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Über dieses Buch:
Unterschiedlicher als Lisa und Hanna können Schwestern kaum sein: Lisa ist still, gehorsam und genügsam – ja, auch ein bisschen langweilig. Trotzdem liebt ihr Verlobter Carl sie heiß und innig.

Hanna hingegen ist ein Vamp. Schon vor Langem hat sie ihren Mann und ihre Kinder verlassen, um sich ihrem eigenen Leben zu widmen.

Als Hanna Carl begegnet, ändert sich das Leben der drei von Grund auf, denn Carl liebt Lisa, doch er begehrt Hanna. Und in Erinnerung an ihre unglückliche Kindheit lässt sich Hanna nur zu gern auf das gefährliche Spiel ein, schließlich hat sie allen Grund, sich an ihrer ungeliebten Schwester zu rächen …

Über die Autorin:
Annegrit Arens hat Psychologie, Männer und das Leben in all seiner Vielfalt studiert und wird deshalb von der Presse immer wieder zur Beziehungsexpertin gekürt. Seit 1993 schreibt die Kölner Bestsellerautorin Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Fünf ihrer Werke wurden für die ARD und das ZDF verfilmt.

Annegrit Arens veröffentlichte bei dotbooks bereits folgende Romane: »Der Therapeut auf meiner Couch«, »Die Macht der Küchenfee«, »Aus lauter Liebe zu dir«, »Die Schokoladenkönigin«, »Ich liebe alle meine Männer«, »Wenn die Liebe Falten wirft«, »Bella Rosa«, »Weit weg ist ganz nah«, »Der etwas andere Himmel«, »Der geteilte Liebhaber«, »Wer hat Hänsel wachgeküsst«, »Venus trifft Mars«, »Süße Zitronen«, »Karrieregeflüster«, »Wer liebt schon seinen Ehemann?«, »Suche Hose, biete Rock«, »Kussecht muss er sein«, »Mittwochsküsse«, »Liebe im Doppelpack«, »Lea lernt fliegen«, »Lea küsst wie keine andere«, »Väter und andere Helden«, »Herz oder Knete«, »Verlieben für Anfänger«, »Liebesgöttin zum halben Preis«, »Schmusekatze auf Abwegen«, »Katzenjammer deluxe«, »Ein Pinguin zum Verlieben«, »Absoluter Affentanz«, »Rosarote Hundstage«, »Die Liebesformel: Ann-Sophie und der Schokoladenmann«, »Die Liebesformel: Anja und der Grüntee-Prinz«, »Die Liebesformel: Tamara und der Mann mit der Peitsche«, »Die Liebesformel: Susan und der Gentleman mit dem Veilchen«, »Die Liebesformel: Antonia und der Mode-Zar« und »Die Liebesformel: Ann-Sophie und il grande amore«.

Die Autorin im Internet: www.annegritarens.de

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eBook-Neuausgabe Juli 2015

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Africa Studio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-285-2

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Annegrit Arens

Die helle Seite der Nacht

Roman

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Kapitel 1
Mit beiden Händen

Es war April. Im April, das weiß jeder, zeigt das Wetter sich von seiner launischsten Seite, dennoch ärgerte Hanna das Trommeln des Regens. Für heute war eigentlich Sonne angekündigt, ihre Wickelbluse aus hauchzartem Organza paßte zu einem strahlendblauen Himmel und dem Thema ihres jüngsten Romans, in dem sie vom Jungsein und von Fummelspielen erzählte. Jeder Journalist, den sie kannte, und sie kannte etliche, würde bei ihrer Aufmachung laut jubeln, nur dieser da tat es nicht. Wenn sie einen Kartoffelsack trüge oder ihre karottenrote Mähne unter einer dieser scheußlichen Kappen versteckt hätte, die gerade wieder in Mode waren, so hätte seine Reaktion kaum abschätziger sein können. Hätte sie geahnt, was für einen Langweiler man ihr zum Interview schicken würde, so hätte sie nie und nimmer zugesagt.

»Offen gestanden nehme ich Ihnen nicht ab, daß ein Mädchen mit fünfzehn Jahren so tough ist wie Ihre Heldin.« Der Kaffeelöffel des Reporters schepperte gegen die Tasse, einmal und noch einmal. Er schien zu glauben, sie kaufe ihr Porzellan in der Kaufhalle. »Erst recht nicht vor über zwanzig Jahren«, fügte er hinzu.

Es hörte sich an, als ob er von einem Kapitel aus dem angestaubten Geschichtsbuch seiner Großmutter spräche. Hanna kochte innerlich. Woher wollte er wissen, was in einem jungen Mädchen oder in einer Frau vorgeht? Er war weder das eine noch das andere, er hatte keinen blassen Schimmer davon, was sogar schon ein Kind hart machen konnte. Besser, man war hart oder »tough«, wie er es nannte, als früher oder später zu zerbrechen wie eine gesprungene Tasse. Natürlich würde sie ihm das nicht auf die Nase binden. Dieser Typ war die absolute Fehlbesetzung, egal was der verantwortliche Redakteur ihr am Telefon erzählt hatte. Junge Presse! Wohl eher ein Babyface mit der Moral eines Hinterwäldlers! Der würde ihr weder die Hauptperson ihres neuen Romans noch Erlebnisse schlechtmachen, auf die sie stolz war. Sie war stolz darauf, daß ihr niemand je wieder unter dem Deckmantel der Liebe das Heft aus der Hand nehmen würde.

»Haben Sie vielleicht einschlägige Erfahrungen als weiblicher Teenager?« fragte Hanna betont spöttisch, während sie mißmutig den melierten Lambswool-Pullover anstarrte, unter dem sich alles mögliche verbergen mochte, nur nichts Interessantes. Diese Typen mit Rollkragenpullis gab es vor zwanzig Jahren auch schon.

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, womöglich mimte er den Beleidigten und überlegte, wie er es ihr in seinem Artikel heimzahlen konnte, griff dabei in die Versace-Zuckerdose, mit den Fingern, obwohl eine silberne Zuckerzange daneben lag. »Haben Sie alles selbst erlebt, worüber Sie schreiben?« Drei Stück Zucker. Es spritzte. Dreimal.

»Ich habe genug erlebt.«

»Was ist aus Ihrer Sicht der grundlegende Unterschied zwischen jungen und älteren Liebhabern?«

»Jeder weiß, daß Jungs in einem gewissen Alter Opfer ihrer steigenden Säfte sind. Sie können nichts dafür.« Falls er sich einbildete, ihr intime Geständnisse entlocken zu können, war er schief gewickelt. Niemand schaffte das, außerdem würde er tot vom Hocker fallen, wenn sie ihm erzählte, wie tough sie als Fünfzehnjährige tatsächlich gewesen war.

»Und Mädchen? Frauen?« Der Kaffeelöffel zeigte auf sie, eine feuchte Zuckerkruste überzog die Spitze, von der es auf ihre wunderschöne Tischplatte aus Bergahorn tröpfelte. Hanna hätte den Kerl umbringen können.

