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Impressum und Copyright

Die Publikation entstand im Rahmen des Forschungsprojekts ­»Reenactment. Sondierungen zu einem theatralen Konzept« des ­Schweizerischen Nationalfonds, in Zusammenarbeit mit dem
IPF – Institute of Performing Arts and Film und dem ITH – Institut
für
Theorie der ZHdK – Zürcher Hochschule der Künste.

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2015
Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebookherstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-95732-087-2
ISBN Epub: 9783957321282
ISBN Mobipocket: 9783957321299

Der Verlag dankt Sophie Lichtenstein und Winnie Bennedsen.

Was ist Unst?

Die Unst bevölkert die Gesellschaft und schlägt ihr Gedächtnis auf. Die Unst sammelt, kopiert, zeigt. Die Unst ist der Resteverwalter jener Wirklichkeit, die im Vorwissen der Kunst vergessen wurde. Die Unst ist die reine Wiederholung. Denn wir haben begriffen, dass die Kunst sich loswerden muss, um wieder eine zu werden.

Was bedeutet Unst?

Die Unst ist ein Wort. Es schreibt sich wie Kunst, nur ohne K: Unst. Sagt jemand: »Kunst«, so antworten wir ihm wörtlich: »Unst«. Schreibt jemand: »Kunst«, so benutzen wir den Radiergummi und gelangen zur Unst. Begegnet uns ein Künstler, so bekehren wir ihn durch ein einziges Wort. Denn die Unst ist die Wörtlichkeit. Und die Liebhaber der Unst sind die Ünstler.

Was begeistert den Ünstler?

Der Ünstler ruft außer sich: »Süße Schönheit!«, wenn das Mikrofon des Diktators rauscht, wenn der Kies unter den Füßen des Zeugen knirscht, wenn ein Flugzeug ein verlassenes Braunkohlegebiet überfliegt, wenn der Scherz dem Erzähler entgleitet, wenn die Quellen sich widersprechen, wenn der Dezember für Klarheit sorgt, wenn ein Berg ein Echo wirft, wenn ein Unbekannter einen Einkaufszettel schreibt. Denn das alles ist Unst, und die Unst ist das ureigene Gebiet des Ünstlers.

Warum feiert die Unst das Leben?

Die Unst feiert das Leben nicht, weil es widersprüchlich ist (aber auch). Die Unst feiert das Leben nicht, weil es lustig ist (aber auch). Die Unst feiert nicht das Tragische, nicht das Wahre, nicht die Geschichte, nicht die Revolution, nicht die Melancholie, nicht das fremde Geschlecht und nicht die Naivität (aber manchmal schon). Die Unst verkündet nicht die Lehre der Hysterie, der Poesie oder des Understatements (nur ab und zu). Die Unst gründet seine Belehrungen nicht auf die Armut oder den Reichtum, die Jugend oder das Greisenalter, die Bildung oder den Pop, die Linke oder die Rechte, die Tradition oder die Revolution, Hollywood oder den Iran, das Rätselhafte oder das Klare (all das zwischendurch). Die Unst ist weder elitär noch mittelständisch, weder gründlich noch oberflächlich, weder dramatisch noch episch, weder poetisch noch kalt (höchstens zum Spaß).

FRAGE: Für welche Qualität aber feiert die Unst das Leben?

ANTWORT: Die Unst feiert das Leben, weil es GENAU SO ist. Die Unst liebt den Iran, das logische Rätsel, den Dezember und die Revolution, weil sie GENAU SOsind. Die Unst erforscht die Geschichte, die Hysterie, das Lustige und das Wahre, weil all das GENAU SO ist. Die Unst liebt sogar die Zukunft, weil sie GENAU SO ist.

FRAGE: Was also ist die Unst?

ANTWORT: Die Unst ist die Betrachtung des GENAU SO.

Wie löst die Unst das Zeitproblem?

FRAGE: Wie steht die Unst zur Jetztzeit, zur Geschichte und zu den Problemen der Zukunft?

ANTWORT: Die Unst ist die Analyse des GENAU SO der Jetztzeit, welche aber im Augenblick ihrer Betrachtung bereits eine vergangene, also eine Vorzeit ist.

FRAGE: Die Jetztzeit ist eine Vorzeit?

ANTWORT: Oder umgekehrt.

FRAGE: Und weiter?

ANTWORT: Gegeben das gestische Voranschreiten der Unst im ­jeweils gegebenen Moment in beide Richtungen der Vor- und der Nachzeit, ist jede Erkenntnis des Ünstlers über das GENAU SO der Jetztzeit zugleich eine Handlungsanweisung für eine ebenfalls völlig gleichzeitig sich ereignende Nachzeit.

FRAGE: Die Gegenwart des Ünstlers ist also eine Handlungsanweisung an die Zukunft?

ANTWORT: Richtig. Unter der Voraussetzung natürlich, dass diese Anweisung nicht in irgendeiner übertragenen Weise, sondern ausschließlich GENAU SO, also FÜR DEN GEGEBENEN MOMENT, also WÖRTLICH gemeint ist. Aber ein Ünstler spricht immer wörtlich, sonst wäre er kein Ünstler.

FRAGE: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch die Arbeit des Ünstlers ein und dasselbe?

ANTWORT: Natürlich.

FRAGE: Produziert ein Ünstler also Nachzeit?

ANTWORT: Selbstverständlich. Jeder Ünstler ist eine völlig objektive Weisungsagentur der Nachzeit.

FRAGE: Der Ünstler kennt die Zukunft?

ANTWORT: Richtig. Aber nur für den jeweils gegebenen Moment. Nur innerhalb der jeweiligen Recherche. Nur wörtlich.

FRAGE: Was also liefert der Ünstler der Gesellschaft?

ANTWORT: Der Ünstler liefert eine völlig wörtliche Wiederholung der Gegenwart durch die Vergangenheit für die Zukunft.

