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Tag X

Was für ein tolles Gefühl! Man hat eine Idee, überlegt nicht lange, setzt sie in die Tat um, und dann der Hammer: Sie funktioniert! So ist es mir im vergangenen halben Jahr ergangen. Dabei war meine Idee echt verrückt: ein unterhaltsames Schlagfertigkeitsseminar nur für Frauen. Was habe ich nicht alles angestellt, um diese Idee zum Leben zu erwecken: Pressearbeit, Kooperationen, Networking – eben alles, was mir so einfiel. Vor einigen Wochen dann – es war der 8. Mai – war es endlich so weit.

50 Frauen hatten mein Seminar gebucht und so fand in der Nähe von Köln vor ausverkauftem Hause endlich die Premiere statt: Die Frauen waren begeistert, haben viel gelacht und sich neu ausprobiert.

Ich habe viele Jahre als Sales Director in einem Lifestyle-Verlag gearbeitet und meinen Job geliebt. Doch im Jahr zuvor hatte ich ihn aufgegeben, um mehr Zeit für meine Kinder zu haben. Dennoch wollte ich irgendetwas machen, etwas Neues, etwas Sinnvolles. Ich will damit nicht sagen, dass Kindererziehung nicht sinnvoll ist, aber sie füllt nun mal nicht immer aus. Also ließ ich mich zur Trainerin zertifizieren und arbeitete an meiner neuen Idee, dem Schlagfertigkeitsseminar. Wie zu vermuten, geht es darum, Frauen schlagfertiger zu machen. Ich will genau jenen Frauen helfen, die schon so oft sprachlos zurückgeblieben sind mit nichts als dem sehnlichen Wunsch, beim nächsten Mal ganz sicher die richtige Antwort parat zu haben – also eigentlich fast allen. Ich brauchte einiges an Zeit und Energie, bis ich ein dreistündiges teilnehmeraktivierendes Seminar entwickelt und erarbeitet hatte. Dann probte ich es mit drei Freundinnen. Das war’s an Praxis – bis zum 8. Mai. So sprang ich an jenem Abend vor 50 Frauen in eiskaltes Wasser. Und ich schwamm! Innerhalb kürzester Zeit folgten Anfragen aus anderen Städten und bis zum Jahresende waren bereits fünf Veranstaltungen deutschlandweit fest gebucht. Ich war stolz und glücklich. Ein halbes Jahr Arbeit und sehr viel Geld steckten in »Steh deine Frau«.

So gesehen, stehe ich meine Frau sehr gut, und das beschert mir nun schon seit Wochen ein ständiges Hochgefühl. Manchmal fürchte ich, dass die Menschen in meiner Umgebung von meiner ungebremsten Euphorie doch etwas genervt sein könnten. Allerdings hat sich bisher noch niemand beschwert, doch vielleicht trauen sie sich das auch bei mir, der Schlagfertigkeitsqueen, gar nicht erst …

»Maus, wie lange brauchst du noch?«, höre ich von unten meinen Mann rufen. Ich nenne ihn »Hase« und er ist seit zwölf Jahren der Mann an meiner Seite. Und der Vater der zwei besten Kinder der Welt.

Kennengelernt haben wir uns damals online. Zu jener Zeit war das noch ganz verrucht und nur hinter vorgehaltener Hand zu erzählen. Uns hat das nie gestört. Allerdings haben wir nicht lange auf virtueller Basis gechattet, sondern uns nach drei Tagen persönlich in einer Bar getroffen. Und als ich ihn damals zum ersten Mal sah, wusste ich: Das wird mein Mann.

Heute, zwölf Jahre später, steht er unten in der Küche und wartet mit den Kindern darauf, dass er die Kerzen anzünden kann. Denn heute ist mein 32. Geburtstag. Ich hoffe, dass er nicht etwa 32 Kerzen anzünden will, denn das wird mit zwei Kindern schwierig.

»Hase, ich geh noch schnell duschen, dann komme ich!«

Damit will ich ihm die Chance geben, die vielen Geschenke schön zu drapieren, die Kinder schnell noch adrett herzurichten und mir einen Bilderbuch-Geburtstagsmorgen zu bescheren. Mir, der erfolgreichen Schlagfertigkeitsqueen.

