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Dr. Michael Neumann ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

John Andreas Fuchs, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Amerikanistik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Zum Buch

»Wir müssen die Zeit als Werkzeug benutzen, nicht als Couch.« JOHN F. KENNEDY

Die Moderne ist in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Umbruchphase: Neue Wege werden entdeckt, alte Traditionen und Denkweisen brechen auf, sei es in der Politik, der Gesellschaft, der Wissenschaft oder der Kunst. Dieser Umbruch wird gestaltet und angeführt von Personen, die offen sind für Neues und die – in der Realität oder in der Literatur – mutig oder waghalsig, bisweilen gewaltbereit und ohne Rücksicht auf Verluste für ihre Ideale eintreten. Der Band Menschen, die Geschichte schrieben – Die Moderne widmet sich in spannenden Aufsätzen den Persönlichkeiten, die die Welt in der Moderne maßgeblich beeinflussten und sie nachhaltig veränderten.

Mit Aufsätzen u. a. zu: John F. Kennedy, Marilyn Monroe, Albert Einstein, Che Guevara, Johannes Paul II., Picasso, Madonna und Asterix.

Menschen, die
Geschichte schrieben

John Andreas Fuchs und
Michael Neumann (Hrsg.)

Menschen, die
Geschichte schrieben

Die Moderne

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0488-2

www.verlagshaus-roemerweg.de

INHALT

Einleitung

von John Andreas Fuchs

Der Neue Mensch

Projekte der frühen Sowjetzeit

von Michael Hagemeister

Apotheose und Denkmalsturz: Diktatoren im 20. Jahrhundert

Apotheose

von Hans Maier

Mythos „Che“

Erklärungsangebote für das Nachleben des Ernesto Guevara

von Stephan Lahrem

Der gefallene Held

Der Kennedy-Mythos aus kulturwissenschaftlicher Sicht

von Winfried Fluck

Albert Einstein

„Werkmeister des Kosmos“ – „Heiland der Narzissen“

von Hubert Goenner

Johannes Paul II.

Vordergründige Imagination und nachhaltige Realität

von Stefan Samerski

Picasso

Analyse eines Mythos

von Carsten-Peter Warncke

Marilyn Monroe

Star – Mythos – Ikone

von Anita-Maria Goda

Asterix

Einer für alle – alle für einen

von Bernd Dolle-Weinkauff

Madonna

Masken des Begehrens und Verheißung des Glücks

von Helmut Hein

Abbildungsverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Editorische Notiz

Editorische Vorbemerkung

Die bald 100 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte schrieben – Die Moderne vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe „Mythen“, „Europa“ und „Schlüsselfiguren“ sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.

„Es war die beste aller Zeiten,
es war die schlechteste aller Zeiten
,

es war das Jahrhundert der Weisheit,
es war das Jahrhundert der Dummheit
,

es war die Epoche des Glaubens,
es war die Epoche des Unglaubens
,

es war die Saison des Lichts,
es war die Saison der Dunkelheit
,

es war der Frühling der Hoffnung,
es war der Winter der Verzweiflung
,

wir hatten alles vor uns,
wir hatten nichts vor uns
,

wir gingen alle direkt in den Himmel,
wir gingen alle direkt in die andere Richtung.“

Aus: Charles Dickens,
A Tale of Two Cities (1859)
Aus dem Englischen übersetzt von:
John Andreas Fuchs

EINLEITUNG

von John Andreas Fuchs

„Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten“ – als Charles Dickens 1859 seine Geschichte zweier Städte schrieb, konnte er nicht ahnen, welche Aussagekraft seine Charakterisierung der Zeit der Französischen Revolution, mit all ihren Hoffnungen und Schrecken, für folgende Generationen haben würde. Vielleicht noch mehr für das zwanzigste als für das neunzehnte Jahrhundert.

Nach sieben Jahren ist die Reihe Mythen Europas mit dem vorliegenden Band im 20. Jahrhundert an- und damit zu ihrem Abschluss gekommen. Sie führte ausgehend von der Antike übers Mittelalter in die Neuzeit, durch die Renaissance, vom Barock zur Aufklärung und schließlich durch das 19. Jahrhundert und zeigte die jeweiligen Mythen als Spiegel ihrer Entstehungszeit und Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert stellt sich die Betrachtung der Mythen aufgrund der kurzen historischen Distanz komplex dar: Einige Schlüsselfiguren der Imagination begegnen einem als lebende Legenden. Die Gesellschaft, die sich in den Mythen spiegelt, ist auf einmal die – zumindest teilweise – eigene: John F. Kennedy, Marilyn Monroe, Johannes Paul II. und Madonna sind keine legendären Gestalten aus einer längst vergangenen Zeit, sondern ein Teil der eigenen Vergangenheit; um sie ranken sich Mythen, deren Wirkung einen eventuell selbst beeinflusst hat oder bei deren Konstruktion man gar selbst beteiligt war. Bereits Kurt Hübner beschreibt Mythos und Wissenschaft als alternative Formen der Wirklichkeitsbewältigung ohne absoluten Wahrheitsanspruch.1 Mythos und Wissenschaft sind nicht mehr unvereinbare Gegensätze, sondern liefern beide Erklärungsmodelle für die Welt. Die Autoren dieses Bandes versuchen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln, hinter die Figuren unserer Imagination zu blicken und die realen Personen neben ihren Mythos zu stellen. Sie versuchen der Frage auf den Grund zu gehen, was einen Menschen des 20. Jahrhunderts zum Mythos werden lässt. Dies geht nicht, ohne vertraute Vorstellungen über unsere Helden zu hinterfragen und ihren Entstehungshintergrund zu dechiffrieren.

