Titelseite

Kapitel 001

Der Fahrtwind strich durch Lillis Haare. Sie legte sich in die Kurve und trat in die Pedale. Durch die Sonnenbrille sah die Welt seltsam fremd und vertraut zugleich aus. Entfernt schlug die Turmuhr und Lilli beschleunigte ihr Tempo. Die etwas zu große Brille rutschte auf Lillis Nase und ein Streifen grelles Tageslicht stach ihr in die Augen. Lilli streckte den Arm aus und bog ab Richtung Sportzentrum. Sie überquerte den abgeflachten Bordstein, fuhr die abschüssige Zufahrt hinunter und bremste mit pfeifendem Hinterreifen.

»Na endlich!« Bob und Very grinsten Lilli an.

Keine Handbreit vor ihnen sprang Lilli völlig aus der Puste vom Fahrrad. »Wo ist denn Enya?«

»Hier!« Enya schlängelte sich zwischen den Fahrradständern hindurch. »Die Räder der Jungs sind jedenfalls alle drei da!«

Wie vor jeder Geheimaktion der Wilden Küken fragte Lilli zuerst nach dem Passwort.

»Camouflage!«, antworteten Very und Enya wie aus einem Mund.

Nur Bob schüttelte etwas genervt den Kopf. »Mamma mia, Oberküken! Du und deine Passwörter!« Aber Lilli schaute Bob nur auffordernd an. »Camouflage«, sagte Bob und verdrehte die Augen. »Was heißt denn das überhaupt?«

»Tarnung!« Enya holte ein paar Haarklammern aus der Hosentasche und steckte sich ihre schwarzen Haare hoch.

Very klopfte auf ihre Armbanduhr. »Das Basketballspiel endet in zehn Minuten!«

»Gelatino meinte gestern, es gibt sicher keine Verlängerung«, bemerkte Bob. »Und der muss es ja wissen, schließlich ist er der Schiedsrichter.«

Lilli kettete eilig ihr Fahrrad neben den Rädern ihrer Freundinnen an den Zaun.

»Hey, Lilli!« Very grinste. »Coole Sonnenbrille, übrigens!«

»Die gehört meinem Dad.« Lilli blickte zu Enya. »Und? Hast du die Sachen?«

»Alles dadrin.« Enya schnallte eine prall gefüllte Sporttasche von ihrem Gepäckträger. »Fragt sich nur …«, ihr Blick wanderte über die vielen parkenden Autos, »wo wir uns umziehen.«

»Vielleicht dahinten?«, schlug Bob vor und zeigte auf die Büsche hinter einer Parkbank. »Oder in der Telefonzelle da drüben?«

»Ich zieh mich doch nicht hier draußen in freier Wildbahn um.« Very tippte sich an die Stirn.

»Hier lang«, entschied Lilli und drückte die Tür zum Sportzentrum auf.

Die Wilden Küken folgten dem Korridor und verschwanden in der nächsten Damentoilette.

Enya öffnete ihre Sporttasche. »Ich hab den halben Kleiderschrank von meinem Bruder dabei.« Sie reichte Very eine schwarze Strickmütze, warf Bob eine abgewetzte Lederjacke über die Schulter und drückte Lilli eine tarnfarbene Cargohose in die Hand.

»Pscht.« Lilli legte den Finger an die Lippen. »Da kommt jemand!«

Wie auf Kommando zwängten sich alle vier Wilden Küken zusammen in eine Klokabine.

Von draußen hörte man zwei Frauen kurz miteinander reden und das Geräusch eines laufenden Wasserhahns.

Very hielt Lilli ihre Armbanduhr unter die Augen. Das Basketballspiel endete gleich. Wenn sie die Grottenolme noch rechtzeitig abfangen wollten, mussten sie sich beeilen. Hastig nestelten die Wilden Küken an Knöpfen, Reißverschlüssen und Gürteln. Eingeklemmt zwischen Verys spitzer Schulter und Bobs verschwitztem Kopf, versuchte Lilli gerade, Rücken an Rücken mit Enya, ihren Arm in den Ärmel eines karierten Hemds zu stecken, da ging der Verschluss ihres Armkettchens auf.

»Beweg dich nicht!«, zischte Lilli und griff blitzschnell in Bobs Kragen. »Hab sie.«

»Eine Spinne, oder?« Bob schüttelte sich vor Ekel. »Wirf sie ins Klo!«

»Spinnen sind auch Lebewesen«, empörte sich Enya sofort.