Sie beugte sich abrupt vor, ihr Ausschnitt klaffte, ausnahmsweise ohne ihr Dazutun. Sie raffte den Stoff zusammen. »Wenn sie klug sind, lassen sie sich nicht zu Opfern machen, sondern sehen zu, daß sie möglichst bald selbst ihren Spaß haben.«

»Spaß statt Liebe?«

»Sie schreiben nicht zufällig für die Hauspostille des Vatikans?«

»Wie vertragen sich Spaß und Verhütung?«

»Prima.«

»Sie haben Zwillinge bekommen ...«

»Nicht für den Papst und auch nicht für Vater Staat.«

»Sondern?«

»Für mich selbst. Weil mir danach war. Uns.«

»Ihre beiden Kinder sind also Wunschkinder?«

»Natürlich.«

»Sie leben beim Vater, soweit ich weiß ...«

»Ich bin im Job erfolgreicher als er, er hat einfach mehr Zeit. Sie verwechseln leben und versorgt werden. Meine Kinder sind oft bei mir und in den Ferien sowieso.«

»Hört der Spaß beim Geld auf? Tauscht Ihre minderjährige Heldin, die nur unwesentlich älter als Ihre eigene Tochter ist, deshalb so bereitwillig ihren ersten Liebhaber aus? Sie ist noch feucht vom Vorgänger, hält noch dessen Freundschaftsring umklammert und empfängt schon den nächsten Lover – zum Preis eines Big Mäc im ersten deutschen McDonald’s.«

»Geld ist nur ein Symbol.« Hannas Erster war lappig wie die Weichbrötchen gewesen, zwischen die ein cleverer Amerikaner seine flach gepreßten Frikadellen gepackt und zum Siegeszug rund um den Globus geschickt hatte. Der wahre Genuß mit beiden Händen! Mit diesem Slogan ging es 1976 los, er hatte Hanna inspiriert, was fürs Schlemmen galt, hatte auch andernorts Gültigkeit.

»Ein Symbol wofür?«

»Dafür, wie weit es einer in dieser Welt bringt.«

»Sie haben es ziemlich weit gebracht, wenn man Ihre Auflagenhöhe als Gradmesser nimmt. War das den Preis wert?«

»Welchen Preis, bitte?«

»Sie sind geschieden, Ihre Kinder leben beim Vater, Sie gelten als Einzelkämpferin. Wo bleibt da die Liebe?«

»Ich schwimme in Liebe, wenn ich und wann ich will, ich verkneife mir nichts.«

»Sie halten es also wie Ihre Heldin Franziska?«

»Ich lasse mich nicht für einen Big Mäc auf einem schmierigen Klo vögeln, falls Sie das meinen.«

»Und warum muten Sie dann all diese Unsäglichkeiten der Hauptperson in Ihrem neuen Buch und folglich auch Ihren Lesern zu?«

»Zumuten? Wollen Sie die Leserpost sehen, die ich sackweise bekomme? Den Frauen macht’s Spaß, großen Spaß, wenigstens ein paar Stunden aus ihrem langweiligen Leben ausbrechen zu können. Plötzlich sind sie selbst noch einmal fünfzehn oder sechzehn und entdecken die Macht, die sie besitzen. Wenn sie wollten, würden die Jungs durch brennende Reifen springen, nur um ans Ziel zu gelangen ...«

»Die Passage fehlt bei Franziska.«

»Es ist ein Roman.« Hanna stand auf, stieß an die Tischkante. Dieser Mensch war ein Ignorant. »In einem Roman«, fuhr sie fort, »handelt es sich bekanntlich um fiktive Erlebnisse, oder bilden Sie sich allen Ernstes ein, ich würde mein eigenes Leben abschreiben?«

»Sie schreiben in der Ich-Form, vielleicht verstärkt das den autobiographischen Charakter. Allerdings hatte ich bei dieser bewußten Szene gleich das Gefühl, daß kein junges Mädchen beim ersten Mal so tough sein kann.«

»Wenn Sie sich da mal nicht irren.«

***

Hanna wartete nicht einmal, bis der Aufzug oben angelangt war, sondern schloß einfach die Tür zwischen ihm und sich. Im Hinausgehen hatte er sein Sakko wieder übergestreift, das er hinter sich über die Stuhllehne gehängt hatte. Cord, feingerippt, sandfarben, die Taschen ausgebeult, genau wie bei dem Freier, dessen Ring ihre Romanheldin Franziska noch umklammert hielt, während sie schon für den nächsten den Rock hob.

Ob der Pressemann sich angegriffen fühlte, weil er das gleiche Sakko trug? Sie könnte ihn zurückrufen und ihm sagen, daß es ein Zufall war, daß manchmal sogar sehr viel ältere Männer als er so etwas trugen.

Du bist so schön weich.

Das ist meine Jacke, Schätzchen! Du bist auch schön weich, noch viel weicher, soll ich dir zeigen, wo?

Es war, als ob jemand einen Sack über sie stülpte. Dunkel, kein bißchen weich und erst recht nicht schön, ein Gefängnis, dem sie entfliehen mußte. Nur weg! Raus hier!

Hanna rannte auf die wabernde Helligkeit zu, von der sie wußte, daß es Glas war. Doppelglas, eingepaßt in eine Falttür, es brauchte nicht viel Kraft, um sie zu öffnen. Normalerweise schaffte sie das mit einer Hand, nur heute wollte ihr die Tür nicht gehorchen, der Griff entglitt ihr immer wieder. Hanna zerrte daran, zerrte wie verrückt, so als ob ihr Leben davon abhinge. Sie mußte den Gierhänden entkommen, die ihr jetzt überall auflauerten. In solchen Momenten ertrug sie keine festen Wände um sich herum. Ebensowenig wie andere Menschen. Sie hatte gelernt, daß niemand einem half, wenn’s drauf ankam, erst recht nicht diejenigen, von denen man es erwarten sollte. Sie hatte ihre Lektion gelernt.

Der Griff gab nach. Lautlos glitt die Tür zur Seite. Sie stolperte ins Freie. Ihr Fluchtpunkt im siebten Stock war zwölf Meter lang, fünf Meter tief, eine Dachterrasse in Südwestlage mit direktem Blick auf den Rhein.

Unlängst hatte der Hausbesitzer alle Brüstungen mit einem Gitteraufsatz bestücken wollen, um der Sogwirkung des Wassers oder der Dummheit seiner Mieter vorzubeugen. Doch seine Beweggründe interessierten Hanna nicht. Hauptsache, ihre Wohnung war geblieben, wie sie war, andernfalls wäre sie ausgezogen. Sie hatte keine Angst vor der schwindelerregenden Höhe. Sie hatte so gut wie nie Angst, aber wenn die Angst sie doch einmal einholte und sich einer dunklen Kappe gleich über sie stülpte, dann rannte sie einfach hinaus ins Freie und wußte: Hier passiert mir nichts.