Das „kurze 20. Jahrhundert“ ist das Jahrhundert des Antagonismus und zeigte sich von Anfang an als Zeitalter der Extreme, wie Eric Hobsbawm die Zeit von 1914 bis 1991 nennt.2 Hatten sich im 19. Jahrhundert die in der Französischen Revolution und ihren Nachwehen angelegten Gegensätze auf nationaler Ebene in Europa weiter ausgeprägt, trieb das 20. Jahrhundert diese Gegensätze auf die Spitze: Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), der Erste Weltkrieg, verwirklichte auf radikalste Weise eine der Forderungen der Französischen Revolution: Vor den Mündungsfeuern der Maschinengewehre waren tatsächlich alle gleich. Beim Töten und Getötet-Werden in den Schützengräben gab es keinen Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Ständen. Es war ein Kampf Mensch gegen Maschine, vormoderne Tugenden wie Mut und Opferbereitschaft zählten nicht mehr. Der Fortschritt der Technik veränderte den Krieg und das Leben, die Maschine trat, so Ernst Jünger, ihre Herrschaft an.3 Die Tötungsindustrie zeigte ihr furchtbares Gesicht bald darauf wieder im Zweiten Weltkrieg. Der totale Krieg und der Einsatz der Atombombe trieben die zivilen Opferzahlen auf bisher nicht gekannte Höhen, um noch vom Wahnsinn des Holocaust an Entmenschlichung übertroffen zu werden. Das Leben des Einzelnen und selbst ganzer Völker galt im Totalitarismus nichts mehr. Einzelne hatten die Macht, die ganze Menschheit auszurotten.

Nicht nur auf den Schlachtfeldern begann das 20. Jahrhundert mit Umbrüchen, auch die soziale Ordnung geriet ins Wanken. Die Folge des Kriegs waren u. a. Revolutionen in Russland, Deutschland und Österreich. Die Oktoberrevolution in Russland zog den Beginn des Konflikts zwischen Ost und West nach sich, der nach dem Zweiten Weltkrieg über vierzig Jahre lang als Kampf der Werte und Ideologien die Welt in zwei Lager teilen sollte. Das Verschwinden dieser beiden Blöcke markiert, so Hobsbawm, auch das Ende des kurzen 20. Jahrhunderts.

Doch das 20. Jahrhundert wäre kaum das Jahrhundert des Antagonismus, wenn es nicht auch selbst in zwei „Blöcke“ zerfiele: der erste geprägt von Katastrophen, der zweite, zumindest in der westlichen Welt, von Wohlstand und Frieden. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sah das Ende der alten Kolonialreiche. Großbritannien gab in einer modernen translatio imperii seine Rolle an die USA ab. Das 20. Jahrhundert wurde damit endgültig zum „amerikanischen Jahrhundert“ (Hobsbawm), ein weltpolitischer Rahmen, dem die Auswahl hier vorgestellter Mythen Rechnung trägt.

Das 20. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert der Umbrüche und Katastrophen, sondern auch das der Aufbrüche und des Fortschritts. Quantentheorie, Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Heisenbergsche Unschärferelation eröffneten völlig neue Perspektiven in der Physik. In der Biologie führte die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie und Genetik zur Gentechnologie. Der Mensch betrat den Mond und erschuf künstliche Intelligenz. All dies bereitete den Boden für eine große Anzahl neuer Mythen, bei deren Erschaffung und Verbreitung die kulturellen und sozialhistorischen Umbrüche der ersten Moderne halfen: die Durchsetzung der Konsumgesellschaft, die zunehmende Urbanisierung sowie Suburbanisierung und das Aufkommen der Massenmedien, wie Kino, Illustrierte und Werbung. Gerade die Medienrevolution brachte eine entscheidende Veränderung: Die Wirklichkeit wurde nicht mehr nur dargestellt, sondern sie wurde visuell, auditiv, audio-visuell reproduziert oder auch völlig neu produziert. So arbeiten die Schlüsselfiguren des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Medien an ihrer „Ausstrahlung im Raum des Imaginären“4 oder werden gar von Anfang an von den Medien als mythische Figuren konstruiert.

Mit der Produktion des NEUEN MENSCHEN beschäftigt sich Michael Hagemeister im ersten Beitrag des Bandes. Hagemeister zeigt am sowjetischen Streben nach dem homo creator die Langlebigkeit von Mythen, da die Idee des Neuen Menschen keinesfalls neu war: Die Bolschewiki griffen auf Platons Mythos des ganzheitlichen ungeschlechtlichen Menschen zurück und stellten sich auch in die Tradition der Kirchenväter, die bereits einen Zusammenhang zwischen „Geschlechtlichkeit, sexuell vermittelter Erbsünde und Todesverfallenheit“ postuliert hatten. Ungeschlechtlichkeit sowie die alchemistisch erscheinende Vereinigung des Männlichen und Weiblichen war jedoch nur einer der Wege, die in Russland eingeschlagen wurden. Weitere Möglichkeiten stellten die Unsterblichkeit in Form eines Kollektivs, in welchem der Einzelne in der Masse aufgeht und dessen Tod somit unbedeutend wird, die Verlangsamung des Alterns oder gar die Auferweckung der Toten dar. So wurde Lenins Mumifizierung von Zeitgenossen als Maßnahme für dessen spätere Auferweckung verstanden. Die Bolschewiki versuchten entsprechend ihren totalitären Heilslehren den Menschen zu vergöttlichen und aus dem „Gefängnis der Natur“ zu befreien. Dabei schufen sie jedoch nicht das Paradies auf Erden, sondern machten „das Dasein zur Hölle“.

Die Anfälligkeit der Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts für neue Heilslehren erklärt Hans Maier mit der Urkatastrophe und dem Ende des Liberalismus. Mit Lenin beginnt für ihn die Apotheose der Diktatoren im 20. Jahrhundert, die an dessen Ende im Denkmalsturz münden sollte. Im Herrscher- und Führerkult setzte sich die schon beim Neuen Menschen festgestellte Säkularisierung fort. LENIN, STALIN, HITLER, MUSSOLINI und MAO waren Heilsbringer „politischer Religionen“. So unterschiedlich die Genannten in ihren Ideologien auch waren, gemeinsam waren ihnen der totale Herrschaftsanspruch, die wirkungsvolle Beeinflussung der Massen und ihre mediale Selbstinszenierung zur Generierung ihres eigenen Mythos. Folge dieser Selbsterhöhung war der unvermeidliche Sturz und die Dekonstruktion des mythischen Herrschers. Sei es durch die Niederlage im Krieg – Hitler und Mussolini – oder durch die Hand derer, denen der Personenkult zu weit ging. Stalin wurde postum zur Unperson, Personenkult und Kommunismus waren unvereinbar. Die Gefahr eines neuerlichen Totalitarismus sieht Maier nach dem Denkmalsturz der Diktatoren zwar als gering an, weist aber darauf hin, dass der Personenkult in der Verehrung von Warlords, Guerillakämpfern und dem Märtyrertum von Terroristen wiederkehren könnte.

