Cover

Über dieses Buch

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg lernen sich die Eltern der Autorin in Schweden kennen: Ella aus dem rumänischen Sighet hat Auschwitz überlebt, der Deutsche Georg hat gegen Hitler gekämpft. Die kleine Rose entdeckt nach und nach, was ihre Familie besonders macht: Manche Verwandte existieren nur auf Fotografien, andere sind über die ganze Welt verstreut. Rose Lagercrantz begleitet ihre Mutter Ella in deren letztem Lebensjahr und schildert die Gespräche und Erlebnisse, die sie auf ihren »Familienreisen« nach Frankreich, Südafrika, Kanada oder Ungarn hatte. Sie will verstehen, was es bedeutet, wenn es einen noch gibt.

Lagercrantz’ Sprache ist schnörkellos und ruhig. Gerade dadurch entfaltet sie einen starken Sog, sodass es »fast unmöglich ist, sich loszureißen«, wie Paula Helgesson im Svenska Dagbladet schrieb.

Die Autorin

Rose Lagercrantz wurde 1947 in Stockholm geboren. Sie arbeitete in einem Kindertheater sowie für Funk und Fernsehen, bevor sie zu schreiben begann. Ihre zahlreichen Kinderbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und die Autorin mehrfach preisgekrönt.

Wenn es einen noch gibt ist ein Buch für Erwachsene.

Die Übersetzerin

Angelika Kutsch arbeitete viele Jahre als Lektorin und lebt heute als freie Übersetzerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Rose Lagercrantz
Wenn es einen noch gibt

Ein Familienporträt

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch


persona verlag

Inhalt

Georg
Annie
Hilde
Sollie
Mein Hugo
Rózsi
Gitl
Sara
Onkel Hugo
Tante Georgette
Die Frauen im Crest Hotel
Adeline
Ella
Onkel Tulli und Ibo
Zum letzten Mal Adeline
Nur ich, Rose

Impressum

Alle Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind beabsichtigt.
Die Autorin

Georg

Nun muss ich mich beeilen, alles zu erzählen, ehe es ganz verschwindet.

An das meiste kann ich mich erinnern. An die unerklärliche Freude, die ich tagsüber empfand. Am Abend dann die schleichende Angst vor dem, was in unserem Kohlenkeller geschah. Die Angst vor Svenne und Göran, den gefährlichen Schlägern in unserer Straße. Wenn ich die beiden auch nur von ferne sah, stürmte ich nach Hause zu Mama, die mit ihren himmelblauen Augen immer über mir wachte. Aber niemand konnte mir helfen, nur mein starker Papa, Georg. Leider war er fast nie da.

Papa war Geschäftsmann und reiste viel herum, aber manchmal kam er nach Hause und füllte die Luft mit fremden Namen wie Berlin, Dresden und Leipzig. Und das Wohnzimmer füllte er mit Geschenken – ein Gemälde, Porzellanteller, geschmückt mit Rosendekor, oder eine Tischuhr. Er hatte einen Uhrentick. In unserer kleinen Wohnung im Filvägen 9 in Midsommarkransen sammelten sich immer mehr Uhren an. Wir hatten eine Kuckucksuhr, wir hatten eine vergoldete Tischuhr mit einem Hirten und seiner Begleiterin, die einen Hügel hinaufkletterten, und so weiter und so weiter. Allen Uhren gemeinsam war, dass sie nicht gingen.

So viele Uhren, aber keine Zeit. Die Zeit gab es noch nicht. Nur Warten. Warten darauf, dass Mama aufhören würde, in verschiedenen Sprachen zu telefonieren, die ich nicht verstand – Ungarisch oder Rumänisch. Warten darauf, dass ich groß wurde und zur Schule kam. Warten auf Papas Heimkehr, den Kofferraum voller neuer Schätze. Ich durfte ihm helfen, sie aus dem Auto nach oben in die Wohnung zu tragen. Alle Kinder der Straße standen um uns herum und schauten zu.

Wenn er nach Hause kam, ging Papa als Erstes schlafen, denn er war müde, nachdem er lange Strecken mit dem Auto gefahren war. Aber wenn er ausgeschlafen hatte, wurde sein Aufstehen königlich. Er nahm ein Bad in dem kleinen Badezimmer, das vom heißen Wasser dampfte und nach Teerseife roch.

