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Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Kill Decision» bei Dutton/Penguin Group, New York.

 

Die Übersetzerin bedankt sich beim Freundeskreis zur internationalen Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V. für ein Aufenthaltsstipendium im Übersetzer-Kollegium in Straelen.

 

Redaktion Jan Valk

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Kill Decision» Copyright © 2012 by Daniel Suarez

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagabbildung megainarmy/Shutterstock.com

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-25918-0 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-49571-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49571-5

Menschen sind wichtiger als Material

1

Aus achttausend Fuß Höhe wirkten die Rettungskräfte, die um das Wrack einer Autobombe herumwuselten, wie aufgeregte Ameisen. Eine MQ-1-Predator-Drohne zoomte auf Nahaufnahme. Ein Marktplatz, übersät mit Trümmern und Körperteilen. Blutgetränkter, verbrannter Boden füllte das Videofenster. Die Sterbenden und Verwundeten streckten Hilfe suchend die Hände aus, vollkommen stumm.

«Death TV», so nannten die Techs den Live-Videofeed der amerikanischen Flotte unbemannter Predator-, Global-Hawk- und Reaper-Drohnen. Via Satellit wurden die Bilder auf zehn große HD-Bildschirme übertragen, die in gleichmäßigen Abständen von den Dachbalken des schummrigen Großraumbüros der US Air Force in Hampton, Virginia, hingen. Distributed Common Ground System-1, wie die Einrichtung offiziell hieß, war von den Orten auf den meisten dieser Bildschirme etliche Zeitzonen entfernt. Hier war es zwei Uhr morgens.

Die Feeds zu verfolgen war die Aufgabe junger Air-Force-Gefreiter, die in Sechsergruppen vor den Monitorwänden saßen und in Reaktion auf das, was sie dort sahen, auf Computertastaturen herumklapperten, beaufsichtigt von hinter ihnen patrouillierenden Unteroffizieren, die wiederum von Offizieren überwacht wurden wie Pit-Bosse und Floor-Manager in einer makaberen Art von Casino.

An seiner Workstation im Halbdunkeln blickte der sechs

Zwischen den Kontrollblicken tippte Jordan Meldungen in ein Chat-Fenster, die an ein Civil-Affairs-Team der Army in der US-Botschaft gingen – Grüne Zone von Bagdad, nur ein paar Meilen vom Ort der Autobombenexplosion entfernt. Gleichzeitig verfolgte er Chat-Threads zweier weiterer operativer Einheiten vor Ort auf dem Bildschirm und Satellitenfunkgespräche über sein Headset, während sein Telefon in regelmäßigen Abständen blinkte. Er spürte jemanden in seinem Rücken, und ein Blatt Papier glitt von links in sein Gesichtsfeld. Ohne aufzuschauen, sagte er: «Lazzo, Mann, wozu gibt es Sofortnachrichten? Sie reißen mich aus meinem Work-Flow.»

Technical Sergeant Albert Lazzo beugte sich von rechts heran. «Dringend, Sir.»

«Hm …» Jordan zeigte auf das Blutbad auf dem großem Bildschirm. «Da muss es schon damit mithalten. Ich höre.»

Lazzo patschte auf das Blatt Papier. «AWACS hat ein unbekanntes Objekt auf dem Radar, südlich von Kerbela. Sie wollen, dass wir einen Blick drauf werfen.»

Jordans Finger klapperten über die Tastatur. «Schicken Sie mir die genaue Zielinformation rüber, dann werde ich schauen, was ich tun kann.»

«Heute ist das Aschura-Fest, Lieutenant.»

«Müsste mir das was sagen?»

Mit dem Seufzen des kompetenten Untergebenen sagte Lazzo: «Da veranstalten eine Million schiitische Pilger eine Trauerprozession zum Gedenken an das Martyrium Hussein ibn Alis, des Mohammed-Enkels, in der Schlacht von Kerbela.

«Ah … okay …» Stirnrunzelnd tippte Jordan die Antwort an eine Aufklärungseinheit zu Ende. «Was wissen wir?»

«Erstmals auf dem Schirm drei Kilometer westlich von Al Hiyadha. Höhe zwo-null, Geschwindigkeit 200 Knoten, Steuerkurs drei-fünf-null.» Lazzo studierte den Ausdruck. «Eine einmotorige Maschine vielleicht. Schmuggler oder lokale VIPs. Aber …»

Die Civil-Affairs-Leute hatten Jordan über die sensiblen Punkte seines Sektors gebrieft. Wenn er sich recht erinnerte, gehörten der Imam-Hussein- und der Al-Abbas-Schrein zu den heiligsten Stätten der Schia-Richtung des Islam – sprich, einer Viertelmilliarde Menschen.

Lazzo hielt ihm wieder den Computerausdruck hin. «Laut Geeks haben Sie die Hecknummer, die am nächsten dran ist, Sir.»

«Okay, gut. Gut.» Jordan griff sich den Ausdruck und klickte auf einen der drei LCD-Monitore auf seinem Tisch. Er öffnete GCCS, das Globale Kommando- und Kontrollsystem, das die Echtzeitpositionen sämtlicher im Einsatz befindlichen befreundeten Truppen anzeigte.

Er scrollte die Kartenansicht seines Sektors und notierte die Hecknummer seiner Predator-Drohne, die am nächsten bei dem Radarkontakt war. Dann klickte er sich durch einen weiteren Screen, um eine verschlüsselte Satellitenfunkverbindung zu den Drohnen-Operatoren in Nevada herzustellen. «Kodar drei, Kodar drei. Wir haben einen unbekannten Radarkontakt, langsam und sehr tief. Kennung eins-null-sieben, bitte derzeitiges Ziel aufgeben und südwärts halten. Checken Sie Ihren Feed. Hauptkontrollraum Ende.» Er tippte die AWACS-Info und die

«Verstanden, Hauptkontrollraum. Halten auf Planquadrat drei-acht, Sierra, Mike, Bravo, eins-zwei-drei-neun-null-acht-null-acht.»

