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«Daten wollen Sie? Also: 1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Großvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Génève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen … Kantonale Matur in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf … 1 Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. 1 Jahr administrativ Witzwil. Nachher 1 Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (1 Jahr) … Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29), 30/31 Jahreskurs Gartenbaumschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falschen Rezepten arretiert. Rücktransport in die Schweiz. Von Juli 32–Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n’est pas très beau …»

Friedrich Glauser an Josef Halperin, 15. Juni 1937

FRIEDRICH GLAUSER

Dada

und andere Erinnerungen
aus seinem Leben

Herausgegeben von Erwin Künzli

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Das wandelbare Verlagsjahreslogo des Limmat Verlags auf Seite 1 stammt aus dem Buch von Paul Scheuermeier: «Wasserund Weingefässe im heutigen Italien» mit Holzschnitten des Berner Kunstmalers Paul Boesch. Die Ergebnisse der Sprachund Sachaufnahmen des Romanisten und Dialektologen Scheuermeier (1888–1973) für den AIS («Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz») erschienen im zweibändigen «Bauernwerk in Italien, der ital. und rätorom. Schweiz» (1943/1956) mit insgesamt 873 Fotografien sowie 922 Zeichnungen und Holzschnitten von Paul Boesch.

Für die Vorsätze wurden Ausschnitte aus Federmesser-Schabkarton-Zeichnungen von Hannes Binder aus «Glausers Fieber» verwendet, zu finden im Band Hannes Binder, «Glauser. Sieben gezeichnete Geschichten von, zu, mit und um Friedrich Glauser».

Typographie und Umschlaggestaltung von Trix Krebs

© 2013 by Limmat Verlag, Zürich
ISBN 978-3-85791-702-8
eISBN 978-3-85791-931-2

Inhalt

Im Landerziehungsheim

Dada

Ascona – Jahrmarkt des Geistes

Im afrikanischen Felsental

Unten

Zwischen den Klassen

Im Landerziehungsheim

Das einzig Bleibende, das wir aus unserer Jugend bewahren, sind Bilder, und diese schlummern in uns. Manchmal nur weckt sie ein Geruch, ein Lied, ein Geschmack. Aber dann sehen wir sie plötzlich mit einer fast blendenden Deutlichkeit, unübertrefflich klar und scharf sind sie, und erst durch sie, durch diese Bilder, werden die Gefühle wieder lebendig, die uns damals ergriffen hatten. Dann kann es sein, dass das Erlebnis, das mit einem Bilde zusammenhängt, langsam uns wieder einfällt, nicht so stark wie damals, denn die Jahre haben es verschüttet; aber es bleibt uns doch eine Erinnerung an die erwartungsvolle Angst, die wir damals gespürt haben. Bitter und süss ist sie, wie starker türkischer Kaffee. Es kann manchmal schön sein, auf die «Suche nach der verlorenen Zeit» zu gehen.

Das Schweizer Landerziehungsheim – abgekürzt S.L.E.H. – lag auf einem Hügel, und der See war sehr nahe. Ein Sonderling hatte es zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts bewohnt, und Goethe hatte diesen Mann besucht, aber der ließ sich nicht blicken. So schrieb der Geheimrat folgende Verse an das Tor:

«Als Gottesspürhund hast du stets dein freches
Spiel getrieben,

Die Gottesspur ist nun vorbei und nur der
Hund ist dir geblieben.»

Es stimmte, auch heute noch. Die Gottesspur war vorbei. Der Pfarrer, der allwöchentlich kam, um uns die Weizäcker’sche Übersetzung des Neuen Testamentes liberal auszulegen, beschränkte seinen Protest gegen die freie Richtung der Schule auf eine kleine Demonstration: er badete mit Badehosen, während wir im Wasser herumschwammen ohne dieses Kleidungsstück. (Das war 1911 und damals sprach man nicht von Nacktkultur. Das ganze wurde dadurch selbstverständlich.) Und gebadet wurde im See von Ende April bis in den Oktober hinein, obligatorisches Baden, um ½ 4 Uhr, nach der Feldarbeit, und die Lehrer badeten mit uns. Übrigens störte uns der stumme Protest des Pfarrers gar nicht. Wir dekorierten dafür die Wände des Klassenzimmers, die Tafel, die Bänke mit ausgeschnittenen Bildern aus dem Simplicissimus und der Jugend, was ihn ärgerte. Aber er konnte nichts dagegen tun; der Direktor fand es sehr komisch.