***

Es war in dem Zimmer mit der grün und weiß gemusterten Tapete passiert, einer Strukturtapete. Wenn man mit dem Finger darüber strich, fühlten sich alle grünen Teile erhaben an. Hanna hatte jedesmal an Moospolster denken müssen, wenn sie den Zeigefinger über die grünen Linien und Schnörkel führte, die auf den Wänden kein konkretes Muster ergaben. Es war das einzige Zimmer, in dem sie mit ihren nicht immer sehr sauberen Kinderhänden die Tapete anfassen durfte. Obwohl es wie alle anderen Räume ihres Elternhauses täglich mindestens eine halbe Stunde lang gelüftet wurde, roch es hier anders. Nach den Zigarillos und dem Rasierwasser seines Bewohners, aber auch nach Franzbranntwein und der blauen Flüssigkeit, mit der desinfiziert wurde, doch das war noch nicht alles. Es roch auch nach den Geschichten, die Ulrich Machill seiner Enkelin zu erzählen pflegte.

Wenn er so erzählte, trat alles andere in den Hintergrund, dann sah Hanna statt der rustikalen Stollenwand und den Bettpfosten Steilwände und Felsnasen aufragen. Schwitzen und Keuchen und über allem der Drang, es bis ganz oben zu schaffen. Die Grenzen zwischen dem Kletterer von einst und dem Kind Hanna waren geschrumpft, sie beide waren eins gewesen, die einzigen echten Abenteurer in dem Haus, das so ordentlich war, daß es einem die Luft abschnürte. Daran konnten auch geöffnete Fenster und Luftbefeuchter nichts ändern. Und dann, eines Tages, tauchte die Kappe auf, stülpte sich über ihren Kopf und ihr Gesicht, schluckte es, stieß sie in ein dunkles Loch, das ihr angst machte.

Nein, ich will die Kappe nicht, sie ist mir viel zu groß, ich kann nichts mehr sehen, außerdem ist sie im Zimmer viel zu warm.

Es ist die Kappe, die ich getragen habe, als ich ›Die drei Zinnen‹ bezwungen habe.

Die drei Zinnen?

Ja, es war ein grandioses Abenteuer, wir sind zu vieren aufgebrochen, aber zuletzt war ich ganz allein, die anderen hatte der Mut verlassen. Die Kappe hier ist mir vom Kopf geweht, doch ich habe sie aus einem Felsspalt geborgen, für dich, mein Schätzchen.

Für mich?

Nur für dich! Gefällt sie dir nicht?

Doch. Schon. Es ist bestimmt eine schöne Kappe ...

Es ging nicht um die Kappe. Hanna hatte nicht einmal gewußt, wie sie aussah. Sie wußte nur, daß von jetzt auf gleich die wunderschönen Bilder in ihrem Kopf geschluckt wurden und nur noch die Schwärze vor ihren Augen und der Griff dieser Hände übrigblieben. Greifhände. Klammern. Es gab kein Entkommen. Das Zimmer lag im ersten Stock, direkt über der Küche, oft konnte man oben das Klappern der gußeisernen Pfanne hören. Und umgekehrt? Hanna wußte es nicht. Sie hatte nie danach gefragt. Sie hatte auch nie geschrien. Und weil es keinen Balkon gab, auf den sie hätte fliehen können, war sie stumm und regungslos geblieben, bis es wieder hell um sie herum wurde.

Jetzt aber schrie sie. Und sie bewegte sich, brach aus der Erstarrung aus, es gab nichts mehr, was sie festhielt. Fünf weit ausholende Schritte, der Boden knarrte unter Hannas Sohlen, dann erreichte sie die Balustrade, stützte sich auf und beugte sich vor, weit vor. Nur noch ein Streifen gefalztes Zinkblech trennte sie von dem Strom und den Schiffen, die von hier oben wie Spielzeugboote aussahen. Sie atmete tief durch, der Duft der Pflanzen ringsum stieg ihr in die Nase, am stärksten duftete der Lavendel.

Der Lavendel gehörte zu einer Geschichte, die erst begann, als die andere Geschichte bereits zu Ende war. Aus dem Kind Hanna war ein Teenager geworden. Die grünweiße Tapete war überklebt worden, helle Möbel hatten die Stollenwand und das wuchtige Eichenbett ersetzt, auch der Lehnsessel mit dem verschossenen Brokatbezug war verschwunden. Als Hanna in die Schule kam, mußte sie nicht länger ein Zimmer mit ihrer Schwester Lisa teilen. Von da an hatte sie ihr eigenes Zimmer. Sein Zimmer. Das Zimmer von Ulrich Machill. Der Duft der Lavendelsäckchen im Kleiderschrank überlagerte die alten Düfte, und wenn Hanna das Fenster öffnete, fand der Duft, der dem Schrank entströmte, draußen ein Echo. Hanna konnte sich auf nichts besinnen, was über viele Meter hinweg so intensiv roch wie Lavendel.

Sie hatte sich ausgemalt, wie man einen Menschen auf diese Weise betäubte. Den Schmerz aussperrte. Alles aussperrte, was nicht in die Welt paßte, von der sie als junges Mädchen träumte. Eine Welt, die sie erobern wollte. Und der Gradmesser für den Erfolg, den man hatte, waren Jungs, die eines Tages jene Männer sein würden, die man gerade erst ahnte. So gesehen lief das, was sie kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag – es war der Tag vor ihrer Konfirmation gewesen – getan hatte, auf einen glatten Selbstbetrug hinaus. Sie hatte einen echten Mann bezwingen wollen, aber es war nur die Karikatur eines Mannes gewesen. Ein Wicht, nicht der Rede wert.

Dennoch waren wenige Tage später die Lavendelbüsche hinter ihrem Elternhaus entfernt worden, was erst recht albern war. Hatten sie sich eingebildet, ein paar Büsche würden die Geschichte rundtragen? Sollte der Lavendel dafür bestraft werden, daß er nicht Zeter und Mordio geschrien hatte? Damals, als der betäubende Duft der blauen Blüten sich mit dem Geruch von Schweiß mischte, ihrem eigenen und dem des Jungen. Er rann feucht zwischen ihren Brüsten durch, die noch gefangen waren, bis sie seine ungeschickt tastenden Finger dirigierte und gleichzeitig zum Haus hin lauschte, wo ihre Mutter und ihre Schwester auf der Terrasse saßen und Spargel schälten. Zwei Körbe voll. Zu Hannas Konfirmation sollte es Spargel mit westfälischem Schinken und zerlassener Butter zu jungen Kartoffeln geben, aber dann wurde anderntags doch nur Leipziger Allerlei aufgetischt. Hanna haßte Erbsen und Möhren, ebenso wie sie den Duft des Lavendels liebte, betörend und mit ihr im Bunde, bis das törichte Wehklagen ihrer Schwester Lisa es aus ihr herausgelockt hatte.

Was hast du mit ihm angestellt, Hanna? Warum rennt er plötzlich vor mir davon, als ob ich die Pest hätte?

Hast du sie nicht?

Er ist mein Freund, er geht mit mir.

Jetzt nicht mehr.

