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Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel,
Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-398-7
E-ISBN 978-3-86916-453-3

Umschlagabbildung: Claus Gretter

TEXT+KRITIK erscheint mit vier Nummern im Jahr. Die Hefte können einzeln, im vergünstigten Jahresabonnement für € 59,– oder im UN!-ABO für € 39,– durch jede Buchhandlung oder über den Verlag bezogen werden. Die Kündigung des Abonnements ist bis zum Oktober eines jeden Jahres für den folgenden Jahrgang möglich. Zusätzlich erhalten Abonnenten den jährlich erscheinenden Sonderband und Neufassungen zum ermäßigten Preis mit Rückgaberecht.

Preis für dieses E-Book € 23.99,–

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2015
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt


Ernst Augustin

Mein letztes Haus

Lutz Hagestedt

Absolute Fiktion. Ernst Augustins Poetik

Martin Hielscher

Ernst Augustin und seine Verlagspolitik

Kai Sina

Geist der Erzählung 2.0.
Ernst Augustins poetologischer Roman »Der amerikanische Traum«

Hans-Peter Ecker

»Blut, Blut, Fleisch und Fett, und der Geruch der Unterwelt« – aber auch die Gerechtigkeit kommt nicht zu kurz!
Ernst Augustins Roman »Mahmud der Schlächter oder Der feine Weg«

Martin Kraus

Die gewisse Komik beim Beschreiben bestimmter Körperteile.
Zu Ernst Augustins »Die Schule der Nackten«

Stefan Neuhaus

Humoristische Skizzen über die Glücks- und Unglücksfälle des Lebens.
Ernst Augustins »Der Künzler am Werk«

Martin Rehfeldt

Häuser, Menschen, Abenteuer.
Zur Verschränkung von Architektur, Psychologie und Literatur in Ernst Augustins Romanen »Raumlicht. Der Fall Evelyne B.« und »Robinsons blaues Haus«

Nicolai Riedel / Lutz Hagestedt / Martin Rehfeldt

Ernst Augustin – Auswahlbibliografie

Biografie

Notizen

Ernst Augustin

Mein letztes Haus

Dieses kleine Eiland ist ohne Frage vulkanischen Ursprungs, nach seinem Erscheinungsbild, eine Feuermasse, die hier mitten im Ozean hochgedrückt wurde. Zu einem Gesteinsschaum erstarrt liegt es da wie ein gewaltiger Bimsstein, hart in der Brandung, aber weich und porös genug, um feine Treppenstufen zu schlagen. Was inzwischen ausgiebig geschehen ist.

Mein Eiland.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, es macht nicht allzuviel her, mein Eiland, von außen betrachtet. Ringsum harter Klippenstrand, darüber die stachelige Felswand, wenig einladend. »Skull Island«, weil es von der einen Seite her einem Totenkopf ähnelt. Dort, wo die Phantasie einen Jochbogen sieht, befindet sich eine Einbuchtung, einer riesigen Augenhöhle vergleichbar. Darüber die Stirn, hochgewölbt, steil in einen bleiernen Tropenhimmel hineinragend. Ein eher abschreckendes Bild, wenn ich ehrlich sein soll, und ich könnte mir gut vorstellen, wie der Seefahrer, der in der Tiefe des Ozeans endlich auf diesen Schädel stößt, in Depression verfällt und lieber nach der nächsten Insel sucht. Aber mir kann es nur recht sein. Denn gibt es eine Außenwelt, gibt es auch eine Innenwelt.

Würde man diese Stirn bezwingen können – nehmen wir an, es wäre möglich –, würde man zerschrunden und mit dem Leben davongekommen die Höhe erreichen, geschähe ein tiefes Wunder, ein Wunder der Schöpfung nämlich: Tief unten wie das blaue Auge Gottes öffnet sich dahinter eine Lagune, so blau, so unendlich blau, daß dem Dichter – wie dem Seemann – das Herz stockt. Ich schäme mich nicht. Soviel Schönheit, soviel Licht. Dieses letzte Kapitel ist auch mein letztes Kapitel, und es ist mein letztes Haus, das ich hier baue.