Danach kleidete er sich langsam und in aller Ruhe an. Er pflegte immer eine Weile in Unterhemd und Unterhose auf der Bettkante sitzen zu bleiben, bevor er sich nach seinem elektrischen Rasierapparat streckte.

»Na, Mutze Putze, was machst du[1], fragte er, wenn er mich, die nicht eine Sekunde von seiner Seite wich, wie zufällig bemerkte.

Er konnte Schwedisch, sprach es jedoch nur, wenn er musste. Ich konnte Deutsch, wollte aber genauso sprechen wie die Kinder auf der Straße.

Eines Tages rutschte mir heraus, wie sehr ich mich vor Svenne und Göran fürchtete. Papa ging zum Küchenfenster, öffnete es und bat mich, sie ihm zu zeigen. Als er sie sah, lachte er schallend und holte eine Kronenmünze aus seiner Hosentasche. Die würde ich bekommen, wenn ich hinuntergehen und jedem Jungen eine runterhauen würde.

»Ich bleibe hier stehen und schaue zu«, versprach er.

Was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Ich war fünf und Svenne und Göran waren Schuljungen. Diesmal mochte es ja gut gehen, da Papa versprochen hatte, mich zu retten. Aber was würde passieren, wenn er wieder wegfuhr?

Papa war fast immer auf Reisen.

Ich verzichtete auf das Geld.

»Erinnerst du dich noch an Svenne und Göran?«, frage ich Mama, als ich sie im Krankenhaus besuche.

Mama schließt die Augen.

»Erinnerst du dich, dass Papa mir eine Krone geben wollte, wenn ich nach unten ginge und ihnen eine runterhaute?«
Sie nickt.

Vor einigen Wochen ist sie gefallen und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Sie ist in ihrer kleinen Wohnung auf der Matte zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer gestolpert, eine gefährliche Stelle für einen Menschen wie sie. Wie oft hatte ich sie schon gebeten, die Matte wegzunehmen, aber davon wollte sie nichts hören. Sie schrie mich an, die Matte würde genau dort liegen bleiben, sie würde schon damit fertig werden, wie sie mit allem anderen in ihrem Leben fertig geworden war.

Sie hat Typhus gehabt, Brustkrebs, Hirnblutungen, Herzinfarkte. Sie hat sich Arme und Schultern gebrochen – und den Oberschenkelhals hat sie sich auch schon einmal gebrochen! Es ist am Eingang zum Supermarkt passiert, eine weitere gefährliche Stelle. Dort ist der Fußboden uneben. Der Arzt sagte, sie würde nie mehr gehen können, aber einige Monate später war sie wieder auf den Beinen und hüpfte mit Krücken herum, schäumend vor Wut darüber, so schmählich gefällt worden zu sein.

Diesmal kann sie sich nicht erklären, wie es zugegangen ist, dass sie sich das Bein gebrochen hat, sagt sie.

Wieder und wieder sagt sie es.

Sie kann es nicht begreifen. Sie ist doch nur aufgestanden, um zur Toilette zu gehen.

Im Filvägen wohnten wir in einer hellen Zwei-Zimmer-Wohnung, die sich schützend um ihre Bewohner schloss. In dem kleinen Wohnzimmer drängten sich ein weißblau-gestreiftes Sofa, ein Sessel, ein Esstisch, sechs Stühle, ein riesiger Radioapparat und ein kleiner Teewagen, der mit Kacheln belegt war, auf denen schimmernde grüne und blaue Vögel abgebildet waren. Wenn mich jemand gefragt hätte, ob wir reich seien, hätte ich mit Überzeugung ja geantwortet. Wer so einen Teewagen besaß! Einen großen Teil meiner ersten Jahre verbrachte ich auf dem geriffelten Untergestell, während Mama mit ihren Freundinnen telefonierte oder ihrem Bruder Victor, der Tulli genannt wurde, weil er als kleines Kind tulpenrote Wangen gehabt hatte. Von den roten Wangen war nichts mehr zu sehen, dafür hatte er eine Nase, die an eine Birne erinnerte.