Fragen der Methode I

Der Ünstler unterscheidet sich vom Künstler durch seinen wissenschaftlichen Eifer und seine vollkommene Objektivität. Für den Ünstler ist jeder Augenblick seiner privaten Arbeit ein Teil der großen Arbeit am Welt-Objekt, welches wiederum bloß Voraussetzung des Augenblicks ist. Schauspiel, Beleuchtung, Sprache, Musik. Der Blick der Zuschauer, der Diktatoren, ihrer Verräter, der Statisten, der Kameras. Die Kleinschreibung, die Großschreibung, das Exposé, die Recherche, die Kritik, der Absatz und die Abweichung. Die Kosten des Schauspiels, die künstlerische Wahrheit, das Husten im Publikum. Das Gerede, die Urteile, die Benachrichtigungen, die Plötzlichkeit, die Montage. Die Komik, die Unsicherheit, die Wut, das Missverständnis und die Absicht. Die Glut des Dokuments, des Augenblicks und der Zukunft. Die Gerechtigkeit, die Ironie und das Geld. Die drei Akte, die Übergänge und das Fragment. Die Dramaturgie, die Geschichte, die Zeugnisse und der Zufall. Alle Stimmen, alle Reisen, alle Fahrpläne, das Frühstück, der tiefere Sinn, die Tugend, die Witterung und die Geometrie. Der aktuelle Krieg und der Persische, der Nebensatz, die Dialektik, die Erdanziehung, die Pause, der Schlaf. All das ist Teil der großen Arbeit des Ünstlers. All das gehört zur Methode der Unst. Die Hilfsmittel des Ünstlers sind also zahllos in ihrer Art und unendlich in ihrer Wirksamkeit.

Fragen der Methode II

Wir wiederholen (um der Wiederholung willen): Die Arbeit des Ünstlers ist niemals subjektiv, sondern immer völlig objektiv. Denn der Ünstler vertraut auf den GEGEBENEN MOMENT, der die Lehrsätze der Kybernetik, des Varietés, der Kriminologie, der Evolutionstheorie, der Quantenphysik, der Gesprächsanalyse, der Mystik, der Autobiografie und so fort bis ans Ende der Wissenschaften in sich vereinigt. Der Ünstler handelt wie jener Weise, der das Fleisch nicht teilt, indem er es schneidet – sondern das Messer dort ansetzt, wo das Gewebe sich WIE VON ALLEIN teilt.

FRAGE: Aber woher nimmt der Ünstler dieses Messer, welches WIE VON ALLEIN teilt?

ANTWORT: Jeder Moment enthält das Messer, mit dem er vom Ünstler WIE VON ALLEIN geteilt werden kann.

FRAGE: Wie erkenne ich das Messer?

ANTWORT: Das Messer zeigt sich erst in der ünstlerischen Teilung.

FRAGE: Es geht also darum, das Messer, das den Moment WIE VON ALLEIN teilt, in demselben Moment zu finden, in dem er sich dank des Messers teilt?

ANTWORT: Natürlich.

FRAGE: Und wie komme ich zu diesem Moment?

ANTWORT: Wie von allein. Das ist die Objektivität der Unst.

Genau dies.

Was ist in einem Wort das Ziel der Unst?

Was ist der Lebenszweck des Ünstlers?

Sich zu erheben

Zu hören

Und zu sehen.

Was?

Alles, aber nur DIES.

Wann?

Immer, aber nur in DIESEM Moment.

Wie?

Auf alle Arten, aber nur GENAU SO.

Wo?

Überall, aber nur HIER.

Denn GENAU DIES

Ist das Ziel.

3.10.2008

Die Welt ohne uns

Vorgestern war es, dass ich anlässlich eines kleinen Essays über Christoph Ransmayr und seinen Roman Morbus Kitahara wieder einmal auf den Morgenthau-Plan gestoßen bin: den hirnrissigen und poetischen Plan, das Dritte Reich in ein reines Agrarland zu verwandeln.

Ich mag die Literatur nicht, die Ransmayr schreibt, obwohl mich seine Themen faszinieren: Alternativgeschichten, narrative Rekonstruktionen, Reisen durch Länder, die so fremd sind, dass sie auch erfunden sein könnten. Aber alle Beobachtungen Ransmayrs sind derart in einem übergeordneten Stil aufgelöst, dass sie diese Art von Wahrheit, diese einzige Art von Wahrheit, die mich wirklich interessiert, eingebüßt haben – die Wahrheit des Sehens, Hörens, Erlebens, die weder mit einer Geschichte noch mit einer Form etwas zu tun hat, sondern mit einer eher philosophischen Fähigkeit: genau sein zu wollen. Sich beim Schreiben nicht ans Beschreiben oder ans Beschriebene, sondern an die genaue seelische Mechanik des Beobachtens zu erinnern und die Wirklichkeit aus diesen geistigen Aggregatzuständen rückwärts wieder abzuleiten. Die Wahrheitdes Erlebens im Beschreiben zu wiederholen, sie zu erwecken, ohne dabei den Elektroschock- und Herzmassagen-Expressionismus zu praktizieren, wie man ihn aus dem deutschen Theater kennt – die Welt also kühler, unverständlicher, unheimlicher, fremder, unmenschlicher und zugleich heißer, gegenwärtiger, zudringlicher, sichtbarer, menschlicher zu machen – das ist das Schwierigste.

Es ist ja etwas sehr Kaltes, sehr Kartesianisches an dieser Vorstellung einer Genauigkeit diesseits der Form. Es ist die Angst, auf Vorgefertigtes hereinzufallen, sich von fertigen Bildern und fertigen Sätzen und Erzählgewohnheiten für dumm verkaufen zu lassen – »von einem Geist«, wie René Descartes sagt, und damit meint: von den Scholastikern, von den schlechten Philosophen, von den Formalisten. »Ich übte mich in meiner Methode des Zweifelns«, schreibt er, »und hielt alles für ungewiss, was andere für wahr halten.« Descartes deduziert und zögert, versteht und verwirft, tastet sich einen Schritt vorwärts und einen halben zurück, denkt wie auf Eis, beweist alles Mögliche, philosophiert sich einmal quer durchs Grand Siècle, kommt auf die numerische Unendlichkeit und schließlich sogar auf Gott.

Wenn nun Descartes ein System gebraucht hat – die Logik, die Zahlen und Gott – um zu beweisen, dass es eine Welt und eine Wahrheit diesseits aller Formalismen gibt, dass Zweifel angebracht, aber nicht das Ende der Geschichte sind: Wie soll da ein einfacher moderner Schriftsteller, der uns unterhalten will, der vielleicht eine Geschichte erzählen will, der uns sagen will, wie etwas zugeht und in welcher Reihenfolgeundaus welchen Gründen, wie soll der nicht immerhin ein paar ganz kleine Gewissheiten, einen kleinen Stil, einen praktischen Formalismus zu seiner Verfügung haben dürfen? Es ist einfach zu viel verlangt, bei aller Gottlosigkeit auch noch auf den Stil zu verzichten. Die großen Kartesianer des Beobachtens: Claude Simon, Harold Brodkey – sie erzählen uns keine Geschichten. Aber Ransmayr, der erzählt ja, der will ja erzählen.