Ich höre unten lautes Rumgewusel und Poltern, denke noch bei mir Geht doch! und steige unter die Dusche.

So! Jetzt bist du 32. Von Wehmut keine Spur, denn bis jetzt bin ich sehr zufrieden mit meinem Leben. Neben meinem Mann habe ich außerdem zwei tolle Jungs. Der große, Maximilian, ist seit fast sechs Jahren mein ganzer Stolz, und Constantin, der kleine, ist mein ewig lachender Sonnenschein. Diese drei Männer machen mein Glück komplett.

Und während ich mich gedanklich in der Sonne meines Glücks räkle, mache ich das, was ich immer unter der Dusche tue. Ich taste meine Brust ab. Seit fast 16 Jahren mache ich das täglich. Warum? Keine Ahnung. Irgendwie glaube ich, das tun zu müssen. Routinierte, schnelle Handgriffe auf meiner sehr großen Brust. Ich kenne sie in- und auswendig. Schon des Öfteren bin ich auf Knoten gestoßen.

»Mastopathie ist das, Frau Staudinger. Nichts Schlimmes. Kommt und geht mit dem Zyklus«, höre ich meine Gynäkologin sagen. »Kein Grund zur Besorgnis.«

Diese Sätze gehen mir immer durch den Kopf, wenn ich taste. Bis zum heutigen Tag. Bis zu meinem 32. Geburtstag gegen neun Uhr morgens. Bis ich auf ihn stoße. Auf den Knoten, der in den folgenden Monaten mein ständiger und ungeliebter Begleiter sein wird und dem aufgrund des Vorschlags einer guten Freundin spontan der Name »Karl Arsch« verliehen wird.

Gestatten, Karl Arsch!

In der rechten Brust, rechts oben. Da ist er. Der Knoten. Ein Tumor? Ich weiß es nicht … nein … bestimmt nur knotige Mastopathie. Aber so hart? So anders? Ach, Quatsch! Du bist 32! Du warst ja gerade erst bei der Mammographie.

Wieder höre ich meine Gynäkologin: »Ich würde Sie nach zwei gestillten Kindern gern zur Mammographie schicken. Nach dem Stillen ist das keine schlechte Idee. Sicher ist sicher.« Ich muss zugeben, so ganz ungelegen kam mir ihr Vorschlag nicht, denn ziemlich genau zwei Jahre zuvor hatte ich bereits Kontakt mit dem bösen K-Wort. Schwarzer Hautkrebs. Alles, was mir seither an Vorsorge angeboten wird, nehme ich natürlich gern mit.

Bei der Tittenquetsche – anders kann man eine Mammographie tatsächlich nicht bezeichnen – wurde mir dann vor gut einem Jahr gesagt: »Sie haben absolut unauffälliges Brustgewebe, wir wollen Sie vor dem 40. Lebensjahr nicht mehr sehen.« Dankeschön! Auf Wiedersehen! Also, kein Grund zur Sorge, der Knoten kann gar nichts Böses sein!

»Hase, ich habe einen Knoten in der Brust!«

»Können wir erst mal singen?«

»Ach ja, klar … dann schmettert mal los!« Nicht schön, aber selten und vor allem laut ertönen die Stimmen meiner Kinder.

»Heute kann es regnen, stürmen oder schneien …« – oder wie Constantin singt: »Te ka nen, odä scheeee …« Ich verstehe jedes seiner Worte. Max besteht darauf, die Kerzen auszupusten, er kann das viel besser als seine alte Mutter.

»Constantin, der Kuchen gehört nicht dir!«

»Dooooch!!«

»Nein! Mama, sag ihm, dass der Kuchen nicht ihm gehört!«

Also, im Prinzip ist alles wie immer, nur dass beide Kinder jetzt auch noch Schokoladenkuchen im Gesicht haben. Nach dem ausgiebigen Geburtstagsfrühstück, will sagen nach dreieinhalb Minuten, dürfen die Kinder, wie immer am Wochenende (ich weiß, es ist vielleicht nicht pädagogisch wertvoll, aber dafür gemütlich), endlich fernsehen. Mein Mann und ich trinken noch in Ruhe unseren Kaffee aus und schwärmen von den Jungs.