Very stülpte sich die Strickmütze über die blonden Haare. »Seit du Vegetarierin bist, tickst du nicht mehr richtig. Bei meiner Mutter war das auch so.«

Lilli hielt Bob die geschlossene Hand unter die Augen und öffnete sie langsam, während Bob sich immer weiter nach hinten gegen Very presste.

»Nur mein Armkettchen, du Angsthase!«

Bob, die mit der Lederjacke wie ein etwas zu klein geratener Rocker aussah, entspannte sich wieder.

»Unsere Hühner würdet ihr doch auch nicht essen, oder?«, fing Enya wieder an.

»Aber ihre Eier«, erwiderte Bob.

Während ihre Freundinnen weiterdiskutierten, welche Tiere man essen durfte und welche nicht, legte Lilli sich das Armkettchen wieder ums Handgelenk. Nachdenklich strich sie über die eingravierten fünf Buchstaben. LILLI. Und wie immer musste sie dabei an fünf andere Buchstaben denken. NADJA. So hieß Lillis Mutter. Nadja hatte Lilli und ihren Vater schon bald nach Lillis Geburt verlassen und sich seither nicht mehr gemeldet. Aber letztes Weihnachten bekam Lilli dann ein Päckchen mit diesem Namenskettchen darin. Erst wollte sie einen Brief schreiben, um sich bei Nadja für das Geschenk zu bedanken, aber Lillis Vater meinte, Lilli sollte keine alten Wunden aufreißen und lieber alles so lassen, wie es war.

»Enya, hilf mir mal mit dieser beknackten Weste!« Very suchte vergeblich nach dem Ärmelloch. »Dein Bruder leidet echt an Geschmacksverirrung!«

Nach etlichen Verrenkungen hatten die Wilden Küken endlich die Sachen von Enyas Bruder an und verstauten dafür ihre eigenen in der Sporttasche.

So gut es ging, stopfte Lilli ihre rotbraunen Locken unter die Baseballkappe, deren Schirm sie nach hinten gedreht hatte. »Okay, dann kommt jetzt Phase zwei!« Lilli setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Und denkt dran: Kein Wort! Nicht, dass die Grottenolme uns an den Stimmen erkennen!«

Die Grottenolme, das waren Ole, Little und Mitch. Und genau wie Lilli, Bob, Very und Enya waren die drei eine Bande.

Normalerweise legten es die Jungs von der Grottenolmbande immer darauf an, den Wilden Küken eins auszuwischen, was ihnen die Wilden Küken dann natürlich doppelt heimzahlten. Aber inzwischen neigte sich die erste Ferienwoche schon ihrem Ende zu und noch immer war nichts passiert. Schon sehr verdächtig lange hatten die Grottenolme den Wilden Küken keinen dummen Streich mehr gespielt, und jedes Mal, wenn sich die Wilden Küken durch den Keltenwald pirschten, fanden sie die Grottenolmhöhle leer und verlassen vor.

Aber wenn Lillis Vermutung stimmte und die Grottenolme sich wirklich ein neues Bandenquartier gesucht hatten, dann würden sie das heute herausfinden.

»Ich glaub, die Luft ist rein!« Enya zog sich noch schnell das Fußballshirt mit der Nummer elf über.

Lilli öffnete die Tür der Klokabine und wollte eben im Spiegel ihre Tarnung begutachten, da kam eine Frau herein und starrte die Wilden Küken entrüstet an. »Raus hier, Jungs!«

»Es funktioniert«, raunte Bob zufrieden.

»Raus, hab ich gesagt«, wiederholte die Frau und schüttelte den Kopf. »Meine Güte, in so einer Montur würde ich meinen Sohn nicht rumlaufen lassen.«

»Mann, ey, Tussi«, brummte Very mit verstellter Stimme. Very konnte es manchmal wirklich übertreiben.

Grölend wie eine Bande dummer Jungs schubsten sich die Wilden Küken gegenseitig aus der Damentoilette.

Draußen schlossen sie ihre Fahrradketten auf, um sofort startklar zu sein. Sie beobachteten, wie auf der anderen Seite des Parkplatzes eine junge Frau aus ihrem Auto stieg und sich auf die Kühlerhaube hockte. Enya schnallte die Sporttasche auf ihren Gepäckträger, dann schoben sie alle ihre Räder etwas näher zum Eingang und warteten. Lilli betrachtete ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe. Ein langer, dünner Rapper, ein kleiner Rocker, ein Fußballfan und ein Typ mit Sonnenbrille, Baseballmütze und Militärhose lungerten mit ihren Fahrrädern vor dem Sportzentrum herum.