Und dann, wenn die Herbstnebel das Land decken und sich mit dem Rauch von verbranntem Holz mischen, sehe ich den Platz vor dem Schloss; wir sind in zwei Reihen angetreten zum Dauerlauf, es ist dämmrig. Die um die Mittagszeit grellgelben Blätter der Zwergbirnbäume sind bleich, den See verdeckt eine wattige Masse, die in langsam-zäher Bewegung ist. Um eine Ecke des Hauses biegt der Deutschlehrer, ein kleines Männchen mit Galoschenkinn und graumeliertem Schnurrbart, das aussieht wie die Taschenausgabe eines britischen Obersten («Hott» nennen wir ihn, weil er zur Feldarbeit immer eine blaue Überbluse trägt, wie ein Fuhrmann), und er hat heute Aufsicht. Oben an einem Fenster des ersten Stockwerks erscheint der Direktor, er hat noch verstrubbelte Haare, und sein roter Spitzbart steht schief, das kommt vom Liegen. Wir aber sind angetreten zum Dauerlauf, und der wird von einem von uns kommandiert, Cavaluzz nennen wir ihn; er ist ein untersetzter, breiter Bursche, und Cavaluzz heißt er, weil sein Vater Major ist (nach der Ballade von Spitteler: «Herr Cavaluzzi, der Major»). «Ausrichten!» sagt er, und er kontrolliert, ob wir zwei parallele Geraden bilden. «Lauf Barriere!» kommandiert er dann und versucht die Stimme seines Vaters nachzuahmen; aber der Schneid misslingt ihm. Er ist nämlich musikalisch, trägt eine blonde Künstlermähne und komponiert. Nach dem Laufe müssen wir unsere Betten machen, dann gibt es zum Frühstück Haberbrei mit kalter Milch und Kakao. Und obwohl wir schon lange den Geruch des Haberbreis, des Porridge, nicht mehr ausstehen können, essen wir doch, denn wir sind hungrig.

Und dann beginnt die Schule. Die Klassen sind nicht scharf getrennt. Mit Corbaz, einem gemütlichen Neuenburger, der zwei Jahre älter ist als ich, mit Stein und Rösel hocke ich in der höchsten Klasse, in der siebenten. Aber nur für Französisch. Für die Hauptfächer bilden wir die fünfte Klasse, und wir sind eine etwas sonderbare Clique. Man hat es schwer mit uns, wir sind «Dilettanten», wie der Direktor und der Hott uns gern nennen, es fehlt uns an Ernst. Das kommt aber eigentlich nur daher, dass wir den Phrasen abhold sind, dass wir alle einen kleinen Sparren haben. Zu unserer eigenen Entschuldigung führen wir unsere Familienverhältnisse an. Die sind nicht ganz koscher, wie Rösel sagt, der gedrungen, leicht verfettet und schwarzhaarig ist, sich einer merkwürdig penetranten juristischen Denkweise befleißigt und auf seine israelitische Abstammung nicht nur stolz ist, sondern sie auch bewusst betont. Seine Sprache, seine Aufsätze wimmeln von Fremdwörtern, in die Unterhaltung flicht er gern jiddische Ausdrücke ein. Er sagt «Fisimatenten» und «Mischpoche», wenn er von seiner Familie spricht. Dem Hott geht er auf die Nerven, weil er in seinem Aufsatzstil Thomas Mann kopiert.

