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Igraine wachte auf, weil etwas über ihr Gesicht krabbelte, etwas mit vielen Beinen. Sie öffnete die Augen, und da saß sie, mitten auf ihrer Nasenspitze, eine dicke schwarze Spinne. Vor nichts auf der Welt hatte Igraine so viel Angst wie vor Spinnen.

»Sisiphus!«, flüsterte sie mit zittriger Stimme. »Sisiphus, wach auf. Scheuch die Spinne weg!«

Der Kater hob das graue Katzengesicht von Igraines Bauch, blinzelte, streckte sich – und schnappte Igraine die Spinne von der Nasenspitze. Haps. Weg war sie.

»Hab ich etwas von Fressen gesagt?« Igraine wischte sich die Katzenspucke von der Backe und schubste den Kater vom Bett. »Eine Spinne auf der Nase«, murmelte sie und schlug die Decke zurück, »und das einen Tag vor meinem Geburtstag. Das kann nichts Gutes bedeuten.«

Auf nackten Füßen tappte sie zum Fenster und blickte hinaus. Die Sonne stand schon hoch über der Bibernellburg. Der Turm warf seinen Schatten über den Hof. Auf den Zinnen putzten sich die Tauben und unten im Stall schnaubte ein Pferd.

Seit mehr als dreihundert Jahren gehörte Bibernell Igraines Familie. Der Ururururgroßvater ihrer Mutter hatte die Burg gebaut. (Vielleicht waren es sogar noch ein paar Urs mehr, so genau wusste Igraine das nicht.) Die Burg war nicht groß, sie hatte nur den einen schiefen Turm, und die Mauern waren kaum mehr als einen Meter dick, aber für Igraine war es die schönste Burg der Welt.

Im Hof von Bibernell blühten wilde Blumen zwischen den Pflastersteinen. Unterm Turmdach nisteten im Frühling die Schwalben und im Burggraben unter den blauen Seerosen lebten Wasserschlangen, die Igraine aus der Hand fraßen. Das Burgtor bewachten zwei Steinlöwen. Hoch oben auf einem Mauersims hockten sie. Wenn Igraine ihnen das Moos von den Mähnen kratzte, schnurrten sie wie Katzen, doch wenn sich ein Fremder näherte, fletschten sie die steinernen Zähne und brüllten so furchterregend, dass sogar die Wölfe im nahen Wald sich versteckten.

Die Löwen waren nicht die einzigen Wächter auf Bibernell. Von den Mauern blickten steinerne Fratzen herab, die jedem Fremden fürchterliche Grimassen schnitten. Wenn man ihre Nasen mit einer Schwalbenfeder kitzelte, lachten sie so laut, dass der Taubendreck von den Burgzinnen bröselte, aber ihre breiten Münder konnten Kanonenkugeln schlucken, und Brandpfeile zerknackten sie, als gäbe es nichts Schmackhafteres auf der Welt.

Zum Glück jedoch hatten die Steinfratzen schon lange keine Pfeile oder Kanonenkugeln mehr zwischen die Zähne bekommen. Bibernell war seit vielen Jahren nicht mehr angegriffen worden. Früher, vor Igraines Geburt, war es weniger friedlich zugegangen, denn ihre Familie besaß Zauberbücher, die viele mächtige Männer allzu gern in ihren Besitz gebracht hätten. Raubritter, Herzöge, Barone, ja sogar zwei Könige hatten Bibernell überfallen, um die Bücher zu rauben. Doch sie alle waren erfolglos wieder davongezogen und inzwischen waren friedlichere Zeiten angebrochen.

»Riechst du das?« Igraine setzte Sisiphus neben sich auf den Fenstersims und schnupperte die kühle Morgenluft. Ein köstlicher Geruch nach Holzasche, Honig und Eisenkraut zog ihr in die Nase. Aus dem obersten Turmfenster stieg ein rosa Flimmern in den Morgenhimmel. Hinter diesem Fenster verbarg sich das Arbeitszimmer von Igraines Eltern. Der edle Sir Lamorak und die schöne Melisande waren die größten Zauberer zwischen dem Wispernden Wald und den Riesenhügeln.