Es gibt natürlich noch einen anderen Zugang, einen mit Klippenzähnen bewehrten Mund zum Meer. Die Insel hat Hufeisenform, öffnet sich knapp nach Westen, ist deshalb vor den Taifunen geschützt, die in diesen Breiten ihren Ursprung nehmen. Ziemlich geschützt, sollte man sagen, und hier berühre ich den wunden Punkt. Den wundesten. Alle diese Paradiese sind letztlich nicht bewohnbar und werden auch nicht bewohnt, man kann damit rechnen, daß sie innerhalb eines Jahrhunderts mindestens fünfmal radikal rasiert, von aller Vegetation befreit und überflutet werden. Soviel zu den Paradiesen. Und noch eine Anmerkung: Der verbliebene Rest ist von Sperrmüll besetzt. Wenn nicht von Schlimmerem.

Eigentlich hatte ich ja nie Robinson sein wollen, ich glaube, das habe ich genügend herausgearbeitet. Nicht der mit dem häßlichen Hut und den unförmigen Galoschen aus Baumrinde. Aber eines muß ich dem Mann lassen, er hatte es sich gemütlich gemacht.

Und wenn ich jetzt auf meiner Reisstrohmatte liegend mein allerletztes Haus baue, dann weiß ich, wofür es steht. Nicht für diese ganze Entwicklung der Menschheit, Steinzeit und ähnliches, nein, sich mit sich selbst einzurichten, dafür steht es. Darf ich einmal ganz konkret werden. Ich liege hier sehr gut, soeben hat sie mir (eine von den Dreien) einen wundervollen roten Fisch serviert, sie machen das sehr delikat, der Fisch steht hochkant und auf ihm reiten große, gekerbte Scheiben von Limonenorangen. Sehr delikat, eigentlich ist es nur eine Goldbrasse, aber sie heißt hier Mahi Mahi und das macht den Unterschied.

Es wird ein großes Haus werden. Mit vielen Korridoren und Treppen und Ein- und Ausgängen, je nachdem ob man hinein oder hinaus will, man ist ja nicht immer derselbe. Es geht hinauf und hinab, prächtig symmetrisch soll es werden und zugleich mächtig krumm und unübersichtlich, möglichst verbaut. Es soll genügend abgelegene Winkel haben, Scheintüren und Scheinwände, daß man nie ganz sicher sein kann, wo genau man sich befindet. Auch einen Warteraum für den Zahnarzt und ein kleines eingebautes Dampfbad, möglicherweise eine Saufkneipe im Eck, ich brauche unterschiedliche Schlafräume, je nach Gemütslage, mit und ohne Träume. Die wiederum hinter den Scheintüren ihren Platz haben, denke ich mir.

Ein poetisches Haus, mit viel Platz für Banalitäten als auch für das Erhabene. Symmetrie, jawohl, Symmetrie gibt mir Ehre, gibt Ansehen und löst Ergriffenheit. Eine hohe Halle mit Musik von Mussorgski, etwa, soll meine geehrten Besucher empfangen, ich selbst werde mich dann allerdings in die Wohnküche zurückziehen, wo es Wiener Würstchen gibt, ja, aber auch Durchblicke und Ausblicke auf schöne Landschaften – Landschaften der Seele versteht sich – kurz, ich bin dabei, ein Geisterhaus zu bauen, in dem es sich leben läßt, ein Haus des Inneren, in dem ich herumlaufe. Oder noch kürzer, offenbar bin ich dabei, in mich zu gehen.

Ja, aber ganz konkret.

Das Labyrinth zum Beispiel. Das Labyrinth ist ein wesentliches Bauelement und ist allem vorgeschaltet. Niemand erreicht den Eingang, der nicht das Labyrinth passiert. Dabei genügt der Typ A, eine simple Schleife, die in sich zurückläuft, zwei Gabelungen genügen, um dem Besucher die Orientierung zu nehmen, bestenfalls geht er dann nach Hause. Oder wenigstens sollte er einmal eingangs an sich selbst zweifeln. Ein Gang hin, einer zurück, und der Bildungsstand ist im Augenblick fragwürdig geworden.

