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Titel

Widmung

Landung einer Seele

Impressum

Widmung

Einem unbekannten kleinen Jungen, den ich neulich sah

Den rechten Arm schiebt er die bauchige Glaswand der Backtheke hinauf. Oben angelangt, zieht ihm die Verkäuferin den Fünf-Euro-Schein aus den Fingern.

»Brötchen bitte«, sagt er.

»Wie viele denn?«, fragt die Marzipanige nach unten.

»Für fünf Euro Brötchen«, antwortet er, die kleine Stimme etwas in trockenes Gras gewickelt.

»Und welche sollen es sein, junger Mann?«

»Mischen Sie einfach«, lächelt er in sich hinein.

Er hat es geschafft. Er hat seinen Auftrag erfüllt. Er ist groß und hat, so klein er ist, das Gespräch nach Plan geführt. Sogar der Dicken die Freiheit der Wahl gelassen. Sein ganzer Stolz: wie gut die Welt funktioniert, wenn man ihr richtig kommt. Alles hat gepasst, denkt er, und fühlt sich aufgehoben in den Sätzen, die man ihm nahelegte.

Halb aufgerichtet hänge ich im Bett. Beinah ist Abend. Mir zugewandt steht Hety vor dem Bügelbrett. Das Bügelbrett teilt Hety und ihre Schürze in zwei Teile. Alles, was Hety anfasst, ist weiß. Was sie weglegt, ist flach und kleiner als vorher. Über Hetys Kopf leuchtet ein milchiges Glas, eine Lampe mit gelb absteigendem Licht. Darin schwimmt eine Fliege. Sie macht den tanzenden Fleck. Ich schaue nur ins Licht. Bis Hety ganz darin verschwindet.

»Du lügst«, sagt Hety. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Ich weiß nicht, wann ich etwas gesagt habe. Ich weiß nicht, was das ist: Lügen. Aber ich fühle einen Stein gegen meine Brust geworfen. Ich fühle, dass nun sein Schlag als Schatten in mir ist. Eigentlich müsste ich aus dem Zimmer gehen. Stattdessen sinke ich ins Kissen zurück. Ich bin jetzt krank.

Das Fenster zur Straße ist geschlossen. Eine durchsichtige Wand. Mit dem Ellenbogen stütze ich mich auf die Fensterbank, ganz in die linke Ecke gestrichen. Draußen ist alles in Bewegung. Mitten im Bild ist ein großer Baum umgestürzt. An der Stelle, wo der Stamm zerborsten ist, ragen rötlich-gelbe Wolfszähne ins Freie. Das Milchgeschäft gegenüber ist nun ganz offen zu sehen. Aber es sieht aus, als sei es zu. Niemand geht gerade die paar Treppenstufen zur Ladentür hinauf. Die große silberne Milchkanne, die laut über den Platz rollt, hat ihren Deckel verloren. Und überall springt Papier durch die Luft. Kein einziger Mensch ist da. Links neben dem Haus, in dem das Milchgeschäft ist, wird ab und zu die Gardine beiseitegeschoben. Eine Frau schaut durchs Fenster, schüttelt den Kopf, dreht sich zur Seite weg und zieht die Gardine wieder vor.

Irgendwann wende ich mich nach rechts. Neben mir lehnt mein Vater. Sein Haar um die kleine Glatze ist zerrauft. Ich sehe nicht, wohin er sieht. Unter seinen Augen kleben Tränen. Mein Vater weint.

