Unsichtbar und trotzdem da!, 3, Magier unter Verdacht

Illustrationen von Stefani Kampmann

KOSMOS

Umschlagillustration Stefani Kampmann, Berlin

Umschlaggestaltung von Michael Kimmerle, Stuttgart

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13803-8

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Kapitel 1

„Eine Eins?“ Jenny Schneider sah Addi Felsfisch ungläubig an.

„Ja!“ Addi nickte so heftig, dass ihm sein langer Pony vor die Augen fiel. Er schob die Unterlippe vor und blies die Haare zur Seite.

Hinter ihm auf der Straße fuhr ein gelber Doppeldeckerbus vorbei und hupte den Fahrer eines dicken schwarzen Mercedes an, der seinen Wagen mit laufendem Motor in zweiter Reihe parkte, ausstieg, ohne den Busfahrer eines Blickes zu würdigen, und quer über den Bürgersteig in einem Fleischergeschäft verschwand.

Jenny und Addi standen am Roseneck und warteten auf ihren Freund Ağan. Wie so oft in letzter Zeit hatten sie sich nach der Schule hier verabredet. Jenny, Ağan und Addi kamen nämlich aus verschiedenen Berliner Bezirken. Jenny lebte mit ihrer Mutter in Lichtenberg, Ağan kam aus Neukölln und Addi lebte in der großen Villa seines Vaters im Grunewald.

Dass sie sich gerne am Roseneck trafen, hatte einen besonderen Grund. Von hier konnten sie zu Fuß in die Villa zu gehen, wo es im Garten einen Tennisplatz und einen Swimmingpool gab. Außerdem wartete dort Addis Äffchen Goffi auf die drei. Besonders Ağan hatte den Geoffroy-Klammeraffen ins Herz geschlossen.

Das Roseneck lag in Wilmersdorf und keiner wusste, warum es eigentlich so hieß. Hier wuchsen nämlich keine Rosen und es war auch keine Ecke, sondern eine ziemlich breite Straßenkreuzung, an der ein Hochhaus in den Himmel ragte. Dahinter lag der Grunewald mit seinen Villenvierteln. Am Roseneck gab es viele teuere Feinkostgeschäfte, in denen fast den ganzen Vormittag über immer wieder Männer in feinen Anzügen verschwanden, um sich im Stehen ein Brötchen mit Fleischsalat oder Eisbein mit Kartoffelpüree einzuverleiben.

Außerdem aber gab es auf der anderen Straßenseite auch noch einen kleinen Kiosk, den Addi über alles liebte. Hier versorgte er sich mit Süßigkeiten, Eis und Lesestoff. Der Kioskbesitzer ließ ihn auch in Zeitschriften reinlesen, wenn sich Addi nicht sicher war, ob in dem Heft etwas stand, was er wirklich wissen wollte.

„Wenn es dir gefällt, wirst du das Blättchen schon kaufen“, sagte der ältere Herr in der Strickjacke immer. „Und wenn du es nicht lesen willst, dann lesen es die anderen. Stammkunden haben bei mir jedenfalls Lesefreiheit!“

Das fanden die übrigen Unsichtbar-Affen auch sehr cool. Unsichtbar-Affen nannten sich Jenny, Addi und Ağan, weil sie als Kinder von den Erwachsenen häufig übersehen wurden. Das konnte nerven – hatte aber auch Vorteile, besonders wenn sie als Detektive unterwegs waren. Wer unsichtbar war, sah mehr, und oft genau die Dinge, die eigentlich niemand sehen sollte.

„Wo bleibt Ağan denn nur?“ Addi sah suchend den Hohenzollerndamm hinunter.

„Kommt bestimmt gleich, vorausgesetzt, er hat in der U-Bahn nicht wieder einen Dschinn getroffen“, kicherte Jenny.

„Quatsch“, sagte Addi. „Das war doch nur Zufall neulich.“

Ağan glaubte sehr an Geister und hatte vor einiger Zeit den Anführer einer Berliner Diebesbande zunächst für einen Dschinn gehalten, bis die Unsichtbar-Affen den Fall aufgeklärt hatten.

In diesem Moment kam Ağan in Sicht.

Allerdings bewegte er sich ein wenig ungewöhnlich, um nicht zu sagen: höchst auffällig die Straße hinunter. Anders als sonst flitzte er nicht mit dem Skateboard den Bürgersteig entlang, sondern sprang von der Deckung eines geparkten Autos am Straßenrand in die nächste.

