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Band 101

 

Er kam aus dem Nichts

 

von Michael H. Buchholz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Erdmond ein außerirdisches Raumschiff. Damit verändert er die Weltgeschichte. Die Terranische Union wird gegründet. Sie will die Menschheit einen und zu den Sternen führen. Eine Ära des Friedens und Wohlstands scheint anzubrechen.

Doch sie wird jäh unterbrochen. Das Große Imperium der Arkoniden annektiert das Sonnensystem und erobert die Erde. Unter Perry Rhodans Führung können die Menschen diese Fremdherrschaft schließlich abschütteln.

Elf Jahre sind seit dem Abzug der Besatzer vergangen. Die Menschheit hat sich zu einer raumfahrenden Zivilisation entwickelt. Da lösen die Warnsatelliten Alarm aus. Überraschend taucht mitten im Sonnensystem ein fremdes Raumschiff auf ...

Prolog

 

Wo bin ich?

Der Gedanke war da, noch ehe er seinen Körper spürte. Er hallte in ihm nach, als warte er auf ein Echo, das hätte kommen sollen, aber aus irgendeinem Grund unterblieb.

Schweigen.

Auch ringsum Stille. Er erblickte nichts als Dunkelheit und hörte – nicht das geringste Geräusch. Den Widerhall der Einsamkeit.

Da war ... Schwere. Die Gravitation einer Normwelt. Er holte tief Luft und begriff erst in diesem Moment, dass die nötige Atemluft dazu ebenfalls vorhanden war. Aber sie war abgestanden und staubig, dazu kühl, wie in einer Gruft.

Bin ich angekommen? War der Transfer erfolgreich?

Keine Antwort. Er ahnte, nein, er wusste es: Das Schweigen war unüblich.

Bin ich endlich erlöst? Von ihm?

Er bewegte die Hände, spreizte die Finger, die zu Fäusten geballt gewesen waren. Er tastete an seiner nackten Brust entlang. Der Pulsschwinger war da, ruhte an der vertrauten Kette, verhielt sich normal, wie nach einem langen Schlaf. Das gleichmäßige Pochen hätte ihn beruhigen sollen.

Tat es das?

Gelächter. Das hättest du wohl gern.

Da war sie wieder, und es war seine Stimme. Selbstverständlich war er noch da. Wie sollte es anders sein.

Natürlich, krähte es in seinem Bewusstsein. Ich bin du, und du bist ich. Ich weiß nur nicht, ob das für mich oder gegen dich spricht.

Er stöhnte auf.

Nichts hatte sich verändert. Sein Martyrium ging auch nach der Versetzung weiter. Die Strafe für sein Versagen ...

Sein Aktivherz schlug heftiger. Der Pulsschwinger sandte einen beruhigenden Impuls.

Wenig später zog er die Beine an und schwang sich von der Liegestatt. Die Kühle erfasste seinen ganzen Körper, der so nackt war, als wäre er soeben auf die Welt gekommen. Was in gewisser Weise stimmte.

Die bloßen Füße berührten kalten Steinboden. Unter seinen Sohlen spürte er dessen rohe Beschaffenheit. Befand er sich doch in einer Gruft?

Wo bin ich?

 

 

Annäherung

 

Abgeschoben.

Darauf lief es letzten Endes hinaus.

Das hatten sie mit ihm getan, und genau so fühlte es sich an. Wenn er daran dachte, dass vier weitere dröge Monate vor ihm lagen, in denen er lediglich zu funktionieren hatte wie ein Automat, kam ihm die sprichwörtliche Galle hoch. Dass er die Arbeit eines Roboters zu erledigen hatte, weil der Einsatz von Studenten billiger war als sündhaft teures Hightechequipment, war wie die faule Rosine auf einem vergorenen Käsekuchen. Es verlieh seinem Praktikumshalbjahr eine Note, die perfekt zu seiner Weltuntergangsstimmung passte.

Widerwillig berührte er eine Sensorfläche, aktivierte die Sprechfunkverbindung zur Stationsleitung. »Jester Orpheus hier«, sagte er. »Shuttle CORREGGIO ist startbereit.«

Im Grunde tat er jeden Tag das Gleiche. Aufstehen, Shuttlecheck, das Abklappern der stationären Sonden, Probenabgabe, Schlafen. Er nannte es seine Murmeltiertage im All.