Tulli war nicht wie die anderen Familienmitglieder nach Auschwitz deportiert, sondern in ein Arbeitslager gebracht worden, aus dem er dann irgendwie entkam. Er hat Glück gehabt und konnte sich verstecken. Manchmal brachten ihm Leute Zeitungen, in denen stand, was mit Juden passierte, die in einem Versteck entdeckt wurden. Ich glaube, in dieser Zeit wurde der Grundstein für all die Ängste gelegt, mit denen mein Onkel später lebte.

Als der Krieg zu Ende war, gelang es ihm, nach Sighet zurückzukehren, einer Stadt im nordöstlichen Transsilvanien, das manchmal zu Rumänien, manchmal zu Ungarn gehört hatte. Doch das Haus, in dem die Familie gewohnt hatte, war leer. In Sighet gab es keine Juden mehr.

Schließlich traf er zwei junge Frauen, Schwestern, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatten und nun genau wie er zu ihrem früheren Elternhaus zurückgekehrt waren.

Nach einiger Zeit fasste er sich ein Herz und fragte die ältere, Scharlotta, ob sie ihn heiraten wollte, bekam aber einen Korb. Da hielt er um die Hand der jüngeren an, Ibo, die auch nicht heiraten wollte.

Was veranlasste sie, es sich anders zu überlegen?

Ich weiß es nicht. Vielleicht war es Mamas Spruch:

»Allein soll sein a Stein.«

Tulli und Ibo heirateten, verließen Rumänien und kamen nach Schweden. Einige Jahre wohnten sie in Stockholm. Er schrubbte Treppen in einer Lampenfabrik. Sie arbeitete bei der Post. Schwedisch lernten sie schnell.

Am 12. Juni 1952, meinem fünften Geburtstag, als alle Kinder der Straße in unserer Küche versammelt waren und Schokoladenpudding aßen, kamen Tulli und Ibo, um mir ein Geschenk zu überreichen, einen kleinen goldenen Ring. Und um sich zu verabschieden. Sie hatten beschlossen, nach Kanada auszuwandern, wo Mamas und Tullis Schwester Lodi sich niedergelassen hatte.

So verschwand mein Onkel mit den gutmütigen blauen Augen und der Nase, die ihre Form in der Jugend bekommen hatte, als ihm die Polypen entfernt worden waren. Der Arzt hatte nicht nur die Polypen entfernt, sondern auch den Nasenrücken, mit dem Ergebnis, dass die ganze Nase kollabierte. Dieser unglückselige Arzt wurde später zusammen mit seiner Frau deportiert. Seine einzige Tochter hatte er im Krankenhaus versteckt, aber ein Kollege verriet das Mädchen. Es wurde ebenfalls zum Bahnhof von Sighet gebracht und nach Auschwitz deportiert.

Das war die Geschichte von Onkel Tullis Nase. Solche Geschichten schnappte ich in meiner Kindheit auf.

Ruhig saß ich auf dem Untergestell des Teewagens und wartete, ohne zu wissen, auf was. Dass sie aufhören würden zu reden. Oder dass ich groß wurde und zur Schule kam, wie das Mädchen aus dem Haus uns gegenüber, Kristina Feldt. Ihr Name ist fest in mir verankert, als wäre er mythisch, noch immer strahlt er die Erwartung allen Ursprungs aus.

Kristina hatte einen kleinen Bruder, der hieß Åke. Er konnte kein R sprechen. Das war sehr seltsam. Wenn ich morgens aus dem Küchenfenster schaute, konnten wir einander zuwinken.

Manchmal stellte sich ihre Großmutter neben die beiden und winkte ebenfalls.

Dann musste Kristina in die Schule. Und ich musste mich anziehen lassen.

Mein Ankleiden war eine feierliche Zeremonie. Ich bewahre ein deutliches Bild, wie ich auf Mamas Schoß saß und mir die langen Strümpfe überstreifen ließ, die sie am Leibchen befestigte. Dann zog sie mir die Unterhose an, ein grün kariertes Kleid und schließlich das weißblau-gestreifte Sofa, das ganze Wohnzimmer und die kleine Küche, wo meine Spielsachen im Topfschrank verwahrt wurden. Ich trug mein ganzes stilles Zuhause wie Kleidung, in der ich mich mit den Spielen eines einsamen Kindes bewegte.