»Warum zaubern sie schon so früh am Morgen?«, flüsterte Igraine besorgt in Sisiphus’ spitzes Ohr. »Vermutlich haben sie noch nicht mal gefrühstückt. Ob sie Angst haben, dass mein Geschenk nicht rechtzeitig fertig wird?«

Hastig scheuchte sie ein paar Motten von ihrer wollenen Hose, stieg hinein und zog sich das Kettenhemd ihres Urgroßvaters über den Kopf. Igraine trug es jeden Tag, seit sie es in der Waffenkammer entdeckt hatte, obwohl es ihr bis zu den Knien reichte und sie zugeben musste, dass es wirklich nicht allzu bequem war. Albert, Igraines großer Bruder, wollte Zauberer werden wie ihre Eltern, aber Igraine fand Zaubern entsetzlich langweilig. Beschwörungsformeln, Zaubersprüche, Zutatenlisten für magische Pülverchen und Tinkturen – Kopfschmerzen bekam sie von der ganzen Auswendiglernerei. Nein. Sie wollte lieber werden wie ihr Urgroßvater, Pelleas von Bibernell. Er war ein Ritter gewesen, der auf Turnieren gekämpft und von morgens bis abends Abenteuer erlebt hatte – wenn man den Familienberichten glauben durfte. Albert lachte über ihren Wunsch, aber so sind große Brüder nun einmal. Ab und zu rächte Igraine sich, indem sie ihm Kellerasseln in den Zaubermantel steckte.

»Lach nur!«, sagte sie, wenn Albert sie aufzog. »Du wirst schon sehen. Ich wette mit dir um zehn deiner dressierten Mäuse, dass ich eines Tages ein Turnier des Königs gewinnen werde.«

Albert liebte seine Mäuse, aber Igraines Wette hatte er dennoch angenommen. Und Sir Lamorak und die schöne Melisande wechselten jedes Mal einen besorgten Blick, wenn ihre Tochter zum Frühstück im Kettenhemd erschien. Nein, ihre Familie hielt nichts von ihren Zukunftsplänen.

»Komm, Sisiphus.« Igraine schnallte ihren Gürtel um und klemmte sich den gähnenden Kater unter den Arm. »Wir spionieren ein bisschen.« Mit ein paar Sätzen sprang sie die Treppe zum Rittersaal hinunter, lief vorbei an den Porträts ihrer Vorfahren (die alle recht freudlos dreinblickten) und stieß das große Portal auf, das auf den Hof hinausführte. Es war ein wunderbar warmer Tag. Zwischen den hohen Burgmauern fing sich der Duft der Blumen und mischte sich mit dem Geruch von Mäuseköteln. »Sisiphus, Sisiphus!«, sagte Igraine vorwurfsvoll, während sie den Kater die Treppe hinuntertrug. »Wenn du Alberts Mäuse noch länger in Frieden lässt, sind es bald so viele, dass man auf sie tritt, wenn man über den Hof geht! Kannst du sie nicht wenigstens ab und zu erschrecken?«

»Zu gefährlich«, knurrte der Kater und schloss schläfrig die Augen. Er konnte sprechen, seit Igraine ihn mit Alberts rotem Zauberpulver bestreut hatte. Aber er verspürte selten Lust, es auch zu tun.

»Du bist ein Feigling«, sagte Igraine. »Albert würde dich nie in einen Hund verwandeln, auch wenn er ständig damit droht. Er kann es gar nicht. Und selbst wenn – meine Eltern würden es ihm nie erlauben.«

Sisiphus gähnte zur Antwort nur und stellte sich schlafend, als Igraine ihn auf den Zauberturm zu trug. Der einzige Turm von Bibernell stand genau in der Mitte des Burghofes, umgeben von einem tiefen Graben, weit weg vom Haus und der Mauer. In diesem Turm hatten Igraines Vorfahren schon so manche Belagerung überstanden, denn man konnte sich darin verschanzen, wenn der Rest der Burg erobert wurde. Über den Graben führte nur eine schmale Holzbrücke, die in Kriegszeiten eingeholt werden konnte. Früher hatte ein Drache darunter gelebt (in den Familienchroniken hieß er nur ›der Ritterfresser‹, auch wenn er nicht sehr groß gewesen war). Igraine wünschte oft, er würde immer noch dort hausen, denn nun wimmelte es unter der Brücke von Spinnen – was leider dazu führte, dass ihr jedes Mal die Knie weich wurden, wenn sie ihre Eltern in ihrem Zauberzimmer besuchen wollte. Und ab und zu, wenn Albert sie ärgern wollte, zog er die Brücke ein Stück hoch, sodass sie springen musste. Wie heute Morgen. Igraine verfluchte ihn, aber sie sprang, mit Sisiphus unter dem Arm. »Ganz leise jetzt!«, flüsterte sie, als sie mit immer noch spinnenweichen Knien über die Brücke schlich. »Kein Maunzen, kein Fauchen, kein Schnurren, gar nichts. Du weißt, Albert hört fast so gut wie eine Fledermaus.«

