Näher als du ahnst
Was dir bevorsteht
Kapitel
Gabe
Fluch
Chance
Indiskretion
Grübchen
Nähe
Attacke
Lügen
Schändung
Wäsche
Feind
Folter
Leben
Wenn dir die Geschichte gefallen hat,
Außerdem empfehlen wir dir …
Kris B. …
Impressum
/ London Crimes
Psycho-Krimi
von Kris B.
April hat eine schreckliche Gabe: Sie sieht den gewaltsamen Tod anderer Menschen voraus - und kann nichts dagegen tun. Erst als sie sich Detective Inspector Frederick London offenbart, scheint eine Rettung des nächsten Opfers möglich. Doch längst ist April selbst verstrickt in die tödlichen Entwicklungen …
Näher als du ahnst ist der kompakte Auftakt zur Reihe London Crimes. Band 2, 3 und 4 führen dich dann - im üppigeren Schmökerformat - noch tiefer hinein in die Welt der Verbrechen Londons.
Jeder Band erzählt eine in sich abgeschlossene Geschichte – und verrät zudem mehr über Frederick London.
Gabe / 5
Fluch / 11
Chance / 24
Indiskretion / 36
Grübchen / 44
Nähe / 61
Attacke / 75
Lügen / 93
Schändung / 103
Wäsche / 115
Feind / 130
Folter / 142
Leben / 156
Wenn dir … / 159
Kris B. / 163
Impressum / 164
„Alles startklar? Also los jetzt.“ Die fünfjährige April, die gerade dabei war, die dicken Mantelknöpfe in die Knopflöcher zu zwängen, stolperte fast, als die Hand ihrer Mutter sie über die Türschwelle in die eisige Luft hinaus bugsierte.
Prince, der junge Dobermann, sprang bellend um das Auto herum, während Dad die dünne Eisschicht von der Windschutzscheibe kratzte. „Jedes Jahr der gleiche Zirkus. Von mir aus könnte man Weihnachten auch ausfallen lassen.“
„Von mir aus könnten wir die Besuche bei dem alten Drachen allesamt ausfallen lassen, nicht nur an Weihnachten“, sagte Mum. Sie war jedes Mal so schlecht drauf, wenn sie Oma besuchten. Oma kochte nämlich sehr lecker und wurde böse, wenn sie etwas aufwärmen musste. Dad sagte, sie sei ein „Gurmäh“, und Mum sagte, sie sei ein spitzzüngiger alter Drache, was April witzig fand. Sie zeichnete manchmal Drachen mit langen Gesichtern, die genau wie Oma aussahen.
Dad warf den Eiskratzer ins Handschuhfach und hielt die hintere Tür für die Kinder auf. Prince sprang als erster auf den Sitz, dann kletterte Kevin hinterher. April wollte sich gerade beschweren, dass ihr Bruder schon wieder neben Prince sitzen durfte, als ein plötzlicher, heißer Windstoß sie zurückweichen ließ.
„Das Auto brennt“, kreischte sie.
Dad griff nach ihrer Hand. „Jetzt mach schon. Wir kommen sonst zu spät zum Essen.“
April entwand sich. „Es brennt.“
„Was zum Kuckuck soll denn das? Rein mit dir, aber dalli, Fräulein.“
April fing an zu weinen. „Nein, nein, nein!“
Mum hob sie hoch, die Arme fest um ihren Leib gepresst. Aber April wurde immer hysterischer, brüllte und schlug um sich.
