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Elsebeth Egholm

Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi

 

Saga

PROLOG
ÅRHUS, OKTOBER 1997

Ohne Furcht vor finstrer Nacht,

geführt vom Sternenlicht,

mit Vater, dir, im treuen Pakt

fürchtet dein Kind sich nicht.

Es war ein gemischter Chor. Aus Brummern und Stimmen, die einen halben Ton daneben trafen; aus einem einzelnen, einigermaßen geschulten Sopran und zwei akzeptablen Altstimmen. Und denen, die wie üblich nur die Lippen bewegten.

Die Gemeinde drängte sich beim Singen um das Grab zusammen. Der Herbstwind peitschte den Regen von der Seite her in ihre Richtung und blies Jacken und Mäntel auf wie Ballons. Die wenigen Regenschirme, die die Umsichtigen mitgebracht hatten, troffen vor Nässe, während die anderen sich damit begnügen mussten, ihre Jackenkragen hochzuklappen und sich mit Taschentüchern das Wasser aus den Augen zu wischen.

Henning Nyborg schaute nach oben und ließ sich den Regen ins Gesicht prasseln. Bei jeder anderen Beisetzung hätte er sich über dieses Wetter geärgert und vielleicht hätte er unter seinem Pastorenkragen gefroren und sich nach seinem warmen Wohnzimmer und einer Tasse Kaffee gesehnt. Vielleicht hätte er sich sogar noch mehr auf den Ruhestand gefreut, den er in vierzehn Monaten antreten würde.

Doch an diesem Tag war alles anders. Es war kein Tag, an dem die Gedanken davonflogen. Es war ein trüber Tag, ein düsterer Tag, vor dem es kein Entrinnen gab. Er merkte, dass alle den Regen offenbar zu schätzen wussten. Als könnten dessen peitschende Schläge die Schuldgefühle davonschwemmen, die auf der ganzen Gemeinde lasteten.

Während des Liedes ließ er seinen Blick über die beiden Gruppen gleiten, die einander am Sarg gegenüberstanden. Die eine Gruppe bestand aus der Familie der Verstorbenen, Solveig Aastrand. Sie standen hocherhobenen Hauptes da, wenn auch mit vor Trauer versteinerten Gesichtern.

Verstohlen musterte er die drei Frauen auf der anderen Seite des offenen Grabes. Die Freundinnen.

Regennass und fröstelnd sangen sie, so gut sie konnten.

Sie mussten irgendwo in den Dreißigern sein, und er erkannte unter ihnen Pernille Gram, die er vor vielen Jahren im selben Jahr wie Solveig Aastrand hier in der Kirche von Tilst konfirmiert hatte.

Eine Stimme klang lauter und klarer als die anderen, eine verbissene Standhaftigkeit schien sie zu tragen und zu verhindern, dass sie im Weinen brach. Einen langen Moment ruhten seine Blicke auf der Besitzerin dieser Stimme. Sie war nicht sonderlich groß, und ihre Figur wäre manchen Männern vielleicht als zu kräftig erschienen, aber nach ihren sanften Kurven würden sich doch die meisten umschauen. Nach Kurven, die an diesem Tag unter einem wenig kleidsamen marineblauen Kostüm nur zu ahnen waren. Sie war eindeutig die Uneleganteste von den dreien, aber dennoch zog etwas an ihr die Blicke auf sich. Dunkle, ausdrucksvolle Augen unter kurzen, blonden Struwwelhaaren verliehen ihr eine intensive Ausstrahlung. Als der Choral beendet war, brach sie in ein leises Schluchzen aus. Ihre Nachbarin, die mit ihrem rätselhaften, ovalen Gesicht Ähnlichkeit mit einem Gemälde von Modigliani hatte, legte tröstend den Arm um sie. Diese Nachbarin war eine elegante Erscheinung. Mittelgroß und gertenschlank in ihrer langen, schwarzen Jacke und den schlichten, engen Hosen. Eine perfekt geschnittene Pagenfrisur gab ihr ein verfeinertes, fast orientalisches Aussehen.

Pernille Gram, die Dritte im Bunde, stand ein wenig von den beiden entfernt, so, als sei ihre langgliedrige Gestalt ihr peinlich. Auch damals, im Konfirmationsalter, hatte Pernille etwas Unbeholfenes, Giraffenhaftes gehabt, und auch an diesem Tag waren die kurze Jacke und der lange, enge Rock, der sie wie ein Rohr umschloss, ihr keine Hilfe. Selbst aus der Entfernung konnte er hinter ihrer Brille die geröteten Augen erkennen.

Pastor Nyborg seufzte unhörbar. Nicht zum ersten Mal in seinem langen Pastorenleben musste er eine Selbstmörderin begraben. Es bedeutete immer einen schmerzlichen Schock für ihn, aber noch nie hatte er sich so ohnmächtig gefühlt wie angesichts dieses einsamen Sarges und der vom Regen gepeitschten Blumen.

 

Die Feierlichkeiten endeten am Grab. Henning Nyborg schloss sich der Familie an und verabschiedete sich am Kirchentor. Ihm war aufgefallen, dass die drei Freundinnen noch immer am Grab verharrten, und er nahm an, dass sie erst jetzt vortreten und Blumen oder vielleicht irgendeine persönliche Erinnerung auf den Sargdeckel fallen lassen wollten.