Ja, damals, im Jahre 1911, war die Blüte der Landerziehungsheime; ein Dr. phil. aus Deutschland, er hieß so ähnlich wie eine bekannte Fabrik optischer Apparate, Leitz oder so, hatte solch ein Institut in Deutschland gegründet. Etwas Neues? Wenn man will. Die britischen Colleges der Festlandmentalität angepasst. Lebenstüchtigkeit, Kameradschaftlichkeit zwischen Lehrern und Schülern, körperliche Ertüchtigung. Wir trugen sommers und winters blaue Hosen, die die Knie frei ließen, im Sommer trugen wir dazu nur ein Hemd und offene Sandalen an den Füßen. Und bei der Feldarbeit arbeiteten wir mit nacktem Oberkörper. Aber das kameradschaftliche Verhältnis mit den Lehrern? Es war wohl unsere Schuld, dass es nicht so recht gedeihen konnte.

Da war zum Beispiel der Direktor, ein robuster Mann mit Hodlerwaden, gutmütig und bisweilen jähzornig, der sich für einen Pädagogen hielt, weil er auf der Universität Pädagogik belegt hatte, weil er bei dem vorgenannten Dr. phil. in Deutschland Lehrer gewesen war. Aber er versagte bei uns, weil er von dem merkwürdigen Vorurteil besessen war, dass es unsere Pflicht sei, Vertrauen zu ihm zu haben (als ob Vertrauen etwas mit Pflicht zu tun hätte, Vertrauen hat man sich doch zu verdienen!). Wir versuchten es natürlich, vielleicht einmal, dann hatten wir genug. Unsere Seelenzergliederung ging ihm auf die Nerven, das spürten wir. So hielten wir schließlich Abstand von ihm, verkehrten mit ihm in leichtem Konversationston und würgten an unsern Konflikten, bis wir sie los waren oder bis sie uns vergiftet hatten. Das letztere war häufiger. Er, der Hott, der Naturgeschichtslehrer, den wir «Pistole» nannten, aus unerfindlichen Gründen, Charly, der Französisch und Griechisch und Latein gab, ein Neuenburger mit melancholischem Schnauz und einer Hitlerfranse, und der Papa, der uns Physik und Mathematik gab, ein dickes Männchen mit einem stoppligen Bart, den wir sehr gern hatten, weil er uns sachlich behandelte und streng und wir bei ihm schuften mussten, diese fünf also bildeten die alte Garde, die Vereinigung der Familienväter. Ihr stand die Fronde gegenüber, die Lehrer, die Junggesellen waren und eigentlich nur kurze Gastspiele gaben.

Da war einmal Borstle, ein Mann von der anziehenden Hässlichkeit einer rassenreinen Bulldogge. Er war klug und gab uns Geschichte, und seine Stunden waren richtige Vorlesungen. Es hieß, er bereite sich fünf Stunden vor, um uns eine Stunde zu geben. Am Abend nahm er uns oft auf sein Zimmer, das in einem kleinen Turme lag, und dann las er uns Maupassant vor, uns wenigen, die gut Französisch konnten, und bei Maupassant findet man allerlei, auch Sachen, die nicht «ad usum Delphini» sind. Wir waren keine Kronprinzen, und für Prüderie hatten wir nichts übrig. Borstle hatte eine Art, die Pointen vorzulesen – ein wenig atemlos, so als müsse er ein Gelächter unterdrücken –, die unwiderstehlich war. Wir lachten, und er kicherte mit. «L’histoire», sagte er, «de ce … de ce cochon de Morin.» Dann erzählte er uns Witze, uralte Jahrgänge, aus den Anekdotenbüchern des französischen siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts – und zu jener Zeit verstand man es, auch das Gröbste so zu sagen, dass es wirkte wie das geschickte und bunte Ballspiel eines Jongleurs. Etwas haben wir von ihm gelernt, von Borstle, nämlich: eine gewisse Vorurteilslosigkeit, eine trockene, unsentimentale Einstellung zum Erotischen. Bei mir hat sich seine Lehre zu dem Satz auskristallisiert: «Erotische Komplikationen sind immer unfruchtbar.» Ob es stimmt, weiß ich nicht. Tatsache ist ja, dass fast alle Romanschriftsteller, so die Mittelmäßigen, immer einen großen Schmu mit der Liebe treiben. Es gibt doch noch andere, interessantere Dinge, oder?