Er hielt sich nun seit nervtötenden achtundfünfzig Tagen auf Io auf, und exakt diese Worte hatte er bereits fünfzig Mal gesagt. Und er würde sie am nächsten Tag wieder sagen, und am übernächsten, und ebenso während der restlichen einundneunzig Tage, die er in der Forschungsstation des Jupitermonds verbleiben musste. In der anheimelnden Gesellschaft von neunundzwanzig staubtrockenen Geologen, deren Verständnis von Geselligkeit offenbar darin bestand, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Oder sich Werte von irgendwelchen Testergebnissen vorzulesen, wenn sie gut drauf waren.

Verbleiben? Ausharren traf es weit eher.

»Verstanden, CORREGGIO«, kam es von der Leitstelle. »Guten Flug.«

Der Name des Shuttles war eine Würdigung an den Renaissancemaler Antonio da Correggio, der vier Jupitergemälde angefertigt hatte, darunter das Meisterwerk »Jupiter und Io«. Die Fähren waren robuste Raumfahrzeuge, die den größten Teil des systeminternen zivilen Flugverkehrs bewältigten. Ursprünglich von der Firma Solarlogistics für Flüge zum und vom irdischen Mond entwickelt, fanden sie auch an vielen anderen Einsatzorten Verwendung. Unter anderem auf dem Mars, vor allem aber als Shuttle für weit vorgeschobene Stationen wie diese Jupiteraußenbasis.

»Danke.« Viel fehlte nicht, und das herausgepresste Wort wäre als Fluch durchgegangen. Er zuckte mit den Schultern. Sollten sie sich doch in der Leitstelle über ihn das Maul zerreißen.

Die CORREGGIO war die Personenausführung der Lunafähren und damit kaum größer als ein Helikopter. Im Einsatz als Probensammler genügte das, selbst wenn sie dann und wann Lasten für die Geologen, hauptsächlich Bohrzubehör, zu transportieren hatte. Für Jester waren solche Ausflüge zu den aktiven Vulkanen stets willkommen; sie unterbrachen viel zu selten das Einerlei des täglichen Gasproben-Kartuschenaustauschs.

Über dem Shuttle fuhr das doppelflügelige Flachschott auf. Es deckte einen kleinen Krater ab, den die Konstrukteure ausgekleidet und zum Hangar der Forschungsstation umgebaut hatten. Das schwefelige Gelbrot des typischen Iolichts fiel herein, während die kreisförmig angebrachten Landelichter des Hangars erloschen.

»Leitstelle, wir heben ab.«

Jester Orpheus steuerte die Fähre auf dem Antigravkissen aus dem Krater hinaus und leitete den Aufstieg ein. Die dafür nötigen Handgriffe beherrschte er inzwischen im Schlaf.

Die fünfarmige Seesternform der Iostation fiel wie jeden Morgen unter ihnen zurück. Das eigentlich hellgraue Metall leuchtete wider wie ein Eiterpickel am Hintern eines beulenpestbelasteten Untiers. Auch wie gehabt.

Io war auf eine Art hässlich, die Jester stets aufs Neue verblüffte. Vulkane glitten vorbei, Lavaströme, zerbröselnde Kraterränder wie schlecht verheilende Pockennarben. Eine Welt in Eitergelb, Rot und Grau. Das machten nicht mal die scheinbar plötzlich aufgehenden Sterne wett. Sie wurden umso zahlreicher und strahlten umso mehr, je höher das Shuttle stieg. Aber das brachte rein gar nichts.

Obwohl sie hier draußen so ganz anders aussahen als auf der Erde, blieben sie ein Anblick, der für Jester vor dem gewaltigen Rund des dräuenden Jupiters nicht zu bestehen vermochte. Weil der Gigant die Sterne allein mit seiner Existenz förmlich erschlug. Jupiter war in Jesters Augen eine einzige Drohung, an dessen alles beherrschende Gegenwart er sich nie gewöhnen würde – egal wie oft er ihn sah. Oder noch ansehen musste.

Der Große Rote Fleck machte Jupiters Anblick nicht im Mindesten erträglicher, im Gegenteil. Er war nicht nur der mächtigste Sturm im Sonnensystem, der seit Jahrhunderten tobte, wie die Astronomen behaupteten, sondern besaß auch eine geradezu hypnotische Wirkung, die Assoziationen von Tod und Vernichtung suggerierte.