Er selber ging in die Kirche und blieb eine Weile vor dem Altar stehen. Wie auf eine plötzliche Eingebung hin faltete er die Hände und murmelte ein Vaterunser. Er hörte ein leises Echo, das ihm die Worte zurückwarf: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Doch das Gefühl der Vergebung schien sich nicht wirklich einstellen zu wollen.

Dann spürte er, wie sein Magen unter dem Talar knurrte, und der Hunger vermischte sich mit dem Gefühl der Ohnmacht. Er dachte an seine Frau, die nach Kopenhagen gefahren war, um die gemeinsame Tochter zu besuchen. Schon am Vortag hatte er die letzten Bratheringe aus der Dose verzehrt, und neue Eier zu kaufen, hatte er auch vergessen.

Er ging in die Sakristei, zog seinen Straßenanzug an und brauchte eine Viertelstunde, um sich mit dem Organisten über die Choräle für den sonntäglichen Gottesdienst zu einigen. Danach verließ er die Kirche und ging mit zielstrebigen Schritten über den Parkplatz auf das Gasthaus zu.

 

Die drei Freundinnen waren ins Gespräch vertieft und achteten nicht auf ihn. Er selbst hatte zwar Pernille Gram wiedererkannt, wusste aber aus Erfahrung, dass er ohne seinen Talar normalerweise nicht bemerkt wurde.

Das Gasthaus war in gemütliche Essnischen eingeteilt, und von seinem Stammtisch aus hatte er die Kirche im Blickfeld. Der Tisch stand zufällig neben der Nische, in der die drei Freundinnen saßen, und für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich anderswo niederzulassen. Doch Gewohnheit und, wie er zugeben musste, eine gewisse Neugier führten ihn dann an den angestammten Platz. Von dort aus konnte er durch das Flechtwerk der Nischenwände die Gesichter der Frauen sehen, nur nicht jenes von Pernille, die ihm den Rücken kehrte.

Er hörte, wie die drei eine Runde Tuborg Classic bestellten, doch in diesem Lokal gab es nur Ceres vom Fass.

»Sollen wir Solveig wirklich mit diesem faden Zeug hinunterspülen?«, fragte die Frau mit der Singstimme. Wenn sie nicht sang, hatte sie einen jütischen Akzent mit einem Hauch Kopenhagenerisch, und im Moment hörte sie sich aufgesetzt munter an.

»Das trinken eben die Eingeborenen, Isabel. Hast du das in deinem Hauptstadtexil vergessen?«, fragte Pernille. Schon damals, zur Konfirmationszeit, hatte sie eine leicht schrille, lehrerinnenhafte Stimme gehabt. Der Pastor hatte immer angenommen, dass sie dahinter ein übersensibles Gemüt verbarg.

Das Bier wurde gebracht, und über der rotkarierten Tischdecke wurde gebührend angestoßen.

»Solveig«, sagte Isabel leise.

»Solveig«, murmelten die anderen und tranken schweigend.

»Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte die Frau mit dem Modigliani-Gesicht. Ihre Stimme klang wie ein zarter Zweig, der jeden Moment brechen konnte. »Ich war richtig verlegen, als ihre Mutter angerufen hat. Ich hatte Solveig doch seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.«

»Da bist du nicht die Einzige, wenn dir das ein Trost ist, Mette.«

Das hatte Pernille gesagt.

»Keine von uns hat sich besonders oft gemeldet. Ich jedenfalls nicht. Seit Solveig nach Skörping gezogen ist, haben wir uns fast nicht mehr getroffen.«

Er konnte sehen, wie Mettes Körper sich zu einer Art Verteidigungshaltung versteifte. Sie schien ihre Trauer dadurch beherrschen zu wollen, dass sie sich wütend anhörte.

»Wir hatten doch alle mit unseren eigenen Angelegenheiten genug zu tun.«

Isabel mit der Singstimme hielt mit beiden Händen ihren Bierkrug fest.

»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber ich fühle mich einfach total mies. Ich glaube, das wäre niemals passiert, wenn wir da gewesen wären.«

Sie schaute die anderen an, und für einen Moment glaubte der Pastor, ihr Blick habe auch ihn gestreift. Ein offener Blick, der keine Gefühle verbergen konnte. In diesem Blick lag eine Unschuld, dachte er und verwarf dieses Wort dann doch. Es passte einfach nicht zu einer erwachsenen Frau von Mitte dreißig.

»Wo ist bloß die Zeit geblieben?«, fragte die Frau. »Warum haben wir nicht besser zusammengehalten? Was hat uns dermaßen beschäftigt, dass es wichtiger war als alte Freundschaften?«

»Kinder«, erklärte Mette. »Wenn etwas ein unternehmungslustiges Leben erfolgreich beenden kann, dann kleine Kinder.«

»Große Kinder nehmen auch Zeit in Anspruch«, warf Pernille dazwischen, während Isabel lächelte.

»Diese Entschuldigung kann ich aber nicht anführen.«

Mette ließ ihren Blick von der einen zur anderen wandern.