Der Kater schenkte ihr nur einen verächtlichen Blick, als sie ihn vor der Turmtür absetzte. Natürlich. Er konnte leiser schleichen als sie, viel leiser, aber Igraine gab sich alle Mühe. Auf Zehenspitzen stieg sie die endlos vielen Stufen empor, die zum Zauberzimmer hinaufführten, während ihr Sisiphus sehr gemächlich und vollkommen lautlos folgte. Ein paar aufgeschreckte Fledermäuse flatterten ihnen entgegen. Alberts zahme Mäuse saßen auf fast jeder Stufe, aber Sisiphus tat, als sähe er sie nicht.

Die schwere Eichentür, hinter der das Zauberzimmer lag, war mit magischen Zeichen bemalt, und als Klinke diente eine kleine Messingschlange, die Fremden gern in die Hand biss.

Igraine legte vorsichtig ein Ohr an die Tür und lauschte. Ganz undeutlich konnte sie das feine Singen der Zauberbücher hören. Sisiphus rieb sich an ihren Beinen und schnurrte. Er wollte sein Frühstück.

»Was hab ich dir gesagt?«, zischte Igraine und schubste ihn weg. »Kein Laut!« Aber in dem Moment ging auch schon die Tür auf. Nur einen schmalen Spalt weit, durch den Albert gerade den Kopf hindurchstecken konnte.

»Wusste ich’s doch!«, sagte er und lächelte sein Was-bist-du doch-für-eine-dumme-kleine-Schwester-Lächeln. Seine Nase war mit Holzasche beschmiert und in seinem Haar saßen zwei Mäuse.

»Ich bin ganz zufällig hier«, fuhr Igraine ihn an. »Ich wollte nur wissen, wann es endlich Frühstück gibt.«

Albert lächelte nur noch breiter. »Du findest es sowieso nicht heraus!«, flötete er. »Das hast du noch nie, und so wird es bleiben. Also geh und füttre die Schlangen.«

Igraine stellte sich auf die Zehenspitzen, um wenigstens einen Blick über seine Schulter zu erhaschen, doch Albert stieß sie zurück.

»Geh Ritter spielen, Schwesterchen!«, sagte er. »Ich läute die Frühstücksglocke, wenn wir so weit sind.«

»Guten Morgen, Honigkind!«, hörte Igraine ihre Mutter aus dem Zauberzimmer rufen.

»Guten Morgen!«, rief Sir Lamorak, ihr Vater. Igraine antwortete nicht. Sie streckte Albert die Zunge heraus und stieg mit hoch erhobenem Kopf all die Stufen wieder hinunter.

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Das Futter für die Wasserschlangen war in der Küche. Als Igraine hereinkam, huschte ein halbes Dutzend von Alberts Mäusen vom Tisch. Sie hatten wieder am Käse geknabbert, und als Sisiphus sich an Igraines Beinen vorbeischob, trippelten sie so gelassen an ihm vorbei, als wäre er ausgestopft. Irgendwann werd ich sie fangen, dachte Igraine, auch wenn Albert mich dafür in eine Spinne verwandelt.

»Jedes Jahr dasselbe Getuschel und Geflüster«, schimpfte sie und stülpte einen Topf über den angefressenen Käse. »Aber diesmal übertreiben sie es wirklich. Fünf Tage zaubern sie nun schon da oben. Wollen sie mir einen Elefanten schenken?«

Sie goss Sisiphus etwas Milch mit Wasser in seine Schale, holte den Eimer mit den Zauberabfällen aus dem Ofen, den ihre Mutter dort immer vor den Mäusen versteckte, und schleppte ihn hinaus auf den Burghof. Sisiphus kam ihr mit milchverschmierter Schnauze nach.

