesen Kauz so ehrenvoll auszeichnen konnte. Schließlich hatte er nicht einmal sagen können, ob Skaias Stundenkugel funktionierte oder nicht. Zu blöd war das. Die Kugel schimmerte rötlich, obwohl Skaia noch nicht einmal eine Seite über die Geschichte der Zeit niedergeschrieben hatte. Und was war an den Zeichen, die in ihrer Kugel herumschwammen, so aufregend gewesen, dass die Zeitmeister derart aus dem Häuschen geraten waren? Insgeheim hatte Skaia zwar immer das Gefühl gehabt, dass sie anders war als die anderen, etwas Besonderes, aber auf Gefühle sollte man ja nichts geben. Sie halfen nicht weiter, das hatte Skaia tausendmal gehört. In Wirklichkeit stellte sie höchstens für ihren Bruder Aldoro etwas Besonderes dar. Seit beide Eltern vor einigen Jahren gestorben waren, hatten die Geschwister nur noch einander. Es musste zwar noch weitläufige Verwandtschaft mütterlicherseits geben, aber die Eltern hatten sich stets geweigert, darüber zu sprechen.

Jäh wurde Skaia aus ihren Überlegungen gerissen. Die Stundenkugel gongte. Ungläubig sah Skaia zu, wie sich ihr Feuerrot zurückverwandelte in blasses Weiß. O weh. Konnte sie ihren Text morgen so abgeben? Unzufrieden las Skaia die letzten Sätze. Dann musste sie grinsen. Klar konnte sie das. Sie musste ja nur sagen, dass ihre Kugel diesmal viel zu früh dran war. Und Klirr könnte nicht einmal etwas dagegen sagen. Beschwingt von ihrer guten Idee sprang Skaia auf und hüpfte in die Küche, wo Aldoro über einem dampfenden Topf hing und kritisch hineinsah.

„Wie möchten Madame heute Ihre Brechbohnen?“, fragte er und zog seine Augenbrauen nach oben. Sie verschwanden fast hinter den schwarzen Strähnen, die ihm keck ins Gesicht fielen.

„Madame möchten gar keine Bohnen. Haben wir nicht genug Bohnen gegessen?“

„Offenbar nicht, sonst würde uns die Ernährungsanstalt keine mehr zuteilen.“ Skaia sah ihn missmutig an. Aber was konnte er dafür, dass die zuständige Behörde Bohnen als hervorragendes Nahrungsmittel für jugendliche Solterraner einstufte? Auf den zurzeit täglich eintreffenden Dosen waren zu allem Überfluss auch noch ganze Lexikonartikel abgedruckt. Lückenlos klärten sie darüber auf, welche wertvollen Inhaltsstoffe sich in diesem Gemüse versteckten und worin sich Sau-, Puff-, Speck-, Busch-, Pflück-, Perl-, Plüsch-, Mungo-, Feuer― und Augenbohnen unterschieden.

Genießbar wurden die Bohnen nur dadurch, dass Aldoro jeden Tag andere Gewürze in den Kochtopf warf. Da er immerhin fünf Jahre älter war als Skaia, hatte er die Erziehungsanstalt schon verlassen dürfen, um eine Ausbildung bei der Ernährungsanstalt im Fachbereich ‚Gehalt und Geschmack’ anzutreten. Dort lernte er gerade, welche Bevölkerungsgruppen wann welche Kräuter und Gewürze zugeteilt bekamen. Als erstes hatte er sich und seiner Schwester so ziemlich alles von Anis bis Zimt zugeteilt. Seitdem probierte er aus. Pfefferminze auf Zitronensülze war eine hervorragende Idee, Ingwer in Käsesuppe gewöhnungsbedürftig. Ein paar Tage experimentierte er mit Lorbeerblättern, wurde damit aber nicht glücklich. Egal, wie klein er sie auch zerbröselte, immer piekten sie im Mund. Am Anfang der Bohnenphase hatte Aldoro noch auf Nummer sicher gehen wollen und einfach nur Bohnenkraut verwendet.

Da hatte ihn Skaia entsetzt angeblickt und geschrien: „Bist du verrückt? Dann schmecken die Bohnen ja noch mehr nach Bohnen!“

Seitdem tat er alles, um den verhassten Geschmack mit Gewürzen zu überdecken. „Wir haben heute eine Koriander-Kümmel-Knoblauch-Kreation“, klärte er Skaia auf, als er die dampfenden Teller auf den Tisch stellte. Dann setzte er sich zu ihr und wollte wissen: „Hast du es heute Morgen noch rechtzeitig geschafft?“

Skaia schüttelte kauend den Kopf.