»Brauchen wir denn wirklich Entschuldigungen? Ist es nicht ganz natürlich, dass Freundschaften auseinander gleiten und dann später wieder aufgenommen werden?«

»In einigen Fällen vielleicht. Bei uns aber nicht. Uns hätte das niemals passieren dürfen«, erklärte Pernille und fugte nach einer Pause hinzu:

»Bin ich hier die Einzige, die Hunger hat?«

Sie bestellten belegte Brote, und Henning Nyborg fiel ein, dass auch er sich ein verspätetes Mittagessen gönnen sollte. Er hob den Arm, um der Kellnerin zuzuwinken, und freute sich, als seine drei Brote gebracht wurden. Gestärkt vom Imbiss und vom Bier lauschte er dann schamlos weiter, während jede der drei Frauen die anderen auf den neuesten Stand brachte, was ihr Leben anging. Er entnahm dem Gespräch, dass Isabel Pianistin war, in Kopenhagen lebte und die anderen seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Pernille und Mette wohnten beide in der Umgebung von Århus, doch ihre Beziehung war auf Grund von Geburten und beruflichen Verpflichtungen auf Sparflamme gehalten worden, und auch die beiden hatten einander schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Pernille hatte als Sozialarbeiterin viel zu tun, während Mette offenbar eben erst nach Beendigung des Mutterschaftsurlaubs ihre Stelle als Englischlehrerin an einem Gymnasium wieder aufgenommen hatte.

Später, als Teller und Bierkrüge leer waren, saßen die drei plötzlich wieder schweigend am Tisch.

»Wir hätten etwas unternehmen sollen«, murmelte Isabel. »Wir hätten es vielleicht verhindern können.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Wir können auch gleich zugeben, dass wir sie im Stich gelassen haben«, sagte Isabel dann mit harter Stimme. »Das will ich gern als Erste zugeben.«

Er hörte sich diese Geständnisse an. Es war die Rede von nicht erwiderten Kontaktversuchen. Von hektischen, unterbrochenen Telefongesprächen und dem Versprechen, zurückzurufen, wenn das Baby gefüttert und die Sonate zu Ende geübt wäre. Von Briefen, die in der Eile nicht beantwortet, sondern im Stapel der nicht so eiligen Post abgelegt worden waren. Bis selbst die kleinen Lebenszeichen per Telefon verstummt waren.

»Wisst ihr noch, wie anders das früher war?«, fragte Mette mit leiser Stimme. »Damals hatten wir Zeit füreinander.«

Isabel fügte hinzu:

»Damals waren Freundschaft und Freiheit das Wichtigste auf der Welt. Wichtiger als Karriere, Kinder, Paarbeziehungen und der ganz normale Egoismus.«

»Damals hätten wir alles füreinander getan«, sagte Mette.

Isabel machte den Anfang. Schweigend streckte sie die Hand aus und legte sie mitten auf den Tisch. Mette folgte ihrem Beispiel, dann, als Letzte, war auch Pernille dabei, und die drei rechten Hände hielten einander umfasst.

Diese Berührung schien den drei Frauen Kraft zu vermitteln. Eine besondere Energie schien plötzlich von der einen auf die andere überzugreifen. Pastor Nyborg merkte, wie er sich gerader hinsetzte und sich von den drei jetzt mit Bedeutung geladenen Stimmen einfangen ließ.

»Wisst ihr noch, wann wir zuletzt so zusammengesessen haben?«, fragte Mette.

Isabel nickte.

»Damals, als wir noch unsere Träume hatten. Als uns die ganze Welt offen stand und alles möglich war . . . Damals, als Freundschaft nicht nur ein Wort war.«

»Meine Güte, was waren wir jung.« Pernille lachte leicht angespannt.

»Und dumm?«, fragte Isabel.

Mette schüttelte den Kopf.

»Nur jung. Dumm sind wir erst mit dem Alter geworden.« Isabels Augen funkelten lebhaft.

»Wisst ihr noch? Wisst ihr noch, wie wir den ›Klub der Unzertrennlichen‹ gegründet haben? Wie wir als ›Freie Frauen‹ leben wollten?«

SEPTEMBER 1980

ISABEL

Mendelssohn würde sie noch umbringen!

Isabel schaute auf die Uhr. Noch mindestens zwei Stunden. Aber zum Glück würde sie die »Variations Sérieuses«, die sie jetzt pflichtschuldig seit anderthalb Stunden übte, bald beendet haben. In Wirklichkeit war das eine Zeitverschwendung, denn sie wusste genau, dass nicht Zeit, sondern Konzentration entscheidend war. Und ihre Konzentration war wie die einer Fünfjährigen, obwohl sie doch gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sie wollte viel lieber an den Abend mit den Freundinnen denken, der sie später erwartete.

Sie griff nach dem Metronom, zog es auf und stellte es auf »Allegro vivace«. Wie sie dieses Stück hasste! Die schwierigen Passagen wollten ihr einfach nicht gelingen. Die Fingerhaltung war unlogisch, und für einen Moment betrachtete sie ihre kurzen Finger, die in dem verzweifelten Versuch, den komplizierten Griff zu schaffen, über die Tasten flatterten. Sie dachte an Victor Wozniak, dem sie bei der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium vorgespielt hatte. Als sie die Chopin-Etüde, wie sie glaubte, mit Bravour beendet hatte, hatte der polnische Klavierprofessor ihre Hand genommen und gemustert wie ein Studienobjekt im Biologieunterricht.

»Hmmm«, hatte er gesagt. »Ja, die Physis kann vielleicht zum Problem werden. Wie viel bekommen Sie in den Griff? Eine Oktave?« Er hatte ihre Finger vor seine eigene Hand gehalten, die mit Leichtigkeit eine Dezime schaffte.

Er hatte mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen, denn mit gutem Willen und einer Portion Einbildungskraft schaffte sie wirklich gerade eine Oktave.