Nun könnte ich ja selbst einen Gang in das Gestein bohren. Es ist dazu ideal geeignet, läßt sich locker herausbrechen und liegt federleicht in der Hand – zu diesem Zweck bin ich ja hier –, einem Feuerschwamm nicht unähnlich. Ich liege hier, umstanden von zauberhaftesten gefiederten Geschöpfen, direkt vor meinem Objekt, dem größten Bimsstein, den es je gab, und ich liege hier sehr gut. Diese Geschöpfe muß sich ein liebender Gott ausgedacht haben. So fein und so sinnlich geringelt, so unendlich erotisch hochbeinig graziös. Ich glaube, es sind Sagopalmen. Sie wiegen sich, sie wedeln mir ein schattig grünes Licht herunter. Wie habe ich das verdient?

Nun könnte ich einen längeren Gang bis ganz nach vorn, bis zu der großen Augenhöhle vortreiben, dort mit einem Panoramafenster, in die Welt schauen, alle diese Dinge könnte ich tun, ich könnte eigenhändig einen Spiegelsaal graben, der sich dann hinter der Stirn befindet, festlich beleuchtet, einen Billardsaal, einen Schießstand, eine Wendeltreppe aus Tuffgestein. Aber kann ich sie mitnehmen, die Dinge?

Den Geist vielleicht. Mitnehmen.

*

Vor langer, langer Zeit war ich einmal sehr, sehr krank – todkrank, eine Art Keuchhusten –, jedenfalls hatte ich lange Zeit nicht aufstehen dürfen, und es war November oder Dezember, jedenfalls sehr dunkel tagsüber. Da hatte ich mir also diesen Berg von Grießbrei ausgedacht, Tag für Tag und voller Inbrunst. Aber das war ein gewaltiger Berg. Unerhört hoch, ein Grießpudding, wie es ihn nicht in den kühnsten Träumen gibt, ich sehe ihn noch heute vor mir. Da hatte ich also angefangen, mich hineinzuessen, und ich könnte mir gut vorstellen, daß es mir das Leben gerettet hat, bei meinem Keuchhusten. Ich aß mir einen Eingang, dann einen Korridor, schließlich einen ganzen Rittersaal, einen unerhört schönen. Es war die schönste Zeit meines Lebens, das kann ich jetzt behaupten, und ich kann sie mitnehmen, das behaupte ich auch.

Denn was da an Präzisionsarbeit geleistet wurde, Tag für Tag geleistet wurde, das kann nicht im Nichts versinken. Immer haarscharf und mit großer Genauigkeit an die Arbeit vom Vortage anschließend, mit genauer Länge und Breite, mit allen Ecken und Kanten und der genauen Wanddicke. Falls sich eine Räumlichkeit an die andere anschloß. Nicht zu dick, aber auch nicht zu dünn und durchscheinend. Ja, ich darf behaupten, daß mir damals die große Gabe erwuchs, das ganz spezielle Raumgefühl, das architektonische Empfinden, wenn ich das einmal behaupten darf.

*

Heute wieder Kreuzfahrttag.

Heute morgen, als ich bei meiner Obstschale sitze, dazu ein Ei vom Perlhuhn und einen Quiquek – das ist feingemahlene Nuß in Milch aufgerührt, etwas sehr Gutes – warum es das bei euch oben nicht gibt, weiß ich nicht –, ertönt dieses tiefe Brummen. Und als ich aufblicke, ist der ganze V-förmige Einschnitt von dem draußen vorbeiziehenden weißen Schiffsleib ausgefüllt. Ich habe ja den Eindruck, daß das Schiff immer weißer wird, offensichtlich lackieren sie es jedes Jahr neu und in einer Jahr für Jahr weißeren Qualität.

Also setze ich meinen häßlichen Hut auf, den ich mir aus Baumrinde gefertigt habe, und begebe mich nach vorn zum Strand. Stehe da verloren auf meinen Klippen, wie man es von mir erwartet. Draußen auf dem weißen Schiff drängen sie sich, winken, schwenken die Hüte, ich winke zurück. Anscheinend bin ich zu einer Attraktion geworden. Auf dem Reiseprogramm der, den sie Robinson nennen.

