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Emil Droonberg

Südlich von Tristan da Cunha

Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1. PROLOG

 

Die kleine Gastwirtschaft von Hein Steffens stand dicht am Kai des stillen, verträumten Hafens von Apenrade, dessen beschauliche Ruhe ein halbes Dutzend Fischerewer mehr betonten als unterbrachen und in die nur die Ankunft und Abfahrt des täglichen kleinen Dampfers von und nach Sonderburg eine geringe Abwechslung brachte. Wenn einmal ein Segelschiff von großer Fahrt in diesem Hafen erschien, so war das ein ganz außergewöhnliches Ereignis, und man konnte dann auch immer sicher sein, dass es im Orte selbst beheimatet war.

Einmal auf einer Reise, die mich nach Apenrade geführt, hatte ich das Glück, ein solches, am Kai vertaut, dort zu sehen. Ich konnte es in diesem Falle wirklich als ein Glück bezeichnen, denn die ‚Karla‘ war kein Schiff, wie man sie heute ausschließlich zu sehen bekommt, gebaut nach den scharfen, schmissigen Linien nüchterner, hetzender Geschäftigkeit; sondern eines, das den Beschauer wie ein Modell aus einem Schifffahrtsmuseum anmutete, mit seinem schweren, behäbigen Rumpf und vor allem dem wunderlichen Deckaufbau.

Solch ein Deck mit dem erstaunlich vielen Gangraum und den bequemen Bänken auf dem Dach der Achterkajüte, die förmlich zu beschaulichem, lungerndem Niedersitzen einluden und auf einem modernen Segelschiff einfach unmöglich wären, erinnerte an ein Zeitalter vergangener Romantik und erweckte Vorstellungen von einem blauen Himmel über einer weiten, wogenden Wasserfläche; einer heißen Sonne, die in dem weißen Gischt der Wellenkämme blinkt und glitzert, und fruchtbaren, grünen Inseln mit hohen, schlanken Palmen am Ufer, an denen das Schiff, seine weißen Segel von einer frischen Brise geschwellt, wie im Traum vorüberglitt.

Und diese Bilder konnten um so leichter und ungestörter vor dem Auge aufsteigen, als das Schiff träge und wie ausgestorben, mit keiner Menschenseele, nicht einmal einem Wächter an Bord, hier am Kai lag.

So stand ich lange und ließ meine Gedanken schweifen. Zuletzt wandte ich meine Schritte der kleinen Gastwirtschaft von Hein Steffens zu, da sie kaum einen Steinwurf weit entfernt lag und ihre Fenster einen vollen Ausblick über den Hafen und dieses seltsame, aber anscheinend noch immer seetüchtige Schiff gewährten. Es verlangte mich, etwas Näheres darüber zu hören.

Hein Steffens war auch ganz der Mann, mir jede gewünschte Auskunft in seemännischen Dingen, soweit sie mich interessieren konnten, zu geben; denn nicht nur war er selbst bis noch vor Kurzem Seemann gewesen, sondern ich überzeugte mich auch bald, dass er gern alte Erinnerungen aus seinem Seeleben auskramte, wenn er einen willigen Zuhörer fand.

Und was konnte er alles erzählen! Denn er war Matrose gewesen zu einer Zeit, wo die eilfertigen geschäftstüchtigen Dampfer noch nicht die Segelschiffe von allen sieben Weltmeeren verdrängt hatten; wo die Kapitäne und Offiziere noch Seeleute und nicht Techniker, wie heute, waren; wo aber der Mann vor dem Mast auch der rücksichtslosen Willkür der Kapitäne preisgegeben war und deren Geldgier und Habsucht ihm selten etwas anderes als billig erhandelte schlechte Erbsen und Bohnen, verdorbenes Salzfleisch und ‚lebendigen‘ Schiffszwieback als Nahrung gewährte.

Davon erzählte er, und ich blieb länger im Orte, als ich beabsichtigt hatte, und ließ mir erzählen, ohne dass wir auch nur ein einziges Mal durch einen anderen Gast gestört worden wären.

Mit der ‚Karla‘ hatte es keine besondere Bewandtnis. Sie war etwas altmodisch, gewiss, aber so bequem, wie man die Schiffe heute gar nicht mehr baut, und Hein Steffens würde sie noch jedes Mal einem dieser neumodischen Kästen vorziehen. Sie würde auch wieder in See gehen, wenn sich die Eigentümer über verschiedene Dinge verständigt hätten.