»Was meintest du vorhin mit Knoten?«

»Ach, ich habe was in der Brust gefühlt, hier …«

Ich lasse ihn fühlen, damit er sagen kann: »Hä? Ich fühle nichts!«

Stattdessen sagt er: »Ja, fühle ich auch!«

Männer! Wann lernen sie endlich, dass sie das zu sagen haben, was wir gern hören möchten? So wie: »Nein, wie sollte dein Hintern denn zu dick wirken? Wo nichts ist, kann auch nichts wirken!« Oder: »So ein paar Schuhe hast du aber noch gar nicht – kauf sie dir ruhig«. Und natürlich: »Knoten? Ich fühl da keinen Knoten!«

»Wie, fühlst du auch!?«, blaffe ich ihn doch recht barsch an.

»Ja, da ist was. Aber das ist bestimmt nichts Schlimmes.«

»Ach, bist du jetzt Arzt oder was?«

»Maus«, so nennt er mich immer, er ist nicht in der Lage, mich bei meinem richtigen Namen zu nennen, was ich eigentlich ganz süß finde, »du zeigst mir einen Knoten, ich sage ja, da ist was. Warum wirst du jetzt sauer? Das hattest du doch schon öfter. Gehst du morgen zum Arzt und alles ist gut.«

Genau! Alles ist gut!

»Wenn Mama nachher kommt, sag ihr bloß nichts, ja? Sie macht sich nur Sorgen!«

»Mama, ich habe einen Knoten in der Brust!«, sind die Worte, mit denen ich bei meiner Mutter Hilfe suche, so etwa zehn Minuten, nachdem ich ihre Geschenke ausgepackt habe.

»Wo denn? Schon lange? Ist ganz sicher nichts Schlimmes. Das kennen wir ja, ist harmlose Mastopathie.« So viel zu ihrer Reaktion.

Und damit ist das Thema eigentlich vom Tisch. Seit meinem Hautkrebs bin ich ängstlich geworden. Bei den letzten Halsschmerzen war ich fest davon überzeugt, einen Tumor in der Speiseröhre zu haben. Damit will ich nicht sagen, dass meine Familie mich nicht ernst nimmt, aber es ist eben schon öfter vorgekommen, dass Frau Doktor Schlagfertig bei sich einen erneuten Krebs diagnostiziert hat.

Wochen später sagten mir Freunde, dass ich mich am Telefon bei den üblichen Gratulationen schon sehr merkwürdig verhalten hätte.

»Jetzt haben Sie wohl
ein Problem«

Die bereits erwähnte Gynäkologin meines Vertrauens sitzt in Köln, mitten in Köln. Seitdem wir aber Kinder haben, wohnen wir wieder etwas ländlicher, sodass ich ohne Termin inklusive Fahrzeit mindestens drei Stunden einrechnen muss. Zeit, die ich im Moment nicht habe. Denn ich möchte die Kinder früh abholen, um etwas Schönes zu kochen und mit ihnen etwas zu unternehmen. Also entschließe ich mich zu einem Anruf in der Frauenarztpraxis im Nachbarort. Meine Meinung über Landärzte ist nicht die beste, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gibt. Und trotzdem: Meine Mutter arbeitet, so lange ich denken kann, bei einem großen Internisten in der Innenstadt und seit Jahr und Tag hat unsere gesamte Familie ihre Ärzte in der Stadt. Ich will damit nicht sagen, dass Ärzte auf dem Land schlecht sind, aber wir haben sie halt nie ausprobiert. Egal. Um einen völlig harmlosen Knoten abklären zu lassen, wird es schon reichen, denke ich mir.