Jordan und Lazzo blickten auf den großen Bildschirm über ihnen, wo jetzt statt des Orts der Autobombenexplosion eine ganz andere Szenerie erschien – ein flacher, gelbbrauner Horizont. Im Irak war es acht Stunden später, Vormittag, und der Horizont neigte sich nach rechts, als Hecknummer eins-null-sieben in neuntausend Fuß Höhe über der braunen Stadt Kerbela nach links schwebte. In dieser Höhe würde die Drohne vom Boden aus nicht zu hören und bei oberflächlichem Hinschauen auch praktisch nicht zu sehen sein.

Jedes Predator-System bestand aus einem Piloten, dessen Sensor-Operator und vier separaten Predator-Drohnen, die die beiden von einem klimatisierten Militärcontainer aus – in diesem Fall auf der Creech Air Force Base nahe Las Vegas, Nevada – kontrollierten. Sie führten dort in Zwölf-Stunden-Schichten sogenannte Reachback-Operationen durch und fuhren dann zum Frühstück in ihr Vorortzuhause. Die Desorientierung, über die sich Predator-Teams infolge solcher Fernoperationen hin und wieder beklagten, kannte Jordan aus eigener Erfahrung. Es war schwer, einen Kampfrhythmus aufrechtzuerhalten, wenn man in einem Laden stand und ein Slurpee kaufte, nachdem man eben noch an einem weit entfernten Punkt der Erde fünf Aufständische in den Tod befördert hatte. Man konnte leicht vergessen, dass das alles irgendwo ganz real passierte und kein superhochauflösendes Computerspiel war. Es gab psychologische Betreuung speziell dafür, aber die in Anspruch zu nehmen schien ihm nicht besonders karrierefördernd.

«SO, wir haben einen Kurswechsel von vierzig Grad.»

«Hier Sensor, verstanden.»

Plötzlich schaltete sich eine Stimme von weiter oben in der Befehlskette ein. «Kodar drei, hier Sentinel. Benennen Sie Waffenausstattung.»

Es hörten also noch andere mit. Für Jordan unterstrich das nur, wie heikel Operationen über den durch Kerbela ziehenden Schiitenmassen waren. Offiziell hatten die US-Streitkräfte das Land verlassen – eine Darstellung, die die immer noch dort befindlichen US-Soldaten stinksauer machte. Diese Drohnen waren in der Luft, um nach Problemen Ausschau zu halten und Aufklärungsergebnisse an die irakische Armee weiterzugeben. Und Lazzo hatte recht: Die Aschura-Feierlichkeiten waren bereits Angriffsziel militanter Sunniten gewesen.

«Sentinel, wir sind Winchester.»

Unbewaffnet. So nah bei den Schreinen war ihnen das verdammt noch mal auch zu raten.

«Kodar drei, Sie können weitermachen. Sentinel Ende.»

«Verstanden, Sentinel. Hauptkontrollraum, wir sind auf Position, Kurs eins-sieben-acht. Pilot Ende.»

Sie sahen zu, wie das Optics-Package auf die Route 9 einzoomte, den breiten, staubigen Boulevard, der sich, rissig, sonnenversengt und schnurgerade, südwärts durch die Stadt zog. Die von heruntergekommenen Wohnblocks gesäumte Straße war gerammelt voll mit zigtausend Pilgern. Jordan pfiff durch die Zähne. «Da ist ja was los.» Er schaltete sein Mikro ein. «Pilot, halten Sie weiter Kurs Süd, dann müssten Sie dieses unbekannte Flugzeug gleich haben.»

«Wilco.»

«Da.» Technical Sergeant Lazzo zeigte mit einem Taschen-

«Hauptkontrollraum, wir haben das unbekannte Flugzeug visuell erfasst. Es ist ein Zyklop – wiederhole, Zyklop –, Steuerkurs drei-fünf-acht. Hat wahrscheinlich einen verbogenen Papagei.»

Jordan sah die unverkennbaren Umrisse einer amerikanischen Drohne, die in nicht mal zweitausend Fuß Höhe nordwärts schnurrte. Was zum Teufel? «Kodar drei, haben den Zyklopen. Designieren Sie den Zyklopen als Ziel eins. Verfolgen Sie Ziel eins und beschaffen Sie mir seine Kennung.»

Lazzo hob die Augenbrauen.

«Hier Pilot. Verstanden.»

«Hier Sensor. Verstanden.»

Lazzo zuckte die Achseln. «Eine Drohne von uns mit defektem Transponder.»

Jordan musterte den Bildschirm. «Aber wie zum Teufel ist sie dort hingekommen? Und warum wird sie nicht im Blue Force Tracker angezeigt? Das ist doch schließlich eine Reaper.» Jordan starrte auf das High-Definition-Video einer grauen amerikanischen MQ-9-Reaper-Drohne, die immer noch über der Straße nordwärts flog. Optisch der propellergetriebenen MQ-1-Predator ähnlich, war die Reaper anderthalbmal so groß und auf eine wesentlich höhere Waffenlast ausgelegt. Diese hier flog so tief, wie keine Drohne – und schon gar keine Reaper – fliegen sollte. Hatte sie Triebwerksprobleme?

«Hauptkontrollraum, Ziel eins hat das Air-Force-Emblem, aber kein sichtbares Kennzeichen. Wiederhole, kein sichtbares Kennzeichen.»

«Verstanden, Kodar drei.» Jordan wechselte den Funkkanal. «Sentinel, hier Hauptkontrollraum, Achtung. Wir haben visuellen Kontakt zu einem Zyklopen mit defektem Transponder

Der Funk- und IM-Verkehr intensivierte sich rapide, und Jordan murmelte, während er an seinem Telefon eine Hausverbindung wählte, Lazzo zu: «Ich dachte, die CIA lässt diesen Cowboy-Scheiß inzwischen bleiben.»

Lazzo musterte immer noch den großen Bildschirm. «Aber AWACS hat doch wohl beim JSOC nachgefragt, ehe sie uns Bescheid gegeben haben.»

Einen Finger am Headset-Schalter, wartete Jordan auf Antwort. «Na ja, irgendwessen Drohne muss es ja sein, und sie kann doch nicht einfach in der Gegend herumfliegen, ohne dass es jemand weiß.»

