Unsichtbar und trotzdem da!, 4, Jagd in den Straßen

Illustrationen von Stefani Kampmann

KOSMOS

Umschlagillustration Stefani Kampmann, Berlin

Umschlaggestaltung von Michael Kimmerle, Stuttgart

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
weitere Informationen zu unseren Büchern,
Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und
Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-13804-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Kapitel 1

Obwohl Jenny Schneider an der Landsberger Allee aufgewachsen war und die Straße besser kannte als jede andere Straße in Berlin; obwohl sie die Gesichter der Menschen, die hier täglich an der Tramhaltestelle warteten, alle schon einmal gesehen hatte und obwohl Jenny alle Hundebesitzer und ihre Hunde, die hier lebten, hätte malen können: An diesem Donnerstag geschah etwas, was Jenny niemals für möglich gehalten hätte. Und es war schrecklich.

Gerade als Jenny mit zwei schweren Einkaufstüten, die ihr die Arme lang zogen, über die Fußgängerampel ging und das Ampelmännchen mit seinem viel zu großen Hut grün vor dem grauen Himmel leuchtete, schleuderte aus einer breiten Nebenstraße ein Auto auf die noch viel breitere Fahrbahn der Landsberger Allee und schoss dort mitten auf der Straße auf sie zu.

Das Auto war kreischend gelb und fuhr schneller als jedes andere Auto, das Jenny je gesehen hatte. Der Motor brummte wie eine wütende Wespe, die gegen ein geschlossenes Fenster fliegt. Und der Fahrer machte keine Anstalten zu bremsen. Im Gegenteil: Er hielt genau auf Jenny zu und gab auch noch Gas.

Zuerst sah Jenny das Auto nur aus dem Augenwinkel. Aber jetzt drehte sie ihm den Kopf zu.

Das kann doch nicht sein!, dachte sie und ging schneller.

Aber da wechselte auch das Auto die Spur.

Der jagt mich!, dachte Jenny und blieb vor Angst stehen.

Im selben Moment war der Wagen auch schon da. Orangerote Flammen züngelten auf der grellgelben Lackierung.

Zum Glück, dachte Jenny noch, geht hier gerade außer mir keiner über die Ampel!

Das Auto war jetzt ein fies dröhnender, viel zu schneller Feuerblitz, der genau auf sie zuraste. Jenny wollte irgendetwas machen, wollte aus dem Weg. Aber das ging nicht. Das gelbe Auto war bereits viel zu nah, wie eine finstere, schwarze Gewitterwolke, die immer größer wurde und die nichts mehr aufhalten konnte.

Abbildung

Jenny streckte abwehrend die Arme aus. Und dann machte das Auto einen kleinen Schlenker und hupte dabei. Etwas traf Jenny. Es war ein unausweichlicher Zusammenstoß, wie damals, als sie als kleines Mädchen beim Bockspringen noch nicht drüberkam und aus vollem Anlauf mit dem Bauch gegen das alte Leder klatschte. Es war wie die Ohrfeige, die ihr ihr Vater einmal gegeben hatte, kurz bevor er und ihre Mutter sich getrennt hatten.

Im nächsten Augenblick wurden ihr die Henkel der Plastiktüten aus den Händen gerissen. Eine unglaubliche Gewalt stieß sie zur Seite. Direkt vor ihrem Gesicht zog das gelbe Auto mit der leuchtenden Flammenspur vorbei. Jenny drehte sich einmal um sich selbst wie ein Kreisel. Dann wurde sie nach vorn geschleudert.

Ihre Hände und Knie stießen auf harten Asphalt. Jenny sah, dass sie sich die Haut an den Handballen aufschürfte. Ihr langes Haar fiel ihr vor die Augen. Konservendosen kullerten unter ihrer Nase über die Straße und das Glas mit Apfelmus für ihre Großmutter, die Kartoffeln, die Petersilie, der Quark. Eine Flasche mit Pflaumensaft zerbrach, als sie gegen den Rinnstein krachte.

Jenny schrie auf. Aber da hupte der Fahrer schon wieder. Laut und anhaltend und mit voller Lautstärke, als würde er lachen und sich, so fies er nur konnte, über sie lustig machen. Wieder brummte der Motor laut auf.

Und dann war es auf einmal still, ganz still.