Ich liege im Fenster. Demselben, durch das ich auch auf das Milchgeschäft blicke. Nun schaue ich ein wenig nach links in die Schräge. Ich bin der Mittelpunkt. Kein Zug kann sich unbemerkt an mir vorbeistehlen. Ich könnte keinen aufhalten, ich könnte keinem entgegentreten, die Hand heben und Halt gebieten. Aber alle fahren durch mich hindurch. Sie gleiten über die gelbgeziegelte Überführung, unter der die Straße zum alten Friedhof verläuft. Gedrungen ist diese kleine fette Brücke, die sich wie ein dunkel gekrümmter Rücken einrollt und nach oben wölbt, um so viel Last zu tragen. Immer sind die Bahnen langsam. Kommen sie von links, vom Bahnhof, sind sie noch kaum in Fahrt geraten, kommen sie von rechts, von Bremen und Hamburg, haben sie längst ihre Geschwindigkeit auf ein Stadttempo gedrosselt. Manchmal begegnen sich zwei Züge und bauen meine Brücke mit Fernweh zu. Manchmal muss einer anhalten, die Leute drinnen machen sich bereits fertig zum Ausstieg, halten Zeitungen in Händen, zwängen sich in Mäntel und Hüte. Es kommt vor, dass jemand die Handfläche als Schirm über die Augen hält und auf den kleinen Platz unter sich runterschaut. Keiner sieht jemals mich. Es wird also Zeit, selbst in einem solchen Zug zu fahren.

Ein Linoleumsee. Ein weites schwarzgünes Meer. Rennstrecke und Schlinderparadies. Die zweite Etage eines alten Stadthauses. Viel Flur, Zimmer nach Norden und Süden. Eines nicht getroffenen Hauses. Die zuständige Bombe kam nach nebenan. Die Außenhaut ist grau gegerbt. Farbe in weitem Umkreis unüblich. Die Fenster haben Sprossen. Hinter ihnen wächst Grünes. Seitlicher Eingang und dann eine Welt voll Treppenhaus. Rote Läufer mit Messingstangen. Meterhohe Pflanzen ohne Rücksicht auf Platz. Platz ist da. Wie ein aufgeschossenes Treibhaus. Unterwasserlicht: warum schwimmen keine Goldfische in der Luft?

Mein Spielfriedhof hat ein Tischtuch bekommen. Wie leichter, kalter Staub, worin wir uns wälzen, Hety, die meine Kinderfrau ist, und ich. Mal sie umgerannt und ich Reiter auf ihr, mal sie, brütend und lachend, über mir. Schnee ist wunderbar, nie wärmer als inmitten. Immer sollte Schnee sein, häufiger. Ein Auge ruht auf uns, väterlich, mütterlich? Es hat nicht mitgespielt.

Das Reißen in meinem Mund ist in drei schwarze Hüllen gewickelt. Ich versuche zu schlafen. Wenn ich in meinen Mund hineinhöre, leuchten in dem engen Dunkel der Höhle meine neuen kleinen Zähne weiß auf, wie plötzlich von einem stumm blitzenden Licht getroffen. Um meine Zähne herum das blutwillige Zahnfleisch, ein böser, knapper Strumpf, der sie gegen ihren Willen festhält. Gleich auf die schmerzende Backe presst sich mein schwarzer Steiff-Hund, schmal und voll einwärts zielender Kraft – bezogen aus meiner rechten Hand.

Um meinen Kopf fließt ein weicher, großer, runder Raum, Nacht hinter meinen geschlossenen Augen, sich ausdehnend ohne mich je zu berühren. Denn ich selbst erschaffe sie, kühl und von mir weggewandt.

Öffne ich die Augen aber doch, steht mein Schlafzimmer fest und viereckig um mich herum, beinah schwarz, bis auf den hellen Spalt dort hinten, wo die Tür mich wissen lässt, dass ein Flur in ihrem Rücken liegt, von Menschen begangen.

Der Balkon liegt nach hinten. Hier scheint oft die Sonne. Heute Mittag ist es heiß. Eine große Schüssel wird auf den Balkon getragen, und ich darf splitternackt in der Wasserpfütze darin planschen. Aber ich setze mich nicht. Ich stehe, ich hocke, ich finde, irgendwie passt es nicht. Ich könnte die Hände als doppeltes Blatt vor meinen Penis legen. Ich träume so hilfesuchend nach Süden, als müsse die Sonne selbst die Situation für mich klären und mir leichte Sommersachen auf den Leib schneidern.