«Das Ding ist bis an die Zähne bewaffnet.»

Als die Optik auf die Reaper einzoomte, konnte Jordan erkennen, dass die Hardpoints unter den Tragflächen mit einem vollen Satz von vierzehn AGM-Hellfire-Raketen bestückt waren. Unten am Boden zeigten Tausende schwarz- und weißgewandete Pilger mit dem Finger hinauf, als die Schatten der Tragflächen über sie hinwegglitten.

«Verdammter Mist.» Er sah Pilger in der Menge die Drohne mit Video- und Handykameras filmen. «Das kommt garantiert demnächst auf Al Jazeera.»

In diesem Augenblick betrat ein hochgewachsener, streng aussehender Air Force Colonel im Kampfanzug Jordans Arbeitsabteil. «Was zum Teufel ist da los, Lieutenant?»

Jordan stand auf und salutierte ebenso wie Sergeant Lazzo. «Colonel, Sir. Unbekannte Reaper über Kerbela. Keine Freund-Feind-Erkennung. Kein Kennzeichen. Wir versuchen noch, sie zu identifizieren.»

Der Colonel zeigte auf Lazzo. «Rufen Sie die CIA an und

«Etwa drei Kilometer südlich des Imam-Hussein- und des Al-Abbas-Schreins.»

«Wie konnte sie unbemerkt so weit kommen?»

«Keine Ahnung, Sir. AWACS hat uns erst vor ein paar Minuten alarmiert.»

«Finden Sie heraus, wer diese Drohne kontrolliert.»

Jordan griff zum Telefon und sah Lazzo an, der nur verwirrt die Achseln zuckte, während er sich ebenfalls ein Telefon schnappte.

Vor den Augen des Colonels und umsitzender Air-Force-Leute rotierte die Ansicht auf dem Bildschirm. Die Predator blieb hinter der schnelleren, leistungsstärkeren Reaper-Drohne zurück. Voraus glänzten jetzt die goldenen Kuppeln der Zwillingsschreine im Sonnenlicht. Hunderttausende Pilger füllten die quadratischen Plätze um die Heiligtümer. Die Reaper war eine Silhouette im tiefen Anflug, wie eine Hornisse.

Die Stimme des Predator-Piloten kam über die Intercom. «Hauptkontrollraum, Achtung. Ziel eins scheint offensiv zu manövrieren. Sie beleuchtet den Schrein. Wiederhole, Zyklop beleuchtet den Schrein.»

Jetzt standen alle und starrten auf den Bildschirm. Jordan ließ den Telefonhörer sinken. «Welchen Schrein lasert sie an?»

«Könnte der Zielstrahl für eine Rakete sein.» Der Colonel wandte sich Jordan und Lazzo zu. «Geben Sie mir das verdammte Telefon.»

Lazzo schüttelte den Kopf. «Die CIA sagt, es ist nicht ihre Drohne, Colonel.»

In diesem Moment schoss eine Hellfire-Rakete in einer Rauchwolke unter der linken Tragfläche der Reaper hervor und jaulte im Bogen aufwärts. Eine ganze Sektion des DCGS-1-Personals verfolgte erschrocken, wie die Rakete hochzog und dann plötzlich auf den Imam-Hussein-Schrein runterschwenkte. Inzwischen hatten noch zwei weitere Raketen ihre Bogenbahn eingeschlagen.

«Hauptkontrollraum, Achtung. Sehr schnelle Einzelschusssequenz.»

Lazzo rief es laut aus: «Raketenbeschuss!»

Jordan konnte nicht fassen, was er da sah. Während er mit weitaufgerissenen Augen auf den Bildschirm starrte, erfasste die Optik der Predator die dichtgedrängte Menschenmenge auf dem Platz. Die erste Rakete schlug ein und schickte eine sichtbare Schockwelle durch die Luft, dann quoll ein Feuerball empor, der eine noch gewaltigere Schockwelle durch die Menge jagte, sie zerstieben ließ. Teile menschlicher Körper flogen in alle Richtungen.

«Lieutenant!» Der Colonel wandte sich an Jordan. «Neue Situation. Schießen Sie diese Drohne ab! Abschießen!»

Jordan kam zur Besinnung und rief schleunigst AWACS an. «Bandsäge-eins-sechs. Bandsäge-eins-sechs, Sprint! Sprint! Sprint!»

Noch während er das sagte, sah er die restlichen Raketen aus den Tragflächen-Hardpoints der Reaper zischen und breit verteilt auf die Pilger hinabregnen.

Der Colonel und die meisten im Raum starrten ungläubig auf den Bildschirm. Sie hatten auf «Death TV» schon entsetzliche Dinge gesehen, aber das hier sprengte alle Dimensionen.

Lazzo verfolgte, wie die Explosionen lautlos Löcher in die Menge rissen. «Die Schweine benutzen thermobare Ladungen.

Die Optik der Predator wanderte über das Gedränge, das wie ein aufgewühlter Ozean brodelte, als die Menschen dem Blutbad zu entfliehen versuchten und sich in ihrer Panik gegenseitig niedertrampelten. Einige DCGS-Leute schrien vor Empörung auf.

«Hauptkontrollraum, empfehle sofortige Zerstörung von Ziel eins.»

Der Colonel schien kurz vor dem Platzen – sein Gesicht war knallrot angelaufen, und seine Augen glühten.

«Sir, es sind Falcons im Anflug. In drei Minuten müssten sie dort sein.»

«Der verdammte Schaden ist ja wohl schon angerichtet, junger Mann! Ich will, dass diese Drohne zurückverfolgt wird, ich will wissen, wer dahintersteckt! Beschaffen Sie mir elektronische Aufklärungsergebnisse und finden Sie heraus, von wo aus das Ding gesteuert wird.»

Während über der Stadt Rauch und Flammen aufstiegen, sahen sie die Reaper abschwenken und noch tiefer hinabgehen – sie hatte ihre sämtlichen Raketen verschossen.

«Hauptkontrollraum, Ziel eins schwenkt auf neuen Steuerkurs … zwo-eins.»

«Kodar drei, hier Hauptkontrollraum. Verstanden.»