Aber ganz hinten am Heck steht eine kleine einzelne Figur, die nicht winkt, nur ein wenig den Hut lüftet, aber freundlich, sehr freundlich. Vielleicht, daß sie dort steht. Ich werde auf das nächste Jahr warten und auf das übernächste, dreißig Jahre lang, wie man es von mir erwartet. Noch ist es nicht soweit.

Eines fehlt in meinem Haus, es hat immer gefehlt, und darüber muß ich noch tief nachdenken.

Wenn das Schiff seine Bahn gezogen hat, in der See, hat sich inzwischen über dem Totenkopf eine Wolke gebildet, eine winzige Wolke nur, und das sieht merkwürdig aus. Erst ist es eine Mütze, dann ein Schirm und schließlich ist die Wolke wieder weg, hat sich aufgelöst. Während ich hier unten meine Gedanken fasse. Es ist nie ganz leicht, sich völlig zurückzunehmen.

Heute gibt es Tapa, ich höre meine Schönen schon seit Stunden schlagen. An sich ungenießbar ist es eine Delikatesse, wenn es so geschlagen wird, wie sie es schlagen (6 Stunden), man kann es auch anziehen. Und für heute Abend haben sie sich etwas Besonderes ausgedacht, einen Feuerwehrball. Das ist eine Darbietung hier unten auf den Inseln, bei der sie sich fortwährend im Rhythmus auf ihre kleinen Hinterteile runterplumpsen lassen. – Naja, klein.

– – –

Die Drachen. Wo wohnen die Drachen.

Ich kenne mein Haus gut, ich habe es ja gebaut. Es ist groß und hell und offen, es ist ein durchleuchtetes Haus, es hat unverhangene Fenster und eine reiche Bibliothek, in der alles zu lesen steht, was ein Mensch wissen muß – viel ist es sowieso nicht –, was dort nicht steht, braucht er nicht zu wissen. Aber wo steht das?

Wenn ich nachts durchs Haus gehe, gehe ich weit geöffnet, ich höre jede Uhr ticken, ich höre den Tropfen Schweiß, der von der Stirn tropft, ich gehe in die Küche, ich gehe in den Keller, wo ein 92er Moulin lagert, und dort höre ich sie. Nicht eigentlich im Keller, aber auf dem Weg dorthin. Die dunklen Wasser, die dort fließen, ich kann sie sogar sehen, tief unten, noch unter dem untersten Keller – habe ich doch gewußt, daß etwas fehlt.

Das Untergeschoß.

Aber es sind schwarze Wasser, die dort fließen, ein schwarzer Strom, schnell, glatt und lautlos wie ein Schlangenleib. Sehr tief und sehr weit unten. Das Wasser schwillt, wird breit und bedrohlich und fängt an zu gurgeln. Das sind meine Ängste, die dort herumschwimmen, die verdrückten Gefühle, die Süchte und das ganze Leid. Und was da sonst noch schwimmt, wer weiß. Aber irgendwann, das verspreche ich, werde ich hingehen und ein tiefes Loch in den Bimsstein graben, ich werde nachsehen, was dort unten ist.

Luft ist leicht.

Erde ist schwer.

Wasser neigt zur Hysterie.

Und Feuer, lieber Freund, Feuer ist ganz sicherlich hochkriminell.

*

Aber eines Tages, und der Tag ist nicht fern, wird ein weißes Schiff vor Reede liegen. Dieses Mal ist es nicht vorbeigezogen, keine Leute winken oder schwenken die Hüte. Denn dieses Mal wird ein Boot zu Wasser gelassen, darin sitzt ein kleiner Herr als Passagier, es scheint ein geschäftiger kleiner Herr zu sein, so wie er in dem Boot sitzt. Nicht sehr passend gekleidet in einem dunklen Anzug, er hätte wenigstens die weiße Leinenjacke tragen sollen, meine ich. Jetzt steht er auch noch auf, bringt fast das Boot zum Kentern, er will aber nur freundlich sein. Älter? Nein, älter ist er eigentlich nicht geworden.