Jennys Handflächen, ihre Ellbogen, ihre Knie brannten. Sie merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Alles tat weh. Sie fühlte sich wie ein zerplatzter Regentropfen, der unter einem dreckigen Autoreifen zerquetscht wird. Am liebsten wollte sie liegen bleiben. Sie wollte die Arme ihrer Mutter um sich spüren, die sie aufhoben und an sich drückten. Sie wollte weinen und ihren Kopf an die Schulter ihrer Mutter legen. Sie wollte getröstet werden und sich ankuscheln.

Aber Jennys Mutter war auf Arbeit. Und um sie herum lagen nur Scherben. Niemand war da. Niemand stand an der Tramhaltestelle. Niemand hatte sie gesehen, und eine Saftpfütze breitete sich über den Teer aus und Kartoffeln rollten in sie hinein.

Erst jetzt fiel Jennys Blick auf das grüne Männchen mit dem großen Hut, das immer noch leuchtete. Und das plötzlich rot wurde.

Auf einmal wusste Jenny wieder genau, wo sie war. Sie lag auf der Landsberger Allee und ein Auto hatte sie angefahren. Sie lag auf der Straße, die sie besser kannte als jede andere. Denn hier wohnte sie in einem der Hochhäuser. Und immer, wenn sie oben am Fenster stand, sah sie von dort, dass hier jede Minute hunderte von Autos vorbeikamen. Und die fuhren über die Ampel, wenn sie Grün hatten. Und deswegen musste sie sofort aufstehen.

Jenny rappelte sich hoch.

Sie blickte nach rechts. Auf der anderen Seite der Ampel kamen die nächsten Autos schon. Wie eine breite Wand schoben sie sich auf sie zu.

Einen Augenblick später stand Jenny am Straßenrand, ohne dass sie richtig wusste, wie sie dahin gekommen war, und sah zurück auf die Straße. Hinter ihr türmten sich die Hochhäuser auf. Und vor ihr flogen unter den Rädern der vorbeizischenden Autos Kartoffeln und Glasscherben und Apfelmus umher. Ein großer weißer Fleck Quark breitete sich auf dem Asphalt aus. Dann zermatschten ihn die Räder und der Quark wurde schwarz. Wie Dreck, wie schmutziges Regenwasser, wie nichts …

Jenny sah die zerfetzten Einkaufstüten unter den Autos davonflattern. Flapp, flapp, flapp flogen sie hinter einem Auto kurz in die Höhe und wurden vom nächsten mitgerissen.

Jenny schluchzte.

Und plötzlich dachte sie: Wenn der Fahrer nur ein winziges Stück näher an mir dran gewesen wäre, dann wäre ich jetzt vielleicht wie eine zerrissene Plastiktüte oder wie der zermatschte Quark. Und dann dachte sie: Ich wäre vielleicht tot.

Augenblicklich überkam sie ein schrecklicher Zorn. Sie hob den Kopf und sah in die Ferne. Aber der gelbe Raser mit der Flammenspur war schon verschwunden.

Und das war Absicht gewesen. Er hatte Gas gegeben, anstatt vor der roten Ampel zu bremsen. Und er hatte dazu noch gehupt.

Jenny verstand nicht, warum der Autofahrer das getan hatte, aber sie wusste, dass sie nur knapp mit dem Leben davongekommen war.

In diesem Moment klingelte es in ihrer Jackentasche: Ring, ring, ring … Der alte Klingelton, den ihre Oma so sehr mochte und den Jenny deshalb auf ihrem Handy eingestellt hatte.

Jenny biss sich auf die Lippen, die ganz salzig und ein bisschen nach Blut schmeckten. Dann ging sie an den Apparat.

„Hallo?“, sagte sie und wunderte sich, wie dünn ihre Stimme klang.

„Jennymädchen, hier ist Addi!“, rief es fröhlich aus dem Lautsprecher. „Ağan und ich sind gleich am Alexanderplatz. Bist du schon auf dem Weg?“

„Nein“, hörte Jenny sich sagen. „Ich stehe an der Fußgängerampel bei mir vorm Haus. Könnt ihr sofort herkommen?“

„Jenny?!“ Addis Stimme klang plötzlich ganz zart und besorgt. „Was ist denn los? Ist alles okay?“

„Nein“, sagte Jenny. „Ich bin fast überfahren worden. Das war echt knapp. Kommt sofort her! Mir geht es total schlecht.“

Kapitel 2

Als Addi Felsfisch und Ağan Enc angerannt kamen, saß Jenny wie ein Häufchen Elend auf der Wartebank der Tramhaltestelle Arendsweg.