Du bist eine Teufelin, Hanna! Wie konntest du mir das antun? Einen Tag vor deiner Konfirmation. Hast du überhaupt keinen Respekt vor Gott und der Kirche? Was du gemacht hast, ist Sünde ...

Sünde! Hatte Lisa vergessen, was in ihrer geliebten Bibel stand? Auge um Auge, Zahn um Zahn! Abgesehen davon hatte sie nichts verpaßt, ihr erster fester Verehrer war ein Tolpatsch erster Güte gewesen. Rein und raus, er hatte Hanna weh getan, von Spaß keine Spur. Lisa hätte erst recht geflennt, wäre sie selbst das Opfer gewesen. Sünde! Das war das Stichwort für ihre Mutter gewesen, sie hatte noch das Spargelmesser in der Hand, als sie der Sünde nachforschte, sie war fast so fromm wie Lisa. Hat deine Schwester noch nicht genug durchgemacht? Es war Hanna nicht klar, wovon ihre Mutter sprach, es konnte wohl kaum von dem Asthma die Rede sein, unter dem Lisa litt. Wahrscheinlich war es nur eine Floskel. Es folgte die keineswegs realistische Schilderung vom Glück, das Lisa in den Armen dieses Knaben hätte finden können, offenbar hatten sie im Geist schon die Hochzeitsglocken läuten hören. Doch das hatte Hanna zu verhindern gewußt. Dafür hatte ihre Mutter ebenfalls einen Namen, sie nannte es Schande. Lisa hatte in ihrer Wut und Verzweiflung die Lavendelbüsche geköpft. Sie hatte der jüngeren Schwester keine Ruhe gelassen, bis diese ihr den Ort jener Schande gestand. Und dann hatte der Vater die große Schaufel geholt und die Lavendelbüsche ausgegraben.

Auch die Schande hatte zwei Seiten.

***

Die Türklingel schlug an. Sehr melodisch und weit weg, erst als sich das Läuten mehrmals wiederholte, wurde Hanna klar, daß jemand bei ihr vor der Tür stand. Das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr war beschlagen, sie rieb darüber, hoffentlich war die Uhr wasserdicht. Auch ein Geschenk, sie bekam oft etwas geschenkt, manchmal waren ihr diese Geschenke näher als der Schenkende. Sie erinnerten an schöne Stunden und taten nicht weh. Es war eine wunderhübsche kleine Uhr. Der kleine Zeiger aus Blattgold stand jetzt auf der römischen elf. Um elf Uhr kam gewöhnlich die Post, brachte ihr Leserbriefe, Bettelbriefe, Rezensionen, Angebote von Verlagen, die sie abwerben wollten, und natürlich Liebesbriefe. Doch Hanna hatte nicht viel für Liebesworte übrig, von denen sie wußte, daß sie alle eines gemeinsam hatten: Sie sollten sie gefügig machen. Unterm Strich hatte sie mehr von den Tiraden, die ihren Romanfiguren galten und die, egal ob Lob oder Schmäh, in den Köpfen ihrer Leser eine Spur hinterließen. Der Dialog über ihr Werk war im allgemeinen eine ebenso ungefährliche wie lukrative Form der Zwiesprache. Letzte Woche etwa hatte der »Joke« ein Interview mit ihr gemacht, das sehr viel erfreulicher verlaufen war als das Gespräch gerade eben. Ob etwa schon das versprochene Prüfexemplar in der Post war?

Hanna steuerte die Diele an, plötzlich hatte sie es eilig, ihre Füße hinterließen schmuddelige Spuren auf dem Parkett. »Komme schon, komme sofort.«

»Hatten Sie ein Malheur?« Ein Stapel Briefe zeigte auf den durchnäßten Organza, der an ihrem Körper klebte und nun statt leuchtend orange fast braun aussah. Unter der Schirmmütze hervor sprang sie die blanke Neugier an, die fremden Augen signalisierten ihr unmißverständlich, daß ihr Anblick keinerlei erotische Assoziationen auslöste. Der Mann war neu im Dienst und schien nicht einmal zu wissen, wer sie war.

»Warum sollte ich?«

»Sie sind klatschnaß, und erst der schöne Boden! Hatten Sie vielleicht einen Rohrbruch?« Er deutete auf das Holz zu ihren Füßen. Importware aus Südafrika, unversiegelt, von makelloser Qualität, der Ausgleich für neun Jahre wischfestes PVC, das sie mindestens einmal täglich hatte putzen müssen, um die Dreckspuren von zwei kleinen Kindern mitsamt Hund und einem Ehemann zu beseitigen.

Allerdings hätte sie ihrer Familie und ihrem Geburtsort nicht den Rücken kehren müssen, nur um dem PVC und der Enge einer Wohnung zu entkommen, die aus allen Nähten zu platzen drohte, als die Zwillinge größer wurden. Schließlich hatte ihr Großvater ihr das Haus vermacht, in dem er lebte, bis er in Hannas Elternhaus gezogen war. Sein Haus war schöner, großzügiger, es war wie geschaffen für all die Erinnerungen, die sich in den verborgensten Winkeln versteckten.

Ulrich Machill hatte dieses Haus nicht freiwillig verlassen. Nach seinem Absturz in den Bergen hatte er einfach keine andere Wahl gehabt. Er war ein Opfer seiner größten Leidenschaft geworden. Über Jahrzehnte hinweg hatte er Steilhänge und Felsnasen bezwungen – heute würde man ihn wohl als Cliffhanger bezeichnen –, bis er im Rollstuhl landete. Einige fanden, es sei die gerechte Strafe für seinen Übermut. Gottes Strafe. In Versmold galt er seit jeher als Exot, besonders den Frömmlern war er schon immer ein Dorn im Auge. Auch seine Invalidität hatte ihn nicht duldsamer gemacht. Nicht einmal die Pflegerinnen aus dem christlichen Hospiz mochten ihn, dabei waren sie zur Nächstenliebe verpflichtet. Er mochte sie auch nicht, stritt mit ihnen über Themen, die ihnen heilig waren. Schließlich zogen auch sie sich mehr und mehr zurück, bis sie schließlich ganz weg blieben.

Die Familie mußte daraufhin allein mit dem Invaliden zurechtkommen. Sie tat es auf ihre Weise. Hannas Mutter kochte und wusch und absolvierte all jene Handreichungen, die der Arzt ihr auftrug. Sie tat es stumm, ohne ein einziges freundliches Wort für diesen Mann, der ihr leiblicher Vater war. Der Umstand, daß Hannas Erinnerung auch keine bösen Worte preisgab, bestätigte lediglich das Ausmaß der Isolation, die man dem Mann aufbürdete, der nur noch in seinen Geschichten auflebte. Geschichten, die niemand außer Hanna hören wollte. Eine Hanna, die noch nicht schreiben und lesen und rechnen konnte. Dafür konnte sie zuhören. Zwei Jahre lang hatte sie sich von den Schilderungen seiner Abenteuer fesseln lassen. Zwei Jahre lang bewohnte er den Raum neben dem Kinderzimmer, das sie sich mit Lisa teilen mußte. Dann hatte die Familie ihn nach jener schrecklichen Nacht in eine geschlossene Anstalt abgeschoben. Nicht mehr Herr seiner Sinne sei er, hieß es, für sich selbst ebenso wie für seine Familie eine Gefahr. Er würde am besten ganz aus dem Leben treten.