»Ich wußte, daß du kommst«, sage ich, »irgendwann, wußte ich, kommt du. So sehr leicht bin ich ja nicht aufzufinden, wenn man die Verhältnisse, die nicht ganz stabile Schiffsverbindung bedenkt. Wäre ich auf Rügen, wärst du wahrscheinlich längst dagewesen.«

»Hier bin ich.«

Scheint sich aber Zeit zu lassen. Begutachtet die Baulichkeiten, die Liegenschaften, insbesondere meine Reisstrohmatte. Anerkennend macht er es sich schließlich bequem und hängt das Jackett an den Haken, scheint sogar, nach der langen Reise, einem Schläfchen nicht abgeneigt zu sein. Und soll ich mich nun fürchten?

Es gibt ja noch den Knopf an der Tastatur, den ich drücken kann oder nicht drücken kann. Und wenn ich ihn drücke, wird alles gelöscht sein. Alle Verbrechen und alle Vergehen, alle Bankkonten und Depots, sämtliche Anbindungen, Vernetzungen und Verquickungen mit all dem Geld auf dieser Welt. Mit allen Kredit-, Pfand- und Verschreibungsinstituten, allen Anleihen und Gegenanleihen und den Investitionen in die Staaten Sambesi und Kiribati, – die ich wahrscheinlich besitze, wahrscheinlich ganz, ich weiß es nicht.

Nicht zu erwähnen die Mobilien und Immobilien, sowie all den blanken Hausbesitz, der sowieso völlig überflüssig gewesen ist. Wenn man die Kürze der Zeit bedenkt.

Nicht zu reden von Goldbeständen, dem Barren-, Münz- und Feingold, sowie den zugehörigen Geheimcodes für die zugehörigen Schließfächer in Schließbanken in Zürich.

Und schon gar nicht von Lombard oder Finsbury Optionen, die sowieso nur fiktiv bestehen, und das Ganze auf Knopfdruck:

»Erase«, Löschen.

Nur die Liebe, blank und bloß und ohne Paßwort, die Liebe kann ich mitnehmen. Das ist nun etwas Merkwürdiges, daß mir der Himmel sehr blau, die Blätter sehr grün und der weiße Sand sehr weiß erscheint, ich habe das bisher nie so genau gesehen. Fällt mir jetzt auf.

Dies ist die allerbeste Zeit, die Sonne hat gerade den richtigen Dreiviertelstand erreicht, so daß die Schatten etwas länger und sanfter sind, das Licht pure Mandelmilch. Selbst mein Freitag sieht schöner aus.

»Lieber Freitag.«

»Hier bin ich.«

»Ich weiß, wer du bist.«

Ich habe es immer gewußt. Seit er mir gegenüber saß, seit er mir Zeit ließ, meine Angelegenheiten zu ordnen. Mein ganz persönlicher, höchst privater Tod.

»Immer gewesen.«

Und daran ist ja eigentlich gar nichts auszusetzen. Ein freundlicher, kleiner Herr, der sich doch immer als recht zuvorkommend erwiesen hatte. Und auch jetzt keinen schlechten Eindruck macht. Im Gegenteil.

Erase »Löschen«.

Wollen Sie wirklich alles löschen?

Ja.

Unwiderruflich?

– – –

Aus: Ernst Augustin: »Robinsons blaues Haus«, München 2012, S. 306–319. Mit freundlicher Genehmigung des C. H. Beck Verlags.