Dann war ein anderer Lehrer da, «Chleb» nannten wir ihn, der aussah wie Gerhart Hauptmann nach einer Verjüngungskur. Der war mit einem aus unserer Klasse befreundet, mit der Zwetschge, einem Burschen, der lang war wie ein Fastentag – und Zwetschge hieß er, weil er beim Sprechen die Worte durch die Nase zu quetschen schien. Dieser Chleb hatte der Zwetschge Sigmund Freuds Traumdeutung geliehen (die war damals gerade modern), und das Buch lasen wir alle, worauf unsere Rede so dunkel wurde und voll Symbolgehalt, dass sie einer Geheimsprache glich.

Ich habe mich oft gefragt, ob ich in diese Zeit nicht Fähigkeiten hineindichte, die gar nicht vorhanden waren. Aber dann scheint mir doch, als sei der sonderbare Instinkt, den wir bei der Beurteilung der Erwachsenen, der Lehrer, entwickelten, doch vorhanden gewesen. Es war wirklich so, als hätten wir das spezifische Gewicht ihres Charakters erfassen können. Unser Ohr muss damals geschärfter gewesen sein für den Ton der Worte, und in diesem Ton klang oft, nur allzu oft, eine gewisse Selbstüberheblichkeit mit, die des notwendigen Unterbaues ermangelte und daher unecht wirkte. Es ist merkwürdig, dass dieses Gefühl für das Unechte im Nebenmenschen später sich abstumpft. Es wird wohl so sein müssen, sonst ginge ja alle Geselligkeit zum Teufel, und es widerstrebt wohl jedem, als der arme Hund dazustehen, der er nun einmal ist.

Wir duldeten das Theaterspiel der Großen stillschweigend. Manchmal, wenn es zu übertrieben war, lachten wir. Ein Beispiel: Der Hott, jener Deutschlehrer, der aussah wie ein britischer Colonel, gab uns auch Englisch. Einmal sollte er verreisen, hatte aber einem von uns mitgeteilt, dass er vorher noch die Stunde geben werde. Wir warteten im Klassenzimmer, zehn Minuten, eine Viertelstunde – er kam nicht. Da gingen wir fort, standen noch schwatzend im Sälchen, das neben dem Speisesaal lag. Da schoss der Hott herein, pflanzte sich vor uns auf und kanzelte uns ab: Er halte immer seine Versprechungen, wenn er etwas gesagt habe, so gelte es, auf ihn könne man sich verlassen. Es sei eine Gemeinheit, dass wir nicht auf ihn gewartet hätten; dann rasselte es von großen Worten, von Pflichtbewusstsein und Verantwortlichkeitsgefühl (seine ausgezeichnete Diktion ermöglichte es ihm, auch solche Worte tadellos auszusprechen), seine Rede trieb einer Steigerung entgegen, wir fürchteten für ihn, dass die Steigerung ihm misslingen könne (Rösel gähnte), aber nein! Mit zwei Sätzen erklomm er die kleine Treppe im Hintergrund des Sälchens (eine Glastür war dort, die in einen Korridor führte), und Hott riss die Glastür auf, über die Achsel spuckte er die Worte über uns: «Ich verachte euch!» Bumm. Die Glastür schmetterte zu. «Vorhang fällt», sagte Rösel trocken. Wir lachten.

Letzthin habe ich die Zwetschge wieder getroffen. Er ist noch immer lang und hager, spricht durch die Nase, was weniger auffällt, da er das Französische mit englischem Akzent spricht. Er ist Ingenieur, hat eine gute Stelle und ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Appartement, eine Garçonnière. Wir wärmten Schulerinnerungen auf. «Ja», sagte er, «der Hott hat es ja weit gebracht, ist Professor, gut. Seine Stunden waren ausgezeichnet, alles was recht ist. Aber er war doch ein Komödiant, weißt du, im Grund ein falscher Charakter!» Ich nickte und wunderte mich. Die Zwetschge hat mit dem Hott nie Anstände gehabt, seine Aufsätze wurden mit Glacéhandschuhen angefasst, während Rösels, Steins und meine zerpflückt wurden, wie Gänseblümchen von einem kleinen Kind, und doch sagte die Zwetschge … Ich glaube wirklich, wir hatten damals ein sicheres Urteil. Nun, Deutsch haben wir beim Hott gelernt, aber es ist ein wenig verschieden von dem, das er schätzte.