Einer der Heilsbringer des 20. Jahrhunderts der gegen sämtliche Dekonstruktionsversuche gefeit war, ist der Rubrik der Warlords und Guerillakämpfer zuzuordnen. ERNESTO „CHE“ GUEVARA ziert weiterhin Poster, T-Shirts und Kappen immer neuer Generationen von Jugendlichen. Sein Nachleben versucht Stephan Lahrem zu erklären. Lahrem sieht den Mythos nicht als reine Fiktion und Imagination, sondern als „Projektionsfläche für Sehnsüchte, Hoffnungen, Wünsche und Ängste, die auf eine historische Person projiziert werden“: die Wahrheit als Grundlage des Mythos. Warum Che Guevara ausgerechnet als Projektionsfläche für gut situierte europäische Jugendliche dient, zeigt Lahrem in dessen Biographie auf. Der aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Ernesto Guevara konnte, auch als studierter Mediziner, durchaus als einer „der ihren“ durchgehen. Zum Mythos machte ihn sein asketischer Lebenswandel sowie seine Kompromisslosigkeit, Bescheidenheit, Unbestechlichkeit und Radikalität. Sartre sah in ihm den „vollkommensten Menschen unserer Zeit“. Zur Überhöhung des Menschen Guevara zur Imitatio Christi trug letztlich auch sein Tod im Kampf für die Revolution bei. Dank der Medien, mit ihrer für die Mythenbildung gravierenden Bedeutung, erreichte das Bild des christusgleich daliegenden toten Che die ganze Welt. Castro nutzte die Gelegenheit Che zum „Mensch der Zukunft“, wenn man möchte einem Neuen Menschen, zu erheben.

Auch bei JOHN F. KENNEDY trug ein früher, gewaltsamer Tod zur Mythenbildung bei. Anders als Che Guevara steuerte Kennedy das Ausmaß seiner Mythisierung allerdings sehr bewusst zu seinen Lebzeiten. Sie war quasi Vorbereitung und Grundlage für seinen Weg ins Weiße Haus, wie Winfried Fluck in seinem Beitrag zeigt. Gekonnt setzte Kennedy die Manipulationskraft der Medien ein, um dem Bild eines strahlenden, tatkräftigen und vor allem jungen Abenteurers gerecht zu werden, obwohl er mit seinen zahlreichen schweren Krankheiten von ständiger ärztlicher Betreuung abhängig war. Mit seinen Gegensätzen könnte der Mythos Kennedy quasi zum Synonym für das antagonistische 20. Jahrhundert werden: Strahlender Held und Invalide, treuer Familienvater und notorischer Ehebrecher, archetypischer Amerikaner und Europäer. Kennedy gelang die Verbindung der Imagination eines amerikanischen Abenteurers, eines Frontiersman, mit dem Lebenswandel eines europäischen Aristokraten. Aus dem rauen Grenzer, wurde der strahlende Ritter. Diese Synthese wurde von Jackie Kennedy treffend mittels Rückgriff auf den Artus-Mythos unter dem Schlagwort Camelot verdichtet. Kennedy machte sich die europäische „Kultur der Nobilität“ zu Eigen und demokratisierte sie. Zugleich nutzte er den zivilisatorischen Gestus von Camelot, um das Image der Kulturlosigkeit der USA zu widerlegen. So zog JFK gleichermaßen Amerikaner wie Europäer in seinen Bann. Heute übernimmt Barack Obama diese Rolle. Die frenetische Begeisterung, die dem ersten afro-amerikanischen Präsidenten entgegenschlägt, trägt fast die Züge des Personenkults.

„Jeder soll als Person respektiert und keiner vergöttert sein“5, forderte maßgeblich der wohl bekannteste Physiker des 20. Jahrhunderts. Dennoch wurde ALBERT EINSTEIN von seinen Zeitgenossen auf einen Sockel gehoben und als „Werkmeister des Kosmos“ und „Heiland der Narzissen“ bezeichnet. Hubert Goenner schildert in mehreren Schritten ausgehend vom Wissenschaftler und Menschen Einstein, wie aus einem „eingefleischten Individualisten“ ein „in Wort und Bild vielfach reproduzierter Typ“ und ein Markenzeichen in Wissenschaft und Gesellschaft wird. Wesentlichen Anteil hatte daran, neben der schon von anderen mythischen Figuren bekannten Selbstdarstellung, das Geheimnisvoll-Bedrohliche, das Einstein und seine allgemeine Relativitätstheorie umgab; brachte man ihn doch stets mit der Atombombe in Verbindung, dem Symbol für die eingangs erwähnte Herrschaft der Maschinen schlechthin. Laut Goenner trägt Einstein hier die Züge eines „Magiers“ und „Frankensteins“. Zudem galt er als Neuordner der Welt, was ihm in Zeiten von Revolutionen und Krieg einen messianischen Nimbus verlieh, der sich auch in Darstellungen Einsteins mit Gloriole im Ölberg niederschlug. Neben seiner charmanten Art, war es seine Vielschichtigkeit, die sich für viele als Markenzeichen nutzbar machen lässt, die Einstein zum perfekten Mythos für das mediale 20. Jahrhundert mach(t)en.

Stefan Samerski beschäftigt sich mit einem Mythos, der viele der bereits genannten Eigenschaften in sich vereint: JOHANNES PAUL II. war mediengewandt, offen, zugänglich, zu Beginn seines Pontifikats jugendlich. Er war fest in seinem Glauben, litt für seine Überzeugungen, war politisch engagiert und führte ein öffentliches Leben bis in den Tod. Samerski zeichnet die Biografie eines Papstes der Superlative, der die Begegnung mit seinen Mitmenschen suchte, ob über die Medien, bei Audienzen oder auf seinen zahlreichen Reisen. Er konnte die Massen begeistern, aber er polarisierte mit seinen festen, unnachgiebigen Standpunkten auch. Mit seiner Fähigkeit Gegensätze zu vereinen, war er der ideale Pontifex des 20. Jahrhunderts.

So wie Johannes Paul II. auch ein Papst der Populärkultur war, man denke an die von ihm ins Leben gerufenen Weltjugendtage und seine Ernennung zum Mann des Jahres 2004 durch das Time Magazin, schaffte es PABLO PICASSO, so Carsten Peter Warncke, zum Künstler der Populärkultur zu werden. Sein Name ist Synonym für moderne Kunst. Wie bereits bei Einstein, hat dies zur Folge, dass sein Ruhm nicht nur präsentiert, sondern auch in anderer Form reproduziert und für Werbung genutzt wird, unter anderem in Form des Citroën Xsara Picasso. Der Slogan „Inspiration ist alles“ gibt genau das von Picasso anvisierte Bild eines Genies wieder. Bewusst nutzte er Fotografie und Film, um seinen eigenen Mythos des vitalen Genies zu formen. Er stilisierte sich zum „genialen Künstler, der jederzeit alles kann“.