Zu meinen Füßen lag unser Hund und verfolgte jede Bewegung, eine gutmütige Boxerhündin mit einem hübschen kleinen Kopf, Bonnie.

Viel Zeit verbrachte ich auch als Rekonvaleszentin im Doppelbett meiner Eltern mit einem Stapel Bilderbüchern auf den Knien.

Mama muss mich bei dem geringsten Husten ins Bett gesteckt haben.

Aber unter all dieser hellen Ruhe lauerte eine unbestimmte und niemals ausgesprochene Unruhe, die abends wuchs, wenn ich in meinem eigenen Bett lag.

Dann zeigte sich das nackte weinende Kind im Kohlenkeller. Man konnte durch eine Öffnung von der Straße aus hineinsehen. Die Kohlen waren zu Haufen aufgeschaufelt und ganz hinten flammte das Feuer im Heizkessel des Hauses. Dort wurde manchmal ein Kind eingesperrt, ein Mädchen, das mit seinem langen dicken Haar wie Adeline, meine gleichaltrige Cousine zweiten Grades, aussah.

Diese Adeline lebte eigentlich weit weg in einem anderen Land. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem alten gelben Haus in der Rue Méchain 15 im vierzehnten Arrondissement von Paris. Wir hatten uns kennengelernt, da war ich drei Jahre alt, als Mama, die eine Cousine von Adelines Vater Sollie war, zusammen mit mir die Familie in Paris besuchte.

Wie aber gelangte Adeline abends nach Stockholm in den Kohlenkeller im Filvägen?

Die Frage stellte ich mir nicht. Es war einfach so. Mit geschlossenen Augen hielt ich mich an einem zerbrechlichen Zaun aus Geborgenheit fest, bis das Bild sich wie Nebel auflöste und ich einschlief.

Ich sprach nie darüber. Dafür hatte ich noch keine Worte. Es gab weder Zeit noch Worte. Bald würde die Sprache zu mir kommen, wie sie zu Kindern kommt, aber während meiner ersten Lebensjahre, scheint mir, habe ich nur zugehört und beobachtet. Ich betrachtete die Fotos über Mamas Bett, studierte das Bild von meiner hellhäutigen Großmutter Rose, nach der ich meinen Namen bekommen habe, und ein Foto von einem schönen dunklen Mann, meinem Großvater.

Auf Papas Seite des Bettes hingen Fotos von seiner immer gleich freundlich blickenden Mutter, deren Name mein zweiter wurde, Else, und ihrem Mann, meinem Großvater Alexander mit dem strengen Gesicht.

Manchmal, wenn wir Besuch hatten, wurden andere Bilder herumgereicht, sepiabraune Fotografien, die in einem Fotoatelier aufgenommen worden waren, Fotos von Mamas toten Geschwistern, zwei Schwestern und einem Bruder. Auf den Bildern sind sie jung und fröhlich und die Schwestern haben jede einen lächelnden kleinen Sohn. Von diesen Kindern hörte ich nie solche Geschichten, wie man sie in manchen Familien erzählt, in denen jemand jung gestorben war. Mit fünf oder sechs Jahren begann ich, Mama mit Fragen nach ihrer Kindheit in den Karpaten zu bestürmen. Aber sie antwortete, sie könne sich nicht erinnern. Sie war gern Schlittschuh gelaufen. Und dann hatte sie eine Strickjacke gehabt, auf der Rentiere waren. Mehr erzählte sie nicht. Stattdessen nahm sie ein Buch und fing an, mir etwas vorzulesen. Sie konnte lesen, bis sie heiser wurde, doch ich bekam nie genug. Sie las mir die Märchen der Brüder Grimm vor und die Bücher über Pippi Langstrumpf und die Kinder aus Bullerbü. Und Papa rezitierte ein Gedicht von Goethe.

»Der Erlkönig.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind …«

Mitten im Gedicht brach er ab und bat Mama um ein sauberes Hemd. Starr vor Konzentration saß ich neben ihm auf der Bettkante und wartete auf die Fortsetzung.