„Da hast du’s!“, rief Dad. „Das kommt davon, dass du sie so verzogen hast.“
„Nein, das kommt davon, dass sie vor deiner Mutter Angst hat.“
„Vor der hat außer dir niemand Angst, weil du ihr nämlich nicht das Wasser reichen kannst.“
„Wenn du halb so viel verdienen würdest wie deine Mutter Witwenrente kassiert, dann könnte ich auch scheißvornehm tun und würde dabei nicht mal so ein mürrisches Gesicht machen. Ich hab’s echt nicht nötig, mir Weihnachten verderben zu lassen, nur weil sie ständig an mir herumnörgelt.“
„Wenn du dich nicht wie ein Hippie anziehen würdest, dann hätte sie nichts zum Nörgeln.“
„Bernie, du entwickelst dich zu dem gleichen Spießer wie dein Vater.“
April nutzte den Streit ihrer Eltern, um sich aus Mums Armen zu winden, bis sie festen Boden unter den Füßen hatte. Langsam pirschte sie sich rückwärts und klammerte sich ans Gartentor. „Ich will daheim bleiben“, jammerte sie.
Dad holte Aprils Plüschhasen Bobo vom Rücksitz und hielt ihn ihr vors Gesicht. „Jetzt komm doch, ich bin schon ganz verhungert“, sagte er mit dem niedlichen Lispeln, das April immer zum Kichern brachte. „Oma hat für mich Möhrenkuchen gebacken. Superlecker!“
April griff nach Bobo und drückte ihn an ihre Backe. „Es brennt“, flüsterte sie.
Mum seufzte. „Bernie, lass mich mit ihr daheim bleiben. Ich glaube, sie brütet eine Krankheit aus.“
Ohne ein weiteres Wort zwängte Dad sich hinters Lenkrad und knallte die Fahrertür zu. Prince bellte durch das Rückfenster, als der Wagen davon brauste. Aprils Füße knickten weg und Mum trug sie ins Haus, wo April auf dem Sofa einschlief, immer noch in den Mantel geknöpft und Bobo an die Backe gedrückt.
Mums ärgerliche Stimme weckte sie. Sie saß neben Aprils Füßen und sprach ins Telefon. „Nein, wir sind nicht spät dran. April ist krank geworden, darum ... Dein Sohn ist vor einer halben Stunde losgefahren. Er kommt bestimmt jede Minute ... Nein, ich sagte doch, es ist wegen April. Sie hat Fieber ... Weißt du was, dein Soufflé ist mir piepegal.“ Ihre Armbänder klirrten, als sie den Hörer auf die Gabel knallte. „Dieser Drache bringt mich noch ins Grab. Maus, geht’s dir besser? Du bist so blass.“
„Hab’ Durst.“
Mum ging in die Küche. April setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Luft um sie herum flirrte ganz seltsam.
Mum kam zurück und hielt ihr ein Glas Milch an den Mund. „Hier, trink das, Mäuschen.“
Da war plötzlich wieder diese Hitze. April schlug die Hände vors Gesicht. „Weg, weg! Es ist heiß.“
„Aber das ist kalte Milch. Lass mich mal deine Stirn fühlen.“
April schlug ihrer Mutter auf die Hand. Die Welt stand in Flammen. Sie atmete schwarzen Rauch ein, der in ihrer Kehle brannte. Sie schluchzte, hustete, verschluckte sich.
„Mäuschen, was ist denn los?“
Endlich hörten die Flammen auf, ihr Gesicht zu versengen. Erschöpft sank April auf den Schoß ihrer Mutter und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf. Als sie wieder aufwachte, war es draußen schon dunkel. Mum hatte noch kein Licht angemacht. Das einzige Geräusch, das April hörte, war ein kehliges Weinen.
Mum nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. „Mein süßes, liebes, kleines Mäuschen“, schluchzte sie. „Du bist alles, was mir geblieben ist.“ April fühlte, wie die Brust ihrer Mutter sich hob und senkte und hörte ihr Herz an ihrem Ohr pochen. Sie verstand nicht, was los war. Aber wenigstens war es wieder kühl.
Das Zimmer stank nach Zigarrenrauch und vergilbten Büchern. Selbst die Bettwäsche hatte den Geruch staubigen Papiers angenommen. Aprils Kopf lag auf Russels Oberkörper. Sein Atem ging stoßweise, sein Herzklopfen dröhnte in ihren Ohren.
Sie schoss hoch.