Er selbst hatte in seiner langen Dienstzeit vor dem Mast allmählich seine Knochen steif werden gefühlt und schließlich den Wunsch gehabt, sich irgendwo vor Anker zu legen und den Rest seines Lebens in geruhsamer Beschaulichkeit zu verbringen. Zu diesem Zweck hatte er die kleine Wirtschaft gegründet, die freilich nur aus seiner Wohnstube bestand und in der bedauerlicherweise die Gäste fehlten. Es mochten wohl Tage vergehen, ohne dass sich ein Gast sehen ließ, sodass ihm zuletzt Zweifel an der Durchführbarkeit seines Entschlusses gekommen zu sein schienen.

Als ich ein paar Monate später Apenrade wieder besuchte, fand ich ihn denn auch nicht mehr vor. Er hatte sich, wie die Frau mir erzählte, die die Wirtschaft ohne Gäste weiterführte, genötigt gesehen, wieder als Matrose anzumustern, und fuhr zurzeit auf einem dänischen Segelschiff.

Seitdem waren über zwei Jahre vergangen.

Wieder saß ich in der kleinen Wirtschaft am Fenster und sah hinaus auf den Hafen. Hein Steffens freilich würde niemals wieder zu ihm zurückkehren.

Sein Schiff war untergegangen und er mit ihm. Die Sache hatte viel Aufsehen erregt und war in der dänischen Presse ausführlich besprochen und nach allen Seiten hin erörtert worden, denn es war festgestellt, dass der Eigentümer den Untergang durch einen Helfershelfer absichtlich zum Zwecke eines Versicherungsbetruges hatte herbeiführen lassen.

Und noch ein anderer Umstand war dabei, wie die Witwe erzählte, der die Sache noch auffallender machte. Irgendwo in der Südsee hatte das Schiff nämlich in der von Bergen eingeschlossenen Bucht eines Koralleneilandes ein uraltes Schiff entdeckt, das jetzt natürlich nur mehr ein Hulk, ein abgewracktes Schiff war, in früheren Zeiten aber aller Wahrscheinlichkeit nach als Piratenschiff gedient hatte.

Der Offizier, der mit einigen Matrosen in einem Boot nach der Insel abgesandt worden war, um frisches Wasser einzunehmen, während das Schiff draußen vor dem Atoll langsam hin und her kreuzte, hatte dabei den alten Hulk in einer stillen Bucht liegen sehen. Er war an Bord gegangen, um ihn zu besichtigen. Von dieser Besichtigung hatte er ein Stück vergilbtes Papier mitgebracht, auf dem einige Worte geschrieben standen. Der größte Teil der Schrift war aber verblichen und nicht mehr lesbar. Die Zeitungen hatten diese Aufzeichnungen veröffentlicht, denn man glaubte allgemein, dass sie eine wichtige Mitteilung enthielten. Viele meinten sogar, es seinen vielleicht Angaben über einen verborgenen Schatz, da die Seeräuber früher, wenn sie sich von einem Kriegsschiff bedrängt und in ihrem Schlupfwinkel entdeckt sahen, ihre geraubten Schätze oft an Land schafften und in ein sicheres Versteck brachten. Das machte natürlich die Leute noch viel begieriger, die Schrift zu entziffern, und es hatte wohl kaum einen im Lande gegeben, der sich nicht damit abgequält hätte. Soviel sie wusste, war es aber keinem gelungen.

„Ich muss übrigens die Zeitung, in der ich es las, noch hier haben“, endete sie, indem sie nach einem Seitentisch ging und längere Zeit in einem Stapel dort liegender alter Zeitungen herumsuchte.

„Es ist nur noch diese eine Nummer da“, sagte sie endlich. „Die ‚Haderslebener Zeitung‘. Ich hatte sie alle aufgehoben, aber sie sind doch weggekommen. Es ist ja nun auch schon über zwei Jahre her.“

Sie reichte mir das Blatt, und ich nahm es mit großem Interesse.