Aber die Aufnahmeprüfung hatte sie bestanden, und jetzt wollte sie ihnen verflixt noch mal zeigen, dass auch ein Winzling von einsfünfundsechzig und mit Wurstfingern es in einer Welt, in der alle im Namen der Kunst einander argwöhnisch bewachten, zu etwas bringen konnte. Die werden schon sehen, zum Henker, dachte sie und drückte das Pedal bis nach unten durch.

Doch wieder versagte ihre Konzentration, und ihre Gedanken flohen von der Musik zur abendlichen Zusammenkunft.

Gereizt warf sie Mendelssohn beiseite und fischte Beethoven hervor. Den hatte sie sich ganz bewusst aufgespart. Er war eine Art Leckerbissen nach der Plackerei mit Mendelssohn, sie war unsterblich in die Pathétique-Sonate verliebt, vor allem in den langsamen zweiten Satz.

»O Herz, o Schmerz«, murmelte sie, während sie sich zur Sonate weiterblätterte. Vorsichtig schlug sie die ersten Takte an. Es klang gut. Nach verlorener Liebe und zerbrochenen Illusionen. Aber sie konnte trotzdem die Tiefe, nach der sie suchte, nicht zu fassen bekommen.

Mitten in einem Crescendo wurde an die Tür geklopft.

»Ja!«

Die Tür wurde geöffnet, und ihre Großmutter schaute herein.

»Der Kaffee ist fertig, Bella. Kommst du nach oben?«

Isabel spielte weiter, nickte aber, während ihre Finger in einem angestrebten Legato über die Tasten glitten.

»Kennst du das hier?«

Die Großmutter lauschte einen Moment, dann legte sie den Kopf schräg und summte mit tiefer, rostiger Stimme das Thema mit.

Sie brauchte nur dem Duft von Kaffee und frisch gebackenem Brot aus dem Übungsraum im Keller bis hinauf in die kleine Wohnung ihrer Großmutter zu folgen, die die Nachbarwohnung zu ihrer eigenen war. Die Großmutter war schon vorgegangen, gazellendünn und fast ebenso adrett, und machte sich an dem Brot zu schaffen, das sie eben erst aus dem Ofen genommen hatte. Mit gewohnt schnellen Bewegungen packte sie drei Brote auf den Rost. Isabel beobachtete sie mit liebevollem Blick. Sie und ihre Großmutter waren jetzt seit einem halben Jahr Nachbarinnen, und das Zusammenleben übertraf alle Erwartungen.

Manchmal schämte sie sich der bangen Ahnungen, die sie damals gehegt hatte, als die einzige freie Wohnung neben der ihrer Großmutter gelegen hatte. Überempfindlich wie sie war, hatte sie damit gerechnet, dass die alte Frau in alles ihre Nase stecken werde. Aber bald hatte sich herausgestellt, dass sie ihre Großmutter einfach nur schlecht gekannt hatte. Immer diskret und niemals aufdringlich hatte diese eine Grenze zwischen Familienleben und Privatsphäre gezogen.

»Hm, das riecht aber gut. Darf ich mal probieren?«

»Das war eigentlich der Sinn der Sache.«

Die Großmutter schnitt zwei Scheiben Weißbrot ab und bestrich sie dick mit Butter.

»Deine Mutter hat angerufen.«

»Mm«, sagte Isabel mit vollem Mund. »Und was wollte sie?« Die Großmutter trug das Tablett ins Wohnzimmer. Isabel hörte die Tassen leise klirren.

»Du könntest ja zurückrufen und sie selber danach fragen.«

»Das mach ich später.«

»Das hast du auch gestern gesagt«, erwiderte die Großmutter und schenkte für beide rabenschwarzen Kaffee ein.

»Jetzt fang du nicht auch noch an. Ich ruf sie ja an. Wenn ich so weit bin.«

Die Großmutter streckte die Hand nach einem Stück Weißbrot aus und lächelte, so dass sich die Runzeln in ihrem Gesicht verdoppelten.

»Das weiß ich doch, kleine Bella.« Sie tippte mit dem Finger auf ein Buch, das, versehen mit einem Lesezeichen, auf dem Sofa lag.

»Kennst du den? Christian Kampmann?«

Isabel schluckte etwas schneller als geplant einen Mund voll glühend heißem Kaffee hinunter.

»Aber Oma. Der ist doch schwul!«

Die Großmutter machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Jaja, das kann schon möglich sein. Aber er ist so witzig . . . und frech.« Sie grinste viel sagend.

Isabel lachte laut.

»Du bist wirklich unbezahlbar. Was sagen sie denn in der Bücherei dazu, dass eine alte Dame von achtzig Jahren sich Schwulenromane ausleiht?«

»Was sollen sie schon sagen«, sagte die Großmutter gelassen. »Ich habe doch inzwischen alle anderen Bücher gelesen, und das psychologische Geschwafel habe ich satt.«

»Dann lieber ein paar offene Worte über knackige Hintern in strammen Hosen?«

Die Großmutter nippte an ihrem Kaffee.

»Du solltest deine Jugend genießen, Bella«, sagte sie ernst. »Als ich jung war, durften wir nichts. Heute dürft ihr machen, was ihr wollt.« Isabel verzog das Gesicht.

»Vielleicht ist das ja gerade das Problem.«

»Aber etwas verstehe ich trotzdem nicht«, sagte die Großmutter ungerührt. »Ich kann mir ja vorstellen, wie zwei Männer das machen. Aber wenn zwei Frauen zusammen ins Bett gehen . . . kannst du mir das erklären, Bella? Ich begreife einfach nicht, wie die das machen!«

Isabel wollte schon den Kopf in den Nacken legen und losprusten, doch dann sah sie, dass ihre Großmutter das ernst gemeint hatte.

»Ich gehe davon aus, dass sie sich gegenseitig zum Orgasmus bringen«, sagte sie nach einer Weile.

»Das ist mir schon klar. Aber wie?«

Isabel wusste nicht so recht, ob diese Wendung, die ihr Gespräch hier genommen hatte, ihr gefiel. »Ach, zum Henker«, sagte sie endlich. »Woher soll ich das wissen?«

Die Großmutter schnaubte skeptisch. »Na, das kann ja auch egal sein. Aber ich kann wirklich noch immer nicht verstehen . . .«

»Hast du ansonsten in letzter Zeit etwas Interessantes gelesen – außer Kampmann?«, fragte Isabel verzweifelt.

Die Großmutter strahlte.

»O ja, das musst du auch lesen . . . einen wunderbaren Krimi von einer Amerikanerin, ich kann den Namen nicht aussprechen. Darin gibt es alles. Gewalt, Sex, Romantik.«

Die Großmutter blickte sie mit unverhohlener Begeisterung an. Isabel verdrehte die Augen.

»Du hättest Schriftstellerin werden sollen. Dann wären wir jetzt Milliardärinnen!«

 

Sie schaltete ihr Fahrrad in einen anderen Gang und stellte sich auf die Pedale, als sie den Fattiggårdsbakken hochfuhr, vorbei am vertrauten Anblick von Dom und Reitstall. Århus lag eingetaucht im Licht der tief stehenden Septembersonne; klar und frisch, als habe die Stadt eben erst einen Regenschauer abgeschüttelt und wärme sich jetzt in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Nur der schwache Geruch der ewig aktiven Ölmühle störte die ansonsten fast perfekte Idylle ein wenig. Ihre Liebe zu dieser Stadt kannte fast keine Vorbehalte, Århus gehörte beinahe so sehr zu ihrem Leben wie FrühstückskafFee und Käsebrote und die fünf Stunden Üben jeden Tag.

Im Weiterfahren überlegte sie, wie dieser Abend wohl ausfallen würde. Vielleicht würden sie später in der Stadt enden. In der Skolegade oder der Vestergade 58.

Sie hatte lange vor dem Spiegel gestanden und nicht gewusst, was sie anziehen sollte. Am Ende hatte sie sich für ein ziemlich verhüllendes Kleid aus einem Secondhandladen und ein selbst gehäkeltes lila Tuch entschieden. Das Kleid war aus einer alten geblümten Schürze genäht worden, es war ein Relikt aus ihrer Gymnasialzeit. Die Person, die dieses Meisterwerk geschaffen hatte, hatte ein Oberteil aus zwei breiten, silbergrauen Veloursstreifen und ein Mittelteil aus einem handgestickten Kissenbezug hergestellt. Zwei hohe Stiefel ließen die Trägerin angemessen hart und romantisch zugleich aussehen. Isabel hatte sich vor dem Spiegel gedreht und gewendet, hatte mit ungeübter Hand ein wenig Make-up aufgetragen, hatte zwei Pickel mit brauner Creme getarnt und ansonsten resigniert ihre vierschrötige Gestalt gemustert. Eine Sylphide konnte sie wohl niemals werden, aber immerhin hatte sie schöne Augen. Und die dunklen Augenbrauen sahen unter ihren blonden Haaren schließlich interessant aus.

Mit einer Flasche Rioja in einer Plastiktüte auf dem Gepäckträger und mit einer mit Fransen versehenen Wildlederjacke über dem Kleid war sie zu allem bereit, was der Abend bereithalten mochte.

 

Sie hatte eben auf die Uhr geschaut, als Solveig ihre Tür in der Ålborggade aufriss. Lange, buttergelbe Haare umkränzten ein kerngesundes Gesicht mit sehr wenig Make-up und blaugrauen, fröhlich funkelnden Augen.

»Schön, dass du da bist. Pernille sehnt sich schon nach einem Publikum für ihre Predigt.«

»Worüber denn?«

Solveig verdrehte die Augen.

»Irgendein Greenpeace-Kram. Natürlich die pure Propaganda.«

Sie zwinkerte Isabel zu.

»Tu doch einfach so, als ob du ihr zuhörtest!«

Solveig ging auf Zehenspitzen vor ihr her durch den Flur. Ihr schwarzer ausgefranster Rock schlug ihr gegen die noch immer sommerbraunen Beine.

Isabel beneidete sie um die frisch renovierte Patrizierwohnung mit den hohen Decken. Solveigs Eltern hatten ihr Wohnung und Auto geschenkt, doch bei genauerem Nachdenken zog Isabel ihr Fahrrad und ihr Chaos in Åbyhøj vor. Sie zog auch ihre eigenen Eltern vor, auch wenn die geschieden waren.

Solveig betete ihren Vater an, aber Isabel hatte sich in seiner Gesellschaft immer unwohl gefühlt. Seine Art zeugte von einer Verachtung anderer Menschen, die ihr nicht zusagte. Leo Aastrand mochte ein tüchtiger Sportarzt sein, aber er war auch ein Machtmensch. Macht über seine eigene Tochter hat er auf jeden Fall, dachte Isabel oft.

Pernille saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa.

»Bitte sehr. Ein Stück Zuhörerin, während ich mich an die Lasagne mache«, verkündete Solveig.

Sie wollte noch mehr sagen, doch dann hielt sie inne und schnupperte in der Luft herum.

»Es riecht angebrannt . . .«

Solveig stürzte davon, und Isabel hörte sie schimpfen und in der Küche herumhantieren, während der Gestank von verbranntem Käse die Wohnung füllte.

»Was hast du da für ein Projekt am Laufen?«

Isabel ließ sich in einen Sessel fallen und war bereit, sich Pernilles üblichen Vortrag anzuhören. Pernille, die in ihrer Freizeit im Greenpeace-Laden arbeitete, machte sich sofort über ihr Opfer her.

»Uns fehlen noch Leute, die am Mittwoch in der Fußgängerzone Plaketten zur Unterstützung der Antiwalfangaktionen verkaufen«, sagte sie sofort. »Und da habe ich an euch gedacht.«

Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Deshalb sagte Isabel einfach:

»Ja, und?«

»Was hast du am Mittwoch vor?«, fragte Pernille mit dem listigen Blick der Fanatikerin.

Isabel dachte nach und hoffte, ihr werde ein wichtiger Termin einfallen. Denn sie war schon längst als schlechteste Lügnerin aller Zeiten entlarvt.

»Da muss ich erst in meinem Terminkalender nachsehen . . . und der liegt natürlich bei mir zu Hause.«

Sie merkte, dass Pernille eine scharfe, belehrende Bemerkung machen wollte. Doch in dem Moment ging die Türklingel, und Solveig rief aus der Küche:

»Würde eine von euch aufmachen?«

Draußen stand Mette, mit feinem, blassem Teint. Die glückliche Mette, die niemals Pickel bekam und niemals Bierhefe essen oder ihr Gesicht mit Clearasil waschen musste. Sie umarmten einander, wie sich das gehörte.

Mette befreite sich von ihrem Fjällräven-Rucksack und ihrem Anorak. Dann rümpfte sie die Nase.

»Hier riecht ’s ja angebrannt.«

»Das kommt aus der Küche. Aber ich glaube, jetzt ist alles unter Kontrolle.«

Mette lächelte nachsichtig, und Isabel dachte wie immer, dass Mette und nicht sie selber aussah wie eine angehende weltberühmte Pianistin. Mettes zartes Aussehen hätte sich auf einer Plattenhülle gut gemacht. Außerdem hatte sie Stil. Obwohl sie studierte und kaum Geld hatte, kaufte sie doch immer klassische, wenn auch wenige Dinge. Hier einen Gürtel, dort ein Paar Schuhe, und damit sah sie aus wie eine diskrete Million.

»Kontrolle! Das will ich sehen, ehe ich es glaube«, verkündete Mette und schaute in die Küche.

 

Der Wein war fast ausgetrunken, die Lasagne vollständig verspeist. Sie stritten sich um den letzten Rest Birnentorte aus dem Café »Karolines Køkken.« Gerede und Gelächter erfüllten den Raum.

Isabel ließ ihren Blick durch die Runde wandern. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie auch ohne jene Juninacht in ihrer Schulzeit, in der ihre Lebensbahnen so gründlich miteinander verflochten worden waren, noch so eng zusammenhalten würden. Ohne die Nacht, die keine von ihnen vergessen konnte, obwohl sie nie erwähnt wurde; sie war gewissermaßen in eine Abstellkammer verwiesen worden, in der alles versteckt wird, was man nicht zeigen mag.

Sie waren so unterschiedlich.

Pernille, die politisch Bewusste, wollte die Welt retten und hatte deshalb zu allem eine Meinung. Sie war eine ernste Person, doch hinter dem Ernst und der darunter verborgenen Sensibilität lag doch eine gute Portion Humor, was den Umgang mit ihr erträglich werden ließ.

Vor allem Solveig konnte Pernilles Humor wecken. Die beiden waren schon seit der Grundschule befreundet, und Isabel dachte oft, die zwei Freundinnen seien wie Feuer und Wasser. Pernille war das Feuer, die Intensivere, Angespanntere von beiden, die immer wieder gegen allerlei Ungerechtigkeiten in den Krieg zog, Solveig dagegen goss Öl auf die Wogen und stellte die Ruhe wieder her.

Mette war am schwersten zu durchschauen. Die Männer schienen Angst vor ihrer eigentümlichen Schönheit zu haben, und sie lernte einfach nicht den richtigen Umgang mit dem anderen Geschlecht, zeigte eine Verzagtheit und eine Unbeholfenheit, die zu ihrem Aussehen nicht passten. Isabel überlegte sich oft, dass Mette vielleicht einen Mann brauche, der etwas älter wäre als sie. So, wie sie Mette kannte, würde diese sicher auch nicht protestieren, wenn dieser Mann etwas Geld hätte.

In diesem Moment musterte Mette die anderen. Der Wein brachte ihre Augen zum Strahlen und hatte ihre Mutlosigkeit vertrieben. Sogar ihre ansonsten dünne und zaghafte Stimme hatte jetzt an Kraft gewonnen.

»Spürt ihr das nicht auch?«, fragte sie. »Geht es uns nicht einfach fantastisch gut?«

»Redest du hier vom Essen?«, fragte Solveig hoffnungsvoll.

Mette lächelte.

»Davon natürlich auch. Vom Essen, vom Wein, vom ganzen Abend . . . von der Zukunft und . . .« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Von der Freiheit«, sagte sie triumphierend. »Wir haben unsere Freiheit. Ist das nicht fantastisch? Was sollen wir mit der vielen Freiheit anfangen?«

Die anderen tauschten Blicke, als hätten sie eine Offenbarung erlebt. Auch der Wein trug dazu bei, dass Mettes Worte ihnen plötzlich wie Goldstücke vorkamen.

Sie hatte ja Recht. Genau darum ging es, dachte Isabel. Um das Gefühl von Freiheit.

»Wir können alles selber entscheiden«, sagte Mette jetzt. »Von unserer Haarfarbe bis zu der Frage, was wir werden wollen, wenn wir groß sind. Niemand bestimmt über uns.«

»Nicht einmal die Liebhaber. Denn im Moment haben wir ja keine«, kommentierte Solveig, die offenbar von Mettes Eifer mitgerissen worden war. »Wir haben nur einander.«

Das stimmte. Eine Woge der Dankbarkeit durchflutete Isabel. Die Begeisterung der anderen wirkte ansteckend. Hier, an diesem warmen Septemberabend, schien die Luft mit Verheißungen geladen zu sein, und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie, dass etwas mit den Flügeln schlug und hinauswollte. Die Lebensfreude. Die Freude und die Freiheit, die den meisten anderen als Selbstverständlichkeit erschienen.

Mette strahlte, und ein eifriges Lächeln umspielte ihren Mund. Sie ließ sich im Sessel zurücksinken und schaute eine nach der anderen an.

»Ist euch eigentlich klar, dass wir allesamt freie Frauen sind? . . . In jeglicher Hinsicht«, fügte sie hinzu.

Solveig sang mit leiser Stimme:

»Und kein Band hält mich gefesselt . . .«

»Nein, ich meine das wirklich. Wir fangen doch erst an . . . alle Möglichkeiten stehen uns offen.« Mettes Stimme wurde immer mitreißender und wärmer. »Und für nichts ist es zu spät. Wir haben noch immer die Möglichkeit, eine richtige oder eine andere Wahl zu treffen. Solveig kann noch immer von Medizin auf Sinologie überwechseln. Wenn sie das will. Isabel, du kannst eine Popgruppe gründen und reich und berühmt werden.«

Solveig griff diesen Faden auf:

»Und Pernille kann auch noch umsatteln und zu den Rechtspopulisten gehen.«

»Theoretisch«, murmelte Pernille. »Sehr theoretisch.«

»Alles ist möglich. Ist das nicht fantastisch?«, fragte Mette begeistert, und Isabel kam sich sehr lebendig und wach vor. Es stimmte ja, die Freiheit lag vor ihnen und alle Möglichkeiten waren offen. Kein Band hielt sie gefesselt. Sie waren einzigartig. Etwas ganz Besonderes.

Sie kamen überein: dass sie diese Freiheit niemals verlieren würden, sie würden sie füreinander hüten. Dass diese Freiheit immer ihr Kennzeichen sein sollte, und dass sie unzertrennlich bleiben würden.

Pernille, die über organisatorisches Geschick verfügte, sagte:

»Saugut. Wir gründen einen Verein zur Bewahrung von Freiheit und Freundschaft. Jetzt fehlt uns nur noch der Name!«

Und in diesem Moment wusste Isabel, wie der Verein heißen sollte, und was ihr in ihrem Leben bisher gefehlt hatte. Das berauschende Gefühl von Gemeinschaft, die Erkenntnis, dass sie unzertrennlich waren und dass sie und nur sie allein über ihre Zukunft bestimmten.

»Der Club der Unzertrennlichen«, sagte sie feierlich.

»Amen«, psalmodierte Mette.

Solveig legte feierlich ihre Hand mitten auf den runden Tisch.

»Der Club der Unzertrennlichen. Gegründet von Freien Frauen.«

Mettes Hand legte sich mit festem Griff auf Solveigs. Pernilles folgte. Isabel dachte an ihre Großmutter und hörte das Echo von deren brüchiger Stimme: »Du musst deine Jugend genießen, Bella.«

Und sie legte ihre rechte Hand auf die Hände der anderen.

OKTOBER 1997

Der Wind hatte sich ein wenig gelegt. Auch der Regen hatte aufgehört, und die Sonne schien einen zähen Kampf gegen die Wolkendecke auszufechten.

Isabel dachte an das Grab und fragte sich, ob die Blumen wohl den Regenguss überlebt hatten. Sie hätte gern gewusst, wie sie am nächsten oder übernächsten Tag oder in einer Woche aussehen würden, ob jemand sie entfernte, oder ob sie einfach liegen bleiben und verrotten würden.

Während sie sich mit diesen Überlegungen beschäftigte, fiel ihr Blick aus dem Fenster auf eine Gestalt, die sich über den Kirchplatz kämpfte. Es war ein älterer Mann, und sie erkannte in ihm den Pastor, der Solveig begraben hatte.

Sie schaute sich um. Sie hatten sich verändert. Natürlich hatten sie das. Mette sah wie immer traumhaft schön aus, und es war unbegreiflich, dass dieser schmale Leib zwei Kinder zur Welt gebracht haben sollte. Aber ihre unbekümmerte, mädchenhafte Art war verschwunden. Sie war ernster geworden, und Isabel hatte das Gefühl, dass die Schatten in Mettes Blick nicht von Solveigs Tod verursacht worden waren. Pernille ähnelte mehr denn je einem angespannten Windhund vor einem Rennen; lang gestreckt und schlank, wie immer auf dem Stuhl in sich versunken wie eine Feder, die jeden Moment in die Höhe jagen konnte. Trotzdem war auch sie nicht dieselbe wie früher. Ihre Züge waren schärfer, und das, was früher einmal ein offener, idealistischer Blick gewesen war, kam Isabel jetzt eher verbittert vor. Oder irrte sie sich? Hatte Solveigs Tod sie einfach so hart getroffen?

Sie fragte sich, ob die beiden anderen wohl darüber nachdachten, wie sehr sie selber sich verändert hatte. Sie war ja schließlich nicht mehr das junge musikalische Talent, vor dem die Zukunft offen lag. Was lasen die anderen wohl in ihrem Blick? Enttäuschung in der Liebe? Die Angst, alt zu werden, ohne alles erreicht zu haben? Die Trauer über den Verlust der Großmutter, die ihr dermaßen fehlte, dass sie manchmal glaubte, davon noch verrückt zu werden?

Als habe sie diese Gedanken gelesen, sagte Pernille:

»Du warst immer eine seltsame Größe in unserer Gruppe, Isabel.«

»Wer redet hier von seltsam«, entgegnete Isabel wie aus der Pistole geschossen. »Du hattest doch immer allerlei interessante Gebrechen und hast trotzdem für uns andere Gesundheit und Politik gepredigt. Und Vegetarierin warst du zu allem Überfluss auch noch!«

»Nur zur Hälfte«, gestand Pernille. »Aber du hast in deiner eigenen Welt gelebt. Du hattest keine Ahnung davon, was um dich herum vor sich ging.«

Isabel sah Pernille neckend an.

»Das brauchte ich doch auch nicht. Darüber hast du uns schließlich informiert. Mit allen frischen Nachrichten aus der Hochburg des Sozialismus. Und mit immer neuen unterhaltsamen Tatsachen über das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper.«

»Es war immer witzig, Pernilles vorbehaltlose Meinung über irgendein aktuelles Thema zu hören.« Mette lächelte. »Da brauchten wir gar keine Zeitung zu abonnieren, und das hätten wir uns ja ohnehin nicht leisten können . . . ich zumindest nicht.«

»Aber Solveig wohl«, erinnerte sich Isabel und begegnete ein weiteres Mal Pernilles Blick. »Sie hatte schon siebzehn Jahre, ehe das modern wurde, die Jyllandsposten abonniert. Ich habe mich so oft gefragt, welche Gemeinsamkeiten ihr beide wohl haben könntet.«

Sie hatte sich nicht so ungeschickt ausdrücken wollen. Jetzt sah sie, dass Pernilles Augen hinter ihren Brillengläsern blank wurden und dass die vertraute Röte sich über Hals und Wangen verbreitete.

»Ganz ruhig, so war das nun auch wieder nicht gemeint«, sagte Isabel besänftigend. »Ich weiß ja schließlich, dass ihr euch schon gekannt habt, ehe du wusstest, dass Marx und Mao die Welt erschaffen haben – als alles noch gut war.«

»Zur Hölle mit Marx und Mao«, murmelte Pernille verbissen. »Und zur Hölle mit ihr. Zur Hölle mit allem«, erklärte sie und leerte ihr Glas mit einem einzigen langen Zug.

Isabel hätte gern den Arm um sie gelegt. Um sie sanft hin und her zu wiegen, was ihre Mutter garantiert nie mit ihr gemacht hatte. Doch das konnte sich bei Pernille keine erlauben. Bei ihr gab es immer diese Distanz, was vielleicht an ihrem hohen Wuchs lag, vielleicht auch an etwas anderem. An etwas sehr Privatem. Nur Solveig hatte es gekonnt. Solveig, die Pernille seit ihrer Kindheit gekannt hatte.

»Ich weiß ja, dass wir nicht das Recht haben, uns verraten zu fühlen«, sagte sie dann. »Aber Gefühle lassen sich nicht diktieren. Und du bist vielleicht die unter uns, die hier die stärksten Gefühle hat.«

Pernille wandte ihr Gesicht ab.

»Du hast sie am besten gekannt, Pernille«, sagte Mette mit ihrer freundlichen Stimme. »Hast du wirklich gar keine Vorstellung davon, was sie dazu getrieben haben kann?«

Sie schaute eine nach der anderen an.

»Wer war Solveig eigentlich? Früher war sie diejenige, zu der wir kommen konnten. Aber wie oft hat sie uns ihre Probleme anvertraut? Wie gut haben wir sie eigentlich gekannt?«

Pernille starrte aus dem Fenster, auf die Kirche und den Friedhof. Isabel sah, dass ihre Unterlippe ganz leicht zitterte. Sie folgte ihrem Blick. Der Kirchplatz war leer, kein Mensch war zu sehen. Ein dünner Fächer aus Sonnenstrahlen war jetzt durch die Wolkendecke gedrungen.

»Ich weiß nicht, wie gut irgendeine von uns sie gekannt hat«, murmelte Pernille fast unhörbar. »Ich glaube, sie hatte immer das Gefühl, uns Dank schuldig zu sein. Aber in Wirklichkeit war es ja vielleicht genau umgekehrt.«

Sie fügte mit ihrer üblichen, schonungslosen Ehrlichkeit hinzu:

»Für mich war sie eine Zeit lang das Einzige, was meinem Leben einen Sinn gab.«