Jenny zog die Stirn kraus. „Was soll das denn? Übt er etwa Anschleichen?“

„Nee“, sagte Addi. „Er sieht sich ja dauernd um! Vielleicht ist ihm jemand auf den Fersen? Ich kann allerdings keinen Verfolger sehen.“ Er winkte mit beiden Armen. „Hey, Ağan! Hier sind wir. Was machst du denn da?“

Keuchend jagte Ağan hinter einem grauen Cinquecento hervor, raste quer über den Bürgersteig auf Jenny und Addi zu und sprang hinter den Kiosk in den Schatten.

„Hallo, meine Freunde!“, keuchte er. „Ist da hinter mir zufällig etwas Rotes?“

„Was Rotes?“ Jenny blinzelte und hielt sich die Hand über die Augen. „Dahinten kommt ein roter VW an.“

„Und eine Frau trägt eine rote Handtasche am Arm“, fügte Addi hinzu.

Ağan schüttelte den Kopf. „Ich meinte eigentlich einen Sessel!“

„Einen roten Sessel? Auf der Straße! Der dich verfolgt … Hm, alles klar!“ Jenny zeigte Ağan einen dreifachen Vogel. „Tut mir leid, aber da muss ich dich enttäuschen. Dir kommt ausnahmsweise kein roter Sessel nachgerannt!“

„Uff!“ Ağan kroch aus seinem Versteck hervor. „Da bin ich aber erleichtert.“

„Und ich erst!“ Addi sah seinen Freund neugierig an. „Aber sag mal, wie kommst du denn auf diese schräge Idee?“

„Ach!“ Ağan winkte ab. „Da war nur so was Rotes eben. Wisst ihr, bei mir in der Straße läuft seit Tagen ein roter Sessel rum. Da dachte ich eben, dass er vielleicht hinter mir her ist.“

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„Ağan!“ Jenny baute sich vor ihrem Freund auf. „Es wäre sehr schön, wenn du deine Geistergeschichten heute mal beiseitelassen könntest. Heute hat Addi nämlich die sehr viel bessere Geistergeschichte zu bieten.“

„Du hast einen Dschinn gesehen?“ Aufgeregt beugte sich Ağan vor.

„Nein!“, sagte Addi. „Ich habe eine Eins geschrieben!“

„Das verstehe ich nicht“, meinte Ağan. „Was hat denn eine Eins mit einem Dschinn zu tun?“

Jenny grinste breit. „Na, denk doch mal nach! Addi und ’ne Eins, das ist doch wie ein UFO, das hier mal kurz zwischenlandet, damit sich die Mannschaft ein Eis am Stiel holen kann.“

Ağan blickte nachdenklich zum Himmel. „Du meinst also, es ist recht unwahrscheinlich …“ Dann rief er plötzlich: „Aber Addi hat doch neulich auf dem U-Bahnhof mit uns geübt, als wir dem U-Bahn-Dschinn nachgestellt haben!“ Er ließ den Blick wieder aus den Wolken auf die Straße sinken und sah seine Freunde erwartungsvoll an.

„Haha, sehr komisch!“ Jenny schüttelte bedauernd den Kopf. „Aber erstens war das kein Dschinn, sondern ein ganz gewöhnlicher Dieb. Und zweitens muss man für eine Eins alles richtig haben.“

„Hab ich aber!“, beschwerte sich Addi.

„Und Geister gibt es auch!“, sagte Ağan.

„Das ist doch alles Napfsülze“, gurrte Jenny.

„Was ist Napfsülze?“, erkundigte sich Ağan.

Addi verzog den Mund und sah auf das ehemals weiße und mit den Jahren leicht grünlich angelaufene Hochhaus. Die Straßenuhr dicht neben dem winzigen Kiosk darunter zeigte halb zwei Uhr mittags.

„Das ist Wurst und Fleisch und Ei in so einer durchsichtigen salzigen Puddingmasse oder so was“, erklärte er. „Emma, unsere Haushälterin, macht das manchmal für meinen Vater, wenn er von einer Geschäftsreise aus dem Ausland zurückkommt. Wenn Papa das isst, fühlt er sich gleich wieder richtig zu Hause.“

Ağan verzog das Gesicht. „Wurst und Fleisch und Ei in salziger Puddingmasse? Und das kann man essen?“

„Das ist voll lecker“, rief Jenny empört. „Echt, Ağan! Meine Oma macht das auch manchmal. Bei ihr heißt es allerdings nicht Sülze, sondern ganz fein Aspik.“

Ağan schüttelte verständnislos den Kopf.