Aber er wusste nicht, wie es weiterging, sagte er.

Ein Monat ist vergangen, seit Mama im Krankenhaus ist, aber sie liegt immer noch im Bett und macht nicht die geringsten Anstalten, auf die Beine zu kommen.

Ich besuche sie jeden Tag, und wenn ich nicht bei ihr bin, rufe ich sie alle zwei Stunden an. Sie spricht mit schwacher Stimme und fragt, wann ich komme.

»Ich warte«, sagt sie. »Ich werde geduldig sein.«

Dann lasse ich alles stehen und liegen und stürze wieder zu ihr.

Im Krankenhaus brauchten sie Mamas Bett. Sie wurde in ein Pflegeheim verlegt. Dort liegt sie nun weiß und regungslos wie in einem Sarg.

Ich sitze bei ihr und überlege, was eigentlich sonst noch im Filvägen passiert ist.

Ich habe lesen gelernt. Ein Mädchen, das schon in die Schule ging, zeigte mir die verschiedenen Buchstaben und las sie mir vor. Ich musste sie nachsprechen. Sie zeigte wieder auf einen Buchstaben, dann war ich an der Reihe. Jedes Mal, wenn ich den Buchstaben falsch aussprach, schlug sie mir mit einem Stock auf die Knie. Ich erinnere mich immer noch daran, wie es war, als sich plötzlich mehrere Buchstaben zu einem Wort zusammenfügten. War das eine Überraschung!

»Erinnerst du dich, wie alt ich da war?«, frage ich Mama. Aber sie weiß es nicht mehr. Ihre Erinnerung ist so kurz. Das ist vielleicht gut so, wenn man das Leben weiter ertragen will, nachdem man erlebt hat, was sie durchgemacht hat.

»Es ist mein starker Wille, der mich am Leben erhält«, pflegte sie zu sagen.

Doch davon ist nicht mehr viel zu merken. Wenn der Krankengymnast kommt und ihr aus dem Bett hilft, damit sie Gehen übt, gibt sie schon nach zwei Minuten wieder auf.

Auch im Pflegeheim können sie Mama nicht behalten. Und nach Hause kann man sie nicht schicken. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung. Deshalb wurde beschlossen, sie erneut zu verlegen, diesmal zum Linnégården, einem Altenwohnheim, in dem sie ein eigenes Zimmer bekommt.

Als ich sie zum ersten Mal im Heim besuche, sitzt Mama in einem Rollstuhl mitten im Zimmer und weigert sich, mich anzuschauen.

Ein Bild erstarrter Trübsal.

»Hier lässt du mich doch wohl nicht«, sagt sie.

»Ich verlasse dich nie, Mama.«

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Zuallererst musst du wieder gehen lernen«, sage ich seufzend.

Sie hat nicht einmal die Kraft, den Blick zu heben.

»Im Sommer bist du wieder auf den Beinen und wir fahren hinaus aufs Land«, murmele ich ohne große Überzeugung.

Mama hält den Blick auf den Boden gerichtet. Es ist, als wolle sie den Anblick des schäbigen Zimmers vermeiden, indem sie es gar nicht anschaut.

Am Nachmittag beauftragte ich eine kleine Spedition, einige Möbel aus Mamas Wohnung in das Zimmer zu transportieren, damit sie sich dort heimischer fühlte. Ich ließ das Sofa und einen bequemen Sessel zu ihr bringen, einige ihrer farbenfrohen Orientteppiche, den Bücherschrank und den Fernseher.

Abends saß Mama in ihrem eigenen Sessel, und jetzt betrachtete sie mich mit einem unerwartet silberblanken Blick. Endlich schaute sie mich wieder an! Als sie schließlich etwas sagte, dann um darauf hinzuweisen, dass sie ihre Eheringe vermisste.

Ich versprach ihr, sie zu suchen, aber wo? Im Krankenhaus oder im Pflegeheim?

Oder lagen sie noch in der Wohnung?

Ich ging in die Wohnung, in der Mama gewohnt hat, seit Papa vor zehn Jahren gestorben ist, finde die Ringe jedoch nicht.