Jenny hatte die beiden vor einigen Wochen im KaDeWe kennengelernt, wo ihre Mutter als Köchin in der Mitarbeiterkantine arbeitete. Seitdem waren die Freunde in einige rätselhafte Kriminalfälle hineingeraten und hatten sich als erfolgreiche Detektive bewiesen. Jenny, Ağan und Addi nannten sich Unsichtbar-Affen, weil sie als Kinder von Erwachsenen oft übersehen wurden und weil sie sich außerdem immer wieder so affige Sätze anhören mussten wie: „Mach nicht so ein Affentheater!“ Affen mochten die Freunde allerdings sehr gerne, besonders Goffi, einen kleinen Geoffroy-Klammeraffen, den Addis Vater von einer Geschäftsreise nach Kirgisistan mitgebracht hatte und der von seinem Vorbesitzer zum Taschendieb ausgebildet worden war.

Ağan setzte sich rechts neben Jenny und fasste nach ihrer Hand. „Du blutest ja! Was ist denn passiert?“

Addi setzte sich auf die andere Seite und legte Jenny sanft einen Arm um die Schulter. „Was war denn das für ein Unfall? Bist du hingefallen?“ Er zog eine Grimasse. „So wie du gerade habe ich früher immer ausgesehen, wenn ich Wildschweinjagd gespielt habe.“

Jenny sah auf und plötzlich musste sie lächeln. „Wildschweinjagd?“

„Äh … ja.“ Addi war rot geworden. „Das war eine Zeit lang mein Lieblingsspiel.“ Rasch fügte er hinzu: „Natürlich war ich da noch sehr klein. Ich bin dann immer in den Grunewald gedüst, habe mir einen Speer gemacht und damit gegen Wildschweine gekämpft.“

„Nein!“ Ağan sah seinen Freund mit aufgerissenen Augen an. „Nicht wirklich, oder?“

„Nee“, gab Addi zu. „Nur gespielt! Habe ich doch gesagt. Ich habe mehr so Blätter aufgespießt, Baumstämme verprügelt, Büsche erledigt und so.“

Jenny stieß einen Schluchzer aus. „Ich wäre auch fast erledigt gewesen! Ich bin auch gejagt worden!“ Schwere Tränen kullerten ihr über die Wangen. Dann erzählte sie, was ihr widerfahren war. Wie sie bei Grün über die Straße gegangen war, wie der Raser in seinem gelben Auto aus dem Arendsweg angeschlittert gekommen war, wie er ihr mit dem Kotflügel die Tüten aus den Händen gerissen hatte und sie dabei hingefallen war.

„So ein Mistmensch!“, stieß Addi wütend hervor. „So ein fieser Kerl, so ein … so ein …“ Ihm fehlten die Worte.

„Eine Pest!“, vollendete Ağan den Satz. „Eine Riesenpest, eine Raserpest, ein Verkehrsrowdy!“

„Ja!“, stieß Jenny hervor. „Ein richtiges Arschloch!“

Addi und Ağan schwiegen erschrocken.

„Aber Jenny“, flüsterte Ağan dann. „So was sollen wir doch nicht sagen. Du hasst es doch, wenn Addi oder ich solche Ausdrücke benutzen!“

„Aber der hat mich fast totgefahren!“, rief Jenny. „Der hat überhaupt nicht aufgepasst. Im Gegenteil, der hat das sogar mit Absicht gemacht! Und fand sich auch noch toll dabei! Das war der schlimmste und gemeinste und niederträchtigste und übelste und brutalste Autofahrer, der mir je über den Weg gekommen ist!“

„Und illegal!“, nickte Ağan. „Das war ein Verbrechen!“

„Ja, eine Gefahr für andere!“, murmelte Addi. „Eine echt schlimme Gefahr!“

„Aber ich bin heil geblieben!“, sagte Jenny. „Nur ein paar Schrammen. Ich habe echt Glück gehabt!“

„Das hast du!“ Ağan lächelte froh. „Und darüber bin ich wirklich glücklich. Stell dir vor, wir hätten dich erst im Krankenhaus wiedergesehen! In einem meterdicken Gips oder so.“

„Oder in der Leichenhalle“, flüsterte Addi käseweiß.