Auf einer der Innenseiten, die aber nach außen gefaltet war, fiel mein Blick auf eine zweispaltige Überschrift mit einem langen Bericht darunter, und ich begann zu lesen:

 

Das Geheimnis des alten Schiffshulks"

3. Fortsetzung Nachdruck verboten.

 

Und zuletzt betrat Sigurd Jensen einen Raum in dem alten Schiffshulk, der, nach seiner Ausstattung zu urteilen, die Kabine des Kapitäns gewesen sein musste. Wenigstens zeigte er all die verschwenderische Kostbarkeit der Einrichtung einer solchen, wie sie in jener Zeit üblich war, wie man sie auf unseren modernen Handelsschiffen mit ihrer nüchternen Zweckmäßigkeit aber schon längst nicht mehr findet.

Und auch hier, wie überall im Schiff, war alles noch so, als ob der Bewohner dieses Raumes ihn eben erst für einen kurzen Augenblick verlassen hätte, obwohl nach Jensens Schätzung nahezu zweihundert Jahre vergangen sein mussten, seitdem das geschehen war. So lange hatte dieser alte Hulk von Freibeuterschiff sicher in der stillen Bucht der unbekannten Südseeinsel gelegen. Das hatte ihm nicht nur die ganze Bauart, mit dem hohen Vorder- und Hinterkastell und dem tiefen Mitteldeck, die diesem Zeitabschnitt eigen war, sondern auch die Vermorschung des gesamten äußeren Balkenwerks gleich beim ersten Betreten des seltsamen, so unverhofft hier entdeckten Fahrzeugs – oder eigentlich Hulks, denn als Fahrzeug konnte es längst nicht mehr gelten – bewiesen.

Wäre übrigens das Balkenwerk nicht von dem seltenen, eisenfesten Teakholz gewesen, wie es heute für den Schiffbau kaum noch zu erlangen ist, die Verwitterung hätte es längst zu Pulver zermürbt. Und der über die Korallenbänke des Atolls streichende Wind hätte dieses Pulver, Stäubchen um Stäubchen, über das Wasser der Lagune verstreut, bis zuletzt keines Menschen Auge mehr etwas von diesem Rätsel aus alter Zeit geschaut.

Hier in der Kabine war die Verwitterung indessen viel weniger deutlich. Nur eine dumpfe, tote und merkwürdig atembeklemmende Luft, die aber bald dem durch die Tür eindringenden Luftstrom wich, verriet, dass eine lange, lange Zeit vergangen sein musste, seitdem dieser Raum zum letzten Male betreten worden war. Die getäfelten Wände, vom Alter dunkel gebräunt, zeigten weder Risse noch Sprünge, und selbst die Politur, wie sie in diesem wunderbaren Glanz nur eben auf dem härtesten Holz erzeugt werden kann, hatte den Jahrhunderten getrotzt.

Auch die Ratten hatten diesen Raum wie auch einige Nebenräume, in die der junge Steuermann geblickt, aus irgendeinem Grund verschont. Oben auf dem Deck hatte er ganze Scharen von ihnen aufgestört. Der ungewohnte Anblick von Menschen hatte sie vor blindem Entsetzen zum größten Teil über das morsche Balkenwerk der Bordwand in das Wasser springen lassen, wozu das Jagen und laute Geschrei der vier Matrosen, die Jensens Bootsmannschaft bildeten, nicht wenig beigetragen.

An den Wänden der Kabine hingen eine Anzahl Waffen von altertümlicher Art und feinster Arbeit, die Griffe zum Teil aus Silber oder indischer Bronze, und zum Teil aus eingelegtem Ebenholz. Da war der malaiische Kris, jener lange, gewundene Dolch, der so furchtbare Wunden schafft; das schwere chinesische Mandarinenschwert mit dem Kreuzgriff; das breite, herzförmige, mit ziselierten Vedasprüchen versehene indische Opfermesser; der kleine burmesische, mit Mosaikverzierung in wunderbaren Farben ausgestattete Handschild; der krumme, in eine breite, schrägwinkelige Spitze auslaufende türkische Yatagan; verschiedene Pistolen von mächtigem Kaliber und mit ganz altertümlichen Schlössern, und vieles andere mehr.

Dazwischen hingen einige Ölgemälde. Prächtige Stücke der alten niederländischen Schule, die dunkle, gedämpfte Farben liebte und sie wundervoll abzutönen verstand.