Wurden Einstein, Picasso und in gewisser Weise auch Che Guevara, nachdem sie ihren mythischen Status erlangt hatten, von den Medien, der Populärkultur und der Werbeindustrie für ihre jeweiligen Zwecke vereinnahmt, war MARILYN MONROE von Anfang an ein Objekt, das die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen hatte, wie Anita-Maria Goda schildert. Dennoch war Marilyn Monroe viel mehr als nur Projektionsfläche für männliche Phantasien. Eine Erkenntnis, zu der auch Elton John in Candle in the Wind kommt: Er sieht „mehr als nur Marilyn Monroe“, mehr als nur ein Sexobjekt. Allerdings verstellt der Mythos Marilyn – an dem sie selbst zu arbeiten versuchte, auch wenn sie hauptsächlich benutzt wurde – den Blick auf das kleine Mädchen Norma Jean Baker. Es bleibt die Frage, wer der Mensch hinter dem Mythos wirklich war. Vielleicht behält Elton John recht: „Goodbye Norma Jean, obwohl ich dich überhaupt nie kannte.“ Die allen bekannte Monroe war eine Imagination, die jeder nach seinen Vorstellungen formte und noch immer formt, wie die zahlreichen Nachahmer aus dem Showgeschäft zeigen.

Bernd Dolle-Weinkauf führt mit seinem Beitrag die Reihe wieder zurück an ihren Anfang vor sieben Jahren. Mit dem listigen Gallier ASTERIX widmet er sich einer der Antike entsprungenen Comicfigur, die es zum Mythos des 20. Jahrhunderts gebracht hat. Die Kunstfigur Asterix wird nicht nur rasch zum nationalen Mythos, sondern meistert auch den erfolgreichen Sprung über die Grenzen Frankreichs hinweg. Geschätzt wird der kleine Gallier wegen seines unermüdlichen Kampfes gegen einen übermächtigen Gegner, dem er nicht nur mit Kraft, sondern auch mit Witz und Charme entgegentritt. Er und sein dicker Freund Obelix werden so zur Projektionsfläche der Sehnsüchte der Machtlosen im Kampf gegen die Mächtigen, seien es die Bürokratie oder die Politik. Als Alltagsmythos erlaubt Asterix seinen Lesern die Flucht in eine gerechte und unterhaltsame Imagination.

Ebenfalls die Flucht ermöglicht ihren Fans, so Helmut Hein, die Pop-Ikone MADONNA. Die wahre Madonna bleibt dabei nicht nur hinter dem selbst geschaffenen Mythos Madonna verborgen, sondern bietet ihren Fans die Möglichkeit in „übersteigerter, glamouröser, tröstender Form ihr eigenes Schicksal zu studieren“. Das Konstrukt wird so zur Identifikationsfigur und öffnet die Tür zu unzähligen anderen Identitäten und Imaginationen. Madonna wollte nicht die Monroe kopieren, sie zitierte sie und nutzte sie, um ihren eigenen Mythos zu schaffen. Dabei behielt sie, anders als MICHAEL JACKSON, stets die Kontrolle über ihre künstliche und künstlerische Identität. Wie Madonna wandelte Jackson zwischen verschiedenen Welten und Identitäten, doch während Madonna alltäglicher und ihr Mythos blasser wird, hat Jacksons Tod seinen Mythos wieder belebt und ihn über alle Zweifel erhoben. Manchmal gehören nicht Kontrolle und Erfolg, sondern (auch) Scheitern und Tragik zum erfolgreichen, dauerhaften Mythos.

Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge wurden – mit Ausnahme des Madonna-Beitrags von Helmut Hein – im Wintersemester 2008/09 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt als Vorträge gehalten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung der Vortragsreihe lag in den Händen von John Andreas Fuchs, Christine Gottstein-Strobl, Andreas Hartmann, Saskia Hertlein, Bea Klüsener, Michael Neumann, Markus Raasch, Alexei Rybakov, Andreas Umland und Betsy van Schlun.

ANMERKUNGEN

1 Hübner, Kurt 1985: Die Wahrheit des Mythos, München.

2 Hobsbawm, Eric 1996: The Age of Extremes. A History of the World 1914–1991. New York.

3 Diner, Dan 1999: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München, S. 40 ff.

4 Neumann, Michael 2004: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Regensburg, S. 10.

5 Einstein, Albert 1956: Mein Weltbild, Frankfurt a. M., S. 8.

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„Die Geburt des Neuen Menschen“; Gemälde von Heinrich Vogeler, 1923.

DER NEUE MENSCH

Projekte der frühen Sowjetzeit

von Michael Hagemeister

Im September 1923 tat die Moskauer Prawda, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei, einen Blick in die Zukunft. Es werde eine Zeit kommen, hieß es, da man „die Welt als gefügigen Ton zum Modellieren immer vollkommenerer Lebensformen“ ansehen und lernen werde, „Flüsse und Berge zu versetzen und Volkspaläste auf dem Gipfel des Mont Blanc und auf dem Grund des Atlantiks zu errichten“. Der Mensch werde nicht nur die Erde „nach seinem Geschmack umgestalten“, sondern auch sich selbst „harmonisieren“, die „unbewussten Prozesse im eigenen Organismus […] der Kontrolle durch Verstand und Willen“ unterwerfen und dadurch „ungleich stärker, klüger und sensibler“ werden. „Der durchschnittliche Menschentyp wird sich zum Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx emporschwingen. Und über dieser Gebirgskette werden sich neue Gipfel erheben.“1

Der dies schrieb, war kein Geringerer als Leo Trotzki, der nüchterne Berufsrevolutionär und siegreiche Führer der Roten Armee, und er war keineswegs der einzige Visionär. Zuvor schon hatte der Schriftsteller Maxim Gorki an die Völker der Welt appelliert, alle Kräfte auf den Kampf gegen die Natur und ihre Unterwerfung zu konzentrieren:

Arbeit und Wissen besiegen alles. […] Zweifellos wird eine Zeit kommen, da der Mensch Herr über die Natur sein wird und ein solcher Wundertäter, dass es für ihn keinerlei Hindernisse mehr geben wird. Vielleicht wird er auch die interplanetaren Räume erobern, den Tod besiegen und all seine Krankheiten und inneren Mängel, und dann wird höchstwahrscheinlich das Paradies auf Erden sein.2

Die Jahre nach der russischen Oktoberrevolution waren eine Hochzeit überschießender utopischer Projekte und Experimente. Erstmals in der Geschichte schien ein Teil der Menschheit sich vom Joch der Ausbeutung befreit zu haben. Man erwartete die Weltrevolution, das apokalyptische „letzte, entscheidende Gefecht“, wie es im russischen Text der „Internationale“ heißt, das die finsteren, reaktionären Mächte der Vergangenheit ein für allemal vernichten und eine strahlende „neue Welt“ heraufführen werde, ein ewiges Reich des Friedens, der Freiheit und der Vernunft. Wissenschaft, Kunst und Technik würden, so glaubte man, aus den Fesseln widerstreitender partikularer Interessen befreit und erstmals dem Wohl der gesamten Menschheit dienend, einen ungeahnten Aufschwung nehmen, den Weg in eine „lichte Zukunft“ bahnen und schließlich auch die letzte Barriere vor dem Tor zum Paradies auf Erden überwinden, die Endlichkeit des Menschen in Raum und Zeit. Damit verbunden waren Vorstellungen und Pläne eines Ausgreifens in den Weltraum, der Regulierung geologischer, meteorologischer und kosmischer Vorgänge, der künstlichen Verjüngung und beliebigen Verlängerung des Lebens bis hin zu Visionen einer völligen Umgestaltung und Beherrschung des Universums, der Schaffung eines übermächtigen Neuen Menschen und der Erlangung der Unsterblichkeit. Wir können alles, wir müssen es nur wagen!, lautete die Parole, mit der sich jene kühnen Antizipationen verbanden, die angesichts der mangelhaften Gegenwart als Trost und Ausgleich, aber auch als Beschwörung und Ansporn dienten. Der alte illusionäre Jenseitsglaube – das Marxsche „Opium des Volks“ im Elend3 – hatte ausgedient. An die Stelle Gottes war das allmächtige Kollektiv der vereinten Menschheit getreten mit dem Anspruch, sich selbst „aus dem Elend zu erlösen“, wie es weiter in der „Internationale“ heißt.

Der Neue Mensch war zugleich Subjekt und Objekt hochgespannter Projekte. Den alten Menschen mit seinen Schwächen und Begrenztheiten sah man weder imstande, die neue Welt zu bauen, noch hielt man ihn für würdig, sie zu bewohnen. Zahlreiche Entwürfe zielten darauf ab, den Menschen durch Abrichtung und Züchtung zu optimieren, defekte Elemente hingegen auszulöschen. Den Prototyp des Neuen Menschen erblickte man im Proletarier, dem Angehörigen der siegreichen Klasse. Geschaffen für kollektives Handeln und von nahezu unbegrenzter Formbarkeit, sollte er durch die sozialistische Umwelt zu einem gesunden, starken und disziplinierten Arbeiter und Kämpfer herangebildet werden, wobei, so erwartete man, die erworbenen Eigenschaften sich auf die Nachkommen vererben würden. Verbreitet waren soziale und eugenische Selektionsvorstellungen, wonach durch Auslese der Besten und ihre gezielte Vermehrung bei gleichzeitiger Verhinderung der Fortpflanzung „Minderwertiger“ ein – so Trotzki – „höherer gesellschaftlich-biologischer Typus“ gezüchtet werden könne, ein „Über-Mensch“. Noch 1932 hielt Trotzki an der Vision des homo creator fest:

Ist er einmal mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertig geworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten. Der Sozialismus wird einen Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit auch in dem Sinne bedeuten, dass der gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch einer neuen und glücklicheren Rasse den Weg ebnen wird.4

Das Projekt des Neuen Menschen und seiner totalen Verfügungsmacht speiste sich aus vielfältigen Quellen. Schon Humanismus und Aufklärung hatten den Menschen als ein unvollendetes, zugleich aber allmächtiges Wesen gezeichnet, einen homo secundus Deus, der sich selbst und seine Welt in einer „zweiten Schöpfung“ erschaffen und vervollkommnen muss.5 Damit verband sich der Glaube an den Fortschritt als einer unaufhaltsamen Entwicklung zum Höheren, Vernünftigen, Vollkommenen. Hinzu kamen in Russland Vorstellungen aus der christlichen Gedankenwelt, vor allem der östlichen Kirchenväter, aber auch der religiösen Sektierer und Apokalyptiker, wie etwa die heilsgeschichtlichen Konzepte der Vergöttlichung (theosis) und Verklärung (metamorphosis) des Menschen oder der Wiederbringung (apokatastasis) und Erlösung der gesamten Schöpfung am Ende der Zeit, Vorstellungen, die in der orthodoxen Theologie und religiösen Philosophie entfaltet und durch Literatur und Publizistik verbreitet wurden. In den russisch-sowjetischen Projekten des Neuen Menschen wurden diese Konzepte säkularisiert und mit Ideen von Feuerbach (Gott als menschliches Geschöpf und Projektion), Marx („Reich der Freiheit“ als Ziel der Geschichte), Darwin (Entwicklung immer vollkommenerer Lebewesen) und Nietzsche (der Mensch als „Brücke zum Übermenschen“) verbunden. An die Stelle der „Rückkehr des Menschen zu Gott“ traten nun – nach dem „Tode Gottes“ – „Gotterbauertum“ und Selbstvergöttlichung (autotheosis).