»Kommen Sie um 9.45 Uhr vorbei!«, sagt die Arzthelferin am Telefon zu mir und ich bin natürlich überpünktlich. Habe ich Herzklopfen? Ich weiß es nicht. Ein bisschen vielleicht. Trotz bester Vorsätze schockt mich die Praxis doch ein wenig. Die haben grünen Teppichboden! In einer Praxis? Teppich? Grün? Gefällt mir nicht! Wie die gesamte Atmosphäre. Ich weiß nicht, was mich stört. Die tuschelnden Helferinnen? Das ungemütliche Wartezimmer? Egal, ich will ja hier keinen Urlaub machen, ich will doch nur eines, ich will hören: »Ist nichts, alles gut! Schönes Leben noch!«

Obwohl das Wartezimmer voll ist und die meisten Patientinnen vor mir da waren, werde ich recht schnell aufgerufen.

Der Arzt begrüßt mich, checkt mich ab wie Frischfleisch und ist mir binnen drei Sekunden unsympathisch. Warum ich schon mal bei der Mammographie gewesen sei, will er wissen.

Ich erkläre es ihm und seine Antwort überrascht mich: »Dann ist Ihre Ärztin scheiße! Besser Sie wechseln sofort zu mir!« Lassen Sie mich kurz überlegen: Nein!

Für die Untersuchung gehen wir in ein anderes Zimmer. Hier steht ein Ultraschallgerät samt sehr großem Bildschirm – und jetzt spüre ich ihn zum ersten Mal, meinen Herzschlag.

»Ich taste Sie jetzt so ab, als wären Sie zur normalen Vorsorge.«

Ich entkleide mich also vor diesem Mann, der mir immer unsympathischer wird, und lasse mich abtasten. Wie alle anderen Frauen weiß auch ich, dass es Schöneres gibt, als von eiskalten Händen unsanft begrapscht zu werden, aber was muss, das muss. Fachmännisch und schnell tastet er und kommt zu dem beruhigenden Entschluss: »Nee, alles in bester Ordnung.«

Das wäre der Moment gewesen, an dem ich hätte sagen können: »Danke! Ich bin dann weg!« Denn mir hat soeben ein berufserfahrener Mediziner gesagt, dass alles gut sei. Kein Grund, das anzuzweifeln! Stattdessen höre ich mich sagen: »Dann fühlen Sie doch mal bitte hier«, und zeige ihm die bedrohliche Stelle.

Er tastet erneut und stellt in beiläufigem Ton fest: »Ach ja, da ist ein Tumor.«

Ach ja, da ist ein Tumor! Ach ja, da ist ein Tumor!! Ach ja, da ist ein Tumor!!! Ach ja, ach ja … Wie oft hallen mir diese Worte, dieser Tonfall noch nach. Ach ja … Tumor … Ob ihm wohl bewusst ist, was er da gesagt hat? Tumor? Ich bin 32 … ach ja … 32!

»Bitte hinlegen«, reißt er mich unsanft aus meiner aufkommenden Panik. Und ehe ich weiß, wie mir geschieht, spüre ich das kalte Gel und den Ultraschallkopf auf meiner Brust.

Dr. Ach-Ja untersucht, schallt, sieht auf den Bildschirm und stellt in völlig ruhigem, fast gleichmütigem Ton fest: »Oha! Jetzt haben Sie aber ein Riesenproblem.«

Es klingt ebenso unglaubwürdig, wie es ist, aber doch sind dies tatsächlich seine Worte. Und damit ist es das mit meiner kleinen, heilen Welt. Kaputt! Zerstört! Mit einem Satz. Da liegt sie, die Schlagfertigkeitsqueen mit ihrem Riesenproblem. Was da genau in einem vorgeht, lässt sich nur schwer beschreiben. Es ist kalte, akute Todesangst, und sofort ist er da, der Gedanke an die Kinder. Sie sind noch so klein! Was wird aus ihnen werden? Ich kann jetzt noch nicht sterben. Die Panik bahnt meinen Tränen den Weg nach draußen. Ich fasse seine Hand und flehe ihn an, dass das nicht sein kann, ich taste regelmäßig, ich gehe immer zum Arzt, ich bin 32, bitte, bitte, das kann nicht wahr sein … bitte nochmal gucken!