Die Zugbrücke quietschte abscheulich, als Igraine sie herunterließ. Natürlich. Bei all der Zauberei dachte keiner daran, die Kette zu ölen. Sisiphus huschte zwischen ihren Beinen hindurch und schob den Kopf lauernd über den Brückenrand. Die Fische im Wassergraben standen nicht unter Alberts Schutz und dem Kater schmeckten sie sehr gut. Es grenzte an ein Wunder, dass immer noch Schwärme von ihnen durch den Graben zogen. Igraine nahm ein paar blauschalige Eier aus dem Eimer mit den Zauberabfällen und warf sie zwischen die Seerosen.

Sofort geriet das Wasser zwischen den Blüten in Bewegung und fünf Schlangen streckten Igraine züngelnd die schillernden Köpfe entgegen.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie, während sie sich zu ihnen

hinabbeugte. »Es gibt schon wieder Alberts trockene Kekse und blaue Eier.«

Der ganze Eimer war bis an den Rand gefüllt damit. Selbst Igraine musste zugeben, dass Albert für sein Alter wirklich gut zaubern konnte, doch sobald er sich an etwas Essbarem versuchte, kamen blaue Eier und trockene Kekse dabei heraus. Wasserschlangen sind jedoch nicht wählerisch und auch an diesem Morgen verschlangen sie Alberts Zauberunfälle mit größtem Entzücken. Igraine aber schlenderte zum Ende der Brücke und blickte über die sumpfigen Wiesen vor der Burg. Nichts regte sich in der Morgensonne, nur ein paar Kaninchen hüpften durchs Gras, und Igraine seufzte. »Jeden Morgen die Schlangen füttern«, murmelte sie, »mittwochs und samstags die Zauberbücher abstauben, einmal wöchentlich den Steinlöwen das Moos von der Mähne kratzen und einmal im Jahr gibt es ein Turnier auf Burg Düsterfels. Hier geschieht nie was Aufregendes, Sisiphus, niemals.« Mit einem Seufzer hockte sie sich erneut neben den Kater auf den Brückenrand und Sisiphus rieb seinen grauen Kopf an ihrem Knie.

»Morgen bin ich schon zwölf, Sisiphus!«, fuhr Igraine fort. »Zwölf! Und ich habe noch nicht ein einziges echtes Abenteuer erlebt. Wie soll ich so eine berühmte Ritterin werden? Soll ich die Kaninchen vor dem Fuchs retten oder die Eichhörnchen vor den Mardern beschützen?«

»Nein, die Fische vor mir«, schnurrte Sisiphus und langte mit den Krallen ins Wasser, doch diesmal entkam ihm seine geschuppte Beute.

Igraine blickte zu den Steinfratzen hinauf. Einige gähnten, die übrigen schielten missmutig auf die fetten Fliegen, die sich so gern auf ihren Nasen sonnten.

»Sieh doch. Selbst die Steinfratzen langweilen sich«, sagte sie. »Bestimmt würden sie auch gern zur Abwechslung mal wieder ein paar Pfeile zerbeißen oder eine Kanonenkugel schlucken.«

Sisiphus schüttelte nur den Kopf und starrte weiter geduldig in das dunkle Wasser.

»Ja, ich weiß! Es ist dumm, sich so etwas zu wünschen.«

Igraine sprang so ungestüm auf, dass der Kater sie ärgerlich anfauchte. »Du verjagst die Fische!«

»Und du denkst nur ans Fressen!«, fuhr sie ihn an und griff nach dem leeren Eimer. »Ich werde mich zu Tode langweilen, du wirst es sehen«, sagte sie zu dem Kater. »Vielleicht nicht bis morgen, aber bis zu meinem nächsten Geburtstag bestimmt!«

Sisiphus schlug mit der Pfote ins Wasser und warf einen zappelnden Fisch auf die Brücke. »Lern zaubern!«, knurrte er.

»Nein, Zaubern ist nichts für mich, das weißt du ganz genau«, antwortete Igraine. Dann schlenderte sie mit missmutiger Miene wieder zum Burgtor zurück. »Zaubern!«, murmelte sie. »Zutaten für Tränke auswendig lernen, Zauberformeln, Zauberzeichen, nein danke.«

»Zieh die Zugbrücke wieder hoch!«, maunzte Sisiphus, als er seinen Fisch an ihr vorbeischleppte.