Doch diesen Gefallen tat Ulrich Machill ihnen nicht. Statt dessen suchte er Zuflucht in den finsteren Kammern der Depression, in der Grauzone zwischen Leben und Tod. Er ließ sich Zeit mit dem Sterben. Viel Zeit. Fast noch ein Vierteljahrhundert verbrachte er in jener Anstalt und war in dieser Zeit für Hanna tatsächlich so gut wie tot gewesen.

Mit jedem Jahr wurden die bedrückenden Bilder blasser. Neue Bilder tauchten auf. Die Liebe oder das, was man landläufig dafür hielt, hatte darin auch einen Platz. Am Ende einer langen Reihe von mehr oder minder langweiligen Jungs mit nicht weniger faden Vorstellungen von dem Leben, auf das sie zutrieben, war Olaf aufgetaucht. Hanna hatte sich in Olaf verliebt. Sein Job führte ihn von Stadt zu Stadt, und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann sie Versmold zusammen den Rücken kehren würden. Doch dann meldeten sich die Zwillinge an, Olaf verlor die Lust am Reisen, und das Haus, das Ulrich Machill Hanna vor fünf Jahren hinterlassen hatte, erschien ihm als neue Bleibe gerade recht.

Er ahnte nicht, was der Umzug für Hanna bedeutete.

Obwohl schon lange fremde Mieter im Haus ihres Großvaters wohnten, schien dieser plötzlich wieder allgegenwärtig zu sein. Das alte Parkett knarrte noch immer, auch die Holzpaneele an den Wänden waren geblieben und das Treppengeländer, über das Hanna zuletzt als Fünfjährige vom Obergeschoß ins Parterre gerutscht war; und der Keller war vollgepackt mit den Reisesouvenirs und alten Möbeln des Großvaters, die er zuletzt in dem Zimmer ihres Elternhauses benutzt hatte. Olaf war auf Anhieb begeistert.

Natürlich müssen die Leute ausziehen, Hanna. Allein das Eichenparkett ist ein Traum. Du wolltest doch immer Holzböden haben.

Aber sie wohnen schon eine Ewigkeit dort. Sie sind eingezogen, nachdem mein Großvater als Pflegefall zu uns gekommen ist. Nach so vielen Jahren kannst du die Leute nicht einfach auf die Straße setzen.

Wer ist dir wichtiger? Wildfremde Leute oder deine eigenen Kinder? Sie werden jedes ein Zimmer ganz für sich alleine haben. Antonia kann endlich Klavier spielen, damit liegt sie uns doch ständig in den Ohren, und Paul kann sich nach Herzenslust im Garten austoben. Das Grundstück ist groß genug für einen Fußballplatz und einen Pool obendrein. Willst du ihnen das vorenthalten?

Die Kinder hatten den Ausschlag gegeben. Hanna und Olaf hatten nicht einmal auf Eigenbedarf klagen müssen, die alten Mieter waren sehr einsichtig gewesen. Viel zu einsichtig. Ein halbes Jahr später war der Umzug erfolgt, der Anfang vom Ende. Paul und Antonia waren schon im Gymnasium, als Hanna die Flucht ergriff. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, daran änderte auch das Eichenparkett in allen sechs Räumen nichts.

Sie sah auf den Boden zu ihren Füßen. Parkett. Keine Eiche, sondern warm schimmerndes Meranti aus Südafrika. Darauf ihre Füße in modischen Ballerinas und andere Füße in einem Schuhwerk, das zu dem Gesicht darüber paßte. Bieder, auch neugierig, ein Eiferer vor dem Herrn.

»Meine Post«, forderte sie.

»Bitte«, sagte der Postbote. Dann ging er. Endlich.

Hanna ratschte den ersten Umschlag auf, dann den zweiten, es war nichts dabei, was nach einer Besprechung aussah.

Drei Rechnungen. Kleinkram.

Eine Einladung zu einer Glas-Weinprobe für Freunde des Hauses: Unkostenbeitrag sechsundachtzig Mark. Frechheit!

Der obligatorische Bettelbrief, diesmal sollte sie mit signierten Gratis-Exemplaren ihres jüngsten Werks die Katholische Arbeitnehmerbewegung e.V. unterstützen. Sollte das ein Witz sein? Ausgerechnet sie sollte der Kirche in die Hände arbeiten?

Nächster Wisch: Eine Buchhandlung am Ende der Welt wollte wissen, ob sie für fünfhundert Mark plus Übernachtung plus Fahrkarte zweiter Klasse aus ihrem Buch lesen würde. Ihr Honorar betrug mindestens das Doppelte, sie reiste grundsätzlich erster Klasse. Die schiere Provokation!

Der letzte Umschlag war aus Ökopapier, stumpf und schmutziggrau, die Handschrift war ihr fremd, dafür kannte sie den Poststempel um so besser. Versmold. Wer schrieb ihr aus ihrer Heimatstadt, die in Wahrheit ein Dorf war? Sie bekam fast wie nie Post von dort, was gut war, praktisch gab es kaum noch Kontakt dorthin. Es reichte, wenn sie zu Ostern und Weihnachten und vielleicht noch zu einem runden Geburtstag hinfuhr, um sich davon zu überzeugen, daß ihre Mutter noch immer die alte und ihr Vater nur noch ein Schatten seiner selbst war, während ihre Schwester zu einer tragenden Säule der Gemeinde avanciert war. Um Paul und Antonia zu sehen, mußte sie nicht dorthin, die beiden waren zum Glück groß genug, allein den Zug zu ihr nach Köln zu nehmen.

Hannas Daumen schabte über das glanzlose Papier und über die Briefmarke, hin und her, sie konnte sich nicht entschließen, das Kuvert zu öffnen. Als ob sie sich fürchtete, was erst recht lächerlich war. Es würde ihr schon niemand eine Bombe ins Haus schicken ... Kurz entschlossen riß sie das Kuvert auf, und lediglich ein Stück Zeitung fiel heraus. Das Papier war billig, passend zur Hauspostille eines Städtchens, in dem der Hund begraben lag. Eine Annonce, sauber ausgeschnitten: »Wir freuen uns, die Verlobung unserer Tochter Lisa Altweg mit Carl Bronnen bekanntzugeben.«

»Was? Das gibt’s doch nicht!« Nein, das konnte nicht sein, daß ihre fünf Jahre ältere Schwester Lisa doch noch unter die Haube kam! Über zwanzig Jahre lang hatte es keinen ernstzunehmenden Verehrer mehr gegeben, und Hanna hatte bei sich gedacht, daß es nur gerecht war, wenn ihre Schwester sich voll und ganz auf die I-Dötzchen, die sie unterrichtete, und auf ihre Nichte Antonia und den Neffen Paul konzentrierte. Aber nun, mit zweiundvierzig Jahren, hatte sie doch noch einen Dummen gefunden. Wer war dieser Carl Bronnen? Hanna hatte den Namen noch nie zuvor gehört. Wer war dieser Mann, der mit ihrer Schwester den Bund fürs Leben schließen wollte?