Jetzt sahen sie das lautlose Mündungsfeuer von Kleinwaffen in der Menge. Ihr eigener Beobachtungspunkt war immer noch mehr als eine Meile über der mysteriösen Reaper – die Predator war für die Menge dort unten sehr wahrscheinlich nach wie vor unsichtbar, aber die Reaper sahen Hunderttausende Menschen.

«Hauptkontrollraum, ich sehe Kleinwaffenfeuer vom Boden aus. Scheint, als ob die irakische Armee ihr Glück versucht.»

Der Colonel sah Jordan an. «Was zum Teufel war das?»

Jordan schüttelte den Kopf. «Wir waren es nicht, Colonel. Die F-16 sind noch im Anflug.»

Der Colonel trat mit solcher Wucht gegen einen Stuhl, dass dieser umfiel und über den Boden schlitterte. «Verdammter Mist!» Er wandte sich wieder Jordan zu. «Rufen Sie die Jets zurück. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind noch mehr bewaffnete Flugzeuge über diesem Desaster.»

Jordan blies den Einsatz ab und legte wieder auf. Dann blickte er wie jeder im Raum auf den Bildschirm, schockstumm angesichts der Ausmaße des Blutbads.

Die Optik der Predator schwenkte über die Tausende von Verletzten und Toten, Pilger in blutiger Kleidung, irakische Soldaten, die herbeieilten, um Verletzte zu bergen. Menschen weinten und rissen an ihren Kleidern und Haaren, wenn ihnen tote oder sterbende Angehörige aus den Armen gezogen wurden.

Jordan setzte sich wieder hin, innerlich taub. «Das wird tierischen Ärger geben …»

 

Henry Clarke erwachte bäuchlings auf seinem Bett, noch immer im schwarzen Castangia-Nadelstreifenanzug. Mit gerecktem Arm tastete er nach dem Telefon, das da irgendwo im schwachen Schein von Lade-LEDs vor sich hin klingelte. «Verdammt, wo …» Endlich entdeckte er sein Handy auf dem Nachttisch: Das Display glomm durch eine Cocktailserviette mit einer Handynummer und Lippenstiftspuren darauf. Er wischte die Papierserviette beiseite und griff sich das Gerät. «Ja?»

Er setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. «Shit. Ja, bin ich. Okay. Ja.» Er blickte sich um. «Jetzt?» Er sah auf seine Armbanduhr, nickte dann widerstrebend. «Okay. Alles klar. Ich komme runter.»

Zwei Minuten später öffnete Clarke, jetzt in Jeans mit darüber hängendem weißem Button-down-Hemd und barfuß, die rote Tür seines Townhomes in Georgetown. Eine streng aussehende, gutgekleidete Frau in den Fünfzigern kam seine Eingangsstufen herauf. Ein schwarzer Lincoln Town Car stand mit laufendem Motor in der zweiten Reihe. Der Fahrer und ein weiterer Mann im Anzug sahen der Frau nach. Sie bedeutete ihnen weiterzufahren und knurrte dann Clarke an: «Machen Sie, dass Sie wieder reinkommen, Henry, bevor Sie sich noch erkälten.»

Sie marschierte in die Diele, während Clarke die Tür zumachte. «Es ist drei Uhr morgens, Marta. Hätte das nicht noch ein paar Stunden Zeit gehabt?»

«Sie riechen nach Gin.» Sie schnupperte. «Und Parfüm. Sind wir allein?»

«Bis auf das Personal. Wundert mich, dass Sie das nicht auch riechen, bei Ihrer Nase.»

Sie wischte seine spitze Bemerkung mit einer Handbewegung weg, ging weiter und musterte dabei die hohen Stuckdecken, die Föderalstil-Möbel, die aufwendig verzierte Marmorkamineinfassung und die Kunst-Originale. «Ich hatte ganz vergessen, wie Sie hier wohnen. Ein bisschen konservativ für einen Mann in Ihrem Alter.»

Er steckte sein Hemd in die Hose. «Das Haus ist schon lange im Besitz meiner Familie. Erinnert mich an meine Mutter.»

«Ich hätte Sie nicht für den sentimentalen Typ gehalten. Aber bei den K-Street-Mädels wirkt so ein Ambiente zweifellos

«Wie schlimm ist es?» Er war in der Tür stehen geblieben.

Sie schaltete seinen Plasmafernseher an und zappte durch Satellitenkanäle. Blieb als Erstes auf BBC One. Horrorszenen aus Nahost füllten den Bildschirm. Blutgetränkte Straßen, aus der Luft gesehen. Die Laufschrift am unteren Rand verkündete: «US-Drohnenangriff auf Schiiten-Schrein – Tausende Tote und Verletzte.» Die Stimme der Nachrichtenmoderatorin erklärte: «… offizielle Stellungnahme, aber China, Russland und Staatschefs aus der gesamten muslimischen Welt verurteilen den Angriff aufs schärfste.»

Die Livebilder wurden jetzt von einem Amateurvideo abgelöst: Es zeigte eine tieffliegende Reaper-Drohne, die Raketen in die dichten Menschenmassen rings um die Schreine feuerte. Am Rumpf war deutlich das Stars-and-Bars-Emblem der US Air Force zu erkennen.

«Der Vorfall ereignete sich vor den Augen Tausender Pilger, die gerade durch die irakische Stadt Kerbela zogen. Obwohl das Pentagon jede Beteiligung der USA bestreitet, sprechen die von Einwohnern aufgesammelten Wrackteile mit US-amerikanischen Markierungen und Seriennummern eine deutliche Sprache. Viele Stimmen werten diesen Angriff als Vergeltungsakt für eine Serie tödlicher Terroranschläge in den USA – etwa das Bombenattentat, das vor einer Woche den Senator von Virginia, Aaron Arkin, und sechs seiner Mitarbeiter das Leben kostete. Ein Nahost-Diplomat bezeichnete die heutigen Geschehnisse als ‹blinden Rundumschlag gegen unsichtbare Angreifer.›»

«Heilige … was zum Teufel ist da passiert?»

«Haben Sie The Black Swan gelesen?»

«Ich habe den Film gesehen.»

«Was?» Er zuckte die Achseln. «Ist doch nicht das erste Mal, dass die USA die Falschen bombardieren, Marta. Das ist ein Riesenbockmist, aber das versendet sich.»

«Nein. Diesmal ist es anders …» Sie schaltete weiter auf digitale Nachrichtenkanäle, von Al Jazeera über englischsprachiges russisches Fernsehen zu amerikanischen Cable News. Überall kamen Berichte über den Angriff. Aufnahmen von Verletzten, die in Wagen des Roten Halbmonds in Kliniken transportiert wurden. Schreiende Frauen und Kinder. Der größte Teil Amerikas lag noch im Schlaf und ahnte nichts von dieser jüngsten PR-Katastrophe. «US-Reaper-Drohne richtet Massaker unter schiitischen Pilgern an.» Oder krasser: «Das Imperium schlägt zurück.»

Eine Videoschleife zeigte auf die Stadt herabregnende glimmende Wrackteile, unterlegt mit dem endlos wiederholten Halbsatz des Reporters: «… unmittelbar darauf über der Stadt durch wutentbranntes irakisches Militär abgeschossen.»

Sie nickte vor sich hin. «Zerstört, klar. Aber die Chance, an die Wrackteile ranzukommen, ist marginal bis null.»

Er seufzte. «Ein schreckliches Versehen, aber die Aufregung legt sich wieder.»

Sie stellte auf stumm. «Es war kein Versehen. Das hier war ein Angriff auf die Vereinigten Staaten.»

Clarke sah sie verwirrt an.

«Es war keine Drohne von uns, Henry.»

Er ließ sich in einen Ohrensessel sinken. «Was heißt keine Drohne von uns? Wer besitzt denn sonst noch Reaper-Drohnen? Die Briten?»

«Das heißt, es war keine befreundete Reaper-Drohne.» Sie blickte taxierend auf den Bildschirm. «Möchte wissen, wie sie das Ding an unserem Radar vorbeigekriegt haben. Vielleicht

Clarke sah sich nach Papier und Stift um, gab es aber gleich wieder auf und musterte sie stirnrunzelnd. «Wollen Sie sagen, jemand hat eine Reaper kopiert?»

«‹Kopieren› wäre wohl kaum nötig gewesen. Fast die Hälfte unserer Reaper-Drohnen ist im Einsatz verloren gegangen – abgestürzt oder abgeschossen. Und nicht alle wurden geborgen. Auf den Schwarzmärkten kursieren alle möglichen Einzelteile.»

«Im Ernst?»

«Technologie verbreitet sich, Henry, das hat sie nun mal an sich. Deshalb ist ja permanenter Fortschritt so wichtig. Wir müssen immer einen Schritt voraus bleiben. Wir bekommen gerade eine wichtige Lektion erteilt.»

Er deutete mit dem Kinn auf den Fernseher, wo jetzt die Kamera über schreiende verletzte Kinder in einem Krankenhaussaal schwenkte. «Das könnte sehr schlecht für die Marke Amerika sein.»

«Ja, und deshalb ist es so wichtig, die Proliferation dieser Drohnen älteren Typs zu unterstützen. Sonst wird jedes Mal, wenn irgendwo ein vergleichbarer Drohnenangriff stattfindet, die Welt die USA dafür verantwortlich machen. Das darf so nicht weitergehen.»

Er betrachtete einen Moment den stummen Fernseher – die Endlosschleife mit der mysteriösen Drohne, die ihre Raketen abfeuerte. «Glauben Sie, dieser Angriff hat mit den Terrorakten hier in den Staaten zu tun?»

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: «Welche Auswirkungen hat dieses Desaster auf unsere Kunden?»

«Es sei denn, wir schaffen es, einen anderen Schuldigen zu präsentieren.»

«Wenn solche Bilder erst einmal zirkulieren, wird das nicht so leicht zu machen sein.»

«Überlassen Sie das mir. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Leute in den Startlöchern stehen, um ihren mimetischen Zauber zu veranstalten.»

Sie starrten beide auf den Bildschirm, wo jetzt in Tücher gehüllte winzige Leichname durch eine wütende Menge getragen wurden.

2 Vorbefehl

Ein schwarzer Chinook MH-47 flog im Dunkeln eine Talflanke entlang. Bleiches Mondlicht, von den Gipfeln reflektiert, hob für einen Moment die Silhouette des großen Hubschraubers hervor, bevor dieser, zur Gefechtslandung ansetzend, steil ins Schwarz abtauchte. Während seines Manövers spie er alle paar Sekunden aus dem Heck grelle grünlich weiße Täuschkörper aus. Dann zog der Pilot den Bug des Hubschraubers hoch und schwebte auf eine verdunkelte, mit Satellitenschüsseln und Funkantennen gespickte vorgeschobene Einsatzbasis hinab. Der Helikopter drehte sich in einer Staubwolke um seine Längsachse und setzte dann gekonnt auf einer geschotterten Landezone auf.

Einer der Soldaten brüllte «Paatsezhey!» und stieß den Gefangenen vorwärts.

Die Gruppe bewegte sich rasch durch konzentrische Ringe von HESCO-Schutzwällen zum Zentrum des Camps, wo sich neben Fertigbaubaracken ein Antennenwald erhob. Lokale Kräfte in grünen Kitteln, die mit der Errichtung neuer Befestigungsanlagen beschäftigt waren, lehnten sich auf ihre Schaufeln und sahen den Männern nach.

Die Soldaten schoben ihren Gefangenen wortlos an bewaffneten Wachen vorbei in einen inneren Befestigungsring und zu einem mit NATO-Draht gesicherten ungekennzeichneten Gebäude. Ein Wachposten öffnete die Tür und ließ sie in einen Vorraum, wo weitere Wachen eine weitere Tür öffneten. Niemand sagte etwas oder salutierte auch nur, als die Gruppe rasch hindurchtrat.

Sofort schloss sich die Tür hinter ihnen, und sie standen in einem spartanisch wirkenden Raum mit Lagerregalen, Reihen von Funkgeräten in Ladestationen und Waffenständern. Ein Soldat zog ein Messer und schnitt dem Gefangenen die Plastikfesseln von den Handgelenken. Ein anderer nahm ihm die Kapuze ab.

Der Mann orientierte sich in aller Ruhe, während er sich die Handgelenke rieb. Mit dem langen schwarzen Bart und dem kurzen Haar sah er aus wie der Talib schlechthin, und seine schlanke Gestalt und die wettergegerbte Haut verstärkten den

Der Anführer der Soldaten nickte ihm zu. «Schön, Sie wieder hier begrüßen zu können, Odin.»

Der Bärtige antwortete in lupenreinem Mittelwesten-Amerikanisch: «Schön, wieder hier zu sein, Staff Sergeant.»

«Folgen Sie mir. Können wir Ihnen irgendwas bringen?»

Odin schüttelte den Kopf, während sie einen Gang mit etlichen Türöffnungen entlanggingen. Mehrere Offiziere nickten ihm respektvoll zu. Schließlich kamen sie an eine Holztür. Der Staff Sergeant klopfte zweimal und betrat dann einen Briefing-Raum, in dem ein Klapptisch stand. An Faserplatten-Wandelementen hingen Sektorkarten, und LCD-Panels zeigten Live-Satelliten- und Überwachungsbilder. Leiser Sprechfunkverkehr bildete ein stetes Hintergrundrauschen.

«Odin ist hier, Colonel.»

«Wird auch verdammt noch mal Zeit.»

Am Tisch saß ein Mann in den Sechzigern; er trug ein blaues Oxfordhemd, einen dunkelblauen Blazer und Khakihosen. Vor ihm stand ein aufgeklappter Laptop. Sein Blick war hart, seine Art respekteinflößend. Seine kräftigen Hände verrieten den alten Kommandosoldaten.

Der Staff Sergeant ging wortlos hinaus und schloss die Tür hinter sich. Odin nahm Haltung an und salutierte. «Sie wollten mich sprechen, Colonel!»

«Haben Sie vergessen, auf wessen Seite Sie stehen, Master Sergeant?»

«Nein, Sir.»

«Tja, sieht aber ganz so aus. Ihretwegen habe ich einen politischen Shitstorm Stärke zwölf am Hals.»

«Im Kontext betrachtet, sind meine Methoden –»

«Ihre Methoden haben dieser Mission dauerhaft geschadet.

«Was ich getan habe, war strategisch sinnvoll.»

«Nein, Sie dachten, es wäre strategisch sinnvoll – und Denken ist nicht Ihr Job. Ihr Job ist es, den Feind zu töten.»

«Mir hat man beigebracht, dass ein Special Operator selbst denken muss – strategisch wie taktisch. Entweder man stellt sich auf die Situation am Boden ein, oder man wird von den Ereignissen überrollt, Sir.»

Der Colonel musterte Odin. «Inwiefern sollte es strategisch sinnvoll sein, einen Aufständischenführer vor einem bevorstehenden CIA-Raketenschlag zu warnen? Mein S2 meldet, dass der gegenwärtige Aufenthaltsort des Mannes unbekannt ist. Dieser Mistkerl kann jetzt also weiterkämpfen – dank Ihnen.»

Odin schwieg.

«Wie rechtfertigen Sie Ihr Handeln, Master Sergeant?»

Odin dachte über die Frage nach. «Früher oder später ziehen wir hier ab. Und wir müssen mehr zurücklassen als nur radikalisierte junge Männer, die nichts anderes kennen als Krieg. Der Stammesälteste, den ich gerettet habe, ist in den entlegenen Tälern weithin geachtet, und er ist gemäßigt im Vergleich zu den Leuten, die seine Nachfolge angetreten hätten – auch wenn das vermutlich auf den Luftbildern nicht zu sehen war.»

«Task Force Steel sagt, er ist das Zentrum eines Aufständischennetzwerks.»

«Ja, als Reaktion darauf, dass wir sein Land militärisch besetzt halten. Aber wenn wir nicht hier sind, tötet er ausländische Kämpfer und Drogenschmuggler. Wenn wir diesem Mann nicht dazwischenfunken, erledigt er die Arbeit für uns.»

«Trotzdem –»

«Das reicht.» Der Blick des Colonels bohrte sich sekundenlang in Odins Augen. «Wie hat Ihr Team sich bewegt, ohne von unseren Drohnen bemerkt zu werden?»

«Wir haben ihnen Lockziele vorgesetzt – fernbediente Mörser. Die benutzen die Aufständischen dauernd, um Rivalen ans Messer zu liefern. Wir haben agiert, solange die Drohnen abgelenkt waren.»

Der Colonel musterte Odin immer noch. «Sie haben ja mit Ihrer Abneigung gegen Drohnen nie hinterm Berg gehalten.»

«Drohnen sind nützlich zur Aufklärung, aber sie können keinen Menschen am Boden ersetzen. Und wenn Sie mich fragen, schaden diese Raketenschläge mehr, als dass sie nützen. Nehmen Sie nur mal dieses Desaster in Kerbela – die Selbstmord- und Sprengfallenanschläge haben bereits in allen Einsatzgebieten zugenommen. Eine bessere Rekrutierungshilfe hätten sich unsere Feinde kaum wünschen können.»

«Das Pentagon sagt, es war keine unserer Drohnen.»

«Wir wissen doch beide, dass das ziemlich egal ist. Und genau hier liegt das Problem.»

Der Colonel schien solch intensive Debatten mit Untergebenen gewohnt. Er blieb ruhig. «Wie immer Sie dazu stehen mögen, Sergeant, fünfzig andere Staaten setzen alles daran, eigene Drohnen zu entwickeln.» Er hielt einen Augenblick inne. «Was auch der Grund ist, weshalb ich Sie herbeordert habe.»

Odin sah ihn verdutzt an.

«Sagt Ihnen der Begriff letale Autonomie etwas?»

«Ja. Drohnen, die sich selbst steuern und die Tötungsentscheidung ohne direkte menschliche Mitwirkung fällen.»

Odin schwieg einen Moment, sichtlich betroffen. «Das ist eine einschneidende militärische Revolution, Sir.»

«Erklären Sie mir, warum

«Weil es die schlimmsten Aspekte des Cyberkriegs – Anonymität und Skalierbarkeit – mit der physischen Gewalt des kinetischen Kriegs kombiniert. Ein erfolgreiches Modell einer solchen autonomen Kampfdrohne könnte, wenn die Pläne gestohlen werden, in Offshore-Fabriken zigtausendfach nachgebaut und dann ohne Angst vor Vergeltung gegen jeden eingesetzt werden.»

Der Colonel betrachtete Odin und nickte schließlich, als hätte er eine Entscheidung gefällt. «Ich habe eine Mission für Ihr Team, Master Sergeant. Eine Mission, die jemanden erfordert, der, wie Sie es so treffend formuliert haben, selbst zu denken vermag, strategisch wie taktisch. Ich setze Sie auf die BIGOT-Liste für ein hochgradig kompartmentalisiertes Geheimprojekt, Codename Project Ancile. Sie werden einer der drei Menschen sein, die von seiner Existenz wissen, und Sie erstatten mir und nur mir Bericht.»

«Wie lautet mein Auftrag?»

Der Colonel klappte seinen Laptop zu und fixierte Odin. «Sie sollen herausfinden, wer hinter den Drohnenangriffen auf die Kontinental-USA steckt.»

«Sprechen Sie von den Terroranschlägen, Sir?»

«Das ist eine lancierte Geschichte. Die Wahrheit ist weit beunruhigender. Wir glauben, dass die Urheber des Kerbela-Angriffs auch hinter den CONUS-Angriffen stecken.»

Odin dachte darüber nach, was das hieß.

«Noch etwas.» Der Colonel machte eine Effektpause, um

Odin nickte. «Ich glaube ja, Sir.»

3 Raconteur

«Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Joshua Strickland. Ich bin Teamleiter für die Entwicklung visueller Intelligenz hier im Stanford Vision Lab. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind.»

Strickland stand vorn im dunklen, fensterlosen Untergeschosshörsaal des Gates Computer Science Building. Neben ihm füllte das «Kameraauge»-Logo des Vision Lab eine große Leinwand. Im kühlen Beamer-Widerschein sah er bekannte und unbekannte Gesichter in dem überschaubaren Publikum, das hauptsächlich in den ersten beiden Reihen Platz genommen hatte. Er fokussierte den Blick auf die ernsten Mienen direkt vor ihm.

«Besonders herzlich begrüßen möchte ich unsere verehrten Gäste vom Transformational Convergence Technology Office. Und ich danke an dieser Stelle unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Lei Li, ohne deren Unterstützung wir diese Präsentation nicht hätten realisieren können.»

Zaghafter Applaus irgendwo im Dunklen.

Er suchte die Gesichter vorn in der Mitte ab. «Wofür ist das wichtig?»

Er klickte auf der Fernbedienung, und es erschienen Überwachungsaufnahmen von Londoner U-Bahn-Bombern, wie sie durch U-Bahnhöfe gingen oder in Waggons standen. «In einer immer gefährlicher werdenden Welt ist Videoüberwachung das aussichtsreichste Mittel einer Gesellschaft, Bedrohungen bereits im Vorfeld zu erkennen. Doch diese Flut von Überwachungsaufnahmen bedeutet eine exponentielle Zunahme der Menge an Videomaterial, das analysiert werden muss – und zwar in Echtzeit analysiert, wenn es darum gehen soll, kriminelle Akte nicht nur hinterher nachzuverfolgen, sondern sie zu verhindern.»

Es erschien eine neue Folie von einem ausgebrannten Starbucks in einer belebten Straße. Dann ein Zeitungsfoto von ei

Strickland ließ den Blick über seine Zuhörer wandern. Die Leute waren ganz Ohr.

«Wie statten wir Maschinen mit dieser Fähigkeit aus? Wir tun es, indem wir die Art und Weise nachahmen, wie Menschen raumzeitliche Vorgänge verarbeiten. Die visuelle Kognition des Menschen ist auf Veränderung ausgerichtet, und diese Veränderungen rufen das hervor, was wir ‹Aufmerksamkeitszustände› nennen. Wir erzielen Aufmerksamkeitszustände in Bezug auf Videomaterial mittels eines algorithmischen Mechanismus, der Faktoren wie Aufmerksamkeitsfokus, Markierung auffälliger Objekte und kritische Beziehungen zwischen solchen Objekten auf der Ebene von Bewegung und Kontakt beinhaltet. Diese sind notwendig, um einzelne Vorgänge voneinander zu unterscheiden. Eine Serie von Aufmerksamkeitszuständen wird zu einer visuellen Aufmerksamkeitsspur kombiniert, die man als VAT bezeichnet: gewissermaßen eine Narration mit einzelnen Episoden. Eine Geschichte, die sich programmatisch durch maschinenlesbaren Text darstellen lässt – Text, der wiederum algorithmisch auf Relevantes abgesucht werden kann. Dies geschieht in Echtzeit durch eine ‹Leserschaft› von anderen, simpleren Programmen. Deshalb nennen wir unser System Raconteur – weil es das, was passiert, so erzählt, dass gewöhnliche Systeme es verstehen können. Und wie jeder gute Erzähler behält Raconteur im Blick, wie sich die aktuelle Szene in die gesamte Geschichte einfügt.»

Strickland wusste, dass die Mischung aus Jugend und Selbst

«Wir haben mit den Technikern der DARPA zusammen die folgende Demonstration erstellt, unter strenger Beachtung der Leitlinien des Mind’s Eye Project. Bitte denken Sie daran, dass unser System dem Bildmaterial, das Sie – und es – jetzt sehen werden, nie zuvor ausgesetzt war. Nach dem Test nehmen wir Ihre Fragen gern entgegen. Doch zunächst präsentiere ich Ihnen Raconteur, den Geschichtenerzähler …»

Wieder mäßiger Applaus, während die Leinwand dunkel wurde.

Strickland trat beiseite, als davor zwei kleinere Projektionsflächen aufleuchteten. Eine zeigte den Titel «TCTO Phase 1 – Erkennungstest», die andere einen blinkenden Cursor.

Strickland ging auf die Seite des Raums und stellte sich, Rückhalt suchend, zu seinem Projektteam. Angespannt sah er seinen Chefentwickler Vijay Prakash an, aber der gutaussehende, mürrische Bengale ignorierte Stricklands gewölbte Augenbrauen und blickte stur auf die Projektionsfläche. Die übrigen Mitglieder der Doktoranden-Crew – Sourav Chatterjee, Gerhard Koepple, Wang Bao-Rong und Nikolay Kasheyev – bekundeten durch ein Nicken, dass sie sich der Bedeutung des

Jetzt zeigte auch die rechte Projektionsfläche die Worte «TCTO Phase 1 – Erkennungstest». Die Doppelprojektion war so aufgebaut, dass alles, was auf der linken Bildfläche erschien, von Raconteur gedeutet und auf der rechten in Worten beschrieben werden sollte.

Auf seinem Stehplatz im Dunkeln atmete Strickland erleichtert auf. Ein Versagen schon bei der simplen Texterkennung auf der Titelkarte wäre tödlich gewesen. Allerdings wurde die optische Zeichenerkennung von einer lizenzierten Library durchgeführt, nicht von ihrem Programm. Dennoch, die DARPA-Verantwortlichen würden es ihnen nicht nachsehen, wenn sie eine schlechte Library gewählt hätten.

Aber der Test ging bereits weiter. Keine Zeit, über Katastrophenszenarien nachzugrübeln. Auf der linken Projektionsfläche erschien ein schwarz-weißes Überwachungsvideo. Es zeigte eine Frau, die mit einem Aktenkarton einen Büroflur entlangging.

Strickland verfiel wieder in Anspannung. Er hatte die VI-Algorithmen hunderttausend Mal arbeiten sehen und wusste ziemlich genau, wie sie funktionierten, aber sie waren noch nie vor einem so wichtigen Publikum gelaufen. Was jetzt gleich passierte, würde über die nächsten Jahre seines Lebens – des Lebens aller Teammitglieder – und sehr wahrscheinlich über seine weitere Karriere entscheiden. Er fixierte den Cursor auf der rechten Projektionsfläche – dem Raconteur-Ausgabescreen.

Als das Video weiterlief, erschienen auf der rechten Projektionsfläche Buchstaben …

Person trägt Objekt durch Gang.

Anerkennendes Gemurmel lief durch den Raum, aber Strick

Der Cursor begann jetzt, Elemente genauer zu benennen.

Frau trägt Schachtel durch Gang.

Erneutes Gemurmel und etwas Applaus. Strickland sah zu den DARPA-Managern hin, die nickten und leise miteinander redeten. Notizen machten. Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn. Er hatte gar nicht gemerkt, wie verkrampft er gewesen war, aber jetzt, wo die ersten Eindrücke positiv ausfielen, würden die Gutachter gnädiger sein, wenn später noch etwas schiefging. Was auch immer von jetzt an passieren würde, ein Meltdown war es jedenfalls nicht. Sie hatten sich als ernstzunehmend qualifiziert.

Auf der linken Projektionsfläche kamen jetzt Außenüberwachungsaufnahmen: Ein amerikanischer Soldat stand mit umgehängter MP auf einer vermüllten Slumstraße irgendwo in Nahost und gestikulierte zu unsichtbaren Personen hin. Ein kleines Kind – möglicherweise ein irakisches – kam hinter ihm ins Bild. Wieder überfiel Strickland Angst, als der Text weiterrollte …

Bewaffnete Person … erfährt Annäherung durch Kind.

Wieder Applaus und sogar ein paar erregte Ausrufe.

Strickland fühlte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht breitete, unterdrückte es aber sofort. Zu früh zum Feiern.

Uniformierter Soldat erfährt Annäherung durch Kind auf Straße.

Erneut Laute der Begeisterung. So weit, so gut, aber Strickland wusste, das Schwierigkeitslevel würde immer weiter steigen. Prompt hielt das System einen weiteren Soldaten, der ins Bild kam, irrtümlich für eine mögliche Gefahr – #ALARM – bewaffnete Person. Was ja aber so weit daneben auch nicht war.

Schon ging es richtig los! Die Komplexität der visuellen Konzepte steigerte sich schnell. Deshalb fokussierte sich ihr System ja darauf, beim Interpretieren einer Szene zuerst den Kontext abzuleiten, und deshalb vergaß es auch nie, was es vorher gesehen hatte. Das war essenziell, um einen Haufen unnötiger Verarbeitungsprozesse zu vermeiden. Wenn Menschen beispielsweise einen Bürgersteig in städtischer Umgebung entlanggingen, war nicht damit zu rechnen, dass sie plötzlich eine Bergwelt oder wogendes Meer um sich hatten. Das konnte nicht sein – wenn also doch etwas Derartiges auftauchte, war es sehr wahrscheinlich eine graphische Repräsentation wie etwa ein Werbeplakat und nicht die Sache selbst. Die Daisy-Chain-Verkettung der Ereignisse ermöglichte es, das Bekannte als Basislager für die Erkundung des Unbekannten zu nutzen – jedes Mal ein Stückchen weiter zu gehen, wie Ameisen bei der Terrainerkundung.

Strickland wusste wohl, dass selbst ein geistig Behinderter im Vergleich zu spezialisierten Algorithmen ein Allround-Genie war. Dinge auf die simpelsten Elemente herunterzubrechen war die einzige Möglichkeit, etwas Brauchbares zu erzielen. Prakash hatte die Programmarchitektur entwickelt, und das Design war zu viel für Stricklands Gehirn. Aber wenn das verdammte Ding funktionierte, würde er dem Mann alle Arroganz verzeihen.

Auf der linken Projektionsfläche erschien jetzt in einer neuen Szene eine Frau in einer Burka – Burka! Das, was die US-Truppen ein «BMO» nannten, ein «Black Moving Object». Diese DARPA-Sauhunde. Kein Gesicht, Arme und Körper nicht klar erkennbar. Auf dem Bildschirm sah die Frau aus wie ein wandelnder Sack. Aber wenn ihn nicht alles täuschte, war