Aber noch über einen Lehrer haben wir gesprochen, die Zwetschge und ich: über unsern Mathematiklehrer, den Papa, wie wir ihn nannten. Wir haben beide gelächelt, so als ob eine angewandte Gleichung zweiten Grades wirklich etwas hervorragend Fröhliches gewesen sei. Warum? Er mischte sich nicht in unsere Angelegenheiten, er war streng, ohne zu strafen, er hatte manchmal einen trockenen Humor, den wir schätzten. Es war gut, auf den langen Schulreisen mit ihm zu wandern, er schwieg, aber sein Schweigen hatte Gehalt. Vielleicht liegt es doch an dem, dass einer schweigen kann? Aber es gibt auch leeres Schweigen. Das seine war gehaltvoll; in ihm war: Verständnis, das sich nicht aufdrängen will, innere Ruhe, aber lebendige Ruhe. Die andern waren alle so laut, ihre Ansichten hingen ihnen zum Munde heraus, wie Spruchbänder auf mittelalterlichen Bildern. Der kleine, dicke Mann hatte keine Phrasen zur Verfügung; das war erlösend, er klopfte uns nicht aufmunternd auf die Schulter, wie er überhaupt jegliche Berührung vermied. Er badete auch nicht mit uns. Übrigens kam er vom Handwerk, er war Uhrmacher gewesen. Genug von ihm!

Sport? Ja, wir spielten Tennis, wir hatten eine Fußballmannschaft, Rösel war ein guter Vorwärts links, ich hockte im Goal, weil ich bequem war. Überhaupt hatte unsere Klasse nicht viel für Sport übrig. Wir lasen lieber, lauter komplizierte Sachen, Ibsen und Dostojewski, Strindberg und Wedekind. Nicht alle, aber doch der bestimmende Kern: Rösel, Ted und die Zwetschge. Dann war da noch die Meise, ein nervöser Kerl mit einem Vogelkopf, der die ‹S› nicht aussprechen konnte. Er war Deutscher, musste den Weltkrieg mitmachen und erschoss sich dann in Wien. Er wollte Kunsthistoriker werden.

Wir waren aus allen Weltgegenden zusammengekommen. Aus Russland stammte Rösel, Stein aus Berlin, die Meise aus Darmstadt, nur die Zwetschge war schweizerischer Abstammung. Und wir stammten alle aus dem bessern Bürgertum, wie man damals sagte. Und kennen Sie diese Atmosphäre? Die wenigsten wohl. Die Luft, die über den «bessern Kreisen» lag, in jener schon historischen Zeit, die vor dem großen Kriege webte, war abgestanden, muffig; das Familienleben, das wir genossen hatten, war, vorsichtig gesagt, etwas merkwürdig. Was wunder, wenn wir alle ein wenig neurotisch waren? Wir alle waren aus irgendeinem Grund aus den Staatsschulen entfernt worden – weil es dort nicht mehr ging, weil die Konflikte unserer Eltern auf uns abgefärbt hatten, weil wir müde geworden waren und uns in die Blasiertheit gerettet hatten. Man hatte uns daheim so oft angelogen, wir waren trainiert auf das Erkennen der Lüge, auch wenn sie noch so gut verhüllt war. Sie hatten es schwer mit uns, die Lehrer; als Entschuldigung möge ihnen dienen, dass sie ja schließlich auch zu der Generation unserer Eltern gehörten. Vielleicht steckte uns der große Stumpfsinn in den Knochen, der damals umging. Und wir waren alles eher als sympathisch, das will ich gern zugeben.