„Sag bloß, du willst schon wieder“, neckte er sie.
Warum hielt Russel sie nur für sexbesessen? „Nein, ich musste plötzlich daran denken, wie meine Mutter ... Ist ja egal.“ Das passierte immer, wenn sie ein Herz schlagen spürte: Sie war wieder fünf Jahre alt und tröstete ihre Mutter, die ihr unter Schluchzen erzählte, was passiert war.
Russell hakte nicht nach, sondern langte um sie herum und nahm etwas vom Nachttisch. „Hier, Süße, mein Weihnachtsgeschenk. Etwas ganz Besonderes.“
Sie zögerte, dann streckte sie die Hand nach dem schlichten weißen Umschlag aus. Er zog den Arm wieder zurück. „Erst musst du mir versprechen, dass du es annehmen wirst, egal was es ist. Ich kenne doch deinen Stolz.“
Hoffentlich war es kein Geld. Als er den Umschlag wieder in ihre Reichweite hielt, ignorierte sie ihn. Er brummelte enttäuscht, öffnete den Umschlag und entnahm ihm zwei Flugtickets, die er ihr triumphierend vor die Nase hielt. „San Francisco. Flug in der Business-Klasse. 5-Sterne-Hotel. Na, was sagst du?“
„Eine Reise? Wann fliegen wir da hin?“
„In zwei Wochen.“
„Du spinnst. Ich muss mich aufs Examen vorbereiten.“ Als ob er das nicht wüsste, er war schließlich ihr Französisch-Prof.
Russel fuhr sich durch die dichten, blonden Haare, die ihn jünger aussehen ließen, als er war. „Du hast gesagt, du würdest gerne mit mir in Urlaub fahren.“
Das hatte sie mit Sicherheit nicht gesagt. Immer drehte er ihr das Wort im Mund herum und interpretierte alles so, wie es ihm in den Kram passte. „Du hast mich gefragt, ob ich mal für ein paar Tage mit dir wegfahren will und ich habe gesagt, ja, warum nicht. Aber doch nicht ausgerechnet jetzt.“
Er kitzelte sie am Ohrläppchen. „Es wird dir gut tun. Du kannst nicht immer nur herumsitzen und lernen.“
„Ich verletze nur ungern deine Gefühle, aber du musst die Reise stornieren.“
„Ich habe deinetwegen meine Familie verlassen. Ich bin aus meiner Luxusvilla in dieses schäbige Zimmer gezogen. Und du hast nur dein Examen im Kopf.“
April drückte die Handflächen gegeneinander, als wollte sie seine Worte dazwischen zerquetschen. „Ich habe dich nie darum gebeten, deine Familie zu verlassen. Gerüchten zufolge hat deine Frau dich rausgeschmissen, weil sie von deinen Affären genug hatte.“
„Ich habe Julie verlassen, weil ich mit dir zusammen sein wollte. Ich liebe dich aus tiefstem Herzen. Sonst würde ich doch keine zweitausend Pfund für eine Reise mit dir ausgeben, oder?“
Es wurde Zeit, die Beziehung zu beenden, bevor sie völlig entgleiste. Mit einer Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung sagte April: „Russel, ich liebe dich nicht und ich werde nicht mit dir nach San Francisco fliegen.“
Er zwang ihre Hände auseinander und steckte die Tickets dazwischen. „Du wirst schon noch zur Vernunft kommen.“
Im gleichen Augenblick geriet die Welt aus den Fugen. Die Wände verbogen sich. Die Luft wurde zusammengepresst. Die Decke wölbte sich nach innen und drohte, sie unter sich zu begraben.
Sie schleuderte die Tickets quer durch den Raum und sprang vom Bett auf. Die Vision endete so abrupt wie sie begonnen hatte. „Es stürzt ein“, keuchte sie.
