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Sigmund Freud

Zeitgemäßes über Krieg und Tod

Impressum

ISBN 978-3-940621-47-4

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1924 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Freud, Sigmund, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Leipzig/Wien/Zürich 1924

Bearbeitung: Dr. Alexander Schug / Benjamin Koerfer.

Einleitendes Essay von Prof. Dr. Thomas Anz (Website: http://www.staff.uni-marburg.de/~anz/welcome.html)

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant, zitierbar“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind. Die in eckigen Klammern gesetzten Zahlen markieren die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe; durch die Paginierung ist auch die digitale Version über die Referenz zur gedruckten Ausgabe zitierbar.

© Vergangenheitsverlag, 2010 – www.vergangenheitsverlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

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Inhalt

Inhalt

Einleitendes Essay: Sigmund Freuds pazifistisches Ich

I. DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES

II. UNSER VERHÄLTNIS ZUM TODE

Einleitendes Essay: Sigmund Freuds pazifistisches Ich

Von Thomas Anz

Vor nicht all zu langer Zeit konnten wir in einem der vielen Zeitungsberichte über eine Debatte im Bundestag zum deutschen Afghanistan-Einsatz und über die Regierungserklärung der Kanzlerin Folgendes lesen: „Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und Außenminister Steinmeier (SPD) haben in einer Bundestagsdebatte am Dienstag im Bundestag ihr Bedauern über mögliche unschuldige Opfer durch einen von der Bundeswehr in Afghanistan angeforderten Luftschlag ausgedrückt, aber ‚Vorverurteilungen‘ durch das In- und Ausland zurückgewiesen. ‚Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel‘, sagte die Bundeskanzlerin unter dem Beifall des ganzen Hauses in einer Regierungserklärung.“

Der offensichtlich in hohem Maße konsensfähige Satz („Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel“) enthält eine Implikation, die man in der gängigen Rede von „unschuldigen Opfern“ des Krieges immer wieder ganz selbstverständlich und unwidersprochen antrifft. Die Rede von „unschuldigen“ Kriegsopfern, gemeint sind damit in der Regel Zivilisten und unter ihnen besonders Kinder und Frauen, evoziert Empörung über den Krieg oder bestimmte Arten der Kriegsführung. Aber sie enthält eine fatale Nebenbedeutung, weil da eine Klasse von „schuldigen“ Menschen mitgedacht wird, deren gewaltsamen Tod man nicht bedauern muss, weil er zum Krieg nun einmal dazugehört. „Schuldige“ Menschen verdienen nach dieser Rhetorik, wenn sie gewaltsam getötet werden, kein Mitleid, und die Empörung über den Krieg darf sich angesichts ihres Todes in Grenzen halten oder sogar der Genugtuung weichen. Je „schuldiger“ die Getöteten, desto gerechtfertigter erscheint das Töten. Diese Affektlogik, die jeder Rechtfertigung eines Krieges irgendwie zugrunde liegt, wird auch noch von der kriesgkritischen Rede über die „unschuldigen“ Opfer von Gewalt bestätigt.

Beobachtungen und kritische Analysen ähnlicher Phänomene hat die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Judith Butler vor einigen Jahren in Potsdam vorgetragen. Der Vortrag ist zusammen mit anderen Beiträgen in ihrem Bändchen „Krieg und Affekt“ erschienen. Butler geht hier der Frage nach, wie Texte und Bilder über gegenwärtiges Kriegsgeschehen, auch in Afghanistan, Affekte regulieren und uns nahelegen, „um welche Leben wir trauern und um welche nicht“. Der Krieg, so Butler weiter, „lässt sich als ein Geschehen verstehen, das Bevölkerungen aufteilt in einerseits diejenigen, um die getrauert werden kann, und andererseits diejenigen, um die nicht getrauert werden kann“.

In einigen halbwegs zivilisierten Gesellschaften ist die Todesstrafe zwar längst abgeschafft und die Polizei darf sogar gemeingefährliche Verbrecher nicht ohne Weiteres töten, unter Bedingungen des Krieges hingegen ist die Tötung von „Feinden“ ein Anlass eher zur Genugtuung oder Freude als zu Skrupeln. Die emotionalen Reaktionsmuster in Zeiten des Krieges scheinen archaischen, reflexartig verlaufenden Prozessen zu folgen. Einige davon werden in unseren Fantasien, stimuliert nicht zuletzt durch Literatur und Kunst, seit Jahrhunderten immer wieder durchgespielt, eingeübt, geringfügig modifiziert, reflektiert und gelegentlich auch auf dann allerdings auffällige, wenn nicht anstößige Art unterlaufen. Als Prinzipien der „poetischen Gerechtigkeit“, nach denen die Bösen sterben müssen, weil sie es verdienen, haben diese mentalen Muster bis heute ihre Wirksamkeit nicht verloren. Schon Aristoteles bezog sich auf sie und integrierte sie in seine komplexere „Poetik“ der Tragödie. Diese „Poetik“ formuliert bekanntlich mit einer viele Jahrhunderte überdauernden Plausibilität die Bedingungen, unter denen die Präsentation von Unglücks- und Todesszenarien dazu geeignet ist, beim Zuschauer Mitleid hervorzurufen, und unter welchen Bedingungen dies nicht der Fall ist. Demnach darf der Tragödiendichter nicht zeigen, wie (nach einer neuen Übersetzung von Arbogast Schmitt) „der ganz und gar Verkommene vom Glück ins Unglück stürzt“. Denn Mitleid „empfinden wir nur mit dem, der es nicht verdient hat, im Unglück zu sein“.

Literatur, Film und massenmediale Berichterstattung suchen Szenarien, in denen guten Gewissens getötet werden darf oder sogar getötet werden muss, ständig auf und evozieren sie in der Fantasie von Rezipienten, die geradezu süchtig danach verlangen. Märchen- oder Karl-May-Leser, Krimi- oder Westernkonsumenten, die dazu angehalten werden, sich mit den Guten zu identifizieren und mit ihnen einen imaginären Kampf gegen die Bösen zu führen, haben die ziemlich zuverlässig funktionierenden Mechanismen der Emotionalisierung in sich dauerhaft gespeichert und neigen dazu, sie auch in der Wahrnehmung realer Todes- und Gewaltszenarien wirksam werden zu lassen. Das von Kafka erträumte „Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ wird ihnen wahrhaft schwer gemacht.

Die kollektive Rückkehr zu archaischen Umgangsformen mit den eigenen Affekten nicht in der Fantasie, in Nacht- oder Tagträumen, sondern in der Realität hat Sigmund Freud angesichts des Ersten Weltkrieges zutiefst verstört. 1915 veröffentlichte er unter dem Titel „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ zwei Essays, in denen er so vehement und entschieden wie sonst in kaum einer anderen Veröffentlichung sein Unbehagen an Erscheinungsformen der Kulturlosigkeit bekundete. Seine Äußerungen waren politisch so anstößig, dass ihr Nachdruck in literarischen Zeitschriften von der Kriegszensur verhindert wurde. „Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte […]. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird. Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum Vorscheine, dass die Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, dass sich das eine mit Hass und Abscheu gegen das andere wenden kann.“

Totem und Tabu