Aber Dr. Ach-Ja, der anscheinend alle Psychologiesemester geschwänzt haben muss, sieht mich seelenruhig an, nimmt den Ultraschallkopf von meiner Brust und sagt: »Auf so hysterische Frauen wie Sie habe ich überhaupt keinen Bock! Wenn Sie mit dem Heulen nicht aufhören, dann breche ich hier die Behandlung ab.«

Tja, gekonnt ist gekonnt. Entweder man hat ein Feeling für Patienten oder nicht.

Ich beruhige mich, was mir allerdings sehr schwerfällt, und er nimmt die Untersuchung wieder auf. Er sagt noch Sachen wie: »Boah krass, der ist schon riesig, so groß tastet der sich gar nicht. Krass!« oder: »Oh je, oh je!«

Normalerweise wären mir als Schlagfertigkeitsqueen mindestens zehn Konter eingefallen, aber hier auf diesem Tisch, mit dem Ultraschallbild vor mir, mit dem Tumor in mir, geht nichts mehr! Ich glaube zu ersticken. Die Erde geht auf und diese Todesangst … meine Kinder … meine Jungs … lieber Gott! Ich bin 32!

Nach einer gefühlten Ewigkeit lässt er von mir ab und rollt zu seinem Schreibtisch.

»Was mache ich denn jetzt?«, frage ich ganz zaghaft.

Er kramt in seinem Schreibtisch und antwortet mir, ohne auch nur im Geringsten zu mir aufzusehen: »Sie machen jetzt einen Termin zur Mammographie und dann im Brustzentrum. Aber das wird dauern, denn Sie sind nicht die Einzige mit einem solchen Problem«, spricht er leichthin und drückt mir zwei Broschüren in die Hand. Offensichtlich ist die Sprechstunde für ihn beendet.

»In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken!«, ruft er mir noch hinterher, als ich tränenüberströmt und kaum noch fähig, das eine Bein vor das andere zu setzen, das Sprechzimmer verlasse. Keine Helferin kommt und fragt, ob sie mir helfen könne. Keine fragt, ob alles in Ordnung sei. Nichts. So lässt man mich aus der Praxis gehen.

Ich bin jetzt sicher, dass ich in absehbarer Zeit sterben werde, und mache das, was man in einer solchen Situation macht. Ich rufe meine Mama an. Meine Mutter, mit 53 Jahren noch recht jung, arbeitet, wie bereits erwähnt, seit etlichen Jahren in einer großen und sehr gut aufgestellten internistischen Praxis in Köln mit zwei ebenso guten Hausärzten. Normalerweise rufe ich sie nicht während der Arbeitszeit an, doch jetzt ist auch nicht normalerweise. Sie sieht meine Nummer im Display und weiß von meinem Arzttermin.

»Was hat der Arzt gesagt?«, fragt sie ohne irgendeine Begrüßung.

»Mama, jetzt müsst ihr eure Beziehungen spielen lassen.«

»Das sieht nicht gut aus«

Dreißig Minuten später stehen meine Eltern vor der Tür. So ist das immer in meinem Leben. Sie stehen hinter mir – egal, worum es geht. Ohne zu fragen. Ob ich nun den Ärger der Lehrer auf mich gezogen hatte, von anderen Kindern gehänselt wurde oder Krebs habe. Sie sind immer da. Früher wie heute und jetzt auch.

»Wir fahren sofort nach Düsseldorf zur Mammographie«, sagt meine Mutter. Ich gehorche und steige ins Auto. Während der Fahrt versichert sie mir, dass das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Zyste sei. Ganz, ganz sicher. Unterwegs lässt sie es sich aber nicht nehmen, bei Dr. Ach-Ja-Riesenproblem anzurufen, um zu fragen, was das denn für eine Art sei, mit den Patienten zu reden. So ist sie, meine Mutter.

Der Herr Doktor antwortet knapp, für mich aber nicht überraschend: »Auf so ein Gespräch habe ich jetzt gar keinen Bock!« Dann legt er auf. Auf was hat dieser Mann eigentlich Bock? Egal. Um den kümmern wir uns später.