„Was stürzt ein?“
April nahm Russels schweren Bademantel von der Stuhllehne neben dem Schreibtisch, zog ihn über und schlang die Arme um ihren Körper. „Russel, ich muss dir etwas über mich erzählen. Ich habe Visionen, die mich zuweilen einfach überfallen.“ Forschend sah sie ihn an, doch er unterbrach sie nicht, also redete sie weiter. „Das wäre nicht so schlimm, wenn es schöne Visionen wären, über Geburten, Hochzeiten oder von mir aus auch Lottozahlen. Aber meine Visionen handeln immer vom Tod.“
„Worauf willst du hinaus?“
Sie schlängelte den Bademantelgürtel um ihre Finger. „Gerade hatte ich wieder eine Vision.“
„Aber wir haben uns doch die ganze Zeit unterhalten.“
„Meine Visionen sind wie Schnappschüsse. Sie kommen und gehen in einem Augenblick. Wenn wir nach San Francisco fliegen, werden wir in einem einstürzenden Gebäude ums Leben kommen.“
Russel kniff die Augen zusammen. „Bist du so unglücklich über die Reise, dass du dir solche lächerlichen Ausreden ausdenken musst?“
„Bitte, du musst mir glauben. Meine Visionen erfüllen sich immer. Ich habe es noch nie geschafft, ein Unglück zu verhindern. Mein Dad und mein Bruder kamen vor achtzehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Ich wusste, dass das Auto brennen würde, und weil ich mich weigerte einzusteigen, blieb meine Mutter mit mir daheim. Als es dann passierte, konnte ich es fühlen, als wäre ich direkt dabei. Ich fühlte den Schmerz, als ihre Haut verbrannte und sie den schwarzen Rauch einatmeten.“
„Jetzt trag mal nicht zu dick auf. Je mehr du deine Geschichte ausschmückst, desto unglaubwürdiger wird sie.“
„Ich denke mir das nicht aus.“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ich habe mein Leben lang Visionen gehabt und ich habe gelernt, sie verdammt noch mal ernst zu nehmen, egal was andere von mir denken.“
„Na gut.“ Er schwang seine Beine über die Bettkante. „Nehmen wir mal an, du und ich sind vom Schicksal dazu bestimmt, während eines Erdbebens umzukommen. Die logische Schlussfolgerung ist: Wenn wir nicht nach San Francisco fliegen, findet das Erdbeben hier statt, mitten in Cambridge. Da werden die Seismologen ganz schön ins Schwitzen kommen.“
„Erstens habe ich nichts von einem Erdbeben gesagt. Zweitens ist die Logik andersherum. Es wird dort passieren, wo wir hinfliegen, denn ich hatte die Vision, als du mir die Tickets in die Hand gedrückt hast. Das Gebäude, in dem wir sein werden, ist auf jeden Fall zum Einsturz verdammt, aber wir müssen dabei nicht umkommen, so wie meine Mutter und ich nicht bei dem Autounfall starben, den ich gesehen hatte, weil wir daheim geblieben sind.“
Russel kämpfte sich mit ruckartigen Bewegungen in sein T-Shirt. „Du hast es anscheinend sehr eilig, mich loszuwerden. Aber ich weiß, dass du mich in Wirklichkeit liebst und mich heiraten wirst, sobald meine Scheidung durch ist.“
„Schreib mir nicht vor, was ich fühlen, denken oder tun soll.“
„Seltsame Ansicht für jemanden, der behauptet, hellsichtig zu sein. Denn in deiner Weltanschauung schreibt das Schicksal das Drehbuch und du spielst nur eine kleine Rolle. Wir beide werden heiraten, zwei wundervolle Kinder haben und uns einen Hund zulegen.“
April atmete mit einem leisen Seufzer aus. „Der Hund hat überlebt.“
„Welcher Hund?“
„Er hieß Prince. Er sprang aus dem zersplitterten Seitenfenster, als der Wagen in Flammen aufging.“ Sie überquerte den fadenscheinigen Teppich, schloss sich im Badezimmer ein und ließ sich an der Tür hinabgleiten, bis sie in der Hocke saß. Zwei Jahre lang hatte sie keine Visionen mehr gehabt, hatte gehofft, es wäre endlich vorbei, und jetzt das.