Der Prometheismus der frühen Sowjetzeit beruhte nicht zuletzt auf einem magischen Verständnis von Wissenschaft und Technik. Was bisher Sache von Alchemisten und Kabbalisten gewesen war, wurde nun zur Aufgabe von Wissenschaftlern und Ingenieuren: die Überwindung der Naturgesetze, die Umwandlung der biologischen Arten und chemischen Elemente, die künstliche Erzeugung von Leben und dessen beliebige Verlängerung, die Herrschaft über Raum und Zeit, der Vorstoß in neue Dimensionen und vor allem der Kampf gegen den Tod, diesen letzten Rest unbezwungener Natur, der den Menschen daran hindert, vollkommen, gottgleich zu werden.6

ÜBERWINDUNG DER GESCHLECHTLICHKEIT: MENSCHENPRODUKTION UND ANTHROPOTECHNIK

Der Neue Mensch ist ganzheitlich, und das heißt ungeschlechtlich, eine Vorstellung, die bis zu Platons Mythos im Symposion zurückreicht. Der bereits von den Kirchenvätern traktierte Zusammenhang von Geschlechtlichkeit, sexuell vermittelter Erbsünde und Todesverfallenheit auf der einen und Jungfräulichkeit (virginitas) als höchster Stufe menschlicher Vollkommenheit auf der anderen Seite ist von russischen Philosophen und Schriftstellern immer wieder hervorgehoben worden; beispielsweise von Wladimir Solowjow: „Es ist klar, dass der Mensch, solange er sich vermehrt wie das Tier, auch stirbt wie das Tier.“7 Bei Nikolaj Berdjajew heißt es:

Das Geschlecht ist nicht nur Quelle des Lebens, sondern auch Quelle des Todes. Durch das Geschlecht wird man geboren, und durch das Geschlecht stirbt man. Das Geschlecht bindet den Menschen an jene vergängliche Naturordnung, in der unendlicher Wechsel von Tod und Geburt herrscht. Nur der Sterbliche zeugt, und nur der Gezeugte stirbt.8

Erinnert sei auch an Leo Tolstois berühmte Erzählung Die Kreutzersonate mit ihrem Aufruf zur Selbsterlösung durch sexuelle Abstinenz. Einen im wahrsten Sinne radikalen Weg der Selbsterlösung beschritten die Angehörigen der russischen Sekte der Skopzen oder Kastraten, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden war und bis weit in die Sowjetzeit existierte: Durch die als „Feuertaufe“ bezeichnete chirurgische Beseitigung der Geschlechtsteile suchten sie den reinen, „weißen“ Urzustand des Menschen vor dem Sündenfall, also vor dem Einbruch des Todes und der Zeit in die Welt, wiederherzustellen.

Auch der Neue Mensch in den Projekten der russischsowjetischen Biotechnologen sollte auf dem Weg der Selbstvervollkommnung seine Geschlechtlichkeit beherrschen, reduzieren und schließlich vollständig überwinden. Dem „Pansexualismus“ des verdorbenen Westens wollte man mit „revolutionärer Sublimierung“ begegnen, mit der Umleitung libidinöser Energien in „soziokreative Bahnen“ und in den Klassenkampf. Zu diesem Zweck erließ der Neurologe Aron Salkind zwölf „Gebote des Sexuallebens für das revolutionäre Proletariat“, in denen er zu vorehelicher Enthaltsamkeit und maßvollem, beherrschtem Geschlechtsverkehr aufrief. Der Schriftsteller und Ingenieur Andrej Platonow sah in allen zivilisatorischen Leistungen, die „im Kampf gegen den großen Feind, den Tod“ errungen wurden, das Ergebnis gelungener Sublimation, d. h. der Verwandlung jener „mächtigen inneren Körperkraft“, die gewöhnlich zur Zeugung von Nachkommen verwendet wird, in schöpferische Aktivität. Während die bürgerliche Gesellschaft ganz der Sexualität und damit der Quelle des Todes verfallen sei, werde die nun anbrechende „Kultur des Proletariats“ mit der Sexualität auch den Tod überwinden:

Jetzt ist die Zeit des völlig keuschen Menschen angebrochen, und er wird eine große Zivilisation schaffen, er wird die Erde und alle übrigen Gestirne lenken […], und er wird die Erde und selbst die Zeit überdauern.9

Noch allerdings sollte der Mensch sich vermehren, wenn auch nicht länger durch unkontrollierte geschlechtliche Fortpflanzung. Walerian Murawjow, ein hochgebildeter Adliger, der sich den Bolschewiki angeschlossen hatte und mit Trotzki befreundet war, entwarf bereits 1924 ein Projekt zur Auslese wertvoller Menschentypen und zu deren rationeller, in Laboratorien stattfindender massenweiser Herstellung:

Es wird eine Zeit kommen, da der Prozess der Geburt rationalisiert wird und in die Laboratorien übergeht. Die Eugenik und die Wissenschaft der Menschenproduktion werden dann die Formeln eines jeden Lebewesens kennen und sie entsprechend erschaffen und erziehen. Wichtig ist, was geschaffen wird, nicht wie es geschaffen wird. […] Ebenso wie der erfahrene Gärtner den natürlichen Wachstumsprozess der Pflanzen durch die gezielte Züchtung bestimmter Sorten ersetzt, muss die organisierte und sich ihrer selbst bewusst gewordene Menschheit von der zufälligen Produktion wertvoller, aber auch minderwertiger Menschentypen übergehen zur Herstellung ausschließlich der ersteren.10

Diese Worte antizipieren Aldous Huxleys berühmte Schilderung einer „Brut- und Normzentrale“ in der negativen Utopie Brave New World, die acht Jahre später erschien, doch hatte bereits Friedrich Engels 1881 in einem Brief an K. Kautsky von Menschenproduktion gesprochen:

Sollte aber einmal die kommunistische Gesellschaft sich genötigt sehen, die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt hat, so wird gerade sie und allein [sie] es sein, die dies ohne Schwierigkeiten ausführt.11

Im nächsten Schritt, so Murawjow, werde der Neue Mensch dann ein mit Hilfe von „Anthropotechnik“12 und „Anthropourgie“ geschaffenes Kunstwerk sein, ein androgynes vollkommenes Doppelwesen, in kollektiver Arbeit entworfen und hergestellt von einer Gruppe genialer Künstler-Wissenschaftler. Der Schöpfungsvorgang – Murawjow nennt ihn „rituelle“ oder „geheiligte Handlung“ – erinnert an das alchemische Werk, die Vereinigung der Gegensätze des Männlichen und des Weiblichen, symbolisiert im Hermaphrodit. Mit der Abschaffung der sexuellen Attraktion und der geschlechtlichen Fortpflanzung würden, so Murawjow, auch die „absurden und abstoßenden Erscheinungen des heutigen irrationalen Geschlechtslebens“ beseitigt. Durch die allmähliche Ersetzung alles Natürlichen durch Künstlich-Geschaffenes werde sich die Menschheit in „Übermenschen“ verwandeln, in vollkommene, mächtige Wesen „mit kosmischem Horizont und kosmischer Macht“.13 Diese künstlichen Wesen würden sich mit enormer Geschwindigkeit bewegen, sich von Licht ernähren, also vom Stoffwechsel mit der Natur unabhängig sein, und über weite Entfernungen denken, fühlen und handeln. Am Ende ihrer Selbstvervollkommnung würden ihre Körper eine Metamorphose erfahren, die an die christliche Vorstellung der Verklärung und Vergeistigung der Leiber der Gerechten erinnert: Sie würden sich in elektrische Kraftzentren verwandeln und mittels elektronischer Entladungen miteinander kommunizieren.14 Dabei würden sie ihre Macht über das Universum ausdehnen und eine wahre „Kosmokratie“ und „Pantokratie“ errichten. Das Ende der Erdgeschichte werde der Beginn der Geschichte des Kosmos sein. – Die irdische Geschichte nahm indes einen anderen Verlauf: 1929 wurde Murawjow verhaftet und in ein Arbeitslager im Norden Russlands deportiert; dort verlieren sich seine Spuren.