„Na prima”, seufzte Aldoro, “dann bekomme ich wieder einen Brief von Klirr?“

Skaia nickte.

„Glaubst du nicht, dass wir bereits genug davon haben?“ Schwungvoll drehte sich Aldoro auf seinem Hocker herum. In der engen Küche war es gar kein Problem, im Sitzen eine der Schubladen der Anrichte aufzuziehen. Aldoro holte einen ganzen Packen Briefe heraus, ließ ihn auf den Tisch fallen und sah Skaia fragend an. Dann aber meinte er kichernd: „Du solltest nur dann weitersammeln, wenn du vorhast, einen Wettbewerb zu gewinnen. Aber ich sage dir eines ...“ Aldoro wühlte nun mit beiden Händen in der Schublade. Dann warf er einen noch viel größeren Packen mit Briefen auf den Tisch. Sie waren noch an die Eltern adressiert und offensichtlich ebenfalls von Klirr. „Du hast einen kaum zu schlagenden Gegner vor dir sitzen! Also, überleg’ dir genau, was du tust.“ Dann wuschelte er Skaia durch die Haare. „Und jetzt schnell. Wir müssen noch deinen Lehrmittelplan suchen.“

 

Seltsamerweise dauerte es keine zehn Minuten, und der verschollene Zettel war aufgetaucht. Skaia hatte ihn gefaltet in das Kreaturenkundebuch gesteckt, als Lesezeichen bei den Tracheentieren, Unterklasse Myriapoda, Tausendfüßler, wo sie im Unterricht gerade angekommen waren.

„So, dann bis morgen. Schlaf gut!“

„Schlaf auch gut!“, antwortete Skaia und war froh, als ihr großer Bruder die Tür zu ihrem Zimmer schloss, um sich selber zu Bett zu begeben. Tatsächlich musste sie nicht lange warten, bis seine Stiefel im Zimmer nebenan auf den Kunststoffboden polterten. Wie immer hatte er sie nur unter Geächz und Gestöhn von den Füßen streifen können. Zugegeben hätte es Aldoro natürlich nie, dass sie zu eng saßen und dauernd drückten, denn sie hatten ihrem Vater gehört und Aldoro hielt sie hoch in Ehren.

 

Skaia saß eine Weile auf dem Bett, bevor sie mit dem Zählen begann: „Eins ... zwei ... drei ...“ All ihre Lebensjahre langsam hintereinander aufgesagt ― das würde reichen. Immerhin waren es seit knapp einer Woche schon 13. In den Pausen, die sie einlegte, flog ihr Blick durchs Zimmer: über die Wände zu den Bildern eines Tapirs und eines Grottenolms, die sie selbst gemalt hatte, zu den getrockneten Blättern und Blütenkelchen, die als Mobile unter der Decke schwebten, zum Regal mit einem Schädel des angeblich ausgestorbenen Bonsai-Quaggas, zur Kleidertruhe, in der ihr Pyjama lag, zum Fenster, das die letzten Sonnenstrahlen des vergehenden Tages hereinließ, zur Tür, die manchmal knarzte. Da würde sie aufpassen müssen. Nach der „Sieben“ wusste sie nicht, wohin sie noch schauen sollte, nach der „Acht“ trommelten ihre Finger auf den Knien. „Neun.“ Skaia wollte nicht länger warten: „zehn, elf, zwölf ― und 13!“ Sie lauschte. Kein Geräusch von nebenan. Rasch sprang sie vom Bett, schlüpfte in ihre Jacke und schnürte die Schuhe zu. In der Diele tapste sie vorsichtig am Zimmer des Bruders vorbei. Sanft zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Den Hausflur entlang, der im spärlichen Abendlicht weniger aufgeheizt wirkte als sonst, um die Ecke und ― „SCHSCHSCHZZZSCHSCHSCHZZZ“ ― Skaia zuckte zurück.

Der Hausrobold zischelte wischend und desinfizierend an ihr vorbei Richtung Ebene B. Er stammte aus einer der frühen Baureihen und machte wegen allerlei klappernder Schrauben und quietschender Scharniere eigentlich viel zu viel Lärm, um seine Aufgaben ausgerechnet dann zu erledigen, wenn sich die Bewohner schlafen gelegt hatten. Vor Skaias Augen tanzten Staubkörnchen, die der Maschinenmann aufgewirbelt hatte. Sie glitzerten im Licht, das durch die breite, gläserne Eingangshalle fiel. Draußen stand die Sonne schon tief. Viel Zeit blieb Skaia nicht mehr.