Grauweiße Schnipsel segelten zu Boden, verbrüderten sich mit dem feuchten Dreck, den Hanna von der Terrasse hereingetragen hatte. Ihr wunderschönes Parkett war nicht mehr wiederzuerkennen, ebensowenig wie sie selbst. Hanna heulte Rotz und Wasser wie zuletzt als Kind. Sie hatte sich seitdem das Heulen abgewöhnt, es gab bessere Methoden, um sich zu schützen.

Wir freuen uns, die Verlobung unserer Tochter Lisa ...

Sie freuten sich. Sie hatten es nicht einmal für nötig befunden, Hanna einzuweihen. Weil sie Angst hatten? Wovor? Vor ihr, Hanna? Weil sie schon einmal anstelle der Schlafmütze Lisa aktiv geworden war? Wer hatte ihr bloß die Annonce zugeschickt? Vielleicht freuten sie sich zu früh. Hektisch wühlten Hannas Hände in dem Wust aus leeren Umschlägen und beschriebenem Papier.

»Wir erlauben uns, für unsere Bemühungen ...« Weg damit, das war es nicht.

»Unser kulinarisches Angebot zur Glas-Weinprobe umfaßt ...« Weg, weg, weg.

»Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie in unserem Literaturtreff in Harsewinkel ...« Das war es, ein Wink des Himmels! Dieses Kaff lag höchstens zwanzig Kilometer von dem entfernt, in dem Hanna geboren worden war und wo sie noch immer einträchtig gluckten und sich sorgten, wenn der teure Deckhengst ihres Vaters lahmte oder Läuse Mutters Rosen verunzierten, an Lisas Schule die Windpocken ausbrachen oder Hannas Exmann wieder mal nicht rechtzeitig mit den Kleinen zum Sonntagnachmittagskaffee erschien, weil er strikt gegen das Autofahren war und sein Fahrrad schon wieder einen Platten hatte. Sein Rad oder das von Paul oder Antonia. Antonia und Paul waren bislang die einzigen Enkel von Gerd und Hedi Altweg.

Ob ihre Schwester überhaupt noch gebären konnte?

Hanna stellte sich eine hochschwangere Lisa mit dem erschöpften Gesichtsausdruck einer Spätgebärenden vor. Das komplette Gegenteil einer aufblühenden jungen Mutter. Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ihre Schwester war so vernarrt in Kinder, daß sie sich notfalls mit dem Glöckner von Notre Dame einlassen würde, wenn er nur getauft und zeugungsfähig wäre. So war es, genauso mußte es sein, und alle spielten mit.

Bei Lisa, der lieben Lisa, spielten sie immer mit.

Bilderfetzen, sie kamen und gingen, attackierten Hanna von allen Seiten und waren so nah, daß sie einen Moment lang nicht wußte, wo sie dieses Fiepen einordnen sollte. Damals hatte es noch kein Handy gegeben, im Haushalt der Altwegs existierte seit jeher nur ein einziges Telefon für vier Personen, ein Standgerät, wohingegen Hanna nun für sich allein fünf Telefone besaß, in jedem Zimmer eines und obendrein das neue Handy. Es war dieses Winzding, das da fiepte. Noch ehe der Anrufer sich meldete, wußte Hanna dank der Anzeige auf dem Display, wer am anderen Ende der Leitung war. Es gab eine Zeit, da hatten diese elf Zahlen sie heftig aufgewühlt, und fast wäre es zu spät gewesen ...

***

»Wo zum Teufel steckst du?« Er war erregt, in diesem Zustand war seine Stimme sehr dunkel und voll, so wie jetzt gerade. »Hattest du nicht heute früh ein Interview?«

»Hatte ich.« Ob er befürchtete, sie hätte Stationen aus dem Werdegang ihrer Heldin live nachgestellt? Normalerweise würde es sie reizen, Salz in die Wunde zu streuen, die sie witterte, aber heute war kein normaler Tag.

»Das scheint ja ein intensives Gespräch gewesen zu sein, wenn du noch drei Stunden später nicht in der Lage bist, den Hörer deines Telefons abzunehmen.«

»Ich habe fünf.«

»Ich weiß, du bist unersättlich.«

»Ja«, sagte Hanna lustlos und verkrampft und lauschte dem Echo ihrer Stimme. Ihr war klar, daß es den Literaturwissenschaftler Dr. Jonas Kaulard freuen würde, sie so zu erleben. Obwohl zwischen ihnen nur noch die rein beruflichen Bande zwischen Lektor und Autorin existierten, schwang noch immer etwas von dem anderen mit. Sie war vor allem auf seine Stimme hereingefallen, die sie eingelullt hatte; vielleicht hatte es ihr auch die fast altväterliche Ausdrucksweise angetan, derer er sich bediente, sofern er nicht wie jetzt in Rage geriet. Er konnte sehr eifersüchtig und sehr zynisch sein.

»Scheint nicht besonders gelaufen zu sein, oder?«

»Der Typ war miserabel, wollte mich darauf festnageln, daß Franziska so was wie mein Abziehbild ist.«

»Ist sie das nicht?«

»Sie ist fünfzehn und tut’s für einen Big Mäc oder einen Ring aus der Wundertüte.«

»Hast du den Vertrag schon unterschrieben?«

Das Vertragsangebot, von dem Hanna ihm erzählt hatte, wurmte ihn. Und wie! Der Gedanke, sie an die Konkurrenz zu verlieren, raubte ihm den Schlaf, was kein Wunder war: Schließlich war sie sein bestes Pferd im Stall. Trotzdem war es unfair, über diese Frage eine Gemeinsamkeit mit ihrer Protagonistin herzustellen, die es so nicht gab. Er benutzte das Wort »Vertrag« als Synonym für »Wundertüte«, das hörte sie heraus.

»Ich bin ein freier Mensch, die Konditionen im anderen Verlag sind einfach besser, allein das Fixum ist doppelt so hoch. Übrigens komme ich nicht aus der Gosse.«

»Unser Verleger wäre bereit, dir entgegenzukommen.«

Na bitte! Warum nicht gleich so? »Wieviel?«

»Wir halten mit.«

Zu schnell, viel zu schnell! Wenn der Verleger sein Angebot so bereitwillig verdoppelte, hatte er sich schon andernorts abgesichert, darauf wettete sie. Einer, der seine Leute anraunzt, wenn sie für eine Kurzmitteilung einen DIN-A-4-Bogen verschwenden, geht kein sechsstelliges Risiko ein. Hanna wagte einen Schuß ins Blaue, immerhin wußte sie, daß sowohl die »Riegel-Film« wie auch die »Alfa Pictures« Interesse an einer Verfilmung ihres neuen Buches signalisiert hatten. Mehr als Interesse, und weil die Amis im Moment schon genug Probleme mit der Vermarktung ihrer »Lolita« hatten, tippte sie auf die deutsche Produzentin, die schon so manches heiße Eisen angepackt hatte.