ENTGRENZUNG IN RAUM UND ZEIT: UNSTERBLICHKEIT

Bis zur Errichtung einer Kosmokratie unsterblicher Wesen war es freilich noch ein weiter Weg. Doch nicht alle Zeitgenossen wollten sich auf eine ferne Zukunft vertrösten lassen, vielmehr lag ihnen an einer Verlängerung und Steigerung ihrer jetzigen Existenz mit der Aussicht auf persönliche Unsterblichkeit. Am 4. Januar 1922 erschien in der Moskauer Regierungszeitung Iswestija ein Aufruf, in dem gefordert wurde, unverzüglich die beiden einzigen fundamentalen Menschenrechte zu verwirklichen, nämlich das Recht auf unbegrenztes Sein und auf Bewegungsfreiheit im kosmischen Raum. Es sei unerträglich, so hieß es, die Begrenztheit in Raum und Zeit noch länger hinzunehmen, sie gar als Naturnotwendigkeit zu sanktionieren. Unterzeichnet war der Aufruf von einer Gruppe mit dem Namen „Biokosmisten-Immortalisten“. Dem Aufruf vorangegangen war ein Aktionsprogramm, in dem es hieß:

Wir erklären, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört. […] Wir setzen auch den ‚Sieg über den Raum‘ auf die Tagesordnung. Wir sagen: nicht Luftfahrt – das wäre viel zu wenig –, sondern Raumfahrt. […] Man darf nicht länger nur Zuschauer sein, sondern muss aktiver Teilnehmer am kosmischen Leben werden.15

Während Kommunisten und Anarchisten sich mit dem Umbau der Gesellschaft und der Abschaffung des Staates begnügten und glaubten, auf diesem Weg aus dem „Reich der Notwendigkeit“ ins „Reich der Freiheit“ zu gelangen, gingen die Biokosmisten viel weiter. Sie forderten die „maximale Freiheit und das maximale Recht der Persönlichkeit“, das aber hieß: die vollständige Befreiung des Menschen aus dem „Gefängnis der Natur“ und seine volle Souveränität über Raum und Zeit.

Die Forderungen der Biokosmisten zeugen nicht nur von revolutionärer Ungeduld, in ihnen kommt auch ein apokalyptisch-millenaristischer Zug zum Vorschein, der kennzeichnend ist für das russische utopische Denken: Das Paradies auf Erden wird nicht als mehr oder weniger fernes Ergebnis einer allmählich fortschreitenden Verbesserung und Vervollkommnung erwartet, sondern soll als radikaler Gegensatz zum Bestehenden und als Folge einer Katastrophe hier und jetzt herbeigezwungen werden. Die alte, verdorbene Welt muss untergehen bzw. vernichtet werden, damit an ihre Stelle die vollkommene neue Welt treten kann.

Dabei ging es stets um vollständige Entgrenzung. Bis dieses Ziel erreicht war, galt es, zumindest den Prozess des Alterns zu verlangsamen und die Lebensspanne des einzelnen erheblich auszudehnen. Experimente zur künstlichen Verjüngung und Lebensverlängerung waren in Russland in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts außerordentlich populär. Die dabei angewandten Verfahren reichten von der Abbindung der Samenleiter über die Transplantation von Affenhoden bis zu Injektionen mit dem Urin schwangerer Frauen. Satirisch wurde das Thema der Verjüngung und Verbesserung des Menschen in Michail Bulgakows berühmter Novelle Hundeherz (1925) behandelt, in der ein Professor Preobrashenski16 einen Straßenköter durch Einpflanzung der Hoden und Hypophyse eines jungen Mannes in einen Hundemenschen verwandelt, dann aber bei dem Versuch, diesen zu kultivieren, scheitert.

Die meisten dieser Experimente zielten nur auf eine Steigerung der Vitalität und Virilität, doch gab es auch Bestrebungen, das Leben unendlich zu verlängern. Dabei geriet wieder der Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und geschlechtlicher Fortpflanzung in den Blick, diesmal freilich unter naturwissenschaftlichem Aspekt: Als potentiell unsterblich galten, nach gängiger Lehrmeinung, einzellige, ungeschlechtliche Organismen (Bakterien, Protozoen, einige Algen), die sich durch anscheinend unbegrenzte Teilung fortpflanzen, ohne je eines natürlichen Todes zu sterben, die also im Gegensatz zu den höher entwickelten Arten keinen ‚Leichnam‘ hinterlassen. Unbegrenzte Teilungsfähigkeit und damit potentielle Unsterblichkeit wurde auch bei Tumorzellen beobachtet. Der tödliche Sündenfall der Menschheit bestand demnach in der Geschlechtertrennung und der geschlechtlichen Fortpflanzung. Erst wenn durch Teilung oder künstliche Vermehrung die Geburt aus dem Leben ausgeschaltet sei, würde ein geschlechtsfreies menschliches Wesen die Erde bevölkern, welches weder Alter noch Tod kenne.