In Morbus Kitahara wird beschlossen, ein im Krieg besiegtes Land nicht wieder aufzubauen, der Rest des Buches, eine Art Kampf aller gegen alle, eine Degeneration aller Propositionen des Begriffs Mensch, folgt aus dieser Idee. Es ist der Morgenthau-Plan, den Ransmayr da zu Ende denkt, nicht uninteressant, wenn auch eine ganz und gar faschistische Erzähl-Idee – hätte der Faschismus in Wahrheit über Ideen, und nicht nur über vage Vorstellungen, über mit Worten getarnte Großstimmungen verfügt. Politisch obszön, anthropologisch hirnrissig ist diese Idee, aber von den möglichen Bildern her natürlich so reichhaltig wie Speers Trümmerarchitektur – eine Bauweise, die darauf angelegt war, auch in allen Stadien des Verfalls noch schön auszusehen, ein Cadavre Exquis.

Das Böse aus der Welt schaffen, indem man die Zivilisation insgesamt zerstört: Winston Churchill und Theodore Roosevelt haben Morgenthaus Plan in Erwägung gezogen. Nicht ernsthafter als andere Pläne, aber sie haben ihn auch nicht als absolut grotesk abgelehnt. Bezeichnenderweise scheiterte der Plan, als er dann durch eine Indiskretion einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, nicht an seiner Absurdität, sondern an einer für heutige Verhältnisse sehr nebensächlichen Tatsache: Der Finanzminister Morgenthau war Jude. Man vergisst ab und zu, dass nicht nur die Deutschen und, wie man gern hinzufügt, die Letten, die Polen und die Russen Antisemiten waren – sondern auch die Engländer, die Franzosen und die Amerikaner.

Nun gut, man wollte also das Deutsche Reich als Machtfaktor vernichten, das ist verständlich, man wollte Hitler völlig und restlos besiegen, man wollte die Deutschen vom Meer, von der Kohle, dem Eisen, vom Osten und vom Westen, von der Bildung, der Weltwirtschaft und jeder Form von Zivilisation abschneiden, damit sie keine morbiden Geschichten mehr erzählen, keine Geschichte mehr machen konnten – aber bitte nicht mit einer jüdischen Idee. So hat die nationalsozialistische Ideologie ihren von Hannah Arendt in Die vollendete Sinnlosigkeit analysierten Höhepunkt nur deshalb nicht erreicht, weil der letzte Akt von einem Juden hätte inszeniert werden sollen: »die sorgfältige und kalkulierte Errichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab« – die Vernichtung aller menschlichen Spuren, aller menschlichen Ideen, jeder Form von Sinn und Kultur und damit, als wagnerianisches Schlussgetöse, Deutschlands selbst.

Worauf will ich eigentlich hinaus? Ich glaube, dass jeder Kunst ein Morgenthau-Plan als ästhetische Methode zugrunde liegt: dieser Wunsch, einen Nachher-Blick zu haben; dieser Wunsch, methodischin einem Zustand zu leben, in dem die Erkenntnis den nötigen Umweg durch die Zeit (durch unsere, durch meine Zeit) immer schon gemacht hat und in dem man, in einer ruinierten Zukunft lebend, die Drohung und den Schauder seiner Auslöschung leibhaftig erfahren kann. Die Vorstellung ständiger Konzentration, ständiger Inspiration, unerschöpflicher Schaffenskraft, die seltsamerweise mit Jenseits- und Vernichtungsfantasien einhergeht. Wie verschiedenartig auch ihre Werke sind, immer handelt die Kunst vom gleichen Moment des Erwachens, von der gleichen blitzartigen Nachdenklichkeit, mit der uns das Erlebnis des Daseins trifft. Wir begreifen nur, was uns bereits unrettbar verloren gegangen ist.

Es ist also nicht so, dass ich das nicht verstehen würde: in einer Endzeit zu leben, und alles ist da wie ausgestellt. Was gibt es Großartigeres als die Vorstellung einer Welt, in der wie in einem Kinosaal die ganze Zivilisation Revue passiert? Die Vorstellung einer sterbenden Welt, in der die Kulturgeschichte wie in einem Todes-Atelier rückwärtsläuft, eine Welt, die insgesamt von der Kultur ins Sinnlose kippt, in der die Städte zerfallen, die Sprache verloren geht, die Freiheitsstatue im Sand versinkt, die Wölfe die Herrschaft übernehmen – was wäre verführerischer?

Ich verstehe Ransmayr, sein Buch ist vollkommen. Es gibt einige andere Bücher zu dem Thema – Die Arbeit der Nacht und natürlich Die Wand –, die weniger vollkommen sind. Aber was ich nicht verstehe, ist die Form von Ransmayrs Buch, diese gewissenhafte Genauigkeit, als wäre man mit dem Ende tatsächlich am Ende – als wäre die verfließende Zeit nicht nur eine Methode, das Leben ein bisschen genauer zu verstehen und ansonsten eine ungeheure Gemeinheit. Was mich langweilt, ist diese Stilisierung, diese Endgültigkeit und Zufriedenheit, die so anders ist als bei Thomas Glavinic oder Marlen Haushofer: Glavinics Held, der plötzlich allein ist auf der Welt, in Österreich, in Wien, stellt Scherze an mit dieser langweiligen, schwerfälligen Stadt, tut, was er immer schon gern getan hätte.

Recht hat er. Für sich genommen ist das Ende der Welt der reine Blödsinn. Für sich genommen ist es nichts und wieder nichts. Melancholie macht dumm, jeder spürt das. Schön ist die Flucht des Denkens vor dem Tod, das Geschwätz der Erinnerung, die Zweifel der Philosophie, das Glück, dieses unendliche Glück, ein Mensch zu sein.

Schön schreiben, für die Ewigkeit schreiben, das ist Zeitverschwendung. Ich will nur so viel Gewissheit, wie ich fürs Leben gebrauchen kann. Wer sieht meine Welt, wer denkt an sie, wenn ich es nicht tue?