»Was habt ihr bei Sabrina Riegel für die Filmrechte an meiner Franziska herausgeholt?«

Sein Räuspern war ähnlich verräterisch wie die Zahlenkombination auf dem Display ihres Handys. Er wand sich, und Hanna fing an, ihre alte Freude an diesem Spiel wiederzuentdecken. Genau das war es, nur darauf kam es an. Jagen, abjagen, dem anderen immer eine Nasenlänge voraus sein, das galt im Job ebenso wie in der Liebe.

»Du weißt also schon ...« – nächstes Räuspern –, »aber du weißt ja selbst, eine Option ist noch kein fester Vertrag, tausend Kleinigkeiten können dazwischen kommen ...«

Hielt er sie für ein Greenhorn? »Wieviel habt ihr ausgehandelt?«

»Zehntausend.«

»Ich rede nicht von der Optionssumme.«

»Nun, wir sind uns noch nicht ganz einig, am liebsten wäre der Riegel ein buy out gewesen, mit dem sie alle Rechte erwirbt, ohne einen Pfennig extra zahlen zu müssen, wenn es zu einer Verfilmung im Ausland oder einer Version fürs Fernsehen kommt ...«

»Okay, ihr habt hart gerungen, und was ist dabei rausgekommen?«

»Du bist ganz schön tough. Irgendwann ...«

Es interessierte Hanna nicht, welche Schreckgespenster ihr Lektor beim Blick in die Zukunft vor sich sah. Seine Perspektive war nicht die ihre, sie redeten verschiedene Sprachen, hatte er das noch immer nicht begriffen? Allerdings gehörte Jonas Kaulard in seiner Zunft zu den Besten, so gesehen wäre sie dumm, ihn in die Wüste zu schicken. Die Summe, die er nannte, gefiel ihr, signalisierte sie doch ihren gestiegenen Marktwert.

»Wetten, daß die Konkurrenz bereitwillig erhöht, wenn sie von dem Abschluß bei der Riegel hört?«

Er fluchte. Er erhöhte nochmals. Hannas Pulsschlag zog mit, und wie fast immer, wenn das Jagdfieber in ihr die Oberhand gewann, egal, was der Auslöser dafür war, sendete ihr Körper die Signale von Lust. Ihre Brustwarzen waren nun winzige Dolche, ihr Schoß wurde feucht, alles in ihr lechzte nach Erlösung. Durch ihn? Warum nicht durch ihn? Es hatte Momente gegeben, die sehr schön waren.

»Du könntest mich gleich mit einer Flasche Champagner besuchen und mit mir auf meine Heimführung anstoßen. Ich bleibe euch erhalten.«

Um noch einmal in ihr Bett zu gelangen, würden einige ihrer abgelegten Liebhaber durch brennende Reifen springen. Wenn es den Mann erst einmal gepackt hatte, spielte es keine Rolle mehr, wie bieder er war. Dann vergaß sich sogar ein Jonas Kaulard. Einmal hatte er sich sogar im Lastenaufzug des Verlags vergessen, und der Verleger hätte sie um ein Haar erwischt.

»Nein.«

»Wie bitte?« Hatte sie richtig gehört? Hatte er tatsächlich abgelehnt?

»Ich werde nicht zu dir nach Hause kommen. Wir können gerne im Verlag oder in einem Restaurant miteinander anstoßen.«

»Hast du Angst?«

»Ich habe keine Lust, das noch mal durchzumachen.«

»Das?« Ihr Mund spitzte sich, produzierte Töne, die rauh und geil waren; ihr machte er nichts vor, wie ehrenhaft er seinen Antrag damals auch verpackt hatte. Männer, die keine andere Chance mehr sahen, bei ihr zum Zug zu kommen, griffen gern zum letzten Mittel, um die Trophäe dingfest zu machen. Ein Heiratsantrag war nichts anderes als ein Exklusivvertrag, mit dem die Nebenbuhler ausgeschlossen wurden.

Er legte auf. Leise. Weil er sich ertappt fühlte? Hanna hätte sich gern eingeredet, daß es so war, doch während sie sich Jonas feige und verlogen und folglich schwach ausmalte, begann sie selbst zu zittern. So sehr, daß sie sich schleunigst hinsetzen mußte. Ihr Blick fiel auf den Umschlag, in dem die Anzeige aus Versmold gesteckt hatte, und es erschien ihr wie ein böses Omen, daß sie den Umschlag nicht ebenfalls zerrissen hatte.

Was sollte sie tun? Sich wie jene drei berühmten Affen verhalten: nichts sehen, nichts hören und nichts sagen? Hatte sie vielleicht schon viel zu lange die Augen verschlossen? Wer sagte denn, daß ihre Schwester es nicht förmlich darauf anlegte, Antonia zu ihrem Ebenbild zu formen? Eine Ähnlichkeit bei Haarfarbe und Knochenbau war nicht zu leugnen, die Natur höchstpersönlich hatte eine Querverbindung gezogen, doch alles andere? Es kam gewiß nicht von ungefähr, daß Antonia mausgrauen Schlabberkleidern und stundenlangen Dehnübungen an der Stange und Tschaikowsky – welcher normale Teenager schwärmte schon für Tschaikowsky? – den Vorzug gab und tausend Ausreden fand, um sich nicht von ihrer leiblichen Mutter verwöhnen zu lassen: Schicke Klamotten, Popkonzerte, Spaßbad, Reisen oder ein Besuch im »Phantasialand«, andere Mädels in ihrem Alter würden sich darum reißen.

Lisa liebte Kinder, das stimmte; sie würde auch niemals einem Kind etwas zuleide tun, am allerwenigsten ihrer Nichte. Doch Liebe konnte die seltsamsten Formen annehmen, und je enger der Radius eines Menschen war, um so heftiger verbiß er sich in dieses Lieben. Lisa, die sanfte Lisa, war eine Liebende der ganz besonderen Art; mit sanften Ködern ließ sich oft noch viel mehr erreichen als auf die harte Tour. Lisa hatte schon sehr viel erreicht; sie hatte Antonia auch den Floh mit dem Ballett ins Ohr gesetzt, und sie strebte nach mehr, das lag auf der Hand. Man mußte ihr einen Riegel vorschieben.

Doch wie und wann? Am Telefon? Besser nicht! Nicht jetzt.

Neue Zweifel überrollten Hanna. Die Abfuhr von Jonas steckte ihr noch immer in den Knochen, von allen Seiten sprangen sie höhnische Fratzen an, wollten schon immer gewußt haben, daß sich die Waagschale früher oder später zur anderen Seite neigen würde, und dann wäre Schluß mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der Hanna Altweg.