Lutz Hagestedt

Absolute Fiktion
Ernst Augustins Poetik

In seinem Roman »Eastend« lässt Ernst Augustin seine Hauptfigur, den Ich-Erzähler Almund Grau, in eine Lebens- und Schaffenskrise geraten. In einem »Wochenspiegel« (E 121) sind »unliebenswürdige Dinge« (ebd.) über ihn und sein letztes Buch erschienen, und nach Gesprächen mit seinem neuen Verleger hat er den Eindruck gewonnen, dass sein neues Manuskript »Rote Damen« (E 74) durchgefallen sei. Zuvor war ihm schon sein Protagonist Ashton Woolwich »ins Wanken« (E 52) geraten, und zwar durch einen scheinbar banalen »Einbruch« (ebd.) der Wirklichkeit in die Fiktion. In dieser Krise räsoniert Augustins Alter Ego über die eigene Poetik wie folgt: »Aber meine Schreibweise, die ich mir damals zurechtgelegt hatte, verlangte absolute Fiktion, ich war geradezu manisch bemüht, alle mir irgendwie bekannten Fakten zu vermeiden – (…).« (E 51)

Der Terminus »absolute Fiktion« ist mit Bedacht gewählt, erinnert er doch an parallele Begriffsbildungen wie »absolute Musik« oder »absolute Kunst« (E 140), die alle auf Konzepte verweisen, die in ihrem Eigensinn beanspruchen, sich von erlebter Realität und gesellschaftlichen Erfordernissen autonom zu setzen. So wie Bach als Anfang und Ende aller Musik gilt oder Kafka als Anfang und Ende aller Literatur, weil sie in ihrem Werk eigene Realitäten etabliert haben, so versucht Augustins Schriftsteller-Protagonist, die imaginäre Welt seiner Kunst gegen Einflüsse der äußeren Wirklichkeit zu immunisieren. Dass er an diesem Anspruch scheitert, muss nicht gegen seine Kunst sprechen (oder gegen seine Poetik), und was für die Figur gilt, gilt auch für den Autor, dessen Anfänge in den 1960er Jahren mit Kafkas Welt verglichen worden sind, die sich ebenfalls nicht immer erfolgreich gegen Übergriffe des Realen auf die Fiktion zur Wehr setzen konnte.

Ein Kunstgriff Augustins, auf dieses Dilemma zu reagieren – das als produktives Dilemma zu werten ist, weil es seine Kunst erst ermöglicht –, ist die Realitätsverdopplung. Damit ist nicht eine Form von Widerspiegelung gemeint, sondern die Wiederholung und Variation der dargestellten Welt des Kunstwerks im Kunstwerk selbst. Im Sinne einer Mise-en-abyme-Struktur wird die Realität des Kunstwerks textintern verdoppelt: Davon künden etwa die verschiedenen Versionen der Erzählung vom verlorenen Sohn, die Augustins Doppelroman »Badehaus« / »Badehaus II« (1963 / 2006) aufgreift, davon kündet der Doppelroman der ›großen Mutter‹ (»Mamma« (1970) / »Schönes Abendland« (2007)), der in den Legenden der drei Brüder Stani, Beffchen und Kulle die Finessen dreier Lebensläufe miteinander verschränkt, die sich demselben (mütterlichen) Ursprungsmythos verdanken; und schon Augustins Erstling (»Der Kopf« (1962)) entwarf in der Gestalt Türmanns einen paradigmatischen Helden, der sich seinen perspektivisch verdoppelten, verkehrten und verkürzten Kunst- und Traumwelten zu stellen hatte. Auch die vier Romane der mittleren Schaffensperiode – »Raumlicht. Der Fall Evelyne B.« (1976), »Eastend« (1982), »Der amerikanische Traum« (1989) und »Mahmud der Schlächter oder Der feine Weg« (1992; 2003 auch unter dem Titel »Mahmud der Bastard«) – stiften mittels Realitätsverdopplung irritierende Déjà-vu-Effekte. Exotische Welten erscheinen hier als alternative Räume, in die man sich begibt, wenn sich die bisherige Lebenswelt verbraucht oder erschöpft hat oder wenn sie zu ungemütlich geworden ist, als dass man sich darin noch aufhalten könnte. Es bestehen aber immer beide Welten nebeneinander fort, die alte und die neue Welt, das alte und das neue Leben, indem sie sich wechselseitig bedingen. Sogar noch der späte Roman »Das Monster von Neuhausen« (2015) befolgt diese spiegelbildliche Doppelung, indem er den durch einen Behandlungsfehler geschädigten Protagonisten Tobias Knopp anwaltlich vertreten lässt, wobei die Identität dessen, der vor Gericht für ihn plädiert, mit Knopp, der sich repräsentieren lässt, mehr als einmal nahegelegt wird.