26.1.2008

Céline und die Schafe

Es gibt Menschen, die tun alles doppelt, die denken A, und ihre Stimme sagt B – und wenn man ihnen dann auf B antwortet, sind sie beleidigt, weil sie doch A gedacht haben. Ja, es gibt Menschen, die fragen nach dem Weg und fühlen sich bevormundet, wenn man ihnen hilft. Es gibt Leute, die leben dialektisch, bei denen ist das Gegenteil immer genauso wahr, die fallen sich, redend, selbst ins Wort. Die wünschen sich Gemeinschaft und ertragen die Menschen nicht, die wollen geliebt werden und finden Liebende dumm, die wollen Künstler sein und hassen den Kunstbetrieb, die reden von gewaltigen Triumphen und verirren sich im Spiegelkabinett ihrer Niederlagen.

Der französische Dichter Louis-Ferdinand Céline war ein solcher Fall. Er wollte Kommunist sein, aber er schrieb ganze Bücher zur Verspottung des sozialistischen Realismus. Er wollte die Verheerungen des Kapitalismus anklagen, aber er schrieb antisemitische Manifeste, in denen er die absurdesten bürgerlichen Vorurteile bis ins Groteske steigerte. Er wollte vom Publikum gefeiert werden, aber er ließ keine Gelegenheit aus, es zu beleidigen und gegen sich aufzubringen. Er wollte ein Held der Franzosen sein, aber er tat alles, um die Grande Nation als ein Land der Kriecher, Kollaborateure, Kriminellen und Geisteskranken bloßzustellen. Von jedem, der sich nicht (wie die heutige Kritik) in den Kopf gesetzt hat, ihn vorbehaltlos zu bewundern, ist er deshalb für wahnsinnig gehalten worden – und hat seine bittere Freude daran gehabt.

Céline, das ist der dunkle Schatten auf dem swingenden Frankreich der Existenzialisten, das ist der übel riechende Fleck auf den Fotos Bressons. Letzthin saß ich einen Nachmittag lang mit Philippe Djian in einem Pariser Kaffeehaus, und er erzählte mir, wie er auf dem Weg zur Schule immer an Célines letztem Haus in Meudon vorbeikam und instinktiv den Kopf einzog; wie noch damals, in den späten 1950er-Jahren, Frankreich voll war von diesen zänkischen, schlecht gelaunten, emotional gestörten Überlebenden des Ersten Weltkriegs, denen jedermann aus dem Weg ging, ohne ihnen helfen zu können; wie die Welt Célines, diese Millionen lebendiger Kriegstoten, diese Zombies der Grande Nation, diese Welt aus existenzieller und ideologischer Inkontinenz, wie dieses gewaltige, hasserfüllte, in den Gräben debil geschossene Kleinbürgertum – wie diese Welt erst im Mai 1968 endgültig gestürmt, endgültig erobert, endgültig entmistet wurde und Céline, sieben Jahre nach seinem Tod, zum Klassiker, zum Chronisten eines Zeitalters erklärt wurde, das von Verdun bis zu den Pariser Barrikaden ein halbes Jahrhundert gedauert hatte.

Sein Werk ist das Porträt eines Mannes, der voller Hass war, eines Schriftstellers, der den Hass und den Ekel wie eine zweite, emotionalere Sprache gebrauchte – eine Sprache der rasenden Emotion, die in die richtige wie ein Teufel hineinfuhr, sie beschleunigte und zerfetzt liegen ließ. Célines biografische Taktik, das eigene Leben so unerträglich und widersprüchlich wie möglich zu gestalten, um noch die verborgensten gesellschaftlichen Frustrationssphären anzuzapfen, sich immer in nächster Nachbarschaft zum jeweils, wie er sagte, »größten vorhandenen Misthaufen« anzusiedeln – dem Grabenkrieg, dem untergehenden französischen Kolonialreich, dem faschistischen Subproletariat, dem untergehenden Dritten Reich – macht sein Leben zu einem Dokument der Widersprüche des 20. Jahrhunderts. Es reichte Céline nicht, den irre gewordenen Kapitalismus der Zwischenkriegszeit bloß theoretisch, bloß literarisch zu hassen, wie das sein ästhetischer Gegenpart, der Schöngeist André Gide tat; er wollte nicht nur ein bisschen Dreck am Stecken haben, er wollte im Dreck versinken, er war die Hauptfigur all seiner Bücher: Er kämpfte im sinnlosesten Krieg der Menschheitsgeschichte, er wurde lahm und halb taub geschossen, er fuhr für den Völkerbund nach Afrika, wurde Seuchenarzt, forschte in den amerikanischen Ford-Werken, wurde Kommunist, bereiste die Sowjetunion, überwarf sich dort mit jedermann und wurde genau in dem Moment Faschist, als in Frankreich die Volksfront an die Macht kam und sich auf einmal auch der dümmste Nationalist für den Nationalkommunismus begeisterte.

So wie er als Sozialist über das Proletariat und die Moral des Neuen Menschen gespottet hatte, so wie er seinen Gegenstand hassen musste, um ihn zu verstehen, so war auch Célines Variante des Faschismus schizophren. Céline verfasste bösartige antisemitische Pamphlete, denen er aber, als Anhänge, seine Doktorarbeit (eine Jubelschrift auf den jüdischen Chirurgen Ignaz Semmelweis) und abstruse Ballett­manuskripte beilegte. Während er sich von den Besatzungsoffizieren feiern ließ, veröffentlichte er antideutsche Leserbriefe und machte – ob­wohl der Holocaust offiziell geheim gehalten wurde – mehrfach den Vorschlag, ihn, Céline, gleich gemeinsam mit den Juden zu ermorden. In den letzten Kriegstagen floh er nach Deutschland und von dort nach Dänemark, wo er als Verräter eingesperrt wurde. Zum Tode ­verurteilt und begnadigt, als französischer Autor inmitten der selbst ernannten Résistance-Kämpfer um Jean-Paul Sartre unmöglich geworden, kehrte er doch nach Frankreich zurück und lebte als Armenarzt in der Pariser Banlieue: immerhin zwölf Jahre, in denen er mit wachsender Wut den verlogenen Neoklassizismus, den schöngeistigen Humanismus der Nachkriegsjahre aus der Froschperspektive des (neben Ezra Pound) weltweit berühmtesten Kollaborateurs beobachtete. Gide, der den Krieg im deutsch besetzten Nordafrika mit Voltaire-Lektüren und auf Sektempfängen der Wehrmacht verbracht hatte, wurde der Nobelpreis verliehen. Célines Alterswerk dagegen wurde von seinem Hausverlag Gallimard ohne Werbung und am Publikum vorbei in Kleinstauflagen beerdigt.