***

Hanna hielt es in ihrer Wohnung nicht länger aus. Wenigstens der Regen hatte mittlerweile aufgehört, und so fuhr sie mit offenem Verdeck los, genoß den Fahrtwind wie den Vorgeschmack einer nahen Liebkosung und ebenso die bewundernden Blicke, die ihr folgten. Sie spürte, daß sie langsam wieder auflebte. Das Glück blieb ihr hold, auf Anhieb fand sie einen freien Parkplatz in unmittelbarer Nähe des »Before«. Eine Bar mit Berliner Flair, die Zimmerdecke voller Rosen und echte Rosen auf den Tischchen, dazu schummriges rotes Licht und Live-Musik und lauter junge Leute, die bewiesen, wie gefragt das Lebensgefühl von gestern auch bei der Jugend von heute war. Sogar die Mode lehnte sich wieder an die Zeit an, in der Hanna angefangen hatte, ihre Macht zu entdecken. Nabelfreie Caprihosen waren damals wie heute der letzte Schrei, und Hanna hatte nicht nur die Hauptfigur ihres jüngsten Romans in diese Hosen gesteckt, sondern trug sie auch selbst. Sie konnte es sich leisten, das bestätigte ihr die Spiegeltür vis-à-vis ebenso wie die Blicke ringsum.

»Starke Hose.« Der Knabe, der das sagte, meinte sie, soviel war klar. Er stand mit seinem Kumpel an der Theke im Stil der fünfziger Jahre und saugte an einem neongrünen Strohhalm. Er hatte zwei Stecker im linken Nasenflügel, es mußte sich seltsam anfühlen, wenn man darüberstrich. Hannas Finger zuckten, so als wollten sie auf der Stelle ausrücken und dem Geheimnis der beiden Metallpunkte im empfindlich dünnen Fleisch dieser Nase nachspüren. Noch trennten sie etliche Meter von dem Duo. Auf die Entfernung schätzte sie den mit den Nasensteckern auf Mitte Zwanzig.

»Capri läßt grüßen«, erwiderte sein Nachbar nun, er versuchte nicht einmal, sein Starren auf Hannas Hose zu kaschieren. »Ich glaub’, die kenne ich woher.«

»Aus einer von deinen Seifenopern?«

»Dafür ist sie zu alt, sieh sie dir mal genau an, die ist mindestens ...« Den Rest schluckte der Refrain von Who the fuck is Alice?, den die meisten mitsangen.

Hanna sagte sich, daß sie besser nicht hierher gekommen wäre. Nicht heute. Sie hätte es wissen müssen. Nur mühsam widerstand sie der Versuchung, die Perlmuttdose aufzuklappen, die ein Geschenk von Jonas war. Manchmal setzte sich etwas Puder ab, dunkelte nach, hob hauchzarte Fältchen in den Augenwinkeln hervor. »Zu alt«, hatte der Kerl gesagt, so als ob sie schon zum alten Eisen gehörte.

»Magst du einen ›Charly Chaplin‹?« Der neongrüne Strohhalm befand sich nun unmittelbar neben ihrem Ellbogen. Irrtum ausgeschlossen, sie erkannte auch die Stimme wieder. Starke Hose. Hatte er es ernst gemeint? Meinte er es noch immer ernst? Hanna hob den Kopf und sah ihn an, probierte ein Lächeln.

»Ein ›Fireball‹ wäre mir lieber.«

»›Fireball‹ hört sich gut an. F-e-u-e-r-b-a-l-l.« Er starrte auf ihren nackten Nabel, seine Zungenspitze schnellte vor, befeuchtete einen Mundwinkel, dann den anderen.

»Er ist gut.« War ER gut? Ihre Augenpaare bewegten sich nun auf einer Höhe.

»Und was magst du noch außer heißen Hosen und feurigem Gesöff aus der Karibik?«

»Die passende Musik.«

»Tanzt du auch?« Er bewegte die Hüften. Sehr schmal, kein Gramm Fett, ohne Gürtel würde er glatt die Hosen verlieren.

Hatte sie ihm geantwortet? Hanna wußte es nicht, vielleicht hatte sie auch bloß ihre Augen sprechen lassen. Plötzlich war alles wieder da, sie war wieder stark, sie spürte ihre Wirkung, las sie an seinen Händen ab, die das Glas umklammerten, während er ein Bein vorschob und mit seinem Knie ihr Knie berührte, schwankend zwischen Schüchternheit und Forschheit. Die Kommentare hinten an der Bar konnten ihm nichts mehr anhaben, er hatte Feuer gefangen, überall. Ihre Hand griff nach seinem Arm, der von der Theke gerutscht und an der Stelle liegengeblieben war, wo sich der Jeansstoff nun merklich spannte.

»Wo?« fragte er.

»Bei mir.« Sie ging vor, ließ ihn einsteigen, startete, führte ihm vor, was dieses Gefährt mit ihr am Steuer hergab, ließ sich forttragen vom Rausch der Geschwindigkeit und der Vorfreude auf das Ziel, das immer näher rückte. Gleich. Manchmal genügte wirklich ein einziger guter Fick, um die Welt wieder ins Lot zu bringen.

»He, mach mal halblang, was glaubst du, was meine Freundin sagt, wenn die ’nen Anruf aus dem Krankenhaus bekommt? Gehört die Kiste überhaupt dir?«

»Was glaubst denn du?« Hanna verabscheute Zweifler.

»Hör mal, ich will keinen Arger. Auch nicht mit deinem Alten oder so.«

Sie riß das Steuer nach rechts und trat auf die Bremse. »Steig aus!«

»Aber ...«

»Sonst tut’s weh.« Sie zeigte, wo, ihre Hand deutete lediglich die Richtung an, aber das genügte. Ein Feigling, daran änderte auch seine Jugend nichts.

Kapitel 2
Der Verriß

Das Verlagshaus, ein nüchterner Bau, lag im Industriegebiet. Das Lektorat befand sich ebenso wie die Räume der Verlagsleitung im obersten Stockwerk, wo man kein Fenster mehr öffnen konnte, seit die Klimaanlage eingebaut worden war. Das lag mittlerweile fast ein Jahr zurück, trotzdem war Jonas Kaulard noch immer versucht, den Hebel zu kippen, den es nicht mehr gab. Obwohl er wußte, daß das beharrlich surrende Gerät ihn optimal mit Frischluft versorgte, hatte er an Tagen wie diesem nach wie vor das Bedürfnis, das Fenster vor seinem Schreibtisch aufzureißen. Vollkommen zwecklos. In letzter Zeit fiel es ihm schwer, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Er ließ den Metallgriff rasch wieder los, dennoch konnte er seine Augen nicht von dem Hof dort unten lösen. Ein offenes Rolltor, ein Gabelstapler, ein LKW, kein besonders interessanter Anblick. Außerdem hatte er zu arbeiten, das Manuskript lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Er zögerte noch, was nicht am Text lag, der auf wunderbare Weise die Abenteuer einer Seereise von Venedig nach Beirut anno 1434 beschrieb. Worte, die sich nicht in ihn hineinbohrten und festkrallten wie die von Hanna. Es handelte sich um einen geistvollen Reiseroman und nicht um seichte Bekenntnisse eines Schmuddelkindes.