Aber kostbar, wie diese Stücke auch waren, eines passte nicht recht zum anderen. Sie waren offenbar in dieser Kajüte zusammengetragen, wie ihr einstiger Eigentümer sie von überfallenen Schiffen geraubt.

In die Architektur des Raumes an passenden Stellen eingefügt, befanden sich mehrere Schränke und kommodenartige Schubladen. An zwei der Ersteren standen die Türen Spaltbreit offen, was erkennen ließ, dass der eine Kleidungsstücke verschiedener Art, der andere dagegen Bücher und Pergamentrollen sowie eine Anzahl nautischer Instrumente von veralteter Art, aber kunstvoller Arbeit, Fernrohre, seltsame Muscheln und verschiedene andere Gegenstände enthielt.

An der einen Wand des fast quadratförmigen Raumes stand ein Sofa und davor ein Tisch, beide am Fußboden befestigt, als nötige Vorsichtsmaßregel für schweren Seegang. Auch auf dem Tisch lag eine Anzahl völlig vergilbter Papierblätter sowie eine Gänsekielfeder. Nicht weit von Letzterer stand ein Tintenfass von schwerer schwarzgrüner Bronze, dessen Inhalt längst zu einer Kruste eingetrocknet war.

Es erweckte ganz den Eindruck, als ob der Bewohner der Kabine gerade mit Schreiben beschäftigt gewesen wäre, als er sie verlassen hatte, um nicht mehr zurückzukehren. Denn soweit Sigurd Jensen auf den ersten flüchtigen Blick zu erkennen vermochte, waren die Papierblätter noch unbeschrieben. Er war also offenbar über die Vorbereitungen zu der ihm wohl auch nicht recht geläufigen Arbeit noch nicht hinausgekommen. Dass er nicht versäumt hatte, sich zu dem schwierigen Werk die nötige Aufmunterung zu schaffen, bewiesen eine Portweinflasche und ein danebenstehendes Glas. Beide mussten noch Reste des schweren Getränkes enthalten haben, denn sowohl in der Flasche als auch im Glas bedeckte ein schwarzbraunes Pulver den Boden.

Über dem Tisch hing an kunstvoll geformten Ketten eine Ampel von unverkennbar indischer Arbeit, die, ihrer Herkunft entsprechend, mehr zur Verbrennung wohlriechender Öle als zu scharfer Beleuchtung bestimmt gewesen sein mochte.

Über allem aber lag wie ein dünner Schleier eine feine Staubschicht von irgendwoher aus dem grauen Reiche jahrhundertelangen Verödens.

Ihr Licht empfing die Kabine durch ein viereckiges Fenster, in dem hell und blank die Sonne lag. Ein Schaft glitzerndes Lichtes, auf dessen einzelnen Strahlenfäden Myriaden winziger Staubteilchen ihren frohen Sonnenreigen tanzten, ohne sich auch nur im Geringsten durch den Eindringling stören zu lassen, brach durch eine trübe Glasscheibe in sie hinein und versank erst in der Nähe der Tür in den dunklen Fußboden.

In der durch die dicke Balkenlage der Bordwand gebildeten tiefen Fensternische stand eine runde Bronzebüchse.

Der junge Seemann hätte kaum sagen, warum er unter all den Dingen, die sein Interesse hier fesseln mussten, gerade nach dieser Büchse griff. Vielleicht war es der Platz, auf dem sie stand. Denn der war doch sicher nicht ihr gewöhnlicher Aufbewahrungsort. Der nun selbst längst zu Staub und Moder gewordene einstige Bewohner dieses Raumes mochte sie nur für einen Augenblick dort abgestellt haben. Dann hatte er die Kajüte verlassen – und weder er noch sonst jemand hatte sie seit vielleicht Jahrhunderten wieder betreten. Das war es wohl, dieser sonderbar widerspruchsvolle Eindruck des Vorübergehenden, Zeitweiligen inmitten eines Bildes der Unverändertheit von zwei Jahrhunderten. Jedenfalls griff er danach und nahm sie von der Fensterbank herab.

Sie fühlte sich ganz heiß an von der durch die Fensterscheibe brechenden Sonne, besonders an der Stelle, wo die Sonnenstrahlen sie unmittelbar getroffen hatten.