Der Regisseur Ron Rosenberg hat nun, im dritten Stock der Berliner Volksbühne, Célines späten Interview-Roman Entretiens avec le Professeur Y mit Herbert Sand als Célines Alter Ego inszeniert. Mit nichts als einem Stuhl, einem Tisch und einer Pflanze als Bühne. Mit einem fast vorgangslosen, aber tief berührenden Video (Cornelius Onitsch), das als Tafelbild über der Szene hängt und einen leeren Schafstall zeigt, der sich am Ende der Vorführung mit eben diesen Tieren füllt. Mit vier, fünf Takten klassischer Musik. Mit eigentlich gar nichts, keinen Lichtspielereien, keinen Zitaten, keinen Theater-Aufgeregtheiten, mit rein gar nichts: kein Eiffelturm, kein Hakenkreuz, kein Pariser Jugendstil und keine Banlieue, überhaupt kein Paris und kein 20. Jahrhundert, auch fast kein Theater, keine existenzialistischen und keine postmodernen Gesten – außer einem unfassbar präsenten Herbert Sand und einem auf drei, nein vier, nein: 100 Ebenen gleichzeitig spielenden Selbsterklärungstext des einsam in Meudon vor sich hin brüllenden, des durch tausend Ideen und Wachträume hetzenden, die üblichen Céline-Abenteuer erlebenden, in Hass- und Trotzfragmente zerfasernden Autors Céline.

Nun: Wie haben die das gemacht? Wie haben die diesen Mann, der wusste: Ich bin der größte Schriftsteller Frankreichs, und ein verblödetes, verkitschtes, verlogenes Frankreich schweigt mich tot, – wie haben die diesen Schriftsteller, der gleichzeitig ein Menschenfeind war und sich nach der Liebe der Menschen, nein, viel lächerlicher: seines Lektorsgesehnt hat – wie haben die diese verdammte, eingebildete, unsympathische Ratte aus Meudon, diesen Übersteigerer und Selbsterniedriger, exakt lebensgroß auf die Bühne gebracht? Wie spielt Herbert Sand einen Mann, der uns beleidigt, um geschätzt zu werden? Der seine Intelligenz und sein Herz unter allen Misthaufen begräbt, damit er sie, seine Intelligenz, seine Sprache, sein Herz besser und glanzvoller nutzen kann? Wie spielt man das: diese absichtliche Schizophrenie – ohne expressionistisch zu werden? Den Größenwahn des genialischen Verlierers – ohne nur Theatergesichter und Theaterideen aufeinanderzuhäufen? Wie spielt, wie inszeniert man das so menschlich, so sanftmütig bei allem besserwisserischen Zorn, dass der Zuschauer am Ende versöhnt und wie aufgehoben von der Menschlichkeit dieses doch so hinterhältigen und rachsüchtigen und auch noch ziemlich schwer verständlichen Textes aus dem Saal geht?

Es gibt, wenn man sich mit Céline befasst, zwei Möglichkeiten: Man versteht ihn, oder man erklärt ihn. Man lässt sich auf ihn ein, oder man baut aus ihm etwas anderes, etwas Theatrales. Ihn zu erklären, ihn als Baumaterial zu verwenden, das hat – unter anderem, unter sehr viel anderem – Frank Castorf in seiner Inszenierung Nord gemacht. Rosenberg und Sand haben versucht, Céline zu verstehen. Sie haben sich, stelle ich mir vor, also vor diesen Text gestellt, und ihn von ihrem eigenen Leben aus durchquert. Castorf sieht in Céline das Besondere, das Ekelhafte, das Wunderbare, die Rubens- und Brueghel-Dimension. Céline ist, das stimmt, eine Art Lautsprecher gewesen, der das Gerede seiner Zeit – der 1930er-, 1940er-, 1950er-Jahre: diesen Willen zur Reinheit und zur klassischen Form – laut und in seiner ganzen tiefen Vulgarität und Gemeinheit in die Welt hinausgeschleudert hat. Und als solchen, als Stimmenimitator, als emotionales Aufzeichnungsgerät hat ihn Castorf auch benutzt.

Rosenberg und Sand (und vor allem auch Onitsch) sind viel bescheidener. Was sie zeigen, ist die Art, wie der wahre, der richtige Céline, dieser Armenarzt, dieser einst so angesehene Schriftsteller, sich selbst versucht hat zu verstehen in jenen Jahren, als die beiden Edel-Moralisten Gide und Mauriac den Nobelpreis bekamen, Céline aber von aufrechten Franzosen hölzerne Särge zugeschickt wurden: von den gleichen aufrechten Franzosen nebenbei bemerkt, die den Mythos der Résistance genau in dem Moment erfanden, als die Amerikaner die Wehrmacht über den Rhein trieben. Was Herbert Sand zeigt, ist die verworrene Gefühlswelt eines Mannes, der A sagt und B meint, der uns beleidigt, verspottet, fertig macht, um bei uns Erlösung zu finden, der interviewt werden und wieder berühmt sein will, und doch nur Hass empfindet für seinen Interviewer; eines Mannes, der es einfach nicht glauben kann, dass nicht einmal 60 Millionen Tote ausgereicht haben, um die oberflächlichen, kindischen und so offensichtlichen Lügen des französischen Literaturbetriebs zu beenden.