Wie verhält sich nun die eine (imaginäre) Realität, so lautet die Versuchsanordnung, wenn ihr eine zweite entgegengestellt wird, und wie zeigt sie sich, wenn die Protagonisten versuchen, zwischen den so geschaffenen Räumen, Welten und Umwelten hin- und herzuwechseln? Wie zeigt sich eine dargestellte Welt, wenn sie (textintern) infrage gestellt wird?

Die Protagonisten Augustins antworten darauf im Prinzip genauso, wie alle Kunst und alle Literatur darauf antworten würde: mit Phantasie. Sie schreiten psychisch und erzählerisch Imaginationsräume aus, die als vollgültige Alternative zu ihrer (jeweiligen) Realität gelten können. So hat sich in »Der amerikanische Traum« die Lebenswelt des Protagonisten nahezu erschöpft (er ist als Kind tödlich verletzt worden und liegt im Sterben), als er sich in die plastische und farbige Exotik seiner Abenteuerlektüren hineinfabuliert und damit Bewusstseinsprozesse auslöst, die ihm ein Alternativleben als Hawk Steen in Nord- und Mittelamerika ermöglichen; so hat sich in »Raumlicht« die Lebensqualität der (Kind-)Frau Evelyn durch eine psychische Erkrankung derart eingetrübt, dass nur mehr die schlechthin unkonventionellste Therapie ihr zu einem neuen Leben verhelfen kann; ein solcher Lebenswechsel innerhalb eines biologischen Lebens rettet auch den bereits erwähnten Schriftsteller Almund Grau in Augustins Roman »Eastend«: Durch zerstörerischen »Gruppengeist« (E 50) ist dort der symbiotische Bezugsraum einer perfekten Ehe verloren gegangen; Almund und Kerrie haben in vollkommener Gemeinschaft gelebt, als sie in einem Encounter-Zentrum eines New-Age-Gurus manipuliert werden; beide lassen sich zu scheinbar minimalen, doch verhängnisvollen Fehlhandlungen verleiten. Die Konstituierung einer psychotherapeutischen Gruppenseele, die Almund ausschließt, führt dazu, dass seine symbiotische Gemeinschaft mit Kerrie erst untergraben und dann zerstört wird. Solchermaßen entzweit, sucht Almund neue Umwelten auf, um »nicht mehr zurückzukehren« (E 74).

Nachdem ein Selbstmordversuch misslungen ist, reist er in die DDR, nach Schwerin, in die Stadt seiner Jugend, doch ist er von diesem Land ohne Freude bald kuriert; die nächste Station, die ihm seelisch eher entspricht, heißt London. In diesem halb phantastischen Raum – eines Nachts, als er von einer Bande jugendlicher Vandalen bedrängt wird, verwandelt sich Almund in einen Werwolf – begegnet er einem Zauberer, den er aus einer misslichen Lage befreien kann. Er hat jetzt drei Wünsche frei und realisiert sie: Erst kann er sein Traumhaus beziehen, dann erwirbt er sich Reputation als Psychotherapeut Almond Gray, und schließlich gewinnt er Kerrie zurück. Er hofft, »ganz zart und inmitten der Verwüstung« (E 126) auf das »Wunder«, das »nur die Liebe vollbringen kann« (E 63): auf Kerries Rückkehr.

Augustins Erzählweise

Augustins Erzählweise in mehreren Durchgängen dynamisiert nicht nur das Geschehen, sondern verändert auch die Grundeinstellungen des Erzählens: Dasselbe Sujet, das ein zweites (drittes, n-tes) Mal in die dargestellte Welt eingeführt wird, ›evolutioniert‹ diese Welt. So wendet sich die Figur des Mahmud, als das schlechthin Böse konzipiert, zum Guten, während ihr Gegenspieler Hanuman als Verkörperung des Anbetungswürdigen, Guten und Reinen ins Böse verkehrt wird. Damit ändern sich auch die Vorzeichen des Erzählens insgesamt: So wird Mahmud zum Sympathieträger umprogrammiert und entwickelt sich damit gegen die Vorgaben der Sujetentwicklung.