„Geht’s dir gut, Süße?“
April spürte kleine Schläge in ihrem Rücken, als Russell an die Tür pochte. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, wie sehr sie das Ganze mitnahm. Schlimm genug, dass sie ihm von ihrer Vision erzählt hatte. Aber wie sollte sie ihn sonst daran hindern, in seinen sicheren Tod zu fliegen?
April zwang sich aufzustehen. Der Bademantel blieb wie eine schlammfarbene Pfütze liegen. Mit zitternden Händen stieg sie in ihre Jeans und streifte den Pullover über. Als sie ins Schlafzimmer zurückkam, war auch Russel angezogen. Er saß mit ausgestreckten Beinen auf dem verblassten Bettüberwurf und rauchte seine unvermeidliche Zigarre danach.
„Diese Reise ist genau das, was du jetzt brauchst.“
Sie riss sich zusammen. „Ich weiß, dass du kein Nein akzeptieren kannst. Aber eine andere Antwort bekommst du nicht.“ Sie sammelte ihre wenigen Sachen zusammen, die sie im Laufe der Monate von zu Hause mitgebracht hatte.
Er blies dicken Rauch an die Decke. „Du bist nicht die einzige Mieze auf dem Campus, die scharf auf mich ist. Ich wette, die meisten würden sich darum reißen, mit mir in die Staaten zu fliegen.“
„Du willst wirklich nach San Francisco?“ Sie verstaute ein zerknittertes Taschentuch in ihrer Handtasche. „Ich dachte, ich hätte hinreichend klar gemacht, dass das eine Reise ohne Wiederkehr ist.“
„Alles, was du hinreichend klar gemacht hast, ist, dass du überarbeitet und durchgeknallt bist.“
In einem plötzlichen Ausbruch von Energie hechtete sich April aufs Bett, packte Russels Schultern und fuhr ihn an: „Ich bin nicht durchgeknallt, du Idiot. Wenn du mir nicht glaubst, dann fahr mich einfach heim und frag meine Mutter. Frag sie! Sie kann dir von den Toden erzählen, die ich vorhersah; die ich miterlebte, als sie eintraten; von denen ich in endlosen Alpträumen heimgesucht werde; von den Quacksalbern, zu denen sie mich geschleppt hat, damit sie mich heilen; von den Sekten, den Exorzismus-Ritualen.“ Sie ließ ihn los, stapfte in die Ecke, wo die Tickets gelandet waren und riss sie in winzige Stücke.
„Ich kann mir neue Tickets ausdrucken“, sagte Russell mit Genugtuung in der Stimme. „Mir kommen so langsam Zweifel, dass ich einen Urlaub mit dir wirklich genossen hätte.“ Er warf ihre Handtasche quer durchs Zimmer. „Ende und aus, Süße. Wie du siehst, kann ich ein Nein sehr wohl akzeptieren.“
Die Handtasche entleerte ihren Inhalt zu Aprils Füßen. Russel runzelte die Stirn, bückte sich über die Bettkante und griff sich das kleine, braune Tablettenfläschchen, das ihm entgegenrolle. Er schielte aufs Etikett. „Librium. Nimmst du das regelmäßig?“
Sie ging in die Hocke und stopfte alles in ihre Handtasche zurück. „Nach meiner letzten Vision hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Ich bekam eine Librium-Injektion und das hat mir sehr schnell geholfen. Der Arzt meinte, wenn ich es regelmäßig nehme, könnte es meine Hellsichtigkeit unterdrücken. Na ja, er sagte nicht Hellsichtigkeit, er nannte es schizophrene Episoden. Jedenfalls ist es zwei Jahre lang gut gegangen, bis heute. Wahrscheinlich war es nur ein glücklicher Zufall, dass in den letzten zwei Jahren niemand in meinem Umfeld eines tragischen Todes starb.“
„Zwei Jahre?“ Russel balancierte die Zigarre auf dem Rand eines zerbeulten Kupferaschenbechers. „Hat dieser Seelenklempner auch gesagt, dass du davon süchtig werden kannst? Meine Frau ist Apothekerin. Sie warnt alle Patienten, die mit solchen Rezepten kommen.“
„Ich nehme nur eine minimale Dosis.“ Sie saß jetzt im Schneidersitz, müde und völlig ausgelaugt.
Russel rollte die Flasche zu ihr zurück. „Dann setze sie langsam ganz ab.“
April erhob sich, schulterte ihre Handtasche und verließ den staubigen Raum.
April stieg vom Fahrrad und schob es das letzte steile Stück die Straße hoch. Sie fühlte sich wackelig auf den Beinen, entweder weil sie nach zwei Tagen ohne Librium Entzugserscheinungen hatte, oder weil sie sich vor der Begegnung mit Russels Frau fürchtete. Vielleicht auch beides. Zum ersten Mal versuchte sie ganz allein, das Eintreffen einer Vision zu verhindern. Sie hatte ihrer Mutter diesmal nichts erzählt. Sie hatte ihr auch nicht gesagt, dass das Librium versagt hatte, denn dann hätte Imogen sie bloß wieder zu irgendeinem Psychofritzen geschleift.
Sie lehnte das Fahrrad gegen den schmiedeeisernen Zaun. Bobo war in der Satteltasche und flüsterte ihr so aufmunternd zu, wie nur ein Plüschhase es kann.
Kaum hatte sie die Klingel betätigt, öffnete sich die Tür einen Spalt. „Ja?!“
„Mrs Fenshaw? Ich bin April Stevenson, eine Studentin Ihres Mannes.“
Die stattliche Frau musterte sie mit strengem Blick. „Ach, Sie sind das Flittchen, das sich ihm so schamlos an den Hals geworfen hat.“
Aha, dachte April. So hat er das also dargestellt, damit seine Frau ihn wieder ins Haus lässt.
„Ich möchte mit Ihnen reden, weil Russell drauf und dran ist, sich in Gefahr zu begeben.“
Julie Fenshaw öffnete die Tür etwas weiter. „Was quatschen Sie da für dummes Zeug?“
„Es geht um die Reise, die er ursprünglich für mich gebucht hatte. Ich konnte Russell nicht davon abbringen. Ich habe gehört, dass Sie an meiner Stelle mit Ihrem Mann nach San Francisco fliegen werden. Deswegen möchte ich Sie warnen.“
Julie Fenshaw lächelte herablassend. „Ich verstehe schon“, sagte sie schnippisch. „Russel hat sich beklagt, dass Sie wie eine Klette an ihm hängen und er Sie kaum wieder loswurde.“
Für einen kurzen Moment war April in Versuchung, zu denken, dass Russell und seine Frau, verlogen und kaltschnäuzig wie sie waren, ihr Schicksal verdient hatten. Aber dann gewann ihre bessere Seite wieder die Oberhand. „Bitte, lassen Sie es mich erklären. Es dauert nur ein paar Minuten.“
„Verschwinden Sie aus meinem Leben.“
„Wenn Sie mir nicht zuhören, wird Ihr Leben in einem einstürzenden Gebäude enden.“
Julie Fenshaw zog die Tür ganz auf. „Und wenn Sie nicht aufhören, mich zu belästigen, werde ich Sie dem Dekan melden.“
„Es ist mir todernst, Mrs Fenshaw.“
Julie Fenshaw knallte die Tür ins Schloss.
April kniff die Augen zu und zählte bis zehn, dann klingelte sie erneut, aber die Tür blieb geschlossen.
April stand mit dem Rücken zu ihrer Mutter am Fenster. Die Bäume am Straßenrand sahen fast lebendig aus. Wütend schüttelten sie ihre Äste im Wintersturm und ließen die Dunkelheit noch bedrohlicher wirken.
„Mum, erinnerst du dich an die Zigeunerin?“