„Es sieht ein bisschen so aus wie die Schicht oben auf einem Obstkuchen“, erklärte Addi. „Nur dass dadrin keine Erdbeeren oder Pfirsiche sind, sondern gekochtes Fleisch.“

Ağan schluckte. „Also, na ja, ehrlich … Ich finde, es klingt glibberig, wabbelig und genauso wenig lecker wie brauner Wackelpudding. Wie eklige Glibberkacke!“

„Es ist aber keine eklige Glibberkacke!“, begehrte Addi auf. „Und es ist auch keine Napfsülze, dass ich eine Eins in Erdkunde geschrieben habe. Das ist die blanke Wahrheit! Und es kam wirklich vom Üben!“

Jenny lachte. „Ich glaube es ja nicht. Dann muss ich dir wohl gratulieren!“ Sie ging auf Addi zu und boxte ihn freundschaftlich in die Seite. „Kann ich ja auch verstehen, dass die erste Eins im Leben einen etwas aufregt! Herzlichen Glückwunsch!“

Ağan strahlte Addi ebenfalls glücklich an. „Ich habe deinen Worten von Anfang an Glauben geschenkt, mein Freund. Und es wäre sehr schön, wenn ihr mir auch glauben würdet. Bei mir in der Straße wandert wirklich ein roter Sessel herum. Das könnt ihr heute selbst überprüfen. Ich habe nämlich die große Ehre, euch zum Essen bei der Familie Enc einzuladen.“

„Wie kommt das denn?“, erkundigte sich Jenny verblüfft.

Ağan wackelte mit dem Kopf. „Als meine Schwester Yildiz meinem Vater erzählt hat, dass wir neulich bis über den Torschluss hinaus auf dem Bahnhof mit Addi Geografie gelernt haben, hat mein Vater sich so gefreut, dass er euch beide zum Essen einladen wollte. Wir müssten nur noch Goffi holen und dann zu uns fahren.“

Jenny leckte sich neugierig die Lippen. „Was kochen denn deine Eltern so?“

„Köstlichkeiten“, sagte Ağan. „Meistens gibt es kandierte Augäpfel mit Schafsgehirn und Zungengelee …“

„Niemals! So was esse ich nicht.“ Jenny wich spontan einen Schritt zurück. „Was soll das denn überhaupt sein?“

„Die persische Variante von Napfsülze“, erklärte Ağan mit Unschuldsmiene.

Addi grunzte erleichtert. „Uff, ein Witz! Und Jenny ist drauf reingefallen!“

„Ach ja?“ Jenny lachte etwas gequält. Dann meinte sie schnippisch: „Einen Freund mit einer einzigen Eins im Leben und einen mit Schafshirn in Glibbergelee! Mann, geht’s mir gut!“

Ağan nickte ernsthaft. „Allerdings solltet ihr euch auch den roten Sessel ansehen. Er sieht aus wie eine große rote Muschel, die durch die Straße wandert.“

Jetzt brach Jenny in helles Gelächter aus. „Das wird ja immer besser.“

Auch Addi gluckste fröhlich. „Dann hatte der wohl Wandertag!“

Doch Ağan sah seine Freunde fest an. „Wohl kaum, denn ich glaube nicht, dass er noch in die Schule geht. Im Gegenteil, ich bin sicher, dass ein Dschinn …“

Jenny riss die Augen auf und raufte sich die Haare. „Ağan, das ist doch voll irre! Ich meine, wenn du einen Dieb für einen Dschinn hältst, okay, das kann ich ja sogar noch irgendwie verstehen. Aber ein Möbelstück …“

„… kann ja nicht einmal laufen“, bekräftigte Addi Jennys Worte.

„Das ist falsch!“ Ağan begann mit den Fingern in die Luft zu malen. „Dieser Sessel spaziert seit Tagen durch meine Straße. Er ist eines Tages aus dem Nichts aufgetaucht und beobachtet seitdem die Menschen.“

„Und warum sollte er das bitte tun?“, fragte Jenny.

Ağan zuckte die Schultern. „Wenn ich ein Sessel wäre und die Leute würden immer alle auf mir rumsitzen, dann würde ich mir ihre Welt auch ansehen wollen. So oft kommen Sessel ja nicht auf die Straße. Vielleicht ist er geflohen oder so.“

Jenny schüttelte den Kopf. „Ey, jetzt hab ich echt genug von dem Sessel-Dschinn!“

„Da ich mir das schon gedacht habe, schlage ich vor, wir holen jetzt einfach Goffi und gehen los.“ Ağan strahlte Addi und Jenny an. „Unser kleiner Freund muss nämlich mit nach Neukölln. Yildiz findet ihn doch so süß!“

„Zum Glück weiß deine Schwester nicht, dass Goffi ein ausgebildeter Taschendieb ist“, lachte Jenny. „Sonst würde sie ihn sofort festnehmen.“

Ağan nickte. Yildiz war Streifenpolizistin und ließ, was Recht und Ordnung anging, absolut nicht mit sich spaßen.