Céline erklärt uns seine literarische Theorie; Céline tobt und erzählt uns fäkale Fantasien; Céline schwitzt, schweigt, spricht ins Leere, ­zetert wie ein Prolet: Das alles kennt man, das alles ist gar nicht so wichtig und wird in Rosenbergs Inszenierung auch mehr oder weniger ausgeblendet. Nicht unterdrückt, nein, nicht durch irgendwelche Formalismen von der Bühne gedrängt, es ist nur nicht so wichtig. Wichtig, ja unvergleichbar sind diese Momente: Wenn Herbert Sand auf die Bühne kommt, sich steif auf die Bühne schiebt, in dieser aus allen Maßstäben gefallenen, aggressiven, überheblichen Wunderlichkeit des Céline’schen Menschen zu sprechen beginnt, in einem Stummfilmkostüm, mit Stummfilmschminke, mit einer Stummfilmstimme wie aus Papier, die nur langsam und mit ganz geringer Distanz zur Figur an Farbe und Volumen gewinnt. Wenn er auf einmal eine Bodenklappe öffnet und springt, nur um sofort wieder aufzutauchen – wie als Beweis der eigenen Vorläufigkeit in diesem blödsinnigen Welttheater. Und wie er sich aufbläht, wie er in sich zusammenfällt, sich gegen Gespenster verteidigt, die ganze Zeit nur recht hat! Wie er sich immer enger einwebt in sein Netz aus Vorhaltungen, Rechtfertigungen, Angriffen und Literaturtheorien, in diese Scheißhausideen, Prügeleien, Beleidigungen und Weltuntergangspläne, in denen er, Céline, natürlich immer als Erster gelyncht wird vom Laufpublikum seines Traum-Theaters. Was für einen exzentrischen Ton er anschlägt, was für eine Energie, und was für eine schonungslose Intelligenz er entwickelt, um sich gegen alle möglichen eingebildeten und wirklichen Feinde zur Wehr zu setzen. Und unweigerlich wird man eingesogen in diese Ekstase des Nein, in diesen unglaublichen Hass auf die Gesellschaft, die Literatur, Frankreich, Europa, in diesen Überdruss, ständig irgendwelchen Leuten Rede und Antwort zu stehen, sich verteidigen, sich anbiedern, sich erklären zu müssen – und deshalb ganz konsequent alles zu tun, um ein Paria zu bleiben. Liebt mich, aber liebt mich in meiner ganzen Verworfenheit!

Herbert Sand als Céline: Das ist das eine. Das zweite ist die Inszenierung. Sie ist, um es mit einem Wort zu sagen: zärtlich. Sie ist verständnisvoll, sie ist unglaublich zurückhaltend, sie drängt sich nie in den Vordergrund, sie steht, fast unsichtbar, einen halben Schritt hinter dem Schauspieler Herbert Sand. Die Inszenierung verdoppelt die ohnehin überspannte Theatralität von Célines Vorlage in keinem Moment, sie vermeidet (von einigen Ausnahmen, etwa einer Hitler-Persiflage abgesehen) jede theatrale Erklärungs- oder Verdeutlichungshaltung. Sogar, wenn Herbert Sand schreit, und er schreit ab und zu, wird es nicht wirklich laut, nicht wirklich hysterisch – und Céline, dessen Bücher von der Übertreibung und der Übersteigerung, einer gewissen emotionalen Lautstärke leben, tut dieses Understatement erstaunlich gut. Was dieser Céline redet, wird von der Regie so ausdrücklich, so eindeutig, und doch ohne jede existenzielle oder ironische Geste auf den, der da spricht, zurückgeschrumpft, dass nicht Herbert Sand hinter Céline, sondern der Popanz Céline hinter Sand vollständig verschwindet. Es geschieht dabei etwas Seltsames: Indem nichts erklärt und nichts unterstrichen wird, erscheint auf einmal, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein Mensch namens Louis-Ferdinand Destouches auf der Bühne, dieser Armenarzt aus der Pariser Banlieue, dieser Großschwätzer und aufgedonnerte Überfaschist, dieser bedauernswerte Verlierer an allen Fronten, dem so viel Gemeinheit widerfuhr und der so viel Gemeinheit in sich trug, dass die Gemeinheit zu seiner künstlerischen Methode wurde.

Es ist wohl so, dass Céline mit dem Professor Y seine geistige Überlegenheit über seine Zeitgenossen noch einmal, ein letztes Mal, fein säuberlich ableiten und vor dem Leser auftürmen wollte – ein Trash-Monument, der Zombie eines Monuments – natürlich. Aber doch ein Monument mit all seiner einseitigen Lügenhaftigkeit. Diesen rhetorischen Täuschungszusammenhang wie einen Radarschirm unterflogen zu haben, ist die nicht zu überschätzende Leistung der Inszenierung. Der Mythos Céline, dieses im großen Spaß des Mai 1968 untergegangene Geister- und Gegen-Frankreich wird in Rosenbergs Professor Y für einmal beiseitegelassen, und worauf man trifft, ist ein derart vermenschlichter und präsenter und aktueller Céline, ist ein derartig intimes Kennenlernen einer literarischen Figur, dass ich mir in Zukunft diesen so berühmten und doch so unbekannten Céline als Herbert Sand werde vorstellen müssen. Als den Schauspieler Herbert Sand, als Mann im Frack und mit Stummfilmschminke, der in seinem Leben kein Glück gehabt hat und darauf besteht, dass wir von seinem Unglück Kenntnis nehmen. Als Mann, der sich Gemeinschaft gewünscht hat und die Menschen nicht ertrug, der Künstler sein wollte und den Kunstbetrieb hasste, der von gewaltigen Triumphen sprach und sich doch nur im Spiegelkabinett seiner Niederlagen verirrte.

Herbert Sand ist ein wunderbarer, charmanter, unbeirrbarer, anstrengender, selbstverliebter, herzzerreißender Schauspieler, der unser Wissen über Céline vergrößert und unsere Liebe zum Theater steigert. Am Ende, wenn die Bühne leer ist und die Schafe eines nach dem andern in Onitschs Stallbild laufen und sich an der Futterkrippe aufreihen, fast wie in einer Choreografie, fast als hätte eine geheime Regie am Boden unsichtbaren Lockstoff ausgelegt, ist einem seltsam leicht ums Herz. Herbert Sand geht ab, etwas Zeit vergeht, und die Schafe trippeln ins Bild und beginnen zu fressen.

Professor Y – nach Louis-Ferdinand Célines Gespräche mit Professor Y. Volksbühne Berlin. Mit: Herbert Sand. Regie: Ron Rosenberg. Fassung: Mottel Schuscha. Bühne und Video: Cornelius Onitsch. Dramaturgie: Katrin Wächter.