 

Die Gebäude hatten ihr reines Weiß verloren und schimmerten rötlich. Hart warfen sie ihre Schatten auf die Straße, die zum mächtigen Komplex der Erziehungsanstalt führte. Skaia schlug die entgegengesetzte Richtung ein: zum nächstgelegenen Sonnenmast. Er ragte weit über die Häuser hinaus. Denn auf seine Spitze durfte nie Schatten fallen. Nur so konnte er das Stadtviertel mit der nötigen Energie versorgen. Bei ihrem ersten Aufstieg vor ein paar Jahren hatte Skaia lange vor der Eisenkette gestanden, die quer über die unterste Leiter gespannt war. In ihrer Mitte gab ein Blechschild mit der Aufschrift „Nº 030 ― Ring 12, Bezirk 63, Nord-Ost/Mitte-Links“ die amtliche Bezeichnung des Masts bekannt. Außerdem warnte das Bild eines zuckenden Blitzes vor dem Besteigen. Ehrfürchtig hatte Skaia damals Sprosse um Sprosse erklommen. Das Klettern war mühsam gewesen, denn die Leiter war für ausgewachsene Männer gemacht, aber nicht für Mädchen, die noch die Erziehungsanstalt besuchten.

Doch inzwischen legte Skaia ein geübtes Tempo an den Tag. Vorbei an Plattform 1, auf der das Transformatorenhäuschen brummte, weiter hinauf, begleitet von den grauen Schläuchen, die sich entlang des Masts zur Spitze wanden, um schließlich im Lichttrichter zu verschwinden. Dort war zwar wenig Platz zum Hinsetzen, aber da Skaia die Beine unter dem Geländer hindurch schieben und sie baumeln lassen konnte, fand sie es fast bequem. Hier war sie weit weg vom Alltag. Kein vernünftiger Mensch stieg auf die Sonnenmasten, außer er war als Energator zuständig für das reibungslose Einsaugen und Verdauen der Sonnenstrahlen. Wer brauchte schon diesen Blick über die Stadt? Die Verwalter nicht, denn sie konnten alles Wissenswerte aus ihren Aktenstößen herauslesen. Die Erfindungsbeauftragten nicht, denn sie stierten lieber in ihre Rechenmaschinen. Und all die Erzieher, die es gab, wussten auch so, was es von oben herab zu sehen gäbe: die geraden Straßen und soliden Bauten von Sol, der Hauptstadt Solterras, dem Land des immer währenden Lichts.

Rechterhand konnte Skaia gerade noch das Zentrum erkennen: die drei Tempel der Eingeweihten, daneben die Burg des Guten Herrschers. Mehr als die Außenmauern sahen die meisten Solterraner ihr Leben lang nicht von der Burg, denn die Guten Herrscher führten ein zurückgezogenes Leben. Nur in Abgeschiedenheit und Stille wuchs ihre Weisheit, mit der sie, unterstützt von den Eingeweihten, das Land regierten. Obwohl es kein einziges Bild vom Burginneren gab, wusste Skaia ganz genau, dass es jedem noch so prächtigen Schloss alle Ehre gemacht hätte. In vielen Räumen ragten Säulen in die Höhe, die wie Palmen aussahen. Die Stämme waren aus braungesprenkeltem Marmor und die Blätter aus grünspanbedecktem Kupfer. Sie stützten die Decken, damit diese nicht auf die hübschen Springbrunnen und die vielen Statuen herunterfielen. Manche Figuren stellten Gelehrte dar, die mit zerfurchter Stirn in dicken Büchern lasen oder durch lange, dünne Rohre in den Himmel blickten. Man erkannte sie an den Mützen mit den vielen Zipfeln und den daran baumelnden Bommeln, die man Troddeln nannte. Andere Figuren waren nur teilweise menschlich. Einem halbnackten Mann, der mit ratlosem Blick auf seinem reich geschmückten Thron saß, wuchsen statt Haaren Sonnenstrahlen aus dem Kopf. Ein zweiter war komplett befiedert, und auf dem Rücken trug er einen leeren Vogelkäfig. Am beeindruckendsten freilich war die riesige, liegende Löwenfigur, die mit ihrem Menschenkopf weit in die Ferne blickte: eine Sphinx. Angeblich war sie älter als Solterra selbst ― wie auch immer das gehen sollte. Vom Sonnenmast aus konnte Skaia ihre Silhouette gut erkennen. In den Gärten der Burganlage gab es einen künstlichen See, und auf der Insel in seiner Mitte ruhte die Sphinx. Fast schien es Skaia, als ob sie auf etwas warte. Aber das war natürlich Unsinn! Worauf sollte ein steinernes Bildnis denn warten?