Jester verzog das Gesicht. Sein Blick heftete sich auf die Kontrollen.

»Nun hab dich nicht immer so, Junge.« Der ältere Mann auf dem Kopilotensitz nickte ihm aufmunternd zu. Seine unablässig arbeitenden Kiefer malträtierten einen Kaugummi. Ben Dunning hielt ihm die angebrochene Packung hin. »Nimm dir einen Streifen. Das beruhigt die Nerven.«

Der fast sechzigjährige Dunning war der Stationstechniker, keiner der Geologen. Vermutlich machte ihn das zum einzigen vernünftigen Menschen auf dem Jupitermond. Jedenfalls war der alte Ben derjenige, mit dem Jester hier draußen einigermaßen zurechtkam.

Ben war wohl das, was man als abgeklärt bezeichnete. Er hatte schon viele Studenten kommen und gehen sehen und schaffte es offenbar spielend, sich mit den jeweiligen Praktikanten anzufreunden. Von den hier stationierten Geologen hielt auch er nicht viel, und Jester fragte sich oft, was den alten Techniker wohl auf Io hielt. Er an dessen Stelle hätte längst das Weite gesucht. Aber vielleicht hatte Ben Dunning das Weite auf seine Weise hier auf Io gefunden.

Jester nahm den Kaugummi entgegen und steckte ihn sich in den Mund, obwohl er wusste, dass er ihn schon bald wieder würde ausspucken müssen – Kaugummis waren in Raumanzügen strikt untersagt.

Limonengeschmack. Na super. Jester Orpheus hasste Limonen, sagte aber Ben zuliebe nichts. Er schaffte es sogar, nicht das Gesicht zu verziehen. Der Grauhaarige meinte es nur gut mit ihm, und das war mehr, als Jester von den Geologen behaupten konnte. Auf jeden Fall war es weit mehr, als er vom verfluchten Praktikumsgremium der Fakultät hielt. Jenen Grüntischexperten, die ihn hierher verbannt hatten, damit er etwas Praxis kennenlernte.

Jester unterdrückte ein zorniges Auflachen.

Was sich auf der Erde nach einem echten Abenteuer angehört hatte, stellte sich auf Io schnell als die eintönigste Arbeit heraus, die es wohl im gesamten Sonnensystem zu vergeben gab. Und wer hatte sie bekommen? Jester Orpheus, der gegenwärtig dümmste Student der Astrophysik, der bei drei nicht schnell genug auf dem Kraterrand gewesen war.

Mist, verdammter!

Die Wissenschaftler hatten unzählige Experimente am Laufen, und eines davon unterzog die obersten Gasausläufer der Jupiteratmosphäre einer Langzeitstudie. Irgendwas mit Anomalien in der Wasserstoff-Helium-Zusammensetzung und ihrer Beimischung von Methan, hervorgerufen durch die Störbewegungen der vier großen Monde, zu denen auch Io gehörte.

Dreiundzwanzig Sonden umkreisten Jupiter. Jede davon sammelte Gasproben, und ihre Kartuschen mussten im täglichen Rhythmus von Hand ausgewechselt werden. Weil irgendein ferner Verwaltungsheini auf der Erde entschieden hatte, dass dies eine vortreffliche Aufgabe für die nahezu kostenfrei arbeitenden Studenten im Praktikum war – die Anschaffung und Wartung einer selbststeuernden Drohne wäre teurer gewesen. Jester malte sich oft aus, wie er den Betreffenden nach Io locken und nur für eine Woche zum Raumdienst zwingen würde. Danach wäre so manches anders hier, aber so was von.

»Peile Position von Sonde eins«, sagte Ben Dunning, nachdem Ios Käseoberfläche zu einem Ball zusammengeschrumpft war. »Leitstrahl steht. Annäherung erfolgt via Autopilot. Du kannst dich umziehen gehen, Junge.«

»Weil für jeden Anlass allein das richtige Outfit zählt«, murmelte Jester und stand auf.

Zum einundfünfzigsten Mal seit seiner Ankunft auf Io quetschte er sich in den Raumanzug und begab sich nach hinten in die winzige Schleuse.