28.01.2008

Wenn die Psychoanalyse zweimal klingelt

Paare bei Wes Anderson

Dass Tiefsinn und Slapstick nicht die zwei entgegengesetzten Pole jener wirren Ansammlung von Gefühlszuständen und Zufällen bilden, die wir das Leben nennen, sondern ursprünglich zusammengehören, ist eine leider in Vergessenheit geratene Entdeckung des Stummfilms. Angewiesen auf Mimik, Gestik und die Bewegung im Raum wird in der Stummfilmkomödie das eigentlich Innerliche der Figuren erst im physischen Risiko, im Unfall des Slapsticks darstellbar. In den meisten seiner frühen Filme kämpft Charlie Chaplin mehr oder weniger unablässig um sein Leben, aber worum es eigentlich geht, ist nicht die Brutalität, sondern die möglichst charmante Variation dieses Kampfes, in dem eine nur dem Komischen eigene heroische Emotionalität aufscheint. Wenn Chaplin von einem Flintenlauf verfolgt wird oder in eine Maschine gerät, die ihn einfach nicht mehr freigeben will, sind wir auf herzzerreißende Weise Zeugen des ewigen menschlichen Kampfes gegen die Sinnlosigkeit und die Kälte der unbelebten Welt. Während der Held des Dramas sich von emotionalen Zwangsläufigkeiten umzingelt sieht und von der dichten Atmosphäre menschlicher Motivationen schier erdrückt wird, bewegt sich der Held des Slapsticks – wie es Éric Rohmer ausgedrückt hat – in einem »geometrischen Raum des Ungeschicks und der Einsamkeit«. Charlie Chaplin (und auch Buster Keaton) sind auf sich selbst gestellt und dazu verdammt, Stürze, die jeder Wahrscheinlichkeit nach tödlich sein müssten, als bloße technische Unzulänglichkeit wegzustecken. Das Innenleben dieser Schauspieler ergibt sich aus der Haltung, mit der sie der mechanischen Sinnlosigkeit der Welt etwas Wärme abgewinnen, immer auf der Suche nach jenem geheiligten Punkt alles Komischen, an dem sich Slapstick und (Tief-)Sinn kreuzen.

Wenn es heute einen Regisseur gibt, der ein ähnlich ausgeprägtes Gefühl für den »geometrischen Raum des Ungeschicks und der Einsamkeit« hat, dann ist es Wes Anderson. Wie bei sonst keinem zeit­genössischen Filmemacher haben bei Anderson Szenenbild und Einstellung jene existenzielle Priorität, die sie zuletzt im Stummfilm hatten. Obwohl man Andersons Montagen gern mit der Montage von Videoclips vergleicht – er baut seine Szenen nicht narrativ, sondern grafisch – wechselt er seine Einstellungen auffällig selten und lässt eine Figur lieber aus dem Bild hinaus- und wieder hereingehen, als die Szene durch mehrere Einstellungen aufzulösen. Auch Andersons ausgedehnte Kamerafahrten haben ihren Grund bloß vordergründig in den gezeigten Aktionen. In Die Tiefseetaucher beispielsweise gibt es nur deshalb derart zahlreiche Gänge durch die Belafonte, weil so das Bühnenbild – das wie ein Schaubild aufgeschnittene Forschungsschiff – schön ausführlich ins Bild kommt. Auch die Dramaturgie der Filme Andersons ist bis ins Detail hinein antipsychologisch und antinaturalistisch angelegt. Motivationen werden durch Unfälle oder neuro­tische Nerd-Obsessionen ersetzt, eine ironisch unterströmte Melancholie, ideal verkörpert durch Bill Murray, entschärft jeden Ansatz von Method Acting. Ein liebevolles Retro-Design, unterstrichen durch einen meist in den 1960er- und 1970er-Jahren schwelgenden Soundtrack, enthistorisiert auch die bekanntesten Schauplätze von Andersons Filmen: Das New York der Royal Tenenbaums oder die Mittelmeerwelt der Tiefseetaucher, obwohl zu großen Teilen an realen Schauplätzen gedreht, sind so vollkommen imaginär wie das Studio-Amerika aus Chaplins Modern Times.

Diese eigentlich extrem modernistische, antipsychologische und durch zahlreiche ästhetische Verfremdungen angereicherte Welt Andersons – in jedem seiner Werke gibt es zudem eine oder mehrere Mise-en-abymes, Film-im-Film-Szenen – wird oft (und etwas abschätzig) auf seine Arbeit als Werbefilmer zurückgeführt. Denn wie in Werbefilmen existiert bei Anderson eine Story nur der Vollständigkeit halber. Seine Figuren sind, gemessen an den Möglichkeiten des heutigen psychologischen Films, auffällig eindimensional. Bill Murray beispielsweise spielt in den Tiefseetauchern einen leicht größenwahnsinnigen, im Übrigen depressiven Versager mit roter Mütze (Figur), der einen Tiger­hai jagt und Tierfilme im Stil der 1950er-Jahre dreht (Story) – eine Konstellation, die nicht viel sinnvoller ist als die des durchschnittlichen Werbefilms, in dem ein junger Mann nach der hautfreundlichsten Rasiercreme Ausschau hält. Nur vergisst man dabei, dass es bei guten Werbefilmen eben gerade nicht um äußerliche Fragen der Narration, sondern ausschließlich um die zentralste aller filmischen Herausfor­derungen geht: Schauspieler, Bühnenbild und den darin platzierten Gegen­stand zu einer emotional besetzten, von echtem Begehren getriebenen Erzählung zu verschmelzen.

Nun ist in einem Clip von durchschnittlich einer halben Minute Länge für psychologische Entwicklung schon rein technisch keine Zeit. Bei Anderson dagegen – der 90, in seinen späteren Filmen sogar fast 120 Minuten zur Verfügung hat, sowie (im Gegensatz zum Stummfilm) den Dialog und eine hoch entwickelte Schauspieltradition – wird aus dem antipsychologischen Raum seiner Filme, gewissermaßen durch die Hintertür, wieder ein psychologisches Problem. Andersons Rückkehr zum »geometrischen Raum des Ungeschicks und der Einsamkeit« basiert auf einer Reduktion, letztlich auf einer Negation der Möglichkeit emotionaler Entwicklung, die wiederum in den Figuren begründet werden muss. Wie aber hält man seine Figuren in komischer Einsamkeit, wie isoliert man sie über Spielfilmlänge im Raum? Und wie erzählt uns Wes Anderson von jenen Problemen, die sich ergeben, wenn Autisten, Einzelgänger und Nerds sich zu Paaren und Gruppen zusammenfinden – Wes Anderson, der doch ganz offensichtlich weniger auf klassische Paardynamiken spezialisiert ist als vielmehr auf filmische Effekte, die sich aus der Widerständigkeit der Umwelt ergeben: aus Treppen (die man hinunterfällt), Hubschraubern (die abstürzen), Gesprächen (die keinen Sinn ergeben), Gruben (in die man hineinfällt) und Türen (die nicht aufgehen)?