Wie wir zum Beispiel mit den Kleinen verfuhren, war wenig anständig (ich spreche vom Großteil unserer Klasse und von den Ältern, die knapp vor der Matur standen, die sie in Zürich machen mussten). Entweder existierten sie gar nicht für uns, diese Kleinen, oder sie waren psychologische Studienobjekte. Es war interessant zu beobachten, wie sie sich verhielten, wenn man an einem Tag ihnen mit Interesse begegnete, um sie am nächsten Tage fallenzulassen. Eine schottische Dusche, psychologisch gehandhabt, warm, gleich darauf eisig kalt. Sie mussten uns ihre Träume erzählen, und diese dann durchzusprechen war geradeso interessant wie die chemischen Versuche, die wir im Labor machten.

Das klingt reichlich zynisch, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Die goldne Jugendzeit, die, ach so weit, so weit entschwunden ist, wie es im Liedchen heißt, sie war gar nicht so golden. Sie war manchmal reichlich gemein, wir wollen es eingestehen. Hatte man uns daheim eigentlich besser behandelt, war dort nicht auch die schottische Dusche Trumpf? Wenn ich an die Besuche denke, die die Eltern manchmal machten! Man kroch fast in sich zusammen, weil man sich schämte, vor sich, vor den andern. Es gab Ausnahmen, rühmliche Ausnahmen, sicher, aber an diese erinnere ich mich nicht. Geheult habe ich im Heim eigentlich nur, wenn mein Vater mich besuchen kam. Aber das war vielleicht meine Schuld. Schuld? Wer will da von Schuld sprechen? Ich denke an Daniel, der aus Königsberg stammte, ein guter Mathematiker, ein ausgezeichneter Schachspieler, daneben unbeholfen, und den wir quälten, weil er so hilflos war. Und an den Besuch, den er einmal erhielt, von seinem Vater und seiner Stiefmutter! Der Vater, ein finniger Fettkoloss mit ewig feuchten Händen, die Stiefmutter aufgedonnert mit Pleureusen. Und gerade an diesem Nachmittag, es war ein Sonntag, las der Hott die Weber vor. Er las ausgezeichnet, ohne schwülstiges Pathos, und wir horchten sehr still. Dann war die Vorlesung zu Ende, und wir hockten alle stumm. Da steht Daniels Vater auf (was will er? Er wird doch nicht? Doch …), mit watschelndem Gang tritt er auf den Hott zu: «Also prima, Herr Doktor», sagt er mit einer Stimme, wie sie von Komikern gebraucht wird, wenn sie jüdische Witze erzählen wollen, «ich danke Ihnen, Herr Doktor, für den unauslöschlichen Genuss, den Sie gegeben haben, mir und meiner Frau. Und ich bin sicher, dass ich im Namen aller spreche, der Jugend, die hier versammelt ist …» das ging weiter und plätscherte wie Herbstregen, der Hott wurde langsam rot. Da rettete der Direktor die Situation, schob seinen Stuhl zurück, geräuschvoll, und machte mit lauter Stimme eine nebensächliche Bemerkung. Wir atmeten auf. Daniel saß da und knabberte an seinen Fingernägeln. Wir ließen ihn still sitzen. Nachher mussten wir sein Zimmer lüften. Seine Stiefmutter, die er Tante nennen musste, war so parfümiert, dass sie das ganze Zimmer verpestet hatte. Daniel? Was aus ihm geworden ist? Ich glaube, er ist im Weltkrieg gefallen.

Das Buch der verlornen Zeit hat viele Bilder, und sie drängen sich. Da war die «Andacht». Nichts Religiöses, wie Sie glauben könnten. Es war eine halbe Stunde Vorlesen am Abend, von halb acht bis acht Uhr. Und im Sommer am See. Gewöhnlich las der Hott vor, und er las gut; auch was er vorlas, war sorgfältig ausgewählt: Raabe und C. F. Meyer und Keller und von Spitteler den Olympischen Frühling. Chleb sagte: In zehn Jahren spricht kein Mensch mehr von diesem Autor. Wir glaubten ihm nicht, und er hat doch recht behalten. Wer interessiert sich heute noch für die gigantischen Götter aus Papiermaché des Herrn Spitteler? Germanisten. Und in der Hut solcher Leute schläft ein Autor seinen sanftesten Schlaf.

Aber Keller hat mich damals sehr getröstet. Die Stelle im Grünen Heinrich