Vor Jahren war Skaia zum ersten Mal hier herauf geklettert, weil sie wissen wollte, ob die Geschichten stimmten, die sie erzählt bekam. Oft hatte sich ihre Mutter zu ihr ans Bett gesetzt, wenn Skaia nicht einschlafen konnte, und immer wieder begonnen: „Wie deine Urgroßmutter mir über die Burg des Guten Herrschers erzählte ...“ Was Skaia irgendwann aufhorchen ließ, war eine Bemerkung, die nebenbei fiel. „Wenn die Sonne auf die Krone des Osiris fiel“ ― das war die Figur auf dem Thron ―, „leuchtete sie dort beinahe überirdisch schön. Natürlich nur, wenn die Sklaven sie ordentlich poliert hatten.“ Sklaven? Wieso Sklaven? Wie konnte der Gute Herrscher gut sein, wenn er Sklaven hielt? Oder hatte er gar keine Sklaven, und die angeblichen Erinnerungen der Urgroßmutter waren nichts anderes als Märchen? Woher hatte sie die Verhältnisse in der Burg überhaupt so gut gekannt?

„Das kann ich dir nicht sagen“, hatte Skaias Mutter damals auf ihre erregten Fragen geantwortet. „So, für heute ist Schluss. Versuch jetzt zu schlafen!“ Als sie gegangen war, dachte Skaia lange nach. Dann schlüpfte sie in ihre Kleider und schlich hinaus. Sonst hatte sie sich immer geärgert, dass ihre Wohnung auf einer Erhebung lag und sie bergauf nach Hause laufen musste, aber jetzt erschien es ihr wie eine Fügung. Denn ein paar Straßen weiter stand der höchstgelegene Sonnenmast der Stadt. Als sie ihn keuchend erklommen hatte, konnte sie über die Burgfassaden in die Gärten blicken. Und das, was sie sah, machte sie froh. Tatsächlich lag da die Sphinx. Trotzdem, die Sache mit den Sklaven blieb rätselhaft, und Skaia war nicht sicher, ob sie den Erzählungen glauben sollte. Aber eines war seitdem klar: Sie würde immer wieder auf den Mast klettern.

 

Zu gern hätte Skaia ins Innere der Burg gespäht. Aber die Fenster waren verspiegelt, und die Türen und Tore öffneten sich nur, wenn der Gute Herrscher einen seiner seltenen Empfänge gab. Dann durften die klügsten Wissenschaftler Solterras zu ihm. Meistens hatten sie gerade Bahnbrechendes wie Hirnreizer und Gefühlsblocker erfunden oder viel versprechende Methoden gegen Schlaflosigkeit entwickelt. Skaia hingegen würde sich damit begnügen müssen, sich die unzähligen Raumfluchten und ihre üppige Ausstattung vorzustellen ― oder die riesige Küche, in der eine Schar von Köchen die leckersten Gerichte bereitete. Heute stand bestimmt auf der Speisekarte: „Alles außer Bohnen“.

Wenn sie den Kopf nach Norden wandte, konnte sie einen der wenigen Wege entdecken, die aus der Hauptstadt hinaus ins Land führten. Als befestigte Bahnen zogen sie durch die vertrocknete Gegend, die zwischen Sol und den Nachbarstädten lag. Selbst wenn man bis zu den nächsten Orten hätte sehen können, nach Solstätt, Solöd, Sollerbü und Solenkirchen-Solertsbrunn, wäre einem dort nichts Nennenswertes aufgefallen, denn sie alle waren nach dem Muster der Hauptstadt geplant und erbaut.