Anderson ist sich durchaus bewusst, dass die komische Genialität seiner Figuren – wie es in Die Royal Tenenbaums heißt – eigentlich bloß eine besonders überzeugende ästhetisierte Form von Autismus ist. Seine Helden sind Nerds, und wie jeder richtige Nerd leben sie im quälenden Doublebind des Sonderlings: Sie wollen unbedingt Teil einer Gemeinschaft sein, aber paradoxerweise gerade aufgrund jener Qualitäten, die sie überhaupt erst zu Außenseitern gemacht haben. Da er nicht dazugehört, träumt der Nerd vom perfekten Gegensystem, von der idealen Gegenkultur, in der alles nach seinen Vorstellungen abläuft, in dem man »nicht stark, aber intelligent und ein bisschen ­komisch« sein muss, wie der deutsche Vorzeige-Nerd Diedrich Diederichsen sich selbst in Sexbeat beschreibt. Im Grunde stellen sich Andersons Protagonisten »Gemeinschaft« als Tableau vivant vor, in dem sie auf wundersame Weise anwesend sind und zugleich Regie führen – und in dem jedermann genau die Gefühle hat, die für ihn vorgesehen sind. Royal Tenenbaum fingiert in Die Royal Tenenbaums eine Krebserkrankung, Max Fischer (Jason Schwartzman) in Rushmore einen Fahrradunfall, um sich ins Herz seiner Nächsten zu schleichen – denn Nähe und Intimität sind für sie bloß besonders komplexe Formen des Rollenspiels, bekanntlich die Königsdisziplin aller Nerds. In Die Tiefseetaucher hat sich Steve Zissou (Bill Murray) sogar eine komplette, wenn auch sympathisch verlotterte Gegenwelt geschaffen; sein Forschungsschiff Belafonte ist das Zentrum eines weltumspannenden Netzes aus Kadetten, Fans, wissenschaftlichen Konkurrenten, Piraten und flüchtigen oder noch zu entdeckenden Unterwasserungeheuern, die irgendwelche komplizierten Momente der Selbstwerdung, wie sie in Paarbeziehungen bekanntlich stattfinden, gar nicht erst zulassen sollten. Dass trotzdem im Zentrum aller Filme Andersons eine sehr genau beobachtete Paarbeziehung (meistens in Form eines ungelösten Familienkonflikts) steht und diese mit erstaunlicher Tiefgründigkeit entwickelt wird, ist deshalb umso außergewöhnlicher – fast so, als würden in einer Stummfilmkomödie die Figuren, während die Slapstick-Mechanik des Films sie unerbittlich weiterzerrt und das System der Dinge sie in Atem hält, nebenbei ein Stück von Tschechow spielen. Dass dies so glatt und eigentlich fast unbemerkt gelingt, liegt daran, dass die Filme Andersons uns die vielleicht ursprünglichste aller psychologischen Geschichten erzählen: Es ist das zeitlose zivilisatorische Abenteuer der Sublimierung des autistischen Genies.

Während Andersons Erstling Bottle Rocket – möglicherweise unter Tarantinos Einfluss – noch ziemlich richtungslos in visuellen Fantasien schwelgt und eher mechanisch die Schicksale eines Freundespaars verfolgt, ist Rushmore Andersons erster wirklich ergreifender Paar-Film. Eine ganze Stadt um die gleichnamige Elite-Highschool wird darin in die Éducation sentimentale des 16-jährigen Max Fischer verwickelt. Als der in zahllosen absurd elitären Clubs engagierte, aber schulisch völlig erfolglose Max sich in die verwitwete Vorschullehrerin Rosemary Cross (Olivia Williams) verliebt, setzt er alle Hebel in Bewegung, um ihr Freund, am besten gleich ihr Liebhaber zu werden. Dass Miss Cross doppelt so alt ist wie er und an ihm nicht interessiert, stört Max nicht. Die Avancen der gleichaltrigen Margaret Yang (Sara Tanaka) – einer klassischen Highschool-Brillenschlange – dagegen bemerkt er nicht.

In Rushmore tritt Bill Murray erstmals in einem Anderson-Film auf. Wie auch in seinen späteren Rollen ist er – als Besitzer einer direkt der Gründerzeit entsprungenen, in den 1970er-Jahren innenarchitektonisch leicht überholten und auch sonst wohl kaum konkurrenzfähigen Rohrgießerei – zu unerklärlichem Reichtum gekommen und vom drückenden Ennui der besitzenden Klasse umwölkt. Schnell findet er Spaß daran, die Projekte des jungen Fischer zu fördern. Als er aber selbst eine Affäre mit Miss Cross beginnt, bricht ein erbitterter Kleinkrieg zwischen den beiden Männern aus. Doch sowohl die Beziehung des Fabrikanten zu der Lehrerin als auch die Freundschaft zwischen ihr und Max gehen in die Brüche. Nicht einmal der Bau eines 20 Millionen Dollar teuren Großaquariums kann Miss Cross, die immer noch ihrem toten Mann nachtrauert, zu den beiden liebenswürdigen Nerds zurückbringen. Der Film endet mit der Inszenierung von Max Fischers neuestem Theaterstück, einer irren Vietnam-Farce, in der Fischers neue Freundin, die lang verschmähte Margaret, die Hauptrolle spielt.

Ein junger Mann anerkennt die Widerständigkeit der Wirklichkeit und verschiebt – Sublimierung! – das Begehren nach dem Begehren des Anderen – Miss Cross! – in die Kunst und ins normale Bezieh­ungsleben: Das wäre vermutlich die Interpretation der klassischen Psychoanalyse. Nun setzt aber jede psychoanalytische Tätigkeit einen Unterbau, eine in neurotische Praktiken verpackte Vergangenheit voraus. Diese gibt es in Rushmore nicht. Max Fischers Mutter ist tot – »Wir haben beide eine Leiche in der Familie«, sagt er zu Miss Cross, als es darum geht, die für jede Paarbeziehung nötigen Gemeinsamkeiten zu konstruieren –, aber weder er noch sein Vater scheinen das geringste Problem damit zu haben. Es ergibt genauso wenig Sinn, sich Fischers Hyperaktivität und seine leicht morbiden Tendenzen mit einer verdrängten Trauer zu erklären, wie es Sinn ergeben würde, Chaplins Vorliebe für Kinder in den tragenden Nebenrollen biografisch aufzuschlüsseln. »Ich werde nicht, ich bin«, soll Picasso gesagt haben; ein Motto, das sowohl für die Stummfilmkomödie als auch für Andersons späte Hommage daran gilt.