»Und wenn die Olme unsere Fahrräder erkennen?«, fragte Enya.

»Der richtige Abstand ist bei jeder Beschattung das Entscheidende.« Very kratzte sich unter der Mütze. »Dein Bruder hat doch hoffentlich keine Läuse!«

»Wenn sie uns an irgendwas erkennen, dann daran.« Lilli deutete auf die Hühnerfeder, die Very, genau wie die anderen Wilden Küken, an einem Lederband um den Hals trug. Schnell versteckten alle die Bandenzeichen unter ihren Verkleidungen. Lilli krempelte die viel zu lange Cargohose hoch und stellte sich vor, sie sei eine Dschungelkämpferin. Li Yan Lee kämpfte sich mit der Machete voran durch die grüne Hölle. Sie musste das Lager der Rebellen erreichen, bevor die Hubschrauber eintrafen. Immer schneller lief Li Yan. Plötzlich tauchte ein Junge mit bemaltem Gesicht vor ihr auf und warf sie zu Boden. Über ihnen sirrte ein Pfeilhagel hinweg. Li spiegelte sich in den tiefblauen Augen ihres Retters. »Wer bist du?«, flüsterte sie.

»Da ist Ole!«, zischte Very neben Lilli. »Sie kommen!«

Ole, sein Zwillingsbruder Little und Mitch kamen aus dem Sportzentrum. Ihr Team schien das Spiel gewonnen zu haben, denn die Jungs schmetterten Schlachtgesänge und reckten triumphierend die Fäuste in die Luft. Sogar Little schlenkerte ungeschickt mit den Armen. Little selbst spielte nicht in der Mannschaft. In Anbetracht der statistischen Wahrscheinlichkeit eines Sportunfalls betrieb Little überhaupt keinen Sport, aber er war der treueste Fan, den man sich denken konnte. Er war nicht nur bei jedem Match dabei, sondern saß sogar beim Training regelmäßig auf der Zuschauertribüne.

»Nur nicht auffallen«, murmelte Lilli den anderen Küken zu und drehte sich noch weiter weg. Aber im Schutz ihrer Sonnenbrille ließ sie Ole keine Sekunde aus den Augen.

Hinter den drei Jungs kam jetzt Gelatino aus dem Gebäude. Er steckte seine Schiedsrichterpfeife in die Tasche, klopfte den Grottenolmen anerkennend auf die Schultern und redete kurz mit ihnen. Leider konnte Lilli von ihrer Position aus nicht verstehen, was.

Gelatino arbeitete als Eisverkäufer in der Eisdiele von Bobs Familie. Und weil er nebenher auch noch Schiedsrichter im Basketballverein war, wusste Bob natürlich immer genau, wann die Mannschaft der Grottenolme ein Spiel hatte.

»Gelatino!« Die wartende junge Frau rutschte von der Kühlerhaube und winkte.

Lässig schlenderte Gelatino auf sie zu. »Yvonne, des is ja pfundig, dass du mi abholst.« Gelatino sah zwar aus wie ein Italiener, aber er hieß eigentlich Georg Hadersdorfer und stammte aus Rosenheim.

»Hey, Ole!«, rief Gelatino, während er zu Yvonne ins Auto stieg. »Für den Fall, dass ich no net da bin, fangts eifach scho mit de Klappbetten o!«

Ole streckte den Daumen hoch, Yvonne fuhr mit Gelatino davon, und die Grottenolme schlurften zu ihren Fahrrädern.

»Gutes Spiel heute«, sagte Ole.

»Besser als Krieg der Sterne!« Mitch focht mit einem unsichtbaren Lichtschwert durch die Luft und ahmte den dazugehörigen Sound nach. »Wwwum … Wwommm! Die Macht war mit uns!«

»Wieso hängen die Olme in letzter Zeit dauernd mit Gelatino rum?«, murmelte Very links von Lilli.

Und rechts von ihr fragte Enya: »Und wofür brauchen sie Klappbetten?«

Lilli blickte ihre Freundinnen über den Brillenrand hinweg an. »Das werden wir gleich herausfinden!«

Ole beugte sich zu seinem Fahrradschloss, löste die Kette und richtete sich wieder auf. Dabei blickte er in Lillis Richtung und wie ein Schreck durchfuhr es sie. Noch während sie sich wie ertappt abwandte, haftete Oles Blick auf ihr.