ÜBERWINDUNG DER VEREINZELUNG: PHYSIOLOGISCHER KOLLEKTIVISMUS

Der Neue Mensch war als Gemeinschaftswesen konzipiert. In der alten, bürgerlichen Gesellschaft, in der das Individuum sich absondert und sein Leben als Privatbesitz betrachtet, kämpfen einzelne oder Gruppen gegeneinander um die Erhaltung der je eigenen Existenz. Die Menschheit verausgabt somit einen Großteil ihrer Kräfte zur wechselseitigen Paralysierung ihrer Aktivitäten; die Herrschaft der Natur bleibt ungebrochen, das isolierte kleine Ich am Ende weiterhin der völligen Vernichtung preisgegeben. Wahre Dauer verheißt hingegen das kollektive große Wir der Neuen Menschheit, dem der einzelne sich hingibt, dem er dient und in dem er schließlich aufgeht.

Voraussetzung dafür ist, dass die subjektiven Wünsche mit den objektiven Interessen der Allgemeinheit zusammenfallen. In der sozialistischen Gesellschaft werden die Bemühungen aller Menschen auf ein Ziel gelenkt, das ein jeder als sein eigenes und zugleich als ein allen gemeinsames erkennt – die Entfaltung und Steigerung des allgemeinen Lebens durch zunehmende Beherrschung und Umwandlung der Natur, um ein „Maximum an Leben“ zu erreichen. Im gemeinsamen zielgerichteten Schaffen verwirklicht sich die Einheit der Menschheit, werden die Individuen gleichsam zu Zellen eines „unsterblichen Überorganismus“. Damit aber verliert auch der persönliche Tod seinen Schrecken. Er wird so geringfügig sein wie das Absterben einer Zelle in einem großen Organismus. Das Individuum, das aufgeht in der unendlichen Gesamtmenschheit „wie eine Welle im Meer“, so Anatoli Lunatscharski, Volkskommissar für das Bildungswesen, verlangt nicht nach persönlicher Unsterblichkeit. Die Gattung, ein überindividuelles, allmächtiges und unendliches Wesen, wird zum Gegenstand des Glaubens und der Verehrung und nimmt damit den Platz Gottes in der atheistischen „Religion des Fortschritts“ ein.

Ein konkretes Verfahren zur Schaffung eines „physiologischen Kollektivismus“ beschrieb der Arzt, Philosoph und Mitstreiter Lenins Alexander Bogdanow in seinem utopischen Roman Der rote Stern (1908): kollektiven Blutaustausch. Blut ist für Bogdanow Träger der Lebenskraft. Während der Kapitalist vampirhaft-parasitär durch fremdes Blut, das er sich tötend aneignet, die eigene Lebenskraft zu erhalten suche, werde im Gegensatz dazu der neue sozialistisch-kollektivistische Mensch durch wechselseitige Blutübertragung die Vitalität aller steigern, Krankheiten und Defekte beseitigen und die Lebensdauer verlängern. Mehr noch: Kollektiver Blutaustausch wird zu einer physischen und geistigen Entgrenzung führen, die Einzelwesen gleichen sich einander an und verschmelzen schließlich im Kollektiv. Auch die Geschlechtsunterschiede schwinden: So sind die von Bogdanow in Der Rote Stern geschilderten kollektivistischen Marsbewohner weder ihrem Namen noch ihrem Äußeren nach als männlich oder weiblich zu erkennen. Bogdanow beließ es nicht bei Spekulationen: 1926 gründete er in Moskau mit Unterstützung Stalins ein Institut für Bluttransfusionen, das erste seiner Art. Er starb bereits zwei Jahre später, nachdem er sich bei einem Selbstversuch mit dem Blut eines Malaria- und Tuberkulosekranken infiziert hatte.

ERLÖSUNG DER „OPFER DER GESCHICHTE“: AUFERWECKUNG DER TOTEN

Alle bislang genannten Projekte zur Schaffung eines Neuen Menschen bzw. einer Neuen Menschheit waren in die Zukunft gerichtet. Das Paradies auf Erden, bevölkert von einem Geschlecht vollkommener, glücklicher und vielleicht gar unsterblicher Wesen sollte erst noch verwirklicht werden. Was aber, wenn dieses Ziel erreicht sein würde? Was wäre mit den unzähligen namenlosen Verstorbenen, die dieses Paradies errichten halfen? Was geschähe mit den „Opfern der Geschichte“?

Sergej Bulgakow, erst Marxist, dann orthodoxer Priester und Theologe, sprach voll Abscheu von der Unbekümmertheit künftiger Generationen, die,

nachdem sie das sozialistische irdische Paradies errichtet haben und dabei auf den Schultern der gesamten vorangegangenen Menschheit stehen, sich ihrer dumpfen Glückseligkeit hingeben, indem sie egoistisch und lästerlich den Preis dieses Paradieses, die unzähligen Mühen und Opfer, die zu seiner Errichtung gebracht wurden, vergessen. […] Dieses Bild eines Festmahls der Nachkommen auf den Gräbern der Vorfahren ist abstoßend durch seine Roheit und seinen Zynismus[…].17

Falls aber, so Bulgakow, die künftige Menschheit mit einem „schärferen Gewissen und einem höher entwickelten Gefühl allmenschlicher Solidarität“ ausgestattet sei, werde sie im Bewusstsein all der Opfer verzweifeln und damit unfähig sein, ihr Wohlergehen zu genießen.18

Die Schaffung eines irdischen Paradieses, sollte es vollkommen sein, erfordere deshalb, dass alle daran teilhätten. Was die christliche Häresiologie als Apokatastasis panton bezeichnet, die „Wiederbringung aller“ am Ende der Zeiten und ihre allumfassende Erlösung – da es für die Gerechten keine Seligkeit geben kann im ewigen Anblick einer massa damnata und ihrer Höllenqualen –, und was die russische Philosophie dann abstrakter als Wiederherstellung der ursprünglichen „All-Einheit“ erstrebt hatte, das sollte nun unter diesseitigen Bedingungen mit Hilfe von Wissenschaft und Technik angegangen und aktiv herbeigeführt werden.

Wohl niemals wurde das Projekt einer allumfassenden, immanenten Selbstvervollkommnung und Selbsterlösung, die ausnahmslos auch alle Toten einschloss, kühner und radikaler formuliert als von Nikolaj Fjodorow, dem schlichten, selbstlosen Bibliothekar am Moskauer Rumjanzew-Museum. In seiner zweibändigen, postum 1906 und 1913 veröffentlichten „Philosophie des gemeinsamen Werkes“ rief Fjodorow die gesamte Menschheit auf, sich zu vereinigen im „gemeinsamen Werk“ der totalen Beherrschung und Verwandlung des Universums, der Bekämpfung und Überwindung des Todes und der Auferweckung aller Verstorbenen.19