Drehte Skaia den Kopf noch weiter, sah sie nicht viel. Hinter dem Mast kamen nur noch die Häuser des höchstgelegenen Stadtteils und eine Mauer. Nicht einmal vom Sonnenmast aus konnte man dahinter blicken. Aber die Mauer besaß einen großen Vorteil. Sie gab den perfekten Horizont ab für die untergehende Sonne. Einen besseren Aussichtspunkt hatte Skaia noch nicht gefunden für das Spektakel, von dem sie magisch angezogen wurde: Die Sonne versank und stieg zugleich wieder auf. Kaum berührte sie im Westen als roter Ball den Boden, blitzte sie im Osten mit frischem Gelb daraus hervor. Hier sank sie satt und matt vom Wandern immer tiefer ein, dort machte sie sich gleich wieder auf in den Himmel. Zu beiden Seiten erstrahlte der Horizont, blendete mit buntem Farbenspiel, warf hier sein letztes, dort sein erstes Licht nach oben, schenkte den Wolken Kleider in rosa, orange, oft sogar lila. Die karge Natur Solterras schien Skaia zu diesem Zeitpunkt immer am lebendigsten. Fast meinte sie zu spüren, wie sich die Tiere und Pflanzen dem neuen Licht zuwandten. Vögel, die sich sonst verbargen, flogen über den Himmel. Und aus manchem Versteck hatte Skaia schon Mäuse, Füchse und Hasen hervorlugen sehen.

Die menschlichen Bewohner Solterras verschliefen das Schauspiel. Sie konnten darin nichts Besonderes entdecken. Für sie war es einfach der Zeitpunkt, an dem der alte Tag zu Ende ging und der neue erwachte. Der Sonnenunter-Sonnenaufgang war nicht mehr als das Naturphänomen, mit dem der ewige Ablauf Morgen-Vormittag-Mittag-Nachmittag-Abend stets endete und von neuem begann. Beobacht- und berechenbar in all seinen Spielarten, die er über den Jahreslauf hinweg bot. Im Sommer stieg die Sonne steil übers Firmament und traf abends beinahe senkrecht auf die Erde. Im Winter huschte sie als blasser Ball flach über das Land und ließ sich schließlich sanft von ihm verschlucken. In diesen Monaten waren die Tage viel kürzer, und Skaia fiel es leicht, lange wach zu bleiben. Da war sie oft noch gar nicht müde, wenn überall in der Stadt die Stundenkugeln gongten und Stille einkehrte, weil die Menschen versuchten, einige Zeit zu ruhen.

Wieder einmal konnte sich Skaia nicht entscheiden, ob sie lieber den Sonnenuntergang oder den Sonnenaufgang genießen wollte. Schließlich setzte sie sich so, dass sie aus den Augenwinkeln beides wahrnehmen konnte. Während sich die Sonne des vergehenden Tages gemächlich hinter die Mauer zurückzog, erwachte am anderen Ende der Stadt ein neuer Morgen. Skaia wandte sich ihm zu, doch bald musste sie vor lauter Helligkeit die Augen schließen. Über ihrem Kopf knackte der Lichttrichter. Er drehte sich der stärker werdenden Strahlung im Osten entgegen, und die Schläuche begannen aufgeregt zu zittern. Da gab es jetzt weit mehr Strahlen einzufangen als auf der Mauerseite. Wie viel war dort noch übrig vom leuchtenden Ball? Skaia blickte hinüber. Zu einem Drittel ragte die untergehende Sonne noch über die harte Steinkante, doch vor ihrem blutroten Licht war ein dunkler Fleck.

Skaia studierte die Umrisse, die an ein Tier erinnerten. Oben zwei spitze Ohren auf einem schmalen Kopf, darunter der schlanke, elegante Schatten des Rumpfes und ein unruhig zappelnder Schwanz. Ja, es war eindeutig ein Tier, und es spähte zu Skaia herüber. Oder blickte es nur in die aufgehende Sonne, die hinter Skaia immer stärker strahlte? So dunkel, wie das Tier zunächst gewirkt hatte, schien es gar nicht zu sein. Skaia kniff die Augen zusammen, um es deutlicher zu erkennen. Aber da stürzte es plötzlich mit jämmerlichem Geheul ab. Hinter die Mauer.

Es dauerte eine Schrecksekunde, bis sich Skaia auf die Leiter schwang. Dann aber nahm sie zwei Sprossen auf einmal, sprang den letzten Meter und rannte los. Die Straße war menschenleer. Stumm standen die Häuser in Reih und Glied. Die Beete der Gemeinschaftsgärten waren ordentlich abgedeckt ― bis Skaia hindurchrannte, um den Weg abzukürzen. Schon erhob sich vor ihr die Mauer. Dahinter hörte sie ein klägliches Wimmern. Das Tier hatte sich offenbar verletzt.

„Ich helfe dir!“, schrie Skaia. „Wenn ich nur wüsste, wie“, fügte sie leise hinzu.