Die Praxis in Düsseldorf ist edel, groß und hell, und es ist still. Sehr still. Wir müssen warten. Eine Beschäftigung, die ich in den nächsten Wochen noch zu hassen lernen werde wie nichts anderes auf der Welt. Das Warten: verschenkte Lebenszeit und vor allem der perfekte Nährboden für das Kopfkino. Binnen zehn Minuten denke ich mich bis zur Beerdigung. Es ist mir völlig neu, dass der Kopf in diesem Maße auch körperliche Schmerzen verursachen kann. Gedanken beeinflussen unser Tun und Handeln. Schon klar! Aber dass sie mir auch die Luft zum Atmen nehmen, für derartige Panik verantwortlich sein können, ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich habe Angst. Meine Mutter auch. Es sind die schlimmsten Minuten unseres Lebens. Gestern war doch noch alles in Ordnung. Gestern noch war es meine größte Sorge, was ich mittags kochen soll. Heute warte ich auf eine Mammographie, um zu erfahren, was sich da in mir breitgemacht hat.

Die Untersuchung an sich geht schnell, es ist schmerzhaft. Dann wieder warten.

Nur das Wartezimmer hat gewechselt. Wir sitzen nun in der Umkleidekabine vor dem Sprechzimmer der Ärztin. Meine Mutter steht neben mir. Uns beiden ist schlecht. Sie scheint in den letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. Sie so leiden zu sehen zerreißt mir das Herz. Dann werden wir aufgerufen.

Im Gegensatz zu dem grobschlächtigen Landarzt von heute morgen scheint diese Ärztin eher sehr warmherzig zu sein. Aber sie guckt nicht warmherzig, sondern besorgt. Sehr besorgt.

»Frau Staudinger. Es tut mir sehr leid, aber die Aufnahmen sind recht eindeutig. Das sieht nicht gut aus. Wir haben es hier höchstwahrscheinlich mit Krebs zu tun.«

BOOM. PENG. Da war das Wort. Ich. Krebs. Kann nicht sein. Darf nicht sein. In meinem Alter bekommt man keinen Krebs. Außerdem habe ich Kinder, da darf man ja auch gar keinen Krebs bekommen!

»Ich mache jetzt noch einen Ultraschall, um nochmal genauer zu schauen.« Dann sagt sie komische Sachen wie: »Der Tumor sieht gut aus. Er ist klar abgrenzbar, gut zu schallen, wirft keine Schatten. Und die Lymphen sehen auch noch gut aus.«

Herzlichen Glückwunsch! Sie haben einen wunderschönen Tumor! Ich freue mich. Krebs! Aber schöner Krebs! Klasse!

Weiter meint sie, dass es sich aufgrund dieser Hinweise auch um eine Zyste handeln könnte, wäre da nicht diese eine Sache, die es dann doch eindeutig macht. Während eine Zyste Blutgefäße verdrängt, zieht ein Tumor sie mit ein. Und das wäre hier eindeutig zu sehen.

Erst heute weiß ich, welches Glück ich hatte, an eine so gute Ärztin geraten zu sein. Sie spricht mir unvermittelt Mut zu, redet davon, wie gut Brustkrebs heilbar sei und wie weit die Forschung wäre.

Im Moment aber sehe ich nur den Tod. Glatzköpfige, ausgemergelte Menschen. Ich sehe meinen Kleinen nach seiner Mama fragen und meinen Mann zum Himmel zeigen: »Die Mama ist doch jetzt da oben.«

Ich sehe meine Mutter völlig zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen. Nur den Kopf schütteln.

Ich sehe mich, auf einem Krankenbett, wie ich mich von meinen Lieben verabschiede. Ich sehe Panik. Rot. Tod. Schmerz. Leid. Zwei Halbwaisen. Das war’s! Kein Altwerden mit meinem Mann! Kein »glücklich, bis an ihr Lebensende«. Nur Krebs. Ich habe Krebs! Und ich habe nichts davon gemerkt! Ich habe vor vier Wochen mein Seminar gehalten. Vor 50 Frauen, und da war ich schon krank. Wie kann das sein? Ich bin fit, jung und doch so gesund …

»Ich werde Sie jetzt zu einem Brustzentrum überweisen für eine Biopsie«, holt die warmherzige, aber besorgte Ärztin mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität.