Die »wachsende Sympathie« eines Erzählers »für seine Schöpfung« ist, literarhistorisch gesehen, kein Novum; als prominentestes Beispiel kann vielleicht Cervantes’ »Don Quijote«2 gelten: Dort emanzipiert sich eine Figur von der »geistigen Vaterschaft« ihres Autors3 und nutzt den so gewonnenen Freiraum, ihr »Ingenium« zu entfalten; und auch bei Augustins Protagonisten-Paar Hanuman und Mahmud ist eine solche Verstärkung beziehungsweise »Verminderung des inneren Vorbehaltes«4 vonseiten des Autors (resp. Erzählers) gegen seine Schöpfung spürbar: Auch Augustins Erzähler muss seine Figuren erst genauer kennenlernen, und das kann er durch – einerseits – die Ausdauer schaffen, mit der er sich ihnen und ihrer Lebenswelt zuwendet, oder – andererseits – durch Erkenntnis erreichen, wie sie sich bei mehrfachen, wiederholenden und perspektivisch variierenden Erzähldurchgängen einstellt.

Augustins Poetik steht erkennbar unter dem Eindruck des Nouveau Roman: Genau wie dieser entwickelt Augustin seine jeweilige Fabel aus einer Konstellation mit vielen Variablen. So scheint sein zweiter Roman, »Das Badehaus«, derselben Programmatik zu entspringen, der sich der 1957 in deutscher Übersetzung erschienene Roman »Der Augenzeuge« verdankt, auf den sich Alain Robbe-Grillets Ruhm gründet. Die Erneuerung des Romans durch Augustin fällt damit in eine Phase des literarischen Aufbruchs und Aufbrechens überkommener Strukturen: Man denke an »Die Blechtrommel« (1959), an »Mutmassungen über Jakob« (1959) oder an den »Schatten des Körpers des Kutschers« (1960) als den deutschen Kontext einer internationalen Bewegung, die erzählerische Innovationen von Rang hervorgebracht hat. Von John Dos Passos (»Manhattan Transfer« (1925, dt. 1927)) über Witold Gombrowicz (»Ferdydurke« (1937, dt. 1960)) bis hin zu Italo Calvino (»Wenn ein Reisender in einer Winternacht« (1979, dt. 1983)) kann dieser ebenso avantgardistische wie exquisite Pfad mitverfolgt werden. Auf Flaubert, Proust, Joyce oder Kafka wird diese Moderne gern zurückgeführt, aber es wären natürlich etliche Namen mehr zu nennen (Huysmans, Hofmannsthal, Hemingway, Doderer, Faulkner).

Charakteristisch ist für diese Moderne, dass die Grundfesten des Erzählens – Raum, Zeit, Identität, Wahrnehmung beziehungsweise Fokalisierung, Sprechsituation – in Bewegung geraten und somit zur Disposition gestellt werden. Ein bis ins Absurde reichender Existenzialismus paart sich hier mit einem autopoietischen Verfahren, das seine eigenen Entstehungsbedingungen reflektiert und – quasi performativ – relativiert: Die auf Geschlossenheit erpichte frühere Poetologie des »So und nicht anders« wird von einer prinzipiellen »Offenheit« (Umberto Eco) des Kunstwerks abgelöst: »So und auch anders«, nämlich vielfältiger, farbiger, experimentierfreudiger und risikobereiter als bisher sind historische Entsprechungen und Parallelentwicklungen nicht nur bei Beckett, Camus, Gide, Céline, Sartre oder Jane Austen zu verorten, sondern – im Rückgriff – teils auch schon im Goethe’schen Bildungsroman und in der Poetik und Ästhetik der Romantiker vorprogrammiert. Dem Erzählen kommt es auf die Stiftung zweier (vieler) Realitäten an, aus deren Differenz sich alle Poesie gegen die Prosa herkömmlicher Eindeutigkeit erhebt.