»Wozu?«, antwortete sie. »Es kommt doch sowieso niemand.«

»Zwölf Jahre«, flüsterte sie, während sie auf die Waffenkammer zuging, die gleich rechts vom Tor lag. »Mein Urgroßvater war schon mit sieben Knappe auf einem königlichen Turnier!« Auch wenn ihre Eltern nichts von Waffen hielten, weil ihre Zauberei viel besseren Schutz bot – in der Waffenkammer von Bibernell stapelten sich immer noch die Rüstungen und Schwerter, Schilde und Turnierlanzen von Pelleas, ihrem Urgroßvater. Er war ein begeisterter Ritter gewesen, aber ein miserabler Reiter. Nicht ein einziges Turnier hatte er gewonnen, weil er immer vom Pferd gefallen war, bevor sein Gegner auch nur die Lanze hob. Igraine vertrieb sich oft die Zeit damit, den Rost von seinen alten Schwertern zu putzen oder die Schilde mit seinem Wappen zu polieren, bis sie glänzten.

»Ich bin einfach zur falschen Zeit geboren!«, murmelte sie, während sie sich eines der verbeulten Schilde nahm. »Ja, das ist es.« Ihre Eltern sahen es gar nicht gern, wenn sie sich eins der echten Schwerter nahm, aber vermutlich würden sie noch einige Zeit in ihrem Zauberzimmer stecken, also schob Igraine sich ein Schwert in den Gürtel, das dem Spielschwert, das ihr Vater ihr gezaubert hatte, verhältnismäßig ähnlich sah, und setzte sich den Helm mit dem silbernen Vogel aufs Haar, der leider zu groß, aber wunderschön war. Dann hob sie die lederne Übungspuppe vom Ständer, die Albert und ihre Eltern ihr zum zehnten Geburtstag gezaubert hatten.

Als Igraine dem Ledermann dreimal ins Gesicht blies, richtete er sich kerzengerade auf, rückte den Schwertgürtel zurecht und folgte ihr steifbeinig auf den Hof. Sisiphus legte fauchend die Ohren an, als die Puppe aus der Waffenkammer stapfte.

»Ach komm!«, sagte Igraine spöttisch. »Er tut nichts, das weißt du doch. Mit dir kann ich ja nicht fechten üben.« Der Ledermann folgte ihr mit knarrenden Gliedern die Treppe hinauf, die zu den Zinnen überm Burgtor führte. Sisiphus ließ missmutig eine abgenagte Gräte fallen und sprang hinterher.

Während der Kater es sich auf der warmen Mauer bequem machte, lehnte der Ledermann sich abwartend gegen eine Zinne. Igraine aber kletterte auf die Mauerbrüstung und sah sich um. Der Himmel war blau wie Vergissmeinnichtblüten. Nur ein paar weiße Wolken trieben vom Wispernden Wald herüber. Die Sicht war so gut, dass man im Westen bis zu den Ländereien des Einäugigen Herzogs blicken konnte, der angeblich den ganzen Tag damit verbrachte, Drachen und Einhörner zu jagen. Das nächste Dorf lag auf einem der Hügel im Süden, es war ein langer Ritt dorthin, aber an klaren Tagen wie diesem sah man die Dächer der Hütten zwischen den Bäumen. Im Osten dagegen ragten die fünf runden Türme von Burg Düsterfels in den Himmel. Düsterfels war zehnmal größer als Bibernell, und seine Herrin, die alte Baronin, liebte nur zwei Dinge: Pferde und Honigbier.

»Nichts«, murmelte Igraine. »Absolut nichts. Es ist nicht auszuhalten. Halt!« Sie lehnte sich vor. »Ich glaube, die Baronin hat ein neues Banner. Was für ein Wappen ist das? Nun ja, vermutlich ein Fass Honigbier.« Mit einem Seufzer sprang sie von der Mauer und setzte dem Ledermann ihr Schwert auf die Brust.

»Rührt Euch, Lederner Ritter!«, rief sie und schloss ihr Visier. »Ihr habt das Horn meines Einhorns abgesägt. Dafür werdet Ihr bitter büßen!«

Der Ledermann zog sein Schwert und stellte sich breitbeinig vor ihr in Positur. Wie immer parierte er ihre Angriffe mit wunderbarster Anmut, und bald war es Igraine so heiß in ihrem Kettenhemd, dass sie hinunter zum Brunnen im Hof lief. Sie goss sich gerade einen Eimer Wasser über den Kopf, als die Steinlöwen über dem Tor zu brüllen begannen.