Die Schränke sind immer noch voller Meissener Porzellan, an den Wänden hängen die Gemälde in ihren abblätternden Goldrahmen. Im offenen Kamin, in dem nie ein Feuer gebrannt hat, stehen die fünfzig Kilo schweren Bronzepferde, die Papa die Treppen im Filvägen hinaufgeschleppt hat. Und in den Regalen: all die stummen Uhrwerke, die vor hundert oder mehr Jahren aufgehört haben zu gehen. Papa hat sie nie wieder in Gang bekommen, trotz all der Uhrmacher, die er konsultierte in den Tagen seiner Kraft, als es ihm noch Spaß machte, den Nachbarn aus Estland zu verprügeln, weil er einen anderen Nachbarn Judensau genannt hatte.

Ich hatte Glück. Ich wurde nach dem Krieg von einer Mutter geboren, die den Gaskammern entkommen war und immer noch leben wollte, und hatte einen Vater, der sich immer noch gern prügelte. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn ich mich auch geprügelt hätte. »Geh nach unten und hau den beiden Jungen eine runter«, ermahnte er mich in regelmäßigen Abständen und zeigte aus dem Küchenfenster.

Er meinte Svenne und Göran.

Seitdem ich verraten hatte, wie sehr ich mich vor ihnen fürchtete, wollte er dauernd, dass ich hinunterging und ihnen eine knallte. Beiden. Am besten gleichzeitig.

Er hatte sich sein Leben lang geschlagen, mit Fäusten und mit Worten, in seiner Jugend muss er ein großartiger Brandredner gewesen sein, er war einer der Ersten, den Hitler bei seiner Machtübernahme in ein Gefangenenlager gesteckt hatte. Aber ich, eine ängstliche Fünfjährige?

Er musterte mich belustigt.

»Geh! Geh jetzt!«, ermahnte er mich. »Los, geh!«

Ich verzog mich ins Schlafzimmer, steckte meine Nase in ein Buch und versuchte, Svenne und Göran zu vergessen. Heute kann ich mich gar nicht daran erinnern, ob sie mir überhaupt je etwas getan haben.

Ich hatte wirklich eine glückliche Kindheit, wenn man von den Abenden absieht. Und davon, dass meine Eltern sich so häufig stritten.

Ich freute mich über den hübschen Namen unseres Stadtteils. Im Midsommarkrans zu wohnen! Der Kranz war mit bloßem Auge nicht zu sehen, aber über den schmalen Straßen lag ein Hauch von Sommer.

Mama ist und bleibt untröstlich. Sie hat eingesehen, dass sie nie wieder nach Hause kann, und jetzt hat sie mich gebeten, die Wohnung zu leeren und zu verkaufen. Heute hat sie sich geweigert, das Bett zu verlassen.

Das Einzige, was ihr noch etwas bedeutet, ist meine Anwesenheit. Ich besuche sie zwei-, dreimal täglich, ständig komme und gehe ich. Wenn ich verschwinde, dann nur für ein paar Stunden.

»Wo bist du gewesen?«, fragt sie.

»Ich habe versucht, ein wenig zu schreiben.«

Sie schnaubt.

»Du hast schon so viele Bücher geschrieben. Hör auf damit!«

Ihr Motto ist immer noch und ist es immer gewesen: Man erzählt nicht alles!

Darum übernehme ich das Erzählen. Oder versuche es zumindest. Das gehört zu meinem Befreiungsprozess, der irgendwann begonnen hat, als ich fünf war, und der immer noch nicht abgeschlossen ist.

»Erzähl den Nachbarn nicht, dass Papa und ich uns gestritten haben!«, sagte sie häufig, als ich noch klein war.

Sie konnten sich fürchterlich anschreien. Jedes Mal, wenn Papa von einer seiner langen Autoreisen nach Hause kam, war Mama froh und erleichtert, aber schon wenige Tage später weinte sie und Papa brüllte:

»Ich halt es nicht aus! Ich pack meine Sachen und fahr wieder weg

Und ich suchte Zuflucht bei Kristina Feldt, Åke und ihrer Großmutter und erzählte, was bei uns los war. Denn jetzt waren die Wörter gekommen.