„Bist du blöd?“ Jenny sprang auf. „Ich habe nur ein paar Kratzer!“ Sie verzog das Gesicht. „Aber die brennen ganz schön.“ Plötzlich keuchte sie auf. „Und die Einkäufe für meine Oma sind auch futsch!“

Jenny zeigte auf die Straße, wo von den Einkäufen nur noch ein paar dreckige Flecken und viele Glasscherben übrig geblieben waren. „Dabei wollte sie morgen Pellkartoffeln mit Quark für Mutti und mich machen. Oder Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Und das Geld ist auch weg.“

„Die Pellkartoffeln und die Kartoffelpuffer können wir retten!“ Addi sprang auch auf. „Ich habe Geld dabei! Komm, wir kaufen zusammen neu ein.“

Addi lebte mit seinem Vater in einer Villa im reichen Grunewald. Meistens war Addi dort allerdings allein mit der Haushälterin Emma, da Herr Felsfisch oft auf Geschäftsreise war. Addi hatte fast immer einige Euro in der Tasche.

„Echt, das würdest du machen?“ Jenny spielte verlegen mit einer Haarsträhne.

„Natürlich tun wir das!“ Ağan erhob sich. „Addi und ich kaufen alles noch einmal und lesen dir jeden Wunsch von den Augen ab. Außerdem tragen wir dir die Tüten nach Hause und passen auf dich auf.“

Jenny gluckste. „Ihr seid ja süß!“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Aber aufpassen kann ich auf mich alleine. So einen hundsgemeinen Raseridioten kann man einfach nicht vorhersehen. Den hättet auch ihr nicht gesehen. Den hätte niemand gesehen. Der ist eine allgemeine Gefahr!“

„Da hast du recht“, sagte Ağan und starrte nachdenklich in die nächste Welle von Autos, die die Landsberger Allee herunterfuhr.

Eine Stunde später saßen die Unsichtbar-Affen in Jennys Zimmer.

Sie hatten die neuen Einkäufe in den Kühlschrank gepackt und Jenny hatte sich die Knie und Ellbogen und Hände gewaschen. Nur noch einige dünne rote Schrammen kündeten von ihrem Sturz.

„Heute war ich nicht unsichtbar“, sagte Jenny. Sie stand am Fenster und blickte hinunter auf die Landsberger Allee.

Jenny und ihre Mutter wohnten im fünften Stock eines Hochhauses, das inmitten einer Hochhaus-Siedlung lag.

Addi sah ebenfalls aus dem Fenster. „Mann. Hier sieht ja echt jede Fassade gleich aus.“

„Nur, wenn du dich nicht auskennst“, erwiderte Jenny. „Ich bin hier groß geworden. Ich kenne jede Ecke. Und außerdem ist unsere Wohnung schön groß!“

„Und dein Zimmer ist echt hübsch!“, sagte Ağan. Er umkurvte die große, alte Schneiderpuppe aus Holz, die in der Mitte des Raums stand und auf der ein halb fertiges Kleid hing, das Jenny sich gerade nähte. Dann ließ er sich auf Jennys Bett fallen. Addi setzte sich an Jennys Schreibtisch, auf dem Perlen, Ketten und ein paar Schnitte bunt durcheinanderlagen. Er seufzte.

Abbildung

„Dieser Autofahrer gehört jedenfalls vor Gericht.“

„Und wie!“, stimmte Jenny zu. „Nur wie sollen wir den finden?“

„Hast du das Auto denn noch nie zuvor gesehen?“, wollte Ağan wissen.

Jenny schüttelte den Kopf.

„Aber es war doch sehr auffällig, oder?“

„Ja, es war gelb und außerdem war irgendwas wie Feuer drauf.“

„Feuer?“, fragte Ağan.

„Ja, so Flammen, züngelnde Flammen!“

„Du meinst, die kamen aus dem Auspuff wie bei einer Rakete?“ Addi schluckte.

„Quatsch! Natürlich nicht, es war kein Raketenauto.“ Jenny zupfte nervös an der Schneiderpuppe herum. „Die waren da draufgemalt oder lackiert oder so.“

„Uh, eine Angeberkarre auch noch!“ Ağan zog die Augenbrauen zusammen. „Und die Autonummer? Konntest du die sehen? Dann könnten wir Yildiz einen Tipp geben.“