Den Staub von dem Deckel blasend, betrachtete Sigurd Jensen sie mit Neugier. Es war anscheinend eine jener sonderbar geformten und bemalten indischen Teebüchsen, und das so sorgsam gehütete Farbengeheimnis dieses merkwürdigen Volkes zeigte sich auch hier wieder in seiner vollen Wirkung, denn die rote und blaue, gelbe und schwarze Farbe, mit den feinen goldenen Arabeskenrändern leuchtete noch so frisch, als ob sie erst gestern aufgelegt worden wäre.

Er versuchte, den Deckel abzuheben, der ursprünglich lose auf dem Rand aufgesessen haben mochte, jetzt aber doch etwas feststeckte. Trotzdem kostete es ihn aber nur eine etwas kräftige Drehung, um ihn von dem Falz abzuheben.

Das leichte Gewicht der Büchse hatte ihn vermuten lassen, dass sie leer sein würde, und er war daher auch kaum überrascht, in ihr nichts weiter als ein Stück Papier zu entdecken, das er herausnahm, weil er einige Schriftzeichen darauf zu sehen glaubte.

Als er es auseinandergerollt, erkannte er, dass er sich in der Tat nicht getäuscht hatte. Es war ungefähr wie zwei Hände groß und mochte früher wohl mehr Schrift enthalten haben. Denn das, was er jetzt las, hatte in dieser Form keinen Sinn und war offenbar nur der Rest einer ursprünglich längeren Niederschrift, deren übriger Teil im Laufe der langen Zeit so vollständig verblichen war, dass er keine Spur mehr davon zu entdecken vermochte.

Die Worte waren englisch und lauteten in deutscher Übersetzung:

 

. 27. 12 SB. 35. 2

schen hohen Punkt

nung nach Pilz 520

raffen in Nord. St

0/3 Fuß fünf hinei

Fortsetzung folgt.“

 

Ich behielt das Blatt in der Hand, und ohne mir dessen recht bewusst zu sein, las und überdachte ich die Aufzeichnungen wieder und wieder.

Ihr Sinn war ziemlich klar. Es war eine Angabe über eine bestimmte Örtlichkeit, die sich der Schreiber für späteren Gebrauch und zur Sicherung gegen etwaige Gedächtnisfehler aufgezeichnet hatte. Die Ziffern in der ersten Zeile bezogen sich unbedingt auf die geografische Länge der Stelle. Das SB. bedeutete ohne allen Zweifel ‚südliche Breite‘. Die folgenden Ziffern konnten daher nichts anderes als der Längengrad östlich oder westlich von Greenwich bezeichnen. Das Letztere ließ sich leicht bestimmen, wenn man wusste oder feststellte, in welcher Meeresgegend das Schiff sich damals ungefähr befunden hatte. Leider fehlte aber die Angabe des Breitengrades, von dem nur die Minuten und Sekunden angegeben waren.

Immerhin musste es sich um eine wichtige Örtlichkeit handeln.

Von diesem Gesichtspunkt aus erschien mir die Meinung der Leute, die geglaubt hatten, die Aufzeichnungen bezögen sich auf einen verborgenen Schatz, gar nicht so ungereimt.

Warum sollte diese Annahme nicht richtig sein?

Etwa weil sie zu romantisch erschien?

Die Romantik ist allerdings ausgestorben in unserem Zeitalter der nüchternen Sachlichkeit. Aber sie war vorhanden, und man trifft noch überall auf ihre Spuren. Die sind dann in der Regel auch sachlich genug, ob man sie in Ägypten in der Form von Schätzen aus Königsgräbern holt oder sie auf einer Südseeinsel als verborgenen Seeräuberschatz entdeckt.

Auf jeden Fall war ich hier unversehens auf ein Seedrama gestoßen, von dem ich mehr erfahren musste.

Der nächste Tag sah mich denn auch in Hadersleben, wo ich mir in der Geschäftsstelle der deutschen Zeitung den betreffenden Jahrgang vorlegen ließ. Nach kurzem Suchen fand ich die Nummern, um die es sich handelte. Sie enthielten eine ausführliche Schilderung des auf Veranlassung des Eigentümers verbrecherisch herbeigeführten Untergangs der ‚Nautik‘ sowie der vorausgegangenen Auffindung des seltsamen Schiffshulks in der Bucht einer einsamen Südseeinsel durch ihren Steuermann Sigurd Jensen.