„Mann!“, rief Addi. „Seid nicht so gemein! Goffi hat uns schon sehr geholfen.“

„Das ist wahr!“, bestätigte Ağan. „Trotzdem sollte Yildiz seine verborgenen Talente besser nicht zu sehen bekommen. Doch das kriegen wir hin! Los jetzt, meine Freunde!“

Und damit machten sich die Unsichtbar-Affen auf den Weg zur Villa Felsfisch.

Kapitel 2

Wenig später spazierten die Unsichtbar-Affen durch die Neuköllner Karl-Marx-Straße. Ağan hatte, wie fast immer, wenn sie mit Goffi unterwegs waren, das Klammeräffchen auf der Schulter.

Vor einer hohen alten Holztür in einem mehrstöckigen Wohnhaus machte er halt. „Da sind wir!“

Jenny sah sich um. „In deiner Straße wächst ja kein einziger Baum!“

Ağan schüttelte den Kopf. „Doch, du siehst sie nur nicht!“

„Verstehe. Dann gibt es hier vielleicht Geisterbäume?“, neckte ihn Jenny.

„Eher einen ganzen Geistergarten.“ Ağan fasste nach der Türklinke.

„He!“, rief Addi. „Wo ist denn überhaupt der seltsame Sessel, von dem du gesprochen hast?“

Ağan fuhr zusammen. „Das weiß ich doch nicht. Gestern stand er noch da!“ Er drehte sich um und zeigte vor das Schaufenster eines Ladens, in dem man sich jede Art künstliche Fingernägel aufsetzen lassen konnte.

Jenny kicherte. „Oh, vielleicht ist dein schöner Sessel ja da drin und lässt sich die Nägel machen!“

Ungnädig sah Ağan sie an. „Natürlich nicht. Er kann doch keine Stufen steigen – und wie ihr seht, gibt es vor dem Laden welche!“

Addi brüllte los vor Lachen. „Sehr gut, Ağan! Eins a gekontert! Da staunst du, was, Jennymädchen!“

Doch noch ehe Jenny etwas erwidern konnte, erklang eine wütende Stimme aus einer Toreinfahrt neben dem Nagelstudio: „Was machst du denn hier, du verschlissenes Mistding! Kaum guckt man mal eine Minute nicht hin, und schon ist hier wieder alles zugemüllt. Können die Leute ihren verdammten Schrott denn nicht einmal ordentlich entsorgen?! So eine Pest!“

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Im nächsten Moment schoss ein roter Sessel aus der Einfahrt, gefolgt von einem dicken Mann mit einem hochgezwirbelten Schnurrbart, der ihm bis unter die Ohrläppchen reichte. Es sah aus, als liefe der Mann dem Sessel nach und wolle ihn treten. Doch dieser rutschte auf seinen kurzen Holzbeinen vor ihm über den Bürgersteig wie eine Ente auf einem zugefrorenen See, knallte gegen einen Baum und blieb dort nach zweimaligem, wildem Schwanken stehen.

Erschrocken klammerte sich Goffi an Ağan und fauchte.

„Alles gut, Goffi!“, raunte Ağan ihm zu. „Das ist nur das übliche Sesseltempo! Man denkt immer, so schwere Dinge könnten sich nicht schnell bewegen, aber wie du siehst, können sie das sehr wohl!“

„Quatsch mit Soße!“, fuhr Jenny Ağan an. „Der Sessel ist nicht gelaufen, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock!“

„Ach ja?“ Ağan zeigte auf den wütenden Mann, der den Sessel jetzt eingeholt hatte und so aussah, als wolle er gerade zutreten. Dann hielt der Mann plötzlich inne und sagte: „Na, besser ist es, du bist aus dem Weg, du Eumel!“ Er drehte sich schnaufend um und verschwand wieder in der Einfahrt. Unmittelbar darauf wurde ein Motor angelassen und ein Motorrad mit einem Beiwagen brummte auf die Straße. Darauf saß der Mann mit dem zwirbeligen Schnauzbart.