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Die Löwen brüllten so heiser, als säße ihnen Staub in der Kehle. Erschrocken wischte Igraine sich das Wasser aus den Augen, sprang erneut die Treppe zu den Zinnen hinauf und schubste den steif dastehenden Ledermann aus dem Weg. Sisiphus stand fauchend auf der Mauer. Schnell kniete Igraine sich neben ihn und lugte nach unten.

Die Steinlöwen hockten mit gefletschten Zähnen auf ihrem Sims, ihre Schwänze peitschten die Mauer und ihr Gebrüll ließ die Wasserschlangen erschrocken die Köpfe aus dem Burggraben strecken.

Von Osten näherte sich im Galopp ein Reiter.

»Was soll das?«, rief Igraine den Löwen ärgerlich zu. »Das ist kein Fremder, ihr Steinnasen. Das ist Bertram, der Stallmeister von Düsterfels!«

Verdutzt klappten die Löwen die Mäuler zu. »In der Tat!«, knurrte der linke und kniff die Augen zusammen. »Sie hat recht.«

»Daran sind nur die Tauben schuld!«, verteidigte sich der rechte Löwe mit gekränkter Stimme. »Wie soll man auch anständig Ausschau halten mit Vogeldung in den Augen? Ich kann bald kein Pferd mehr von einem Einhorn unterscheiden.«

»Ja, eine wahrhaft zum Himmel stinkende Respektlosigkeit ist das!«, knurrte der linke Löwe.

Aber Igraine hörte schon nicht mehr zu. Mit klirrendem Kettenhemd sprang sie die Treppe hinunter und stürmte über den Hof. Sisiphus ließ sich deutlich mehr Zeit, ihr zu folgen.

»Wer kommt da, mein Schatz?«, rief Sir Lamorak aus dem Turmfenster herunter.

»Ach, die Löwen haben nur wieder falschen Alarm gegeben!«, rief Igraine zurück. »Es ist Bertram, der Stallmeister von Düsterfels.«

»Oh nein!«, stöhnte ihr Vater. »Das kann nur eins bedeuten. Die Baronin will wieder eins ihrer langweiligen Pferderennen veranstalten. Sag, wir sind verhindert, mein Engel. Ja?« Dann war er wieder verschwunden – bevor Igraine ihn daran erinnern konnte, dass sie diese Pferderennen keineswegs für langweilig hielt.

Der Stallmeister kam in vollem Galopp in den Burghof geritten. Sein Kopf war so rot wie die Zaubermäntel von Igraines Eltern und sein Pferd schnaubte und schwitzte. Igraine holte ihm rasch einen Eimer Wasser und rieb es mit einem Büschel Stroh trocken, während sein Herr erschöpft aus dem Sattel rutschte.

»Was für ein Wetter!«, keuchte Bertram. »Verdammt. Da ist mir kübelweise Regen lieber. Wo ist dein Vater, Igraine?«

»Zaubert mein Geburtstagsgeschenk«, antwortete Igraine und strich dem Pferd die Mähne aus der Stirn. »Wehe, du störst ihn dabei. Will die Baronin ein Rennen veranstalten?«

Der Stallmeister schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er. »Ich wünschte, das wäre der Anlass meines Besuches, aber ich bringe leider ganz andere Nachrichten. Ruf deine Eltern, Igraine, auch wenn dein Geburtstagsgeschenk deshalb warten muss.«

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»Was gibt es, Bertram?«, fragte die schöne Melisande, als sie mit Sir Lamorak in den Rittersaal trat.

Albert war natürlich doch mitgekommen, obwohl Igraine ihm von Sisiphus hatte ausrichten lassen, dass wenigstens er an ihrem Geschenk weiterzaubern sollte. Sein Haar war mit silbrig schimmerndem Puder bedeckt, und Igraines Eltern sahen nicht besser aus, aber der Stallmeister verbeugte sich trotzdem tief vor der schönen Melisande.

»Beunruhigende Nachrichten, Euer Lieblichkeit«, sagte er.