Sonst tat ich immer alles, was Mama wünschte. Auch heute noch. Ich gehe ins Heim und bleibe Stunden bei ihr, lese ihr vor, füttere sie mit Leckerbissen, versuche sie zu unterhalten.

Manchmal gelingt es mir, das Gespräch auf die Vergangenheit zu bringen, auf ihre Mutter und meine Tanten Jolan und Helen, die mit ihren Kindern ins Gas gegangen sind. Mama spricht davon in einem so natürlichen Tonfall, als wäre es das, was alle Menschen zu jener Zeit getan haben.

Wieder und wieder versuche ich sie zu verleiten, von meiner Großmutter Rose zu erzählen. Oder von der Mutter meiner Großmutter, Gitl, die als vierzehnjähriges Mädchen mit einem Mann, der Elias Salpeter hieß, verheiratet wurde. Mit einundzwanzig war sie Witwe und stand allein da mit fünf Kindern.

»Wie hat Elias ausgesehen?«, habe ich Mama heute gefragt.

Aber das wusste sie nicht.

»Hast du nie ein Foto von ihm gesehen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Nach ihm bist du Ella genannt worden, hat Sollie behauptet.«

»Aha.«

Alles, was ich über Mamas Familie weiß, habe ich nach und nach von Sollie Klein erfahren, Mamas Cousin in Paris, Vater von Adeline. Er ist meine einzige Quelle.

»Hat deine Großmutter nie von ihrem Mann erzählt?«, fahre ich fort.

Mama schaut aus dem Fenster.

Erst als ich von ihren Enkeln berichte, setzt sie sich gerade hin und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich bin in ihrer alten Wohnung gewesen und habe angefangen zu sortieren, was weggeworfen werden kann.

Als ich ins Heim komme, liegt Mama auf ihrem Bett und weigert sich erneut, mich anzusehen.

»Bist du so traurig?«, frage ich.

»Nein, ich bin nicht traurig …«

Dann nimmt sie alle Kraft zusammen.

»Jetzt müssen wir raus.« Sie richtet sich auf. »Wir haben viel zu erledigen.«

»Womit hast du es denn so eilig?«

»Wir müssen einkaufen.«

»Was brauchst du?«

Sie denkt nach.

»Tomaten.«

»Dann gehen wir.«

Ich hole jemanden vom Personal, und gemeinsam ziehen wir ihr den Mantel an und setzen ihr den blauen Hut auf, in der Krempe ist Seidenpapier, damit er ihr nicht in die Stirn rutscht. Dann schiebe ich sie im Rollstuhl hinaus, obwohl es draußen kalt und ungemütlich ist.

Sie wird munter und sieht sich interessiert um, fast wie ein Kind.

Wir gehen zum Supermarkt und kaufen Tomaten. Wir kaufen Käse, Paprika und eine Gurke. Zufrieden hält sie die Einkaufstüte auf dem Schoß.

Als wir von unserem Spaziergang zurückkommen, gibt sie mir die Tüte und sagt, das sei für Hugo und mich.

Sie hat mich und meinen Mann immer mit Obst und Gemüse versorgt, als traute sie uns nicht zu, dass wir uns selbst ordentlich ernähren können. Ein Überfluss von Vitaminen.


[1] Im Original deutsch.

Annie

Seit Mama mich gebeten hat, die Wohnung zu verkaufen, spricht sie nicht mehr von ihr.

Ich leere die Schränke, unter anderem einen Schrank, der vollgestopft ist mit Briefen, die sie seit Jahrzehnten aufbewahrt hat, die meisten auf Ungarisch oder Rumänisch geschrieben. Sie füllen drei große Abfallsäcke, die ich mit einem Taxi zu ihr ins Heim bringe. Aber die Briefe interessieren sie nicht mehr. Ich soll sie wegwerfen, sagt sie.

Nur zwei kleine schwarze Tüten mit Briefen, die an Papa adressiert sind, habe ich behalten. Die meisten scheinen von Annie Karpe zu sein, der unbekannten Frau auf einem Foto, an das ich mich zu erinnern meine. Es stand hinter einer Gardine in unserem Wohnzimmer im Filvägen.