»Was machen sie?«, zischte Lilli aufgeregt zu Bob, die ihr direkt gegenüberstand. Der etwas zu klein geratene Rocker stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über Lillis Schulter. »Sie schließen ihre Räder auf und machen sich auf den Weg, das heißt … Ole …« Bob brach mitten im Satz ab.

Lilli konnte nicht anders und drehte sich wieder um. Ole drückte Mitch sein Rad zum Halten in die Hand und näherte sich. Im Augenwinkel sah Lilli nur wenige Schritte entfernt zwei Trainer aus dem Sportzentrum kommen. Erst dachte Lilli, Ole würde direkt auf sie zusteuern. Er grinste ihr jetzt offen ins Gesicht, wandte sich dann aber an die beiden Trainer. »Hier sind vier Neue fürs Probetraining! Sind noch ein bisschen schüchtern, die Jungs.«

»Alles klar, Ole!«, sagte der jüngere Trainer.

Und noch bevor Lilli reagieren konnte, packte der ältere Trainer sie und Enya auch schon links und rechts an der Schulter. »Na, dann kommt mal gleich mit! Die Regionalliga braucht dringend Nachwuchs!«

Der jüngere Trainer bugsierte Bob und Very bereits Richtung Eingang und gleich nach ihnen wurden auch Lilli und Enya durch die Tür geschoben. Während die Trainer abwechselnd erzählten, wie toll es im Basketballverein so zuging, dachte Lilli krampfhaft darüber nach, wie sie am schnellsten wieder aus der Sache rauskommen könnten.

»Also, hören Sie mal …« Lilli blieb stehen. »Es ist so, wir sind … also wir sind …«

»Ben und Bob …!«

Lilli glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen, als sie Verys verstellte Stimme hörte. Very zeigte auf Lilli und Bob und patschte dann auf Enyas Schulter. »Der abgefahrene Typ hier ist Nick und ich bin Jean-Pierre!«

»Also, dann mal rein mit euch.« Der Trainer öffnete eine Tür und rief in den Raum. »Jungs, sucht mal ein paar Trikots für die Neuen hier raus.«

Wie von einer unsichtbaren Mauer gebremst, blieben die Wilden Küken auf der Türschwelle stehen und starrten in einen Umkleideraum voller Jungs in Unterwäsche.

»Verdammt, wir sind Mädchen«, schrie Lilli, der ihre Tarnung inzwischen völlig egal war. Sie rannte los und die anderen Küken rannten ihrem Oberküken hinterher durch den Korridor und schnurstracks hinaus aus dem Sportzentrum. Lilli wollte sich schon aufs Rad schwingen, merkte aber sofort, dass was nicht stimmte. »So ein Mist!«

Bob begutachtete ebenfalls wütend ihr Rad. »Hinten und vorne platt wie eine Briefmarke.«

»Ich hab nur hinten einen Platten!« Enya hob neben ihrem Hinterrad einen Kugelschreiber auf. »Bei mir haben sie länger gebraucht. Ich hab Ventile, bei denen muss man erst einen Stift reindrücken.« Sie steckte den Kugelschreiber in ein Seitenfach ihrer Sporttasche. »Sie müssen gerade eben getürmt sein … Nein!« Enya streckte den Arm aus. »Da sind sie noch!«

Und jetzt entdeckte auch Lilli die drei Jungs, die soeben die steile Zufahrt zur Straße hinaufradelten.

Oben drehte Ole sich um. »Viel Spaß noch beim Pumpen!«

Wütend riss Lilli sich die blöde Baseballkappe vom Kopf und reckte sie drohend in die Luft.

Very klopfte mit der Fußspitze gegen ihren schlaffen Hinterreifen. »Ole und seine Jungs müssen uns sofort erkannt haben.«

Lilli funkelte Very an und zischte: »Ach, was du nicht sagst … Jean-Pierre!«

»Lasst uns lieber schnell weg hier, bevor diese Trainer noch mal aufkreuzen!« Bob schob ihr plattes Rad zwischen Lilli und Very hindurch.

Lilli, Very und Enya folgten Bob und dann pumpten die Wilden Küken, leise vor sich hin fluchend, hinter einer Reihe von Mülltonnen ihre Reifen wieder auf.