Igraines Vater hob besorgt die Augenbrauen. »Oh nein. Die alte Baronin ist doch wohl nicht . . .«

»Nein, nein.« Der Stallmeister sah sich nach allen Seiten um, als könnten ihn die Gemälde an den Wänden belauschen. »Es geht ihr gut, aber sie hat vor ein paar Tagen ungebetenen Besuch bekommen, von ihrem missratenen Neffen Osmund, den alle nur den Gierigen nennen, und seinem Burgvogt, der sein Visier nur zum Essen öffnet.«

»Oh, ein Ritter?« Igraine hockte sich auf den langen Tisch, in den schon ihr Urgroßvater Pelleas seine Anfangsbuchstaben geritzt hatte. »Was für eine Rüstung trägt er?«

»Das Ding ist vom Helm bis zu den Beinschienen mit Eisenstacheln bedeckt«, antwortete Bertram. »Abscheulich, wie der Mann, der sie trägt. Gestern Morgen«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, »als ich gerade die Pferde hatte füttern lassen, verkündet Osmund in aller Herrgottsfrühe plötzlich, die Baronin sei zu einer Wallfahrt aufgebrochen, von der sie frühestens in einem Jahr zurückkehren wird. Und stellt euch vor, er behauptet, sie habe ihn für diese Zeit zum Herrn über Düsterfels und all ihre Ländereien bestimmt.«

»Die Baronin auf einer Wallfahrt?« Sir Lamorak runzelte die Stirn. »Sie verlässt ihr Zimmer doch nur noch, um zu sehen, ob es ihren Pferden gut geht.«

»Oder um Honigbier zu trinken«, sagte Igraine.

»Eben!« Bertram nickte. »Niemand hat sie abreisen sehen und im Stall ist sie auch nicht gewesen. Glaubt Ihr, sie wäre fortgegangen, ohne sich von Lancelot, ihrem Lieblingspferd, zu verabschieden? Fragt Eure Tochter. Sie hat die Baronin oft genug besucht.«

Igraine wischte sich einen Taubenklecks von ihrem Kettenhemd. »Unmöglich«, sagte sie. »Die Baronin ist nicht mal schlafen gegangen, ohne Lancelot vorher zu besuchen. Und sie hat ihm jeden Morgen noch vor dem Frühstück ein Schlückchen Bier in sein Wasser gegossen – auch wenn ich ihr immer wieder erklärt habe, dass das gar nicht gut für ihn ist.«

Albert runzelte die Stirn (was immer sehr eindrucksvoll aussah) und Igraines Eltern wechselten einen besorgten Blick. »Das klingt wirklich beunruhigend, Bertram«, sagte Melisande. »Was schlagt Ihr vor? Sollen wir Euch nach Düsterfels begleiten? Sollen wir diesen Osmund zur Rede stellen und verlangen, dass er uns genaue Auskunft über den Aufenthaltsort der Baronin gibt?«

Aber der Stallmeister schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, Euer Lieblichkeit! Ich bin nicht hier, um Euch um Hilfe zu bitten. Ich bin hier, um Euch zu warnen. Ich glaube, dass Eurer Burg und Eurer Familie von diesem Osmund Gefahr droht!«

»Uns, wieso das denn?«, fragte Albert und pflückte sich eine Maus aus den Haaren.

»Ich glaube . . .« Bertram blickte sich erneut um, als fürchte er belauscht zu werden. »Ich glaube, dieser Osmund ist nur nach Düsterfels gekommen, um Bibernell anzugreifen.«

»In der Tat?« Sir Lamorak hob die Augenbrauen. »Nun, Ihr habt sicherlich einen Grund für diese Annahme.«

»Er giert nach Euren Zauberbüchern, Sir! Seine Knechte reden von nichts anderem. Er will durch Eure Bücher zum größten Zauberer der Welt werden. Und glaubt mir, Osmund nimmt sich, was er begehrt. Man nennt ihn nicht umsonst den Gierigen.«

»Ja, ein paar Geschichten über ihn und seinen stachligen Burgvogt sind mir auch schon zu Ohren gekommen«, murmelte Sir Lamorak. »Ziemlich abscheuliche Geschichten. Dabei ist seine Tante, die Baronin, so eine reizende alte Dame. Auch wenn sie wirklich etwas zu viel trinkt.«