Charles Dickens und Wilkie Collins


Nicht aus noch ein


Roman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-165-7


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Der Vorhang fällt



Maitag. Ein vergnügtes Treiben ist in Cripple Corner, die Kamine rauchen, der patriarchalische Speisesaal ist mit Blumenkränzen geschmückt und Mrs. Goldstraw, die ehrenwerte Haushälterin äußerst geschäftig, denn an diesem strahlenden Morgen wird der junge Herr von Cripple Cornet mit seiner jungen Gattin getraut, weit von hier: in der Schweiz, in dem kleinen Städtchen Brieg, am Fuße des Simplon, auf dem sie ihrem Geliebten das Leben gerettet hat.

Lustig läuteten die Glocken in dem Städtchen Brieg, Fahnen waren in den Straßen aufgesteckt Büchsenschüsse wurden gehört und Musik von Blechinstrumenten ertönte. Mit Wimpeln geschmückte Weinfässer rollte man unter ein großes Zeltdach auf den Platz vor dem Gasthaus; es sollte umsonst geschmaust und in Saus und Braus gelebt werden. Welche Fülle von Glockengeläut und Fahnen! Teppiche hängen aus den Fenstern, Schüsse knallen, Blechmusik hallt von allen Seiten wieder. Die kleine Stadt Brieg ist im Taumel, wie die Herzen ihrer einfachen Bewohner.

Die letzte Nacht war eine stürmische gewesen, sie hatte die Berge mit Schnee bedeckt. Aber heute scheint die Sonne glänzend, die milde Luft ist klar, die blanken Kirchturmspitzen der kleinen Stadt Brieg strahlen wie Silber und die Alpen sehen aus, wie weiße Wolkenreihen, die sich auf dem blauen Himmel abheben.

Die einfachen Bewohner der kleinen Stadt Brieg haben eine Ehrenpforte aus grünen Zweigen auf der Straße errichtet, durch welche das neuvermählte Paar, wenn es aus der Kirche kommt im Triumph hindurchziehen soll. Sie trägt nach der Kirchenseite hin die Inschrift: Ehre und Liebe Margueriten Vendale! denn die Leute sind stolz auf sie und für sie begeistert. Die Begrüßung unter ihrem neuen Namen ist eine gut gemeinte Überraschung und darum war die Einrichtung getroffen, daß sie, ohne zu wissen warum, auf einem Seitenweg in die Kirche geführt werden sollte; ein Vorhaben, was in der kleinen bergigen Stadt Brieg nicht leicht auszuführen war.

Alles ist in Ordnung, Alles geht und kommt zu Fuß. Im besten Zimmer des Gasthauses, welches festlich ausgeschmückt ist, sind versammelt: die Braut und der Bräutigam, der Neuschateller Notar, der Londoner Advocat, Madame Dor und ein gewisser geheimnisvoller Engländer, allgemein unter dem Namen Monsieur Zhoe Ladella bekannt. Seht Madame Dor in einem Paar fleckenloser Handschuhe, die ihr selbst gehören, nicht mit einer Hand in der Luft, sondern beide Arme und den Hals der Braut geschlungen! Bei dieser Umarmung hatte Madame Dor den Versammelten ihren breiten Rücken zugekehrt, der noch in voller Kraft bestand.

"Vergeben Sie mir, meine Einzige," bat Madame Dor, "daß ich jemals die Katze gespielt habe."

"Die Katze, Madame Dor?"

"Eigens dazu angenommen, um mein liebes Mäuschen zu bewachen," lautete Madame Dor's Erklärung, welche sie mit einem Seufzer der Reue abgab.

"Aber, Sie sind unsre beste Freundin gewesen! Lieber George, versichere es Madame Dor. Ist sie nicht unsre beste Freundin gewesen?"

"Ohne Zweifel, mein Liebling. Wie wäre es uns ohne Sie ergangen?"

"Sie sind beide großmütig," rief Madame Dor, den Trost gern vernehmend und ihn doch zu gleicher Zeit von sich weisend. "Anfänglich habe ich doch die Katze gespielt."

"Aber die Katze im Feenmärchen, liebe Madame Dor," sagte Vendale ihre Wange küssend. "Sie sind eine redliche Frau und weil Sie eine redliche Frau sind, so fühlt Ihr Herz Teilnahme für wahre Liebe."