Das Prozedere war immer gleich: ausschleusen, zur jeweiligen Raumsonde schweben, die gefüllte Kartusche entnehmen, die Ersatzkartusche einsetzen, Rückkehr ins Shuttle. Das Ganze dreiundzwanzig Mal nacheinander. Pro Sonde benötigten sie etwas mehr als fünfzehn Minuten, die Ortsversetzungen inbegriffen. Für Jester hieß das, er kam für fast sechs Stunden nicht mehr aus dem Raumanzug heraus. Dreihundert dieser Scheißstunden hatte er schon hinter sich gebracht, fünfhundertsechsundvierzig lagen noch vor ihm.

»Ich wär so weit.«

»Dann ab mit dir.«

»Bin unterwegs«, antwortete Jester und stieß sich aus der Schleuse. Die Gasfangsonde, eine Art überdimensionaler Marienkäfer mit ausgebreiteten Flügeln, war kaum auszumachen. Aber dank der integrierten Leithilfe brauchte er nichts weiter zu tun, als »Annäherung an Sonde 1« zu sagen. Den Rest, die etlichen winzigen und komplizierten Schub- und Gegenschubmanöver, erledigte die Positronik.

Nach wenigen Minuten schwebte er neben dem halbkugelförmigen Konstrukt, betätigte die für den Wechsel nötigen Tasten.

Kartusche raus, Kartusche rein. Erledigt.

»Jes?« Bens Stimme im Helmempfänger klang plötzlich aufgeregter als sonst. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja. Was soll denn sein?« Jester blickte zur CORREGGIO hinüber und sah Bens grauen Kopf und die orangefarbenen Uniformschultern hinter dem erleuchteten Cockpitfenster.

»Ich weiß nicht«, kam Bens zögernde Antwort. »Für einen Moment dachte ich, da wäre was. Ich habe einen Triebwerksausstoß angemessen. Ziemlich starke Korpuskularwellen ... Unter dir, tief in der Jupiteratmosphäre.«

»Das ist Blödsinn, Ben.«

»Ich weiß. Und doch ... Aber dann war nichts mehr.«

»Wird irgendeine Entladung gewesen sein, schätze ich. Die Blitze da unten sind schließlich Jupiters Markenzeichen. Und die ionisieren alle Gase wie nur was. Was du angemessen hast, wird eine Kollisionsfront gewesen sein.«

»Zwei Stürme, die sich berühren, ja? Na, von mir aus. Du bist hier der angehende Doktor, Junge.«

»Ich bin hier der angeschmierte Praktikant, wolltest du wohl sagen. Ich komm jetzt rein.«

»Verstanden. Ich verhole uns zu Nummer zwei.«

Jester verankerte sich in der offenen Schleuse, wartete auf Bens Zeichen.

Es kam so verlässlich wie ein Uhrwerk. »Und wieder ab dafür.«

»Annäherung an Sonde zwei«, befahl Jester der Anzugpositronik.

Wieder schwebte er hinaus. Diesmal stand der metallene Marienkäfer genau vor der Jupiterscheibe, und Jester konnte die Sonde deutlich erkennen. Die kreisrunden Sensorflächen leuchteten wie silbrige Punkte.

Der Anzug gab minimalen Gegenschub, hob den Vortrieb auf.

Die Sonde ragte in Armesweite vor Jester empor. Da war das Tastenfeld. Er gab die Kodes ein.

Kartusche raus, Kartusche rein.

Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, durchfuhr ihn mit Eiseskälte. Was zum Hades ...?

Jester sah es im Augenwinkel. Und erst, als es zu spät war, um etwas anderes zu tun, als zu erschrecken.

Die Schwärze fraß den Jupiter. Aus einem Fleck, der alles sein mochte, ein Gesteinsbrocken, ein Mondschatten, erwuchs in Sekundenschnelle ein drohender, um sich greifender, lichtschluckender Schatten. Wie ein Loch im All, in das Jester zu stürzen schien. Um den rasend wachsenden Schwarzkern flirrte es. Unmöglich zu erkennen, um was es sich dabei handelte. Das Gebilde wuchs und wuchs, wurde riesig, und Jester begriff viel zu spät, dass seine Augen ihn trogen.

Das Ding wuchs nicht, es kam auf ihn zu.

Schon war es eine riesige Wand, die vor ihm aufragte, die sich auf ihn zubewegte, die Jupiter in seiner Gänze verschlang und Jester in jähe Lichtlosigkeit tauchte.