Die Dame am Empfang hat irgendwie Mitleid mit mir. Sie schwingt sich sofort ans Telefon und bekommt – Gott sei Dank! – einen Biopsietermin für den nächsten Morgen in Düsseldorf.

»Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute«, verabschiedet sich die Ärztin mit einem sanften, aufbauenden und zugleich ernsten Tonfall. An ihrer Stimme meine ich zu hören, dass sie den Weg schon kennt, der mir jetzt bevorsteht.

Wir fahren nach Hause. Ich, meine Eltern und der Krebs. Mein Vater, der unten gewartet hat, verliert augenblicklich die Farbe. Er sagt nicht viel. Genauer gesagt, sagt er gar nichts und fährt uns einfach nur nach Hause. Wahrscheinlich schweifen seine Gedanken in dieselbe Richtung wie die meinen.

Mein Gott, womit haben meine Eltern das verdient? Haben sie doch vor vielen Jahren bereits ein Kind verloren. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Jetzt, wo ich selbst Kinder habe, weiß ich, wie viel schlimmer ihr Leid ist als mein eigenes. Im Auto rufe ich meinen Mann an.

»Es ist Krebs, Hase.«

»Och neee, Maus!«, sagt er – und verstummt. Ich schreie und brülle, kann das alles nicht glauben.

Noch im Auto rufe ich zwei Freundinnen an. Die eine ist im Urlaub und sitzt gerade auf dem Fahrrad – nur knapp entgeht sie einem durch mich verursachten Unfall. Sie reagieren wie ich: der totale Schock. Unverständnis. Eben war noch alles gut, jetzt ist es vorbei.

Wir wohnen in einem ruhigen, kleinen Ort vor den Toren Kölns. Unsere Wohngegend würden die einen als idyllisch beschreiben, die anderen als spießig. Ich aber liebe unser Leben hier, denn die Kinder können wunderbar auf der Straße spielen, ohne gleich vom Auto angefahren zu werden. Die Nachbarn sind nett und wir fühlen uns hier seit ein paar Jahren richtig heimisch. Heute aber kann ich unser Haus kaum betreten. Ich habe das Gefühl, dass ich mit dem Krebs die Atmosphäre vergifte.

Hier in unserem Haus wird es endlich real. In Düsseldorf war der Krebs in der klinischen Umgebung noch auf merkwürdige Art und Weise gefangen, aber hier macht er sich nun breit und verspritzt sein Gift in jede Ritze unseres Lebens und unseres Heims.

Die Kinder sind bereits zu Hause. Mein Mann hat sie schon vom Kindergarten abgeholt und sie stürmen auf mich zu.

»Maaaamaaaa!«

Ich kann das nicht. Ich glaube, der Schmerz bringt mich augenblicklich um. Einerseits kann ich sie nicht mehr loslassen und andererseits traue ich mich nicht an sie heran. Meine armen Mäuse! Bald werden sie ohne ihre Mama sein. Wie sollen sie das schaffen? Wer soll sie beschützen? Wer wird ihnen abends vorlesen und beim Einschlafen sanft über den Kopf streicheln? Wer wird sie beim ersten Liebeskummer trösten und wer ihnen die Leviten lesen, wenn sie nicht pünktlich nach Hause kommen? Wie soll mein Mann das schaffen? Als alleinerziehender Vater? Meine Seele quält sich. Es tut so weh!

Oma und Opa bleiben den gesamten Nachmittag bei uns und spielen mit den beiden Jungs – so gut es geht. Mein Mann und ich haben auf diese Weise Zeit zu reden. Wir können es aber nicht wirklich, denn es gibt ja auch nicht viel zu sagen. Ja, ich habe wohl Krebs. Aber mehr wissen wir noch nicht.

Meine Mutter ist die Erste von uns, die wieder bei Besinnung ist – zumindest tut sie so.

»Maus, du hast gehört, was die Ärztin gesagt hat. Die Lymphen sehen noch gut aus. Du hast ihn ganz früh getastet. Wir schaffen das.«

»Und wenn nicht?«

»Das ist keine Option!«

»Mama, was, wenn ich das nicht schaffe?« Wir fangen beide