"Ich möchte Madame Dor ihres Anteiles an den Umarmungen die hier vor sich gehen, nicht berauben," warf Mr. Bintrey, der die Uhr in der Hand hielt, ein, "und ich bin fern davon, Einwendungen zu machen gegen die Art, sich in der Ecke, wie die drei Grazien zusammenzudrängen; ich will nur bemerken, daß es wohl an der Zeit wäre, sich auf den Weg zu machen. Wie sind Ihre Ansichten über den Gegenstand, Mr. Ladle?"

"Sehr klar, Sir," erwiderte Joey mit seinem anmutigsten Grinsen. Ich bin im Ganzen genommen jetzt viel klarer, weil ich so lange auf der Oberfläche gelebt habe. Ich bin niemals halb so lange Zeit auf der Oberfläche gewesen, Sir, aber es hat mir gut getan. In Cripple Corner bin ich zu tief unten und auf der Spitze des Simplon ein gutes Stück zu weit oben gewesen. Die richtige Mitte, glaube ich, ist hier, Sir und wenn ich je in gesellige Lustbarkeit einstimme während den Tagen, die ich noch zu leben habe, so denke ich es heute zu tun, bei dem Toast: Gott segne Beide."

"Ich auch!" sagte Bintrey. "Und jetzt Monsieur Voigt wollen wir beide zwei Marsellaiser darstellen: Allons, marchons Arm in Arm!"

Sie gingen zur Tür hinaus, wo Andre sie erwarteten und sie begaben sich friedlich in die Kirche, in der die Trauung des glücklichen Paares statt fand. Während die Zeremonie vor sich ging, wurde der Notar herausgerufen und kehrte erst zurück als sie beendet war. Sich hinter Vendale stellend klopfte er demselben auf die Schulter."

"Gehen Sie einen Augenblick an die Seitentür der Kirche, Monsieur Vendale. Allein. Lassen Sie Madame bei mir zurück."

Vor der bezeichneten Tür standen die beiden uns wohlbekannten Männer aus dem Hospiz. Sie waren mit Schnee bedeckt und den der Wanderung ermüdet. Sie wünschten ihm Glück, dann legte jeder seine große Hand auf Vendales Brust und während der eine demselben fest in's Auge sah; sagte der andere mit leiser Stimme:"

"Sie ist hier, Monsieur. Ihre Bahre. Ganz dieselbe."

"Meine Bahre? Warum?"

"Still! daß Madame es nicht höre. Ihr Reisegefährte ..."

"Was ist mit ihm?"

Der Mann sah seinen Kameraden an, der Kamerad fuhr in dem Bericht fort. Sie ließen die Hände auf Vendale's Brust liegen.

"Er hat mehrere Tage im ersten Schutzhaus zugebracht, Monsieur. Das Wetter war bald gut, bald schlecht."

"So?"

"Er langte vorgestern in unserm Hospiz an und, nachdem er sich auf dem Boden vor dem Feuer liegend in seinen Mantel eingehüllt, durch Schlaf erfrischt hatte, war er entschlossen weiter zu gehen, um noch vor Eintritt der Dunkelheit das andere Hospiz zu erreichen. Er hatte große Furcht vor jenem Teil des Weges und glaubte, es würde schlechtes Wetter geben."

"So?"

"Er machte sich allein auf den Weg und hatte kaum die Galerie durchschritten, als eine Lawine, gerade wie die, welche unfern der Gantherbrücke hinter Ihnen niederfiel ..."

"Ihn tötete?"

"Wir gruben ihn aus. Er war erstickt und alle Glieder waren ihm gebrochen. Aber, Monsieur, um auf Madame zu kommen. Wir haben ihn auf einer Bahre hergetragen, weil wir ihn hier begraben wollen. Wir müssen mit ihm die Straße herauf, aber Madame darf es nicht sehen. Es würde Unheil bringen, wenn wir die Leiche durch die Ehrenpforte trügen, ehe Madame hindurch gegangen ist. Wir wollen die Bahre auf das Pflaster niedersetzen, von hier gerechnet in der zweiten Querstraße rechter Hand. Wir wollen uns alle vorstellen. Daß Madame sich nicht umsieht nach der zweiten Querstraße rechter Hand! "Es ist keine Zeit zu verlieren. Madame wird sich über Ihr Ausbleiben beunruhigen. Adieu!"