Die Anzugpositronik reagierte. Jester fühlte sich fortkatapultiert, wie vom Tritt eines wütenden kosmischen Elefanten ins Nichts geschossen. Das Pulsatortriebwerk an seinem Rücken riss ihn mit entsetzlicher Gewalt davon, der Magen klebte ihm am Gaumen, und doch glaubte Jester, dass der heranrasende Schatten ihn berühren, ihn erwischen, ihn zu Staub zermalmen würde.

Wider Erwarten geschah nichts von alledem.

Unübersehbare Metallschründe rasten stattdessen an ihm vorbei, nur wenige Meter entfernt. Nicht enden wollende Wände aus vorbeirauschendem, grauschwarzem Stahl, an dem es an unzähligen Stellen flammte und irrlichterte.

Die Raumsonde hinter Jester zerbarst, als der Schatten ihre Position erreichte. Das Gebilde, die scheinbar endlos lange Wand, strebte vom Jupiter fort. Er erkannte es deutlich, während er von der Kraft seines Anzugs in Sicherheit gerissen wurde. Was immer es war, es zerpulverte alles, was sich ihm in den Weg stellte.

Die CORREGGIO schoss ihrerseits davon, im allerletzten Moment. Ben Dunning hatte entweder Glück oder hervorragende Reflexe – er floh vor dem heranwalzenden Schatten, den Jupiter ausgespien hatte wie einen riesigen Stein. Jester sah die Flammenlanzen des Shuttletriebwerks hinter der metallenen Schwärze verschwinden.

Schon wollte er aufatmen, als das erste Trümmerstück an ihm vorbeiraste. Ihm folgten weitere, manche so groß wie ein Haus. Sie hätten ihn getroffen, selbst wenn er versucht hätte, ihnen auszuweichen. Wieder verdankte er sein Leben allein der Positronik, die selbsttätig den Schutzschirm hochfuhr. Kleinstteile, vermutlich schneller als Gewehrkugeln, schlugen Sekunden später in die Energieblase ein und vergingen in Hunderten von Leuchterscheinungen. Der Anzug flog einen schwindelerregenden Zickzackkurs, bei dessen abrupten Änderungen Jester sich zweimal fast in seinen Helm übergeben musste.

Dann war es vorbei. So plötzlich, wie es gekommen war. Die Geschosssalven gegen seinen Schirm hörten auf. Jupiters Licht kehrte zurück und blendete ihn jäh, die große Scheibe leuchtete in erhabener Gleichgültigkeit.

»Ben?« Jester schrie, ohne dass er es bemerkte.

»Ich bin hier, Junge. Keine Sorge, ich hol dich rein. Bist du verletzt?«

»Was? Nein. Mir zittert nur alles, was zittern kann. Meine Güte, Ben – was war das?«

»Schätze, ein Asteroidenirrläufer.«

Jester hörte sich hysterisch lachen. »Ein Asteroid? Ich habe Metallwände gesehen, Ben – Metall! Und da war ... Ich weiß nicht, was es war.«

»Dafür weiß ich, was wir jetzt tun werden. Du kommst zurück an Bord, und wir erstatten auf Io Bericht. Unsere Schicht erkläre ich hiermit für beendet.«

Wenig später sah Jester Orpheus die Lichter der CORREGGIO auf sich zukommen.

Er zitterte immer noch, selbst als die Schleuse zugefahren war und er sich aus dem Raumanzug schälte. Mechanisch nahm er den Kaugummi entgegen, den Ben ihm hinreichte. Er saß nur da, hockte wie betäubt in seinem Kontursitz, bekam kaum mit, wie Ben das Shuttle wendete und zum Mond zurücksteuerte.

Was immer ihn da beinahe gestreift hatte und ins Jenseits befördert hätte ... Der Gedanke, dem Tod nur um Haaresbreite entronnen zu sein, überlagerte alle seine Empfindungen.

Bis auf eine.

Nichts im Universum schmeckte so gut wie Limone.

1.

An Bord der BAIKONUR, Oberst Arnaul Somotrov

 

Der zentrale Bordchronometer der BAIKONUR zeigte den 10. März 2049 an, 0.14 Uhr. Alles sah nach einem weiteren Routineflug aus. Der Protektor der Terranischen Union befand sich an Bord, der Start in Terrania war pünktlich erfolgt und erwartungsgemäß reibungslos verlaufen. Die Erde und der Mond waren nach achtern gewandert und binnen Minuten scheinbar zur Unkenntlichkeit geschrumpft.

Heute also der Mars, dachte Oberst Arnaul Somotrov. Am Tag zuvor war es Vulkan gewesen, und davor die Venus. Am nächsten Tag stand ein Sprung zum Rand des Sonnensystems an, der sie bis knapp jenseits der Oortschen Wolke führen würde. Die Sicherheit des Sonnensystems erforderte nimmermüde Patrouillen entlang sämtlicher Planetenumlaufbahnen. Der Protektor kam dieser Aufgabe gewissenhaft nach.

Zu gewissenhaft nach Somotrovs Ansicht. Manche der zeitaufwendigen Inspektionen hätten ebenso gut Kontrolldrohnen übernehmen können oder auch andere Schiffe. Aber der Protektor bevorzugte den persönlichen Augenschein und kümmerte sich obendrein um Details, die nur noch sehr bedingt mit Sicherheitserwägungen zu tun hatten.

Saat- und Erntemaschinen zum Mars zu bringen, zum Beispiel.

Sie hatten in Terrania vor Sonnenaufgang den Startvorgang eingeleitet und waren in den pinkfarbenen Himmel aufgestiegen, der sich über der im Frühjahrsfrost liegenden Wüste Gobi wölbte. Wenig später hatten sie die äußeren Schichten der Erdatmosphäre erreicht und waren schon diesseits der Mondbahn auf ihren gegenwärtigen Kurs eingeschwenkt. Dann hatten die rumorenden Impulstriebwerke das sprichwörtliche Ruder übernommen und den Stahlkoloss mit unvorstellbaren 500 Kilometern pro Sekundenquadrat beschleunigt. Bis zu diesem Moment.

»Akzelerationssabbruch erfolgt: jetzt«, meldete die Pilotin Wu Aang Suko. Pechschwarzes Haar umwippte ihr puppenhaftes Gesicht. »Vorgegebene Reisegeschwindigkeit von zwei Zehnteln Licht ist erreicht. Ab jetzt freier Fall. Kurs Marsposition liegt an.«

»Danke, Oberleutnant Wu.«

Die raue Stimme des Kommandanten war aufgrund der überall im Zentralerund verteilten Akustikfelder an jedem Konsolenplatz gut zu verstehen. Der spindeldürre Oberst saß kerzengerade in seinem aufgerichteten Kontursitz, mit den halb geschlossenen Augen einem meditierenden Asketen nicht unähnlich.

Innerlich war Somotrov indes weit davon entfernt, zu meditieren.

Stattdessen huschte sein Blick immer wieder zu dem hochgewachsenen Mann mit den dunkelblonden Haaren, der zum großen Zentraleholo hinaufschaute und nachdenklich Kaffee aus einem Becher trank. Das eingefangene Licht der Sterne wanderte über seine markanten Gesichtszüge, und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Das dunkle Weinrot seines zivilen Bordanzugs kontrastierte stark mit den blauen Uniformen der Zentralebesatzung. Die Farbe war allein dem Protektor der Terranischen Union vorbehalten und war ein Rangabzeichen, auch wenn das Amt selbst als zivil galt und sein Inhaber sich nicht als Flottenangehöriger verstand.

Perry Rhodan bekleidete damit ein Zwitteramt, das einerseits als nichtmilitärisch eingestuft wurde, andererseits aber in die militärischen Belange der Terranischen Flotte massiv eingriff. Als Protektor war Rhodan für die Sicherheit des gesamten Sonnensystems verantwortlich. Damit galt er als Koordinator im Regierungskabinett, obwohl er diesen Ministertitel niemals in Anspruch nahm. Er unterstand allein dem Administrator und Regierungschef Homer G. Adams persönlich.

Somotrov fragte sich, was Rhodan gerade dachte. Er hoffte, dass der Protektor seine Blicke nicht bemerkte. Rhodans häufige Anwesenheit an Bord der BAIKONUR war in den vergangenen Monaten längst Routine geworden. Zumindest galt das für Somotrovs Offiziere. Für ihn selbst weniger. Somotrov spürte wie immer in Perry Rhodans Nähe ein nagendes Unbehagen. Ein Unwohlsein, das ihm sein eigene Unzulänglichkeit wie ein Zerrbild vorführte.

Vielleicht bildete es sich Somotrov nur ein. Aber es gab diese Momente, in denen Rhodan von etwas umgeben zu sein schien, das er noch bei keinem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Es war nicht zu sehen, und doch war es fast greifbar präsent. Ein Fluidum, das Somotrov kaum begriff. War es ein kosmisches Sendungsbewusstsein? Ein unerschütterlicher Glaube an die Richtigkeit des einmal eingeschlagenen Weges? Gewiss eine Mischung aus beiden, aber da war noch mehr.

Denn der Protektor war von einer Überzeugung erfüllt, die Somotrov zwar theoretisch teilen, aber selbst nicht fühlen konnte: Rhodan erblickte das Gute im Menschen, auch dort, wo andere längst aufgehört hatten hinzuschauen.

Eben jetzt ist wieder ein solcher Augenblick, dachte Somotrov. Ob er es selbst auch spürt?

Dabei war Rhodan nicht unfehlbar. Auch er als Protektor beging Fehler, aber er besaß die seltene Fähigkeit, sie sich einzugestehen. Neben Perry Rhodan kam sich Somotrov klein und unbedeutend vor. Daran änderte seine eigene vorbildliche Karriere in der Terranischen Flotte nichts. Ihre letzten Höhepunkte waren die Ernennung zum Stabskommandanten des Protektors und die Übertragung des Kommandos über die BAIKONUR gewesen.

Arnaul Somotrov redete sich nichts ein: Das verhaltene Lächeln auf Rhodans Gesicht irritierte ihn. Es machte ihn nervös, er wusste nie, ob es ihm oder seiner Schiffsführung galt oder etwas anderem. Er selbst bemühte sich, seine Gedanken nicht durch sein Mienenspiel zu verraten. Seine sonst so felsenfeste Selbstsicherheit zerbröselte in Rhodans Gegenwart aus ihm unerfindlichen Gründen zu Krümeln.

Eine Veränderung der Geräuschkulisse riss den Kommandanten aus seinen Gedanken.

Rundum erstarb das Dröhnen, mit dem die Projektionsfelddüsen im gewaltigen Ringwulst das Plasma ausgeworfen hatten.

Der Kugelraumer bewegte sich nun, im freien Fall, geradezu schneckenlangsam. Ohne jeglichen Antrieb, vorangetrieben nur infolge des Trägheitsgesetzes, »fiel« die BAIKONUR ständig vorwärts.

»Meldung Status Tast/Ort – keine ungewöhnlichen Objekte voraus.« Oberleutnant Olympiana Astanakis, Chefin der für die Tastung und Ortung zuständigen Station, saß konzentriert wie immer vor einem halben Dutzend farbiger Hologramme.

»Meldung Status Kommunikation – Bradbury Central erwartet uns. Port Hope indes wünscht uns einen guten Flug.«

»Danke«, sagte Rhodan an Somotrovs Stelle. Sein Lächeln wurde stärker. »Wenn Sie gestatten, Oberst – richten Sie in beiden Fällen aus: ›BAIKONUR und Protektor grüßen zurück.‹«

Der Funkleitoffizier, Oberleutnant Usman Solak, blickte den Kommandanten fragend an.

Somotrov nickte knapp. Wenn der Herr Protektor es so wünschte ...

Die kurzen Funksprüche gingen hinaus.

»Mondbasis Armstrong-Alpha bestätigt unsere Tastung«, ergänzte Solak kurz darauf. »Keine irregulären Objektbewegungen. Dafür meldet die Robot-Merkurbasis demnächst bevorstehende starke Protuberanzen. Mehrere heftige Sonnenstürme der Stärke zehn sind innerhalb der nächsten drei Tage zu erwarten.«

So viel zur Routine, dachte Somotrov.

Megastarke Sonnenstürme blieben ein Problem, daran änderte auch die hinzugewonnene Technik der Arkoniden nichts.

»So schlimm? Stärke zehn?«, fragte Somotrov. »Chief? Gibt das Probleme mit den Sky Eyes?«

Der Chefingenieur winkte ab. »Die sind dreifach gesichert. Bewusst simpel konstruiert. Praktisch verschleißfrei. Mit einem künstlichen Magnetfeld versehen. Die reiten selbst Stürme der Kategorie zwanzig mühelos ab. Alle Sky Eyes verfügen zudem über Hyperfunk.« Allein das hatte Unsummen an Steuergeldern verschlungen.

Überall im Sonnensystem war seit dem Abzug der arkonidischen Besatzer ein Netz von Kommunikations- und Überwachungssatelliten installiert worden. Insgesamt über 300.000 Stück. Diese im Volksmund Sky Eyes – also Himmelsaugen – genannten Hybridgeräte bestanden aus einer robust gehaltenen Technik, in der irdische und ferronische Bauteile zu einer effektiven Einheit verschmolzen waren. Sie schickten ihre Messdaten zu speziellen Relaisstationen auf Monden und Asteroiden.

So war im vergangenen Jahrzehnt eine praktisch lückenlose Systemüberwachung aufgebaut worden, deren Fäden auf Vulkan zusammenliefen. Das dort errichtete Space Evaluation Center oder SPEC sichtete und analysierte alle gewonnenen Daten und gab im Bedarfsfall Alarm. Die Sky Eyes waren Rhodans erstes Großprojekt als Protektor gewesen. Schwindelerregend teuer, aber notwendig.

»Danke, Mister Laronde«, antwortete Somotrov.

Wieder warf er einen Blick auf den nicht mal vierzigjährig erscheinenden Mann, der es geschafft hatte, der Menschheit den Weg zu den Sternen zu eröffnen. Die Jahre gingen gnädig mit Rhodan um, sie schienen ihn zu ignorieren. Dabei war Rhodan längst fünfzig oder wurde es in diesem Jahr.

Rhodan winkte einen Servoroboter herbei und stellte seinen Becher ab. »Wann waren Sie das letzte Mal auf dem Mars, Oberst?«

Über ihm wechselte wie auf ein Stichwort das Holobild. Der das Sonnenlicht reflektierende Mars stand schräg dreiviertelvoll im Zentrum der Darstellungskugel, herangezoomt von den leistungsfähigen Optiken der BAIKONUR. Schlierige Wolkenbänder zogen über die rostrote Oberfläche. Unterstrichene Schriftzeilen verwiesen mit Pfeilen auf gleichsam winzige, kaum sichtbare Punkte: die unregelmäßig geformten Marsmonde Phobos und Deimos.

Somotrov erhob sich. Es war ihm peinlich, zu sitzen, während der Protektor stand. Er trat neben Rhodan, verschränkte die Arme auf dem Rücken und sagte: »Auf dem Mars? Vor fünf Jahren – während der Thermalkrise.«

Damals hatten zunächst unerklärliche Kälteeinbrüche der jungen Marskolonie erheblich zu schaffen gemacht. Somotrov war seinerzeit Erster Offizier der DUBLIN, der ehemaligen VEAST'ARK. Sozusagen in vorderster Linie dabei. Nie würde er die vom Staub rot gefärbten Schneebälle aus gefrorenem Kohlendioxid vergessen können ...

»... dann haben Sie einiges an der neueren Entwicklung verpasst«, drang Rhodans Stimme wieder an sein Ohr. »Bradbury Central hat sich von der Krise gut erholt. Und die Stadt expandiert überraschend schnell. Inzwischen leben an die 500.000 Siedler dort.«

»Die größte Anzahl stellen aber immer noch die ehemaligen Gefangenen des Protektorats dar«, entgegnete Somotrov. »Nach allem, was man hört, meine ich. Ich habe überhaupt nie verstanden, wie diese ›Wildwest-Siedlung‹ aus Gesetzesbrechern zu so etwas wie Recht und Ordnung gefunden hat.«

»Sie haben mit einem völlig recht, Oberst. Der Mars war eine raue Gefängniswelt. Aber die Deportierten waren keineswegs Verbrecher. Zumindest nicht alle. Sie waren vor allem Gesetzesbrecher in den Augen des Protektorats, und das ist etwas grundsätzlich anderes. Vergessen Sie nicht: Ich stand selbst auch auf der arkonidischen Fahndungsliste, und zwar an erster Stelle.«

»Ich bin mir dessen bewusst, Sir.«

Somotrov warf einen raschen Blick zu den Hologrammen, die Wu Aang Sukos Kopf umgaben. Die BAIKONUR benötigte bei zwei Zehnteln Licht Reisegeschwindigkeit für die Distanz Erde–