Damit brach aber die Sensation ab. Das schien mir unlogisch, denn auch Ereignisse pflegen eine gewisse Logik zu besitzen.

Es war natürlich durchaus denkbar, dass niemand den Versuch unternommen hatte, auf die ganz ungewissen Angaben der aufgefundenen Schrift hin, von denen es noch nicht einmal sicher war, dass ihnen irgendwelche Bedeutung zukam, nach einer entlegenen Südseeinsel zu suchen, um dort – nach was? – zu suchen. Trotzdem hatte ich das zwar unbestimmte, jedoch hartnäckige Gefühl, dass die Sache eine Fortsetzung und vielleicht sogar einen Schluss erhalten hatte. Nicht von Seiten unbeteiligter Personen, deren Kenntnis der Dinge sich nur auf das beschränkte, was die Presseberichte enthielten, wohl aber von Seiten der Nächstbeteiligten. Von Sigurd Jensen, dem Steuermann, zum Beispiel.

Er war damals, wie die Berichte besagten, an einer gründlichen Besichtigung des Hulks verhindert gewesen. Ein Signalschuss seines Schiffes hatte ihn genötigt, sie vorzeitig abzubrechen. Der Kapitän hatte Anzeichen von schlechtem Wetter bemerkt und es eilig gehabt, aus der Nähe der gefährlichen Korallenriffe fortzukommen, und ihn mit seiner Mannschaft daher zurückgerufen.

Sollte der junge Seemann nicht aber doch den Wunsch gehabt haben, das Eiland noch einmal zu besuchen, um mit größerer Muse eine Prüfung des alten Schiffshulks vorzunehmen? Gewiss, es lag außerhalb der gewöhnlichen Schiffskurse und es mochte nicht leicht für ihn sein, dahin zu gelangen, besonders, wenn ihm die nötigen Geldmittel dazu fehlten. Trotzdem musste die gemachte Entdeckung doch ein großer Anreiz dazu für ihn sein.

Ich hatte das deutliche Gefühl, dass das auch der Fall war, denn es war mir aufgefallen, dass er den Zeitungsreportern gegenüber mit allen Angaben zurückgehalten hatte, die andere hätten in den Stand setzen können, es an seiner Stelle zu tun. So fehlten zum Beispiel die Längen- und Breitengrade, unter denen das Eiland gesichtet worden war. Zudem besaß er das Original der Schrift, und es war nicht gut denkbar, dass er nicht versucht haben sollte, mit einem der heute bekannten Verfahren, etwa durch die fotografische Platte oder unter der Quarzlampe, die verschwundene Schrift doch zu entziffern.

Angenommen, dass das geschehen war, ergaben sich zwei Möglichkeiten: Entweder handelte es sich nur um eine bedeutungslose Aufzeichnung, und dann hatte die Sache in aller Stille den Abschluss gefunden, der ihr der Öffentlichkeit gegenüber noch immer fehlte, oder die Schrift hatte sich vervollständigen lassen und mit ihrem Gesamttext die Annahme bestärkt, dass die Aufzeichnungen sich auf ein Versteck geraubter Wertsachen bezogen, und dann war mit Sicherheit damit zu rechnen, dass der junge Mann der Sache weiter nachgegangen war.

Darüber musste ich Näheres erfahren.

Die ‚Nautik‘ war in Sydholm beheimatet gewesen. Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft, also auch vermutlich der Steuermann, stammten aus dem Orte. Dort musste ich also mit meinen Nachforschungen einsetzen.

Das tat ich denn auch und erfuhr eine Geschichte, so seltsam, dass sie einige Zeilen aus einer alten Ballade in meiner Erinnerung aufsteigen ließen:

 

„Einen Felsen, wild umzogen

Von des Meeres blauen Wogen,

Sieht der Schiffer ragen.

Und es steht im Buch der Sagen

Seltsam eine Mär,

Wundersam und inhaltsschwer

Sorglich eingetragen.“

 

Und so will ich sie hier im Zusammenhang wiedererzählen, eine Ballade aus unserer Zeit, der Zeit nüchterner Wirklichkeit. Sie wird auch denen willkommen sein, die damals die Presseberichte gelesen haben und wie ich empfanden, dass ihnen eigentlich die Fortsetzung und der Schluss fehlten. Hier werden Sie beides finden …