Vendale kehrte zu seiner Braut zurück und zog ihre Hand unter seinen völlig geheilten Arm. Ein hübsches Gefolge wartete ihrer vor dem Hauptportal der Kirche. Sie nahmen ihren Platz an der Spitze des Zuges ein und stiegen die Straße hinab unter dem Läuten der Glocken, dem Abfeuern der Gewehre, dem Flattern der Fahnen, dem Schmettern der Instrumente, dem Vivatrufen, Lachen und Weinen der ganzen aufgeregten Stadt. Die Hüte flogen ab, wo sie vorübergingen, man küßte der Braut die Hände, das ganze Volk jubelte ihr zu: "Des Himmels Segen über das teure Kind! Sieh, dort geht sie in Schönheit und Jugend, sie, die so großherzig sein Leben gerettet hat!"

Nicht weit von der zweiten Straße, rechter Hand, sprach er mit ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Fenster der entgegengesetzten Seite. Als sie bei der Ecke vorüber waren sagte er: "Sieh Dich nicht um, mein Liebling. Ich habe meine Gründe zu der Bitte," und wendete den Kopf zurück. Da, wie er die Straße hinauf sah, erblickte er die Bahre und ihre Träger allein durch den grünen Bogen gehen, während er und sie und der Hochzeitszug hinab schritten dem glänzenden Tal entgegen.


Ende

 

 

Inhalt



Ouvertüre

Erster Akt

Der Vorhang geht auf

Die Haushälterin tritt auf

Die Haushälterin redet

Neue Charaktere auf der Szene

Wilding tritt ab

Zweiter Akt

Vendale liebt

Vendale hat Unglück

Dritter Akt

Im Tal

Auf der Höhe

Vierter Akt

Das Uhrschloß

Obenreizer's Triumph

Der Vorhang fällt

 

 

 

Ouvertüre



Monat und Jahrestag: der dreißigste November eintausendachthundertfünfunddreißig. Londoner Zeit nach der großen Uhr von Saint Paul: zehn Uhr Abends. Auch die geringeren Kirchen Londons lassen ihre metallenen Stimmen ertönen. Einige fangen geschäftig früher als die gewichtige Glocke der großen Kathedrale an, andere beginnen träge drei, vier, ein halbes Dutzend Schlage nach ihr. Alle aber halten genügend die Zeit ein, um ein so mächtiges Klingen in der Luft zu verbreiten, als ob der beschwingte Vater der Götter, der einst seine Kinder verschlang, über die City dahinflöge und tönend seine Riesensense schwinge.

Eine Glocke klingt bescheidener als alle die andern, dem Ohre näher und verspätet sich heute Abend dergestalt, daß sie, nachdem die übrigen ausgeschwungen haben, allein noch hörbar bleibt. Es ist die Uhr des Findelhauses. Früher wurden die Kinder schweigend, ohne daß man ein Wort über sie wechselte, in der Wiege vor der Eingangspforte aufgenommen. Jetzt verlangt man Auskunft über sie und nimmt sie nach Gunst den Müttern ab, welche alle natürlichen Rechte und jeden Anspruch aufgeben, je wieder etwas von ihren Kindern zu erfahren.

Der Mond scheint voll und der Abend ist schön. Leichte Wolken schweben am Himmel. Der Tag war kein guter, denn Schmutz und Schlacken, zu denen sich noch der dichte fallende Nebel gesellt, liegen schwarz in den Straßen. Die verschleierte Dame, welche unweit der Hintertür des Findelhauses auf und nieder geht, muß feste Schuhe anhaben.

Sie eilt hin und her, vermeidet sichtlich den Ort, wo die Mietwagen stehen und hält oft die Schritte am westlichen Ende des Mauervierecks im tiefen Schatten an, ihr Auge heftet sich auf die Tür. Wie über ihr die Klarheit des monddurchleuchteten Himmels waltet und unter ihr der Schmutz der Straße lagert, so mögen ihrer Seele zwei verschiedene Bilder vorschweben und dieselbe zwischen Furcht und Hoffnung hin und wieder reißen. Wie ihre Fußtapfen einer über den andern fortgehend ein Labyrinth in den Schlamm gedrückt haben, so mag ihr Lebenslauf sich verirrt und sie planlos in unentwirrbare Vermittlungen geführt haben. Die Hintertür des Findelhauses öffnet sich und ein junges Mädchen tritt heraus. Die Dame steht unbeweglich, mit unverwandten Blicken. Sie hört, wie die Pforte von innen wieder verschlossen wird und folgt dem jungen Mädchen nach.

Zwei oder drei Straßen mögen so schweigend durchschritten sein, ehe sie, dicht hinter dem Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit her schreitend, ihre Hand ausstreckt und das Mädchen berührt. Die Letztere hält erschrocken ihre Tritte ein und sieht sich um. "Sie haben mich auch gestern angehalten und als ich mich zu Ihnen wendete, nicht sprechen wollen. Warum verfolgen Sie mich wie ein stummer Schatten?"

"Nicht weil ich nicht sprechen wollte," entgegnete die Dame mit leiser Stimme, "sondern weil ich nicht konnte, als ich zu reden versuchte."

"Was wollen Sie von mir. Ich habe Ihnen nie etwas zu Leide getan."

"Nein."

"Kenne ich Sie?"

"Nein."

"Also, was wollen Sie von mir?"

"Zwei Guineen befinden sich in diesem Papier. Nehmen Sie das armselige Geschenk und ich will es sagen."

Des jungen Mädchens ehrliches und freundliches Antlitz überzog eine tiefe Röte, als sie erwiderte: "In dem ganzen großen Haushalt, dem ich angehöre, unter den Erwachsenen, wie unter den Kindern, gibt es keinen, der nicht ein freundliches Wort für Sally hätte. Ich bin Sally. Könnte man mich so lieb haben, wenn ich zu bestechen wäre?"

"Es ist nicht meine Absicht, Sie zu bestechen; ich wollte Ihnen nur eine geringe Belohnung zukommen lassen!"

Sally schloß nicht unfreundlich aber bestimmt, die Hand, die ihr das Geld anbot, und wehrte sie von sich. "Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann," Ma'am, so werde ich es ohne das tun, aber Sie verkennen mich, wenn Sie meinen, daß ich Ihnen des Geldes wegen gefälliger bin. Was wünschen Sie?"

"Sie sind Kinderwärterin oder Dienerin in dem Findelhause. Ich habe Sie heute und gestern herauskommen sehen."

"Ja. Das bin ich. Ich bin Sally."

"Ihre Züge sind freundlich und einnehmend. Ich kann mir denken, wie die Kleinen an Ihnen hängen."

"Gott vergelte es ihnen. Das tun sie."

"Die Dame schlug ihren Schleier zurück und enthüllte ein Antlitz, welches nicht älter als das der Kinderwärterin war, ein Antlitz viel geistvoller und feiner, aber erregt und non Sorgen durchfurcht.

"Ich bin die unglückliche Mutter eines kürzlich von Euch aufgenommenen Kindes. Ich habe eine Bitte."

"Sally instinctmäßig die Empfindung verstehend, welche die Dante veranlaßte den Schleier zurückzuschlagen, deckte ihn wieder über deren Antlitz; und fing an zu weinen. Die Handlung war wie alle ihre Handlungen einfach und natürlich.

"Sie wollen meine Bitte erhören?" fuhr die Dame dringend fort. "Sie wollen nicht taub sein für das in Angst gesprochene Gebet einer so gramgebeugten Flehenden, wie ich bin?"

"O, du mein lieber Himmel!" rief Sally "Was soll ich sagen und was kann ich tun? Reden Sie nicht von Gebeten. Gebete werden an den Vater aller Wesen gerichtet, aber nicht an Kindermädchen und solche Leute. Und, noch Eins! Ich "werde nur noch ein halbes Jahr in meiner Stellung bleiben, bis eine Andere angelernt sein wird. Ich werde heiraten. Ich hätte heute und gestern Abend nicht ausgehen sollen, aber mein Dick, das ist der junge Mann, den ich heiraten will, ist krank und ich stehe seiner Mutter und Schwester, die ihn pflegen, bei. Nehmen Sie sich Ihr Unglück nicht so zu Herzen. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen."

"O, gute, liebe Sally," seufzte die Dame und ergriff flehend des Mädchens Kleid. "Weil Du voller Hoffnung erscheinst und ich ganz hoffnungslos bin, weil ein schönes Leben vor Dir liegt, was nie, nie mehr vor mir liegen kann, weil Du den gerechten Anspruch hast, ein geachtetes Weib und eine stolze Mutter zu werden, weil Du lebst und liebst und dereinst sterben mußt, erhöre mein verzweifeltes Flehen um Gottes willen!"

"Gott im Himmel bewahre mich!" rief Sally, den Ausdruck der höchsten Verzweiflung auf das dritte Wort legend. "Was kann ich Arme tun? Und schrecklich! wie Sie meine eigenen Worte gegen mich gebrauchen. Ich erzählte Ihnen wie bald ich mich verheiraten würde, um Ihnen deutlich zu machen, daß ich das Haus verließe, Ihnen also nicht helfen könnte, wenn ich auch wollte, arme Seele! Und nun wenden Sie die Sache so, daß es mir selbst erscheint, als ob es grausam wäre, mich verheiraten zu wollen, statt Ihnen zu helfen. Das ist nicht recht. Ich frage Sie, ob das recht ist? Arme Seele!"

"Sally, höre mich, meine Gute. Ich bitte nicht um Deinen Beistand für etwas Zukünftiges. Etwas Vergangenes will ich wissen, was in zwei Wörtern gesagt werden kann."

"O weh! das wird schlimmer und schlimmer!" rief Sally, "vorausgesetzt, daß ich errate, welche beiden Wörter Sie meinen."

"Du errätst sie. Welche Namen hat man meinem armen Kinde gegeben? Ich habe von der im Hause üblichen Sitte gelesen. Die Kinder werden in der Capelle getauft und mit irgend einem Zunamen in das Buch eingetragen. Der Knabe ist am Montag Abend aufgenommen. Welche Namen hat man ihm gegeben?"

Bei ihrem leidenschaftlichen Beschwören wollte die Dame mitten in dem Schlamm der Seitenstraße, in welche sie eingetreten waren, eine öde Gasse ohne Ausgang, die an den dunklen Garten des Findelhauses stieß, auf die Knie sinken, aber Sally verhinderte sie daran."

"Nicht doch! nicht doch! Sie treiben es so, daß ich mir einbilden könnte, etwas besonders Gutes zu tun. Lassen Sie mich in Ihr liebes Antlitz blicken. Legen Sie Ihre beiden Hände in die meinen. So, jetzt versprechen Sie, daß Sie mir nichts weiter, als die beiden Wörter abfragen wollen."

"Nichts weiter! nichts weiter!"

"Sie wollen nie schlechten Gebrauch von denselben machten, wenn ich sie Ihnen genannt habe?"

"Nie! nie!"

"Walter Wilding."

Die Dame lehnt ihren Kopf an des Mädchens Brust, umfaßt es mit beiden Armen; spricht mit leiser Stimme einen Segenswunsch, fügt die Worte: bring' ihm einen Kuß von mir, hinzu, und ist verschwunden.

Monat und Jahr: der erste Sonntag im Oktober des Jahres 1841 Londoner Zeit nach der großen Uhr von Saint Paul: halb zwei Nachmittags. Die Glocke des Findelhauses stimmt heute genau mit der der Kathedrale. Der Gottesdienst in der Capelle ist vorüber und die Findelkinder sind beim Mittagbrod.

Viele Menschen wohnen nach der Sitte des Hauses dem Mittagessen bei: Zwei oder drei Aufseher, ganze Familien der Vereinsvorstände, kleinere Gruppen aus Leuten beiderlei Geschlechts bestehend, und noch einzelne Dazugekommene verschiedenen Standes. Die Herbstsonne scheint tief in das Gemach und die plump eingerahmten Fenster, durch die sie hineinblickt und die Wände mit Holzpanälen, welche sie streift, sind solche Fenster und Wände, wie Hogarths Bilder sie aufweisen. Das Speisezimmer der Mädchen, zu gleicher Zeit auch das der kleineren Kinder, übt die Hauptanziehungskraft aus. Zierliche Dienerinnen gleiten schweigend um die regelmäßig geordneten Tische herum, an welchen ebenfalls Schweigen herrscht. Die Zuschauenden schreiten hin und wieder oder stehen still, wie es ihnen gefällt. Geflüsterte Erkundigungen nach einem Kinde, welches die und die Nummer hat und am Fenster mit der und der Nummer sitzt, sind nicht selten; viele von den Gesichtern der Kinder sind dazu angetan Aufmerksamkeit zu erregen. Einige unter den Zuschauern, die nicht in das Haus gehören, wiederholen ihre Besuche öfter. Sie haben eine Art von Bekanntschaft mit Inhabern gewisser Plätze vom Tische geschlossen und machen an den besagten Stellen Halt, um sich hinabzubeugen und ein oder zwei Worte zu sprechen.

Es schmälert ihr Verdienst nicht, daß auf diesen Plätzen immer Kinder von anziehender Persönlichkeit sitzen. Die Einförmigkeit des langen weiten Raumes wird angenehm durch diese kleinen Zwischenfälle belebt, so geringfügig sie sind.

Eine verschleierte Dame, welche ohne Begleiter hier ist, geht unter den Anwesenden umher. Es scheint, daß weder Neugier noch der Zufall sie hierher geführt haben, denn der Anblick erregt sie, und sie schreitet an den Tischen mit unhehaglicher Empfindung und zögernden Tritten entlang. Endlich erreicht sie den Speisesaal der Knaben. Derselbe ist viel weniger gesucht, als der der Mädchen und von Erwachsenen fast leer, wie sie von der Tür aus sehen kann.

Auf der Schwelle steht eine ältere Dienerin, um aufzupassen, eine Art von Haushälterin oder Hausmutter. Die Dame richtet einige gewöhnliche Fragen an sie, zum Beispiel: "Wie viel Knaben sind hier? In welchem Alter werden sie in das Leben entlassen? Kommt es häufig vor, daß sie Lust haben auf die See zu gehen!?" und so fort. Die Dame spricht mit immer leiserer Stimme, bis sie die Frage tat: "Welcher ist Walter Wilding?"

Die Dienerin schüttelt den Kopf. Es ist gegen die Regel, so zu fragen.

"Sie wissen, welcher Walter Wilding ist?"

Die Dienerin fühlte so fest die Augen der Dame, die ihr Gesicht forschend betrachtete, auf sich geheftet, daß sie die ihren zu Boden senkte, damit dieselben nicht zu Verrätern würden und nach der gewünschten Richtung hinüber flögen.

"Ja; weiß, welcher von den Knaben Walter Wilding ist, aber es ist nicht meines Amtes, Martin, Ma'am zu Namen zu nennen."

"Sie können mir ihn zeigen, ohne ihn zu nennen."

Die Hand der Dame begegnete leise der der Dienerin. Es entstand eine Pause und tiefes Schweigen.

"Ich werde um die Tafeln herum gehen," sagte die von der Dame Angesprochen, sich den Anschein gebend, als ob sie gar nicht zu derselben redete. "Folgen Sie mir mit den Augen. Der Knabe, bei dem ich still stehe und mit dem ich spreche, geht Sie nichts an, aber der Knabe, den ich anfasse, ist Walter Wilding. Reden Sie nicht weiter mit mir, und entfernen Sie sieh von mir."

Sogleich dem Winke Folge leistend, tritt die Dame in das Zimmer hinein und sieht sich darin um. Nach einigen Augenblicken geht die Dienerin, als ob es ihr Amt verlange, an der Außenseite der Tafeln entlang, indem sie linker Hand beginnt. Sie wandert die Reihen hinab, wendet sich um und kommt zwischen den Tischen an der inneren Seite zurück. Von ungefähr zu der Lady hinüber sehend, heilt sie ihre Schritte ein, beugt sich vor und spricht. Der Knabe, den sie anredet, hebt den Kopf in die Höhe und antwortet. Wie sie zuhört was er sagt, legt sie ihre Hand freundlich auf die Schulter des kleinen Nachbars zur Rechten. Damit die Bewegung deutlich sei, läßt sie, während sie weiter redet, ihre Hand auf der Schulter liegen und klopft sie zwei oder dreimal, ehe sie weitergeht. Sie vollendet ihren Umgang um die Tische, ohne ein anderes Kind anzurühren und verläßt durch eine Tür am entgegengesetzten Ende das Zimmer.

Das Mittagessen ist vorüber. Die Dame geht an der Außenseite der Tafeln entlang, indem sie linker Hand beginnt, sie wandelt die langen Reihen hinab, wendet sich um und kehrt an der inneren Seite zwischen den Tischen zurück. Es ist gut für sie, daß noch andere Leute eingetreten sind und hier und dort verstreut stehen. Sie schlägt den Schleier zurück und bei dem bezeichneten Knaben still stehend, fragt sie ihn, wie alt er sei?

"Zwölf Jahr, Ma'am," antwortet er und richtet seine glänzenden Augen auf sie.

"Bist Du gesund und fröhlich?"

"Ja, Ma'am."

"Willst Du das Zuckerwerk von mir nehmen?"

"Wenn Sie es mir geben wollen."

Sich zu diesem Zwecke tief hinab beugend, berührt die Dame mit Stirn und Haar des Knaben Antlitz. Dann läßt sie den Schleier wieder herab, geht vorüber und geht hinaus, ohne sich umzusehen.




Erster Akt

Der Vorhang geht auf



In einer Sackgasse der City von London, die weder für Fuhrwerk noch Fußgänger einen Durchweg bot, einer Sackgasse, die in die abschüssige, schlüpfrige, krumme Straße mündet, welche die Verbindung zwischen Towerstreet und dem Middleser Ufer der Themse herstellt, befand sich das Geschäftslocal von Wilding u. Co., Weinhändler. Wahrscheinlich als scherzhaftes Zugeständnis davon, daß der große Haupteingang des Locales wie eine Barricade die Welt verrammelte, trug der unterste Teil der abschüssigen Straße, von der aus man an den Fluß gelangte (wie der Geruch deutlich verspüren ließ) den Namen BreakNeckStairs. Die Sackgasse selbst wurde in früheren Zeiten treffend genug Cripple Cornet getauft.

Schon viele Jahre vor dem Jahr 1861 hatten die Leute aufgehört, in BreakNeckStairs Boote zu mieten und die Schiffer sich davon entwöhnt, dort anzulegen. Der schlammige Weg hatte den nach und nach zur Reife gediehenen Entschluss sich umzubringen ausgeführt und sich in den Fluß gestürzt, und so blieb nichts als zwei oder drei verstümmelte Pfähle und ein rostiger eiserner Ring, der zum Befestigen der Boote gedient hatte, von BreakNecks vergangener Pracht übrig. Manchmal indessen legte ein mit Kohlen beladener Kahn gegen das Ufer an, geschäftige Hebel wurden aufgerichtet, die anscheinend nichts taten als Schmutz heraufbefördern. Die Ladung wurde in der Nähe abgeliefert. Das Boot fuhr wieder fort und war verschwunden; für gewöhnlich aber bestand der einzige Verkehr in BreackNeckStairs aus dem Transport von Fässern und Flaschen, die entweder voll oder leer waren, entweder fortgeschafft wurden aus den Kellern oder hineingeschafft wurden in die Keller Von Wilding und Co., Weinhändler. Aber selbst dieser Verkehr fand nur dann und wann statt und über dreiviertel Zeit der steigenden Flut spülte und leckte der schmutzige, unreinliche, graue Fluß ungestört an dem rostigen Ring, als ob er einmal von dem Dogen und dem Adriatischen Meere vernommen habe und sich danach sehnte, auch eine Vermählung zu feiern, etwa mit dem mächtigen Erhalter allen Schlammes in seinen Fluten, mit dem Right Honourable Lord Mayor.

Zwei hundert und einige fünfzig Yards (vom untersten Anfang von BreakNeckStairs aus gerechnet) auf der Anhöhe geradezu, rechter Hand, befand sich Cripple Cornet. Cripple Cornet hatte einen Brunnen, Cripple Cornet hatte einen Baum. Ganz Cripple Corner gehörte Wilding und Co., Weinhändler. Die Kellerräume lagerten darunter, die Gebäude erhoben sich darüber. In den Tagen, wo Kaufherren noch die City bewohnten, war eines derselben wirklich ein Wohnhaus gewesen; ein prächtiges Schirmdach ohne sichtbare Stützen breitete sich über dem Torweg aus, wie das Schallbrett über einer Kanzel. Es hatte auch eine Anzahl langer schmaler Streifen, die Fenster vorstellten und in der Front des finsteren aus Backsteinen errichteten Hauses so verteilt waren, daß sie überall gleich häßlich erschienen. Auf dem Dach befand sich eine Kuppel mit einer Glocke.

"Wenn ein Mann von fünf und zwanzig Jahren seinen Hut aussetzen und sagen kann: Dieser Hut bedeckt den Eigentümer dieses Besitztums und des Geschäftes, welches sich an dieses Besitztum knüpft, da denke ich, Mr. Bintrey, ohne zu prahlen, er könne nicht anders als von tiefer Dankbarkeit durchdrungen sein. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erscheinen mag, aber mir erscheint es so."

Mr. Walter Wilding sprach das zu seinem Advocaten, in seinem eigenen Comtoir, indem er den Hut vom Riegel nahm, um seinen Worten die Tat folgen zu lassen. Danach hing er den Hut wieder auf, um nicht unbescheidener zu erscheinen als er war.

Ein unverdorbenen offen blickender, treuherziger Mann war Mr. Walter Wilding, mit merkwürdig weißem und rosigem Gesicht. Seine Gestalt war fast zu stark für einen jungen Mann, obgleich sie recht stattlich aussah. Mit krausem braunen Lockenhaar und blauen, glänzenden, einnehmenden Augen gab er sich als einen äußerst mitteilsamen Mann, als einen Mann, dessen Beredsamkeit der nicht zu hemmende Ausfluß innerer Zufriedenheit und Dankbarkeit war. Mr. Bintrey dagegen war ein vorsichtiger Mann mit immer feuchten Augen und einem großen vorgebeugten kahlen Kopf. Er belustigte sich innerlich höchlich über das Komische einer offenen Sprache, einer offenen Hand und eines offenen Herzens.

"Ja," sagte Mr. Bintrey. "Ja. Ha, ha!"

Eine Flasche, zwei Weingläser und ein Teller mit Kuchen standen ans dem Tisch.

"Mögen Sie den fünfundvierzigjährigen Portwein?" fragte Mr. Wilding.

Ihn mögen?" wiederholte Mr. Bintrey. "Ob ich es tue, Sir!"

"Er ist aus der besten Ecke unseres besten Weinverschlages, der fünfundvierzigjährigen aufweist" sagte Mr. Wilding.

"Danke Ihnen, Sir," sagte Mr. Bintrey. "Er ist ausgezeichnet."

Der Advokat lachte, als er das Glas in die Höhe hielt und es beäugelte, vergnügt über die eigentlich höchst possierliche Idee, solchen Wein fortzugeben.

"Und nun," sagte Mr. Wilding, der am Sprechen über Geschäftssachen eine wahrhaft kindische Freude empfand, "haben wir Alles in's Reine gebracht, Mr. Bintrey, wie ich glaube."

"Alles," sagte " Mr. Bintrey.

"Einen Compagnon gesichert ..."

"Compagnon gesichert," sagte Bintrey.

"Bekannt gemacht, daß wir eine Hanshälterin brauchen ..."

"Eine Haushälterin brauchen," sagte Bintrey, "welche sich persönlich melden soll in Cripple Corner, Great Towerstreet von zehn bis zwölf, morgen nämlich."

"Die Geschäfte meiner lieben verstorbenen Mutter abgewickelt ..."

"Abgewickelt," sagte Bintrey.

"Und alle Auslagen bezahlt."

"Alle Auslagen bezahlt," sagte Bintrey, aus vollem Halse lachend des spaßhaften Umstandes wegen, daß sie ohne Feilschen bezahlt worden waren.

"Das Andenken meiner geliebten verstorbenen Mutter überwältigt mich immer, Mr. Bintrey," fuhr Mr. Wilding fort, indem sich seine Augen mit Träuen füllten, die er mit dem Taschentuch abtrocknete. "Sie wissen, wie ich sie geliebt habe, Sie wissen, wie sie mich geliebt hat. Die höchste Zärtlichkeit, die zwischen Mutter und Kind denkbar ist, hat zwischen uns geherrscht, und von der Zeit an, wo sie mich in ihre Obhut nahm, kann ich mich nicht der kleinsten Uneinigkeit, nicht der kleinsten Mißstimmung unter uns erinnern. Dreizehn Jahr im Ganzen! Dreizehn Jahr unter der Obhut meiner lieben verstorbenen Mutter, Mr. Bintrey und davon die letzten acht als ihr Sohn anerkannt! "Sie kennen die Geschichte, Mr. Bintrey, wer kennt sie besser als Sie, Sir!" Mir. Wilding seufzte und trocknete sich die Augen, ohne während der letzten Bemerkungen den Versuch zu machen, seine Rührung zu verbergen.

Mr. Bintrey genoß wieder von dem Portwein, der ihn so vergnügt stimmte, und sagte, nachdem er ihn im Munde hin und hergespült hatte: "Ich kenne die Geschichte!"

"Meine geliebte, verstorbene Mutter, Mr. Bintrey," fuhr der Weinhändler fort, "ist schändlich hintergangen worden und hat viel gelitten. Aber über diesen Punkt blieben die Lippen meiner geliebten, verstorbenen Mutter geschlossen. Von wem hintergangen und unter welchen Verhältnissen? weiß der Himmel allein. Meine geliebte verstorbene Mutter hat nie den Namen des Verräters ausgesprochen."

"Sie hatte mit sich abgeschlossen," sagte Mr. Bintrey, aufs Neue seine Gaumen mit Wein bespülen, "und war darüber ruhig geworden." Sein Zwinkern mit den Augen fügte ziemlich deutlich hinzu: "Verteufelt viel ruhiger, als Sie es jemals sein werden."