Über Michel Bussi

Michel Bussi, geb. 1965, Politologe und Geograph, lehrt an der Universität in Rouen. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben sich als internationale Bestseller durchgesetzt. Bussi ist der meistprämierte französische Autor des Jahres 2011 gewesen.

Olaf M. Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. Bernard-Henri Lévy, Tiziano Scarpa, Jim Dodge, Samuel Benchetrit, Michel Bussi.

Informationen zum Buch

»Michel Bussi, der neue Star!« Nouvelle Observateur

Jamal sieht zuerst nur den roten Schal. Dann die verzweifelte junge Frau, die am Rand der Klippen steht. Er will sie retten, wirft ihr den Schal zu. Doch die Frau springt. Und niemand glaubt ihm seine Geschichte, denn es sind bereits zwei Frauen zu Tode gekommen, nach exakt dem gleichen Muster. Verzweifelt versucht Jamal zu beweisen, dass er nichts mit dem Tod der Frau zu tun hat, aber alles spricht gegen ihn. Und schon bald weiß er selbst nicht mehr, was wahr ist und wem er noch vertrauen kann …

Ein hochspannendes und emotionales Spiel zwischen Schein und Wirklichkeit.

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Michel Bussi

Die Frau mit dem roten Schal

Roman

Aus dem Französischen von
Olaf Matthias Roth

Für Arthur,
der morgen 18 wird!

Wenn Sie am Rand einer Klippe

einer schönen jungen Frau begegnen,

reichen Sie ihr nicht die Hand.

Man könnte glauben, Sie hätten sie hinabgestoßen.

Inhaltsübersicht

Über Michel Bussi

Informationen zum Buch

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Fécamp 13.Juli 2014

Fünf Monate zuvor, 19. Februar 2014

I Ermittlung

Kapitel 1

Jamal Salaouis Tagebuch

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Akte Morgane Avril – Sonntag, 6. Juni 2004

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Akte Morgane Avril – Juni 2004

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Akte Myrtille Camus – Donnerstag, 26. August 2004

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

II Verhaftung

Rosny-sous-Bois, den 22. Juli 2014

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Akte Myrtille Camus – Montag, 30. August 2004

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Akte Myrtille Camus – Freitag, 8. Oktober 2004

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Tagebuch von Alina Masson – Dezember 2004

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Akte Avril/Camus – Frühjahr 2007

Kapitel 36

III Urteil

Rosny-sur-Bois, 3. August 2014

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

IV Vollstreckung

Rosny-sur-Bois, 10. August 2014

Kapitel 46

V Revision

Fécamp, 13. August 2014

Achtzehn Tage später, 31. August 2014

Impressum

Fécamp
13. Juli 2014

An

Gérard Calmette

Direktor Abt. Identifizierung von Katastrophenopfern

Sehr geehrter Monsieur Calmette,

in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2014 brach von der Klippe bei Étigues, drei Kilometer westlich der Gemeinde Yport, Gestein mit einem Volumen von etwa 45 000 Kubikmetern ab. Ein derartiger Erdrutsch ist an dieser Küste keine Seltenheit.

Die knapp eine Stunde nach dem Unglück herbeigeeilten Rettungskräfte konnten ausschließen, dass Personen zu Tode gekommen waren, man machte jedoch eine sehr seltsame Entdeckung. Zwischen den über den Strand verteilten Kreideblöcken lagen die Knochen dreier Skelette.

Die hinzugerufenen Kriminalbeamten fanden bei diesen Knochen keine Bekleidungsstücke und auch keinerlei persönliche Gegenstände, die eine Identifizierung ermöglicht hätten. Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Toten um Höhlenforscher handelt, die in dem durchlöcherten Kreidemassiv eine Erkundungstour unternommen hatten und durch einen Felssturz von der Außenwelt abgeschnitten worden waren. Allerdings wurde in den letzten Monaten, sogar Jahren niemand als vermisst gemeldet.

Ich möchte vorsorglich darauf hinweisen, dass die Knochen über einen etwa vierzig Meter langen Strandabschnitt verteilt aufgefunden wurden. Die von Colonel Bredin eingesetzte gerichtsmedizinische Untersuchungskommission hat bereits mit der Bergung begonnen. Erste Analysen zeigen, dass die einzelnen Knochenfunde nicht dasselbe Stadium der Zersetzung aufweisen, es scheint, dass die einzelnen Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten an demselben Abschnitt der Steilküste ums Leben gekommen sind und das, so seltsam es auch klingen mag, wahrscheinlich sogar im Abstand von einigen Jahren. Eine Todesursache ist in keinem Fall ersichtlich, eine oberflächliche Untersuchung der Knochen und Schädel ergab keinerlei Hinweis auf Gewaltanwendung.

Da wir weder ein schlüssiges Indiz noch sonst irgendeinen Ansatzpunkt für eine weiterführende Untersuchung haben, ist es uns nicht möglich, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Folglich bleiben drei Fragen unbeantwortet: Wer sind die drei Toten? Wann sind sie gestorben? Was hat ihren Tod verursacht?

Natürlich ist die Neugier der Bevölkerung groß, vor allem da sie aufgrund einer makabren Entdeckung in der jüngsten Vergangenheit bereits deutlich beunruhigt ist.

Sehr geehrter Monsieur Calmette, ich bin mir sehr wohl bewusst, dass Sie Dringenderes zu tun haben. Dennoch bitte ich um Verständnis dafür, dass ich mich in Anbetracht dieser Situation und der Ungewissheit, in der sich die Familien der Opfer befinden mögen, an Sie wende und Sie ersuche, diese Angelegenheit vordringlich von Ihren Abteilungen bearbeiten zu lassen, damit die drei Skelette baldmöglichst identifiziert werden können.

Hochachtungsvoll,

Lieutenant Bertrand Donnadieu,

Gendarmerie Nationale, Étretat

Fünf Monate zuvor,
19. Februar 2014

»Pass auf, Jamal, das Gras auf der Klippe ist bestimmt rutschig!«

Mit einem Trenchcoat über den Schultern stand André Jozwiak, der Besitzer des Hotels La Sirène, in der morgendlichen Kälte. Die Quecksilbersäule des Thermometers war kaum über den Nullpunkt geklettert. Nachtfrost überzog das Hotelemblem, einen schmiedeeisernen Segler, das an einem Balken der Fassade hing.

Jozwiak betrachtete den Sonnenaufgang über dem nahegelegenen Strand, dessen eng aneinandergepresste Kiesel so aussahen, als hätte ein riesiger Raubvogel seine Eier zurückgelassen. Die vor dem benachbarten Casino geparkten Autos waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt.

Jamal entfernte sich mit kleinen, schnellen Schritten. André sah ihn am Casino vorbei- und dann die Rue Jean-Hélie hinauflaufen. Anfangs war er ihm seltsam vorgekommen, dieser junge Mann mit nordafrikanischen Wurzeln, der jeden Morgen an den Klippen entlangjoggte. Sein eines Bein war muskulös, das andere endete in einer Carbonprothese, die in einem Joggingschuh steckte. Doch mittlerweile war er ihm richtig sympathisch geworden. Und dass er Lust hatte, gleich bei Tagesanbruch eine Runde laufen zu gehen, das konnte er gut nachvollziehen. Schließlich war er in seinem Alter auch jeden Sonntag mehr als hundert Kilometer mit dem Fahrrad gefahren; drei herrliche Stunden, in denen ihm niemand auf die Nerven gehen konnte.

Die Silhouette Jamals tauchte am Fuß der Treppe auf, die zur Steilklippe hinaufführte, und verschwand gleich darauf wieder hinter den Müllcontainern des Casinos. André trat einen Schritt vor und zündete sich eine Wilson an. Er war nicht der Einzige in Yport, der um diese Uhrzeit der Kälte trotzte. Drüben am Strand ging eine alte Dame mit einem lächerlich kleinen Hund, der hysterisch die Möwen ankläffte, spazieren. Etwa zweihundert Meter weiter stand ein ziemlich großer Typ, die Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Lederjacke vergraben, und starrte aufs Meer hinaus.

Nachdem er aufgeraucht hatte, warf André seine Kippe weg und ging zurück ins Hotel. Es war Zeit, den wenigen Gästen, die er zu dieser Jahreszeit beherbergte, das Frühstück zu servieren, und er wollte nicht, dass man ihm so begegnete, unrasiert, im Schlabberlook und mit zerzausten Haaren.

Jamal Salaoui erklomm mit gleichmäßigen, schnellen Schritten die Steilklippe. Nachdem er die letzten Villen hinter sich gelassen hatte, führte nur noch ein schmaler Trampelpfad weiter nach oben, von wo aus man bis ins zehn Kilometer entfernte Étretat blicken konnte. Jamal beobachtete die beiden Gestalten unten am Strand, eine alte Dame mit dem Hündchen und den Mann, der aufs Meer starrte. Drei Möwen, vielleicht von dem Hundegekläff aufgeschreckt, flogen plötzlich laut kreischend über den Rand der Klippe.

Den roten Schal sah Jamal kurz nach dem Eingangsschild zum Campingplatz Le Rivage. Er hing über dem Zaun des Geländes, so als würde er auf eine Gefahr hindeuten. Das zumindest war Jamals erster Gedanke.

Der Hinweis auf einen Erdrutsch, eine Überschwemmung, ein totes Tier.

Im selben Moment verwarf er den Gedanken wieder: Unsinn, es war schließlich nur ein Schal, der sich im Stacheldraht des Zauns verfangen hatte, sicherlich hatte ein Spaziergänger ihn verloren.

Zunächst hatte er gezögert, seinen Laufrhythmus zu unterbrechen, um sich nach dem Schal umzudrehen, und wäre beinahe einfach geradeaus weitergelaufen. Dann wäre alles ganz anders gekommen. Doch Jamal lief langsamer und blieb stehen. Der Schal wirkte ganz neu und leuchtete in einem kräftigen Rot. Jamal berührte ihn, studierte das Etikett.

Kaschmir, von Burberry. Dieses Teil war sicherlich ein kleines Vermögen wert! Vorsichtig löste er die Wolle vom Stacheldraht, er würde den Schal nachher mit ins Hotel nehmen. André Jozwiak kannte Gott und die Welt in Yport, er wusste bestimmt, wem er gehörte. Andernfalls würde Jamal ihn einfach behalten. Während er weiterlief, strich er behutsam über den Stoff. Zu Hause, in der Hochhaussiedlung von La Courneuve, würde er ihn wohl kaum tragen können. Ein teurer Kaschmirschal, dafür würden sie ihn glatt umlegen! Aber er fand bestimmt ein hübsches Mädchen in seinem Viertel, das bereit war, ihn zu nehmen.

In der Nähe des alten Bunkers rechts von ihm weideten Schafe, die ihre Köpfe hoben, als er sich ihnen näherte.

Gleich dahinter, am Rand der Klippe, sah er die junge Frau.

Sie stand weniger als einen Meter vom Abgrund entfernt. Unmittelbar hinter ihr ging es mindestens einhundert Meter steil in die Tiefe. Jamal verlangsamte seine Schritte, seine Gedanken überschlugen sich: Das Gelände fiel zum Meer hin leicht ab, das Gras war vom Raureif rutschig – ein falscher Schritt, und die junge Frau schwebte in höchster Gefahr. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« Seine Worte verhallten in der Kälte.

Keine Antwort.

Jetzt war er noch etwa fünfzig Meter von der Frau entfernt. Trotz der Kälte trug sie lediglich ein Kleid. Es schien zerrissen zu sein, zwei lange rote Stoffbahnen flatterten im Wind und bedeckten nur dürftig ihre Oberschenkel und die Körbchen eines fuchsiafarbenen BHs. Sie zitterte am ganzen Leib.

Jamal hatte sofort bemerkt, wie schön sie war. Doch dafür hatte er in diesem Augenblick keinen Sinn. Die Frau überraschte ihn, rührte ihn, verwirrte ihn, aber ihre sexuelle Anziehungskraft blieb wirkungslos. Als er später darüber nachdachte, fiel ihm am ehesten der Vergleich mit einem geschändeten Kunstwerk ein. Ein Sakrileg, eine unentschuldbare Verletzung der Schönheit.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, wiederholte er jetzt seine Frage.

Endlich hob sie mit einer langsamen Bewegung den Kopf und blickte zu ihm herüber. Das Gras war kniehoch, und während er sich ihr behutsam näherte, schoss ihm durch den Kopf, dass sie vielleicht seine Beinprothese noch nicht bemerkt hatte.

Jetzt stand er ihr direkt gegenüber.

Die Frau war noch ein Stück näher an den Abgrund herangerückt und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie sah verheult aus, ihre Wimperntusche war völlig verschmiert und ihre Augen gerötet. In Jamals Kopf tobten die Gedanken: Gefahr, Zeitnot. Vor allem aber: Beklemmung.

Noch nie hatte er eine derart schöne Frau gesehen. Das perfekte Oval ihres Gesichts, eingerahmt von zwei pechschwarzen Haarsträhnen, die kohlrabenschwarzen Augen, die fein gezeichneten Brauen und Lippen. Später versuchte er sich vergeblich daran zu erinnern, ob die seltsame Unbeholfenheit der schönen Fremden, das Bedürfnis, ihre Hand zu ergreifen, sein Reaktionsvermögen beeinflusst hatten.

»Mademoiselle …«, mit einer vorsichtigen Bewegung streckte Jamal den Arm aus.

»Bleiben Sie, wo Sie sind.«

Es war eher eine Bitte als ein Befehl. Ihre Augen wirkten wie erloschen.

»Kei… keine Sorge …«, stammelte Jamal. »Verstehe. Bewegen Sie sich nicht, bleiben Sie ganz ruhig.«

Sein Blick wanderte über das zerrissene Kleid. Vielleicht war sie aus dem Casino unten am Strand gekommen. Abends verwandelte sich der große Saal im Seaview in eine Disko.

Hatte es beim Tanzen eine unliebsame Begegnung gegeben? Die junge Frau war groß, schön, sexy …

Jamal bemühte sich um einen möglichst ruhigen Tonfall.

»Ich komme jetzt langsam näher und reiche Ihnen meine Hand.«

Zum ersten Mal senkte sie den Blick. Als sie seine Prothese sah, konnte sie ihr Erstaunen nicht verbergen, fasste sich aber sofort wieder. »Einen Schritt näher, und ich springe!«

»Nicht … ich bleibe, wo ich bin.«

Jamal erstarrte in seiner Bewegung und wagte nicht einmal mehr zu atmen. Nur seine Augen schnellten hin und her, zwischen der verzweifelten jungen Frau und dem Horizont, der sich allmählich orange färbte.

Er stellte sich vor, wie eine Gruppe betrunkener Jungs sie vom Rand der Tanzfläche aus angeglotzt hatte. Wie einer von ihnen, vielleicht sogar mehrere, sie dann bis zum Ausgang verfolgten, ihr den Weg verstellten, versuchten, ihr das Kleid vom Leib zu reißen …

»Sind Sie … sind Sie verletzt?«

Aus ihren dunklen Augen flossen Tränen.

»Das können Sie nicht verstehen. Gehen Sie!«

Dann plötzlich hatte er die Eingebung. Ganz langsam führte Jamal seine Hände an den Hals. Und doch nicht langsam genug. Die junge Frau machte einen hastigen Schritt zurück, er zuckte zusammen, beinah wäre sie ins Leere getreten.

»Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, Mademoiselle. Ich werfe Ihnen nur den Schal zu. Ich halte ihn an einem Ende. Sie brauchen nur das andere zu ergreifen. Und Sie entscheiden selbst, ob Sie loslassen oder nicht.«

Die junge Frau zögerte, erneut wirkte sie überrascht. Jamal nutzte die Gelegenheit und warf mit einer behutsamen Handbewegung das eine Ende des roten Kaschmirschals in ihre Richtung. Nicht mal ein Meter trennte sie.

Der Schal fiel vor ihre Füße. Zögernd beugte sie sich nach vorn und hob ihn auf.

»Ganz vorsichtig«, sagte Jamal leise. »Lassen Sie sich zu mir ziehen, nur etwas weiter weg vom Abgrund.«

Sie klammerte sich jetzt noch ein wenig fester an den Stoff, und Jamal spürte, wie ihn Erleichterung durchströmte. Er hatte genau das Richtige getan. Unglaublich behutsam zog er sie zu sich heran, Zentimeter um Zentimeter.

»Vorsichtig«, raunte er. »Kommen Sie vorsichtig zu mir.«

Plötzlich wurde ihm wieder bewusst, wie schön sie war. Die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Und gerade hatte er ihr das Leben gerettet.

Der Gedanke genügte, um ihn für einen kurzen Moment abzulenken. Plötzlich spürte er eine ruckartige, heftige Bewegung, die Frau riss an dem Schal. Jamal hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Der Stoff entglitt ihm.

Dann ging alles blitzschnell. Mit einem Ausdruck von Schicksalsergebenheit blickte sie ihm in die Augen und sprang in die Tiefe, den roten Kaschmirschal fest zwischen den Fingern.

Ihn hatte sie ebenfalls mit sich gerissen, nur wusste Jamal das zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

I
ERMITTLUNG

1

Jamal Salaouis Tagebuch

Lange Zeit hatte ich immer nur Pech.

Glück, das war etwas für die anderen, nicht für mich. Und so hielt ich das Leben immer für eine riesige Verschwörung, deren Mitglieder nur eines im Sinn hatten: mir Steine in den Weg zu legen. Dann, im Lauf der Jahre, begriff ich allmählich, dass ich mir etwas vorgemacht hatte. Da war niemand, der mir schaden wollte, ich selbst war für mein Glück verantwortlich. Und um im Leben Glück zu haben, musst du danach suchen, unablässig, immer wieder von vorn anfangen. Beharrlich sein. Es ist nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Und letztendlich … des Glücks.

Ich heiße Jamal.

Jamal Salaoui.

Ich teile meinen Vornamen mit Jamal Malik, dem kleinen Jungen aus Slumdog Millionär. Wir haben noch mehr gemeinsam: Beide sind wir Muslime, leben aber in einem nicht muslimischen Land, was uns aber ziemlich egal ist. Er wuchs in Dharavi auf, dem Slum von Mumbai, ich in einer Hochhaussiedlung in der Banlieue von Paris. Ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann. Körperlich sind wir ziemlich unterschiedlich. Obwohl er nicht besonders hübsch ist, mit seinen abstehenden Ohren und diesem furchtsamen Blick, wie ein Vögelchen, wenn’s donnert. Ich bin auch nicht so hübsch. Was das Ganze noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ich nur ein Bein habe, na ja, eineinhalb, um genau zu sein, das zweite hört oberhalb des Knies auf und steckt in einer Carbonprothese. Aber das erzähle ich mal bei Gelegenheit. Wieder mal so eine Geschichte, bei der ich einfach Pech hatte.

Aber unsere größte Gemeinsamkeit sitzt direkt vor mir. Was für Jamal Malik zählt, ist ja nicht seine Million Rupien, für ihn ist Latika das Wichtigste – wunderschön ist sie, vor allem am Ende, wenn sie den roten Schleier trägt und die beiden sich am Bahnhof in Mumbai wiederfinden. Sie ist sein eigentlicher Hauptgewinn.

Genauso bei mir. Ich sitze der tollsten Frau gegenüber, die man sich vorstellen kann. Gerade hat sie ein blaues Tulpenkleid angezogen. Ihre Brüste zeichnen sich deutlich unter der Seide ab, und ich darf ihr aufs Dekolleté starren, sooft und solange ich will. Wie soll ich das erklären? Sie ist einfach die Frau, von der ich tausendmal geträumt habe, bis sie schließlich einfach so vor mir stand.

Und jetzt sitze ich mit ihr beim Abendessen.

In ihrer Wohnung.

Die Flammen im Kamin scheinen die weiße Haut ihres Gesichts zu liebkosen. Wir trinken Champagner. In ein paar Stunden werden wir uns lieben, vielleicht sogar noch bevor wir zu Ende gegessen haben. Wir werden uns die ganze Nacht lang lieben, mindestens. Vielleicht sogar mehrere Nächte. Vielleicht alle Nächte meines Lebens, es ist wie ein Traum, der auch beim Aufwachen nicht zerplatzt, der mich unter die Dusche begleitet, in den verdreckten Aufzug im letzten Häuserblock unserer Trabantenstadt, dem einzigen, der noch nicht demoliert worden ist, und dann bis zum S-Bahnhof Courneuve-Aubervilliers.

Sie lächelt mir zu. Ich berühre ihre Lippen mit den meinen. Sie sind champagnerfeucht.

Ich habe dieses Glück verdient. Schließlich habe ich alles riskiert. Und mich immer wieder aufgerappelt, ohne je die Hoffnung aufzugeben.

Ich bin ihr in einem kleinen Ort in der Normandie begegnet, da, wo man am wenigsten damit rechnet, auf seine Traumfrau zu stoßen.

Ich war mehrmals kurz davor zu sterben.

Aber ich lebe noch.

Ich war des Mordes angeklagt. Des mehrfachen Mordes. Des niederträchtigsten Mordes, den man sich vorstellen kann. Und ich hätte es beinahe selbst geglaubt.

Aber ich bin unschuldig.

Ich wurde gehetzt. Verurteilt. Verdammt.

Aber ich bin frei.

Auch Ihnen wird es nicht leichtfallen, mir zu glauben. Sie werden es nicht für möglich halten. Auch Sie werden zweifeln. Bis ganz zum Schluss. Sie werden mich für verrückt halten, werden glauben, ich hätte alles erfunden. Aber ich habe nichts erfunden. Ich bin nicht verrückt. Und eine Falle ist es auch nicht. Deswegen: Vertrauen Sie mir. Bis ganz zum Schluss.

Alles begann vor zehn Tagen, an einem Freitagabend, am 14., zu dem Zeitpunkt, als wir Mitarbeiter vom Pflegeheim Saint-Antoine in die Ferien geschickt wurden.

2

Plötzlich fing es an zu regnen. Kalte Tropfen fielen auf die drei roten Backsteingebäude des Pflegeheims Saint-Antoine, auf den drei Hektar großen Park und die Büsten der großzügigen, längst vergessenen Wohltäter aus vergangenen Jahrhunderten. Ärzte, Pfleger und Sanitäter eilten ins Trockene.

Jeden Freitagabend fuhren die Älteren, die einigermaßen selbständig waren, mit ihren Familien übers Wochenende weg. Diesmal schlossen sich noch zwei Wochen Winterferien an.

Auch ich war losgerannt, um mich unterzustellen. Ich warf noch rasch einen Blick auf den Krankenwagen, dessen Blaulicht im Regen blinkte, und hielt nach Ophélie Ausschau, dann ging ich in den Aufenthaltsraum des Pflegepersonals. Die Stimmung war ausgelassen. Die Kollegen des Pflegeheim Saint-Antoine, beinahe ausschließlich Frauen, wärmten sich ihre eisigen Finger an Bechern mit Tee oder Kaffee. Einige sahen nicht einmal in meine Richtung, andere streiften mich mit dem Blick oder lächelten mir kurz zu. Die meisten Kolleginnen mochten mich eigentlich, je nach Alter, Beziehungsstatus und professioneller Einstellung. Bei den mütterlichen Typen stand ich deutlich höher im Kurs als bei den attraktiven jüngeren.

Direkt nach mir kam Jérôme Pinelli herein, Abteilungsleiter und Arschloch. Er warf einen flüchtigen Blick in die Runde, dann musterte er mich scharf.

»Ophélie wird ins Krankenhaus gebracht. Ich hoffe, du bist stolz auf dich, ja?«

Nein, bin ich nicht.

Ich sah den Krankenwagen mit blinkendem Blaulicht vor mir im Innenhof stehen, hörte die Schreie Ophélies, die sich wehrte. Ein paar Sekunden lang überlegte ich, ob ich es ihm erklären oder mich entschuldigen sollte, einfach um meine Ruhe zu haben. Hilfesuchend blickte ich mich um. Die Kolleginnen schauten zu Boden.

»Darüber reden wir nach den Ferien«, knurrte Pinelli.

Ein widerlicher Typ: Jérôme Pinelli. Dreiundfünfzig. Leiter Personalabteilung. Ursache für einen Ehebruch, zwei Depressionen und drei Kündigungen, und das innerhalb eines halben Jahres.

Jetzt baute er sich vor dem ein mal zwei Meter großen Mont-Blanc-Poster auf, das ich aufgehängt hatte. Die gesamte Gipfelkette: Mont Blanc, Mont Maudit, die Aiguille du Midi, der Dent du Géant, die Aiguille Verte …

»Oh Mann, endlich Ruhe vor den Idioten … In weniger als zehn Stunden bin ich im Skigebiet …«

Er drehte sich leicht zur Seite, als wollte er sein Profil von den um ihn stehenden Frauen bewundern lassen, dann baute er sich vor mir auf und starrte demonstrativ auf meine Prothese.

»Und du? Fährst du auch in die Berge, Salaoui? Wär ja praktisch mit deiner Prothese, da bräuchtest du auch nur einen Ski!«

Er brach in schallendes Gelächter aus. Seine Bemerkung fand nur ein verhaltenes Echo unter den Pflegerinnen. Bevor ich darauf reagieren konnte, klingelte glücklicherweise sein Handy – die ersten Akkorde von I gotta Feeling. Er unterdrückte einen Fluch, dann zog er es aus der Hosentasche und schlenderte nach draußen, nicht ohne mir noch einen abschätzigen Blick zuzuwerfen.

Arschloch!

Im selben Augenblick kam Ibou herein und knallte die Tür hinter sich zu. Ibou war mein einzig echter Verbündeter in dem Laden. Er war Sanitäter, kümmerte sich aber auch um die Zwangsjacken und die getrennte Unterbringung, wenn wieder einmal zwei Patienten aufeinander losgegangen waren. Ibou war ein Schrank von einem Mann, Typ Omar Sy. In ihn waren alle verliebt: Gut aussehend, cool, witzig. Und sportlich.

Na ja, was heißt schon sportlich … Sie wussten ja nicht, dass er bei unserem 15-Kilometer-Lauf, den wir jeden Donnerstag zusammen machten, jedes Mal beim Endspurt hinter mir herhechelte.

»Der Idiot spinnt doch, so mit dir zu reden. Aber mal im Ernst, Jam, fährst du wirklich in die Berge?«

Er schaute sehnsüchtig zu dem Poster mit den Alpengipfeln und dem ewigen Gletschereis.

»Nee. Ich fahr nach Yport. Und das hab ich dir zu verdanken!«

»Nach Yport? Woah! Gibt’s da gute Pisten?«

»Das ist in der Normandie, Alter. In der Nähe von Étretat. Tausend Meter auf zehn Kilometer. Aber kein Schnee und keine Schlepplifte …«

Ibou pfiff durch die Zähne und wandte sich dann an seine weiblichen Zuhörer: »Jamal, dieser kleine Geheimniskrämer, hat euch nämlich verschwiegen, dass er ein super Sportler ist. Das Problem ist nur, dass dieser Sturkopf sich weigert, bei den Paralympics mitzumachen, was uns Ruhm, Ehre und Medaillen einbringen würde. Aber nein, er hat sich in den Kopf gesetzt, als erster einbeiniger Sportler beim Ultramarathon auf dem Mont Blanc über die Ziellinie zu laufen.«

Sofort spürte ich, dass mich alle mit anderen Augen ansahen. Und Ibou ließ nicht locker.

»Der härteste Lauf der Welt. Ganz schön verwegen, was?«

Die Augen der Pflegerinnen wanderten zwischen mir und dem weiß-blauen Poster hin und her, und auch mein Blick verlor sich auf dreitausend Meter Höhe. Das Eismeer. Vallorcine. Die Seilbahn auf der Aiguille du Midi. Der Ultra-Trail du Mont Blanc – ein Wegenetz von 168 Kilometern, 9600 Meter auf und ab, ein insgesamt 46-stündiger Lauf … Mit nur einem Bein. Würde ich das schaffen? Würde ich alles um mich herum vergessen können, auch meine Schmerzen?

»Jam ist außerdem solo«, sagte jetzt Ibou. »Na, wer begleitet ihn? Yport, das ist doch cool!«

Er zwinkerte mir zu.

»Na los doch … Freiwillige vor! Eine traumhafte Woche mit einem Olympioniken, mit dem man viel Spaß haben kann.«

Danke, Ibou. Ich kam mir vor wie beim gemeinsamen Training.

»Aber dass ihr ihn mir auch ja heil wiederbringt, Mädels. Habt ihr verstanden?«

3

Die Leiche lag zu meinen Füßen auf dem Kiesbett.

Unterhalb ihres Kopfes bildete sich eine Blutlache, eine scharlachrote Welle, die sanft zum Meer zurückfloss. Die pechschwarzen Haare bedeckten ihr Gesicht.

Mein Blick wanderte zu der Felswand über mir. Obwohl ich nun schon seit drei Tagen in Yport war, bemerkte ich erst jetzt, wie steil die Klippen aufragten. Lehmige Streifen zogen sich wie Rostspuren von den Wiesen oben herab.

Ich sah auf die Uhr, es war kurz vor halb neun.

Noch nicht einmal eine Viertelstunde war verstrichen, seit ich das Hotel verlassen hatte. Die Bilder der letzten Minuten zogen wieder und wieder an meinem inneren Auge vorbei: der rote Schal am Zaun, die Schafe, der Bunker … Erneut sah ich die junge Frau am Abgrund stehen, hörte ihre letzten Worte, sah noch einmal die rätselhafte Enttäuschung in ihrem Blick, bevor sie ins Leere sprang, den roten Kaschmirschal fest in der geballten Faust.

Mein Herz hatte gerast, während ich hinunter zum Strand rannte, so als könnte ich sie noch auffangen. Sie retten.

Lächerlich.

»Ich habe gesehen, wie sie herabgestürzt ist«, murmelte eine tiefe Stimme hinter mir.

Es war der Mann mit der braunen Lederjacke. Er war langsam zu dem leblosen Körper herübergeschlurft, als sei ihm dies alles vor allem lästig.

»Ich habe Sie schreien hören«, fuhr er in demselben müden Tonfall fort. »Da habe ich mich umgedreht und das Mädchen wie einen Stein herabfallen sehen.«

Er verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, wohl in Erinnerung daran, wie der Körper auf den Strand geprallt war.

»Sie ist nicht herabgefallen«, wagte ich einzuwenden. »Sie ist gesprungen.«

Der Mann reagierte nicht. Hatte er den Unterschied überhaupt begriffen?

»Armes Mädchen!«, sagte die alte Frau, die plötzlich rechts neben mir aufgetaucht war.

Die dritte Zeugin. Ein wenig später erfuhr ich, dass sie Denise hieß. Denise Joubain. Wie der Mann in dem blauen Anorak war auch sie am Strand gewesen, jedoch etwas weiter von der Absturzstelle entfernt. Nach meinem hektischen Sprint war ich ein paar Sekunden vor ihnen an der Unglücksstelle angekommen. Denise trug eine gelbe Strumpfhose, die oberhalb ihrer hohen Anglerstiefel hervorlugte und dann unter einem Leinenrock und grauen Mantel verschwand. Sie drückte ihren Hund an sich, einen Shih Tzu, der einen beigen Hundepulli mit roten Streifen trug und mich irgendwie an eine Figur aus Charlie Brown erinnerte.

»Ganz ruhig, Arnold«, murmelte sie ihm ins Ohr und wiederholte dann: »So eine schöne junge Frau … sind Sie wirklich sicher, dass sie von alleine gesprungen ist?«

Was für ein idiotischer Gedanke.

Natürlich ist sie von allein gesprungen!

Plötzlich wurde mir bewusst, dass es außer mir keinen Zeugen ihres Selbstmords gab.

»Ganz sicher!«, erwiderte ich. »Ich habe ja dort oben mit ihr gesprochen. Habe versucht, sie zur Vernunft zu bringen …«

Denise Joubain warf mir einen finsteren Blick zu.

Was glaubte sie denn? Dass jemand sie hinuntergestoßen hatte?

»Alles ging so schnell. Ich näherte mich ihr ganz, ganz vorsichtig. Dann streckte ich meine Hand aus und wollte ihr einen roten …«

Die Worte blieben mir plötzlich in der Kehle stecken.

An dem toten Körper, der einige Meter von mir entfernt lag, fiel mir mit einem Mal ein Detail auf. Ein unfassbares Detail …

Nein, das war unmöglich!

Verdammt! Ich hatte irgendetwas nicht mitgekriegt …

Mein Blick heftete sich auf den roten Schal.

Sicher gab es eine rationale Erklärung dafür … Ganz bestimmt gab es die …

»Wir müssen etwas unternehmen!«

Denise hatte mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich überlegte kurz, ob sie mit mir gesprochen hatte oder mit ihrem Hund, den sie noch immer an ihre Brust gedrückt hielt.

»Sie hat recht«, bekräftigte der Mann. »Wir müssen die Polizei benachrichtigen!«

Er hatte die Stimme eines Rauchers. Außer seiner abgewetzten Lederjacke trug er eine flaschengrüne Baskenmütze. Er hieß, wie ich wenig später erfuhr, Christian Le Medef. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich ihn an genau demselben Strandabschnitt wiedersehen würde, schon am nächsten Tag, fast zur gleichen Uhrzeit, nur noch deprimierter, und dass ich von ihm Informationen bekommen würde, die uns zu Komplizen ein und derselben Paranoia machen sollten.

Arnold kläffte zwischen den Brüsten seiner Herrin.

Die Polizei rufen?

Meine rechte Handfläche kribbelte auf einmal, als wäre mir der Kaschmirschal erneut entglitten. Ich bildete mir ein, den roten Streifen vor meinen Augen flattern zu sehen, während Denise und Le Medef mich mit sorgenvollem Gesicht beobachteten … Warteten sie etwa darauf, dass ich die Initiative ergriff?

Dann endlich verstand ich: Keiner der beiden hatte ein Handy bei sich. Also zog ich meines aus der Tasche und wählte den Notruf.

»Gendarmerie Fécamp«, meldete sich ein paar Sekunden später eine Männerstimme.

Ich schilderte kurz, was passiert war. Ja, die junge Frau war tot, kein Zweifel, sie war über hundert Meter in die Tiefe gestürzt.

Am anderen Ende der Leitung wurde alles notiert. Nachdem ich noch einmal den genauen Unglücksort genannt hatte, legte ich auf und lächelte den beiden aufmunternd zu. »Die Polizei kommt gleich … Sie werden in zehn Minuten da sein.« Sie nickten nur.

Lange Zeit war nur das Rollen der Kiesel in der Brandung zu hören. Bei jeder Welle blickte der Mann auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. Ehrlich gesagt wirkte er angesichts der toten Frau zu seinen Füßen nicht gerade erschüttert, vielmehr genervt.

Auf einmal ließ Denise ihren Hund auf den Boden springen, der sich sogleich zwischen die Gummistiefel seines Frauchens flüchtete. Dann zupfte sie mich am Ärmel.

»Die brauchen ja eine Ewigkeit! Los, gib mir mal deine Jacke, mein Junge.«

Ich begriff nicht gleich, was sie von mir wollte. Meine Jacke? Es waren doch höchstens fünf Grad …

»Gib mir deine Windjacke!«, wiederholte sie, jetzt in deutlich herrischerem Tonfall.

Ohne weiter darüber nachzudenken, gehorchte ich. Ungeduldig nahm Denise sie entgegen, ging zu der Toten und bedeckte ihr Gesicht.

Ging es ihr um Religion? Um Aberglauben? Oder wollte sie ihren kleinen Arnold vor einem Trauma bewahren?

Egal, im Grunde war ich ihr dankbar. Noch ein letztes Mal blickte ich auf den Schal. Die Stimme in meinem Kopf gab keine Ruhe.

Das war einfach nicht möglich!

Der Schal war fest um den Hals der jungen Frau geknotet.

4

Die Kälte kroch meine nackten Arme hinauf. Kaum war die Sonne hinter der Falaise d’Amont aufgetaucht, schien sie sich bereits wieder hinter einer Wolkendecke verstecken zu wollen. Um mich warm zu halten, trat ich auf der Stelle. Die Polizei musste jeden Augenblick hier sein. Die letzten Minuten hatten wir schweigend verbracht, nur das Kreischen der Möwen über unseren Köpfen war zu hören gewesen. Arnold hatte sich auf den Strand gesetzt und beobachtete sie mit einer Mischung aus Furcht und Staunen.

Während der ganzen Zeit versuchte ich mir verzweifelt zu erklären, weshalb die Tote den Schal um den Hals trug. Sie hatte ihn mir doch aus den Händen gerissen und war im selben Moment in die Tiefe gesprungen.

Wer konnte der Leiche den Schal um den Hals gewickelt haben? Ich war doch als Erster bei ihr angekommen. Der Mann und Denise waren im Augenblick des Aufpralls zu weit entfernt gewesen. Und warum hätten sie es auch tun sollen? Das ergab doch keinen Sinn! Aber wer war es dann gewesen?

Niemand! Niemand hätte sich der Leiche an diesem einsamen Strand nähern können, ohne dass die beiden es bemerkt hätten.

Ein Schauder lief mir über den Rücken: Kälte. Und Angst.

So kam ich nicht weiter, ich musste mich beruhigen und rational an die Sache herangehen. Die einzig mögliche Erklärung war, dass der rote Schal sich beim Fallen um den Hals der jungen Frau gewickelt hatte!

Verrückt …!

Ich überschlug die Höhe der Klippe, stellte mir vor, wie lange es dauerte, bis ein Körper von dort oben herabstürzte. Ein paar Sekunden. Drei, maximal vier. Jedenfalls ausreichend Zeit, um sich einen Schal umzubinden.

Rein technisch wäre es also möglich gewesen. Aber war es realistisch? Im freien Fall, während man mit den Armen rudert und einem der Wind ins Gesicht peitscht?

Gedankenverloren sah ich einer Möwe zu, die sich einfach fallen ließ und zwischen Himmel und Kreidefelsen schwebte.

Eine Minute später traf endlich die Polizei ein. Ihren Peugeot-Kastenwagen hatten sie auf dem Parkplatz vor dem Casino abgestellt und kamen dann zu zweit auf uns zu. Der jüngere der beiden bewegte sich recht gemächlich. Er war um die vierzig, hatte einen länglichen Kopf, glattpoliert wie ein Kieselstein, und fluchte jedes Mal, wenn er mit seinen schicken Stiefeln auf den feuchten Algen ausrutschte. Der zweite Polizist wirkte wie einer jener Beamten, die schon für die Rente geboren sind. Seine Jacke spannte über dem mächtigen Brustkorb und dem vorgewölbten Bauch. Er trug seine halblangen grauen Haare nach hinten gekämmt, und seine Stirn war in tiefe Furchen gelegt. Einer, der vor Arroganz beinahe platzt.

Der Jüngere lag noch zehn Schritte zurück, als sein Kollege sich bereits vor uns aufbaute. Er stand direkt vor der Leiche.

»Hauptkommissar Piroz«, sagte er trocken. »Also, einen Selbstmord hatten wir ja lange nicht mehr. Seit sie den Pont de Normandie gebaut haben, springt man lieber von dort aus.«

Er fuhr sich mit beiden Händen über die Stirn, als wollte er seine Falten glätten.

»Kennen Sie sie?«, fragte er dann.

Alle drei schüttelten wir den Kopf.

»Was genau haben Sie denn gesehen?«

Die Lederjacke antwortete als Erster. Er habe gesehen, wie die junge Frau taumelnd ins Leere gestürzt und dann auf die Kiesel geprallt sei. Denise bestätigte seine Aussage, ich beschränkte mich auf ein Nicken.

»Sie waren also alle hier unten? Niemand hat mitbekommen, was dort oben geschehen ist?«

Piroz sah mich durchdringend an, als hätte er meine Verwirrung bemerkt. Dummerweise antwortete ich ein wenig zu schnell: »Doch, ich. Ich bin an den Klippen entlanggejoggt, wie jeden Morgen. Die Frau stand am Rand des Felsens, in der Nähe des Bunkers. Ich habe sie angesprochen und versucht, sie zurückzuhalten, doch dann …«

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Piroz auf meine Prothese, als fragte er sich, wie man damit täglich joggen könne. Ich stammelte:

»Ich … ich trainiere jeden Tag. Auf professionellem Niveau … Für die Paralympics, verstehen Sie?«

Er ignorierte meine Frage, beugte sich stattdessen über die Leiche und hob meine Windjacke etwas an. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Tote.

Nein, es war kein Spuk, der verdammte Schal war noch immer um den Hals der jungen Frau gewickelt.

Ich sah nichts außer dem roten Wollschal, Piroz dagegen schenkte ihm überhaupt keine Beachtung. Er betrachtete eingehend das rote Kleid, den zerrissenen Stoff und sah dann suchend zur Klippe hinauf. Schließlich wandte er sich wieder an uns:

»Das Kleid kann unmöglich während des Herabstürzens zerrissen sein.«

Ich nickte und plapperte schon wieder weiter:

»Als ich die Frau dort oben sah, war ihr Kleid bereits kaputt. Außerdem war ihr Make-up ganz zerlaufen. Sie schien völlig verängstigt zu sein.«

Denise und der Mann sahen mich entgeistert an, als machten sie mir Vorwürfe, dass ich ihnen diese Details bisher verschwiegen hatte. Piroz strich sich noch einmal über die Stirn, vielleicht, um den Gedankenfluss in Gang zu bringen. Der andere Polizist wirkte noch immer abwesend. Er starrte auf die Wellen, die frisch gestrichenen Strandkabinen, die Windräder bei Fécamp und wirkte genauso unbeteiligt wie das Hündchen Arnold.

Piroz schien das nicht zu stören. Vielleicht hatten sie sich auf der Fahrt hierher gestritten?

Jetzt kniete er sich hin, um die Leiche näher zu untersuchen.

»Selbstmord?«, brummte er. »Um sich von da oben herabzustürzen, muss man schon wirklich gute Gründe haben …«

Im Nachhinein wurde mir klar, dass dies der einzige Moment gewesen war, in dem ich hätte offen mit den Polizisten reden können. Ich hätte ihnen erzählen können, dass der Schal in gewisser Weise mir gehörte und dass sie ihn mir aus der Hand gerissen hatte, so unwahrscheinlich das auch klingen mochte.

Doch ich sagte nichts. Ich wartete darauf, dass irgendwer eine rationale Erklärung liefern würde. Ich konnte ja nicht ahnen, was Piroz entdeckte, als er das zerrissene Kleid der Frau anhob.

»Verdammt«, stieß er hervor. »Sie ist nackt.«

Denise kniff die Augen zu und presste Arnold fest an sich, ich bohrte meine Prothese noch tiefer in den Kies, um Halt zu finden.

Piroz ließ den Stofffetzen schnell wieder sinken.

»Die Kleine wurde vergewaltigt! Vor höchstens ein paar Stunden.« Er biss sich auf die Lippen. »Grund genug, sich von da oben herabzustürzen …«

Er blickte erneut zu dem gewaltigen Kreidemassiv. Und dann fiel sein Blick auf den Schal. Vorsichtig löste er ihn mit den Fingerspitzen. Mir wurde schwindelig. Piroz hatte etwas von Vergewaltigung gesagt. Meine Fingerabdrücke waren auf dem Stoff. Spuren von meinem Schweiß, meiner DNA klebten an den Fasern.

Jetzt blickte er mit gerunzelter Stirn auf. »Die junge Frau hier ist nicht nur vergewaltigt worden … sondern auch erdrosselt.«

Ich hatte das Gefühl, einen Stromschlag bekommen zu haben. Ohne nachzudenken, antwortete ich:

»Aber ich habe mit ihr gesprochen. Sie … sie war noch am Leben. Sie ist aus freien Stücken gesprungen. Sie …«

Piroz schnitt mir das Wort ab.

»Also hat man zumindest versucht, sie zu erdrosseln. Vermutlich ist der Vergewaltiger geflohen, als Sie da oben aufgetaucht sind. Sie haben ihr das Leben gerettet. Oder hätten es ihr retten können …«

Diese Formulierung fand ich seltsam. Und die Vermutung des Polizisten ebenfalls. Ein Vergewaltiger hätte sich vielleicht am Bunker verstecken können, aber hätte die junge Frau das nicht erwähnt? Und warum hatte ich keinerlei Spuren von Gewaltanwendung an ihrem Hals bemerkt? Weil ich nicht genau hingesehen und mich vollkommen auf ihr Gesicht konzentriert hatte? Auf ihr zerrissenes Kleid?

»Was machen Sie da?«, unterbrach Denise meine Grübeleien.

Piroz hatte sich über die Leiche gebeugt und schnupperte. Arnold schaute ihm fasziniert zu. Dann hob der Beamte mit einem zufriedenen Lächeln den Kopf: »Ihre Haut riecht nach Salz.«

Ich glaubte einer surrealistischen Szene beizuwohnen, der zweite Polizist dagegen lauschte teilnahmslos den Befunden seines Kollegen.

»Nach Salz?«, wiederholte Denise überrascht.

»Ja … aber zumindest dafür gibt es eine einfache Erklärung.« Piroz machte eine lange Pause. »Ein Bad im Meer.«

Am 19. Februar? In der Morgendämmerung? Wo das Wasser nicht mehr als zehn Grad hatte?

»Und zwar nackt«, fügte Piroz hinzu. »Ihre Kleider sind trocken.«

Denise begann zu zittern und suchte an meinem Arm Halt.

»Womöglich hat diese hübsche junge Frau dadurch ihren Vergewaltiger sogar auf den Plan gerufen«, fuhr Piroz ungerührt fort und richtete sich auf.

»Gut, jetzt können die Gerichtsmediziner ihre Arbeit aufnehmen. Tut mir leid, aber ich brauche Ihre Namen, Ihre Anschrift, Telefon und all das Übrige. Außerdem muss ich Sie bitten, eine Aussage bei der Polizeidienststelle in Fécamp zu machen, möglichst am frühen Nachmittag.«

Denise stützte sich jetzt mit ihrem ganzen Körpergewicht auf mich. Ich zitterte wie Espenlaub. Piroz bemerkte es und sah mich durchdringend an.

»Los, gehen Sie und ziehen Sie sich was an, damit Sie sich nicht erkälten. Ich brauche Sie noch.«

5

Direkt vor mir ragte jetzt die Felsnadel der Aiguille d’Étretat auf.

Nach der Unterredung mit den Polizisten am Strand war ich viel zu durcheinander gewesen, um ins Hotel zurückzukehren. Stattdessen war ich noch eine gute Stunde gelaufen von Yport nach Étretat, hinab ins Vaucottes-Tal und die Brèche d’Étigues wieder hinauf. Es waren bestimmt kaum fünf Grad, und doch war ich schweißgebadet. Die von Raureif bedeckten Wiesen tauten allmählich auf, und es bildeten sich Rinnsale aus Eiswasser, die an den ockerfarbenen Furchen im Kreidefelsen entlang über die Steilkante hinab in den Abgrund rieselten.

Das perfekte Verbrechen. Mein Magen krampfte sich zusammen. Seitdem ich den Strand verlassen hatte, konnte ich an nichts anderes mehr denken. Kommissar Piroz’ Schlussfolgerungen schienen mir nun durchaus logisch zu sein. Die unbekannte junge Frau schlüpft am Strand von Yport aus ihrem roten Kleid, es ist noch sehr früh am Morgen. Sie geht nackt schwimmen. Der Vergewaltiger lauert ihr auf, folgt ihr, als sie den Abhang hinaufgeht. Er verliert seinen Schal, stellt sich der Frau in der Nähe des Bunkers in den Weg, vergewaltigt sie, versucht sie zu erwürgen. Dann hört er, wie ich mich ihnen nähere, lässt von ihr ab und versteckt sich. Doch zu spät. Voller Verzweiflung springt die junge Frau in die Tiefe.

Den Rückweg nach Yport schaffte ich in knapp fünfundvierzig Minuten. Ich begegnete niemandem, mit Ausnahme eines Radfahrers im Taleinschnitt von Vaucottes und einem Esel, der mich zu erkennen schien, da ich jeden Morgen an ihm vorbeikam. Es war völlig windstill.

Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Wenn Piroz recht behielt, dann hatte mich der Vergewaltiger gesehen. Ich war der einzige Zeuge …

Der Weg fiel jetzt ein wenig ab, und ich beschleunigte meinen Lauf. Als ich am Campingplatz Le Rivage vorbeikam, erstrahlte die Bucht von Yport im gleißenden Morgenlicht. Das Meer zog sich sanft zurück und enthüllte eine Mondlandschaft aus smaragdfarbenen Algen, die in Büscheln auf dem flachen Steinplateau wuchsen.

Und wenn Piroz sich doch irrte? Wenn der Vergewaltiger sich schon am Strand an der jungen Frau vergangen hatte? Woraufhin sie voller Panik auf die Klippe gelaufen war. Traumatisiert. Den roten Schal hatte sie unterwegs verloren. Und dann war sie gesprungen, obwohl ich versucht hatte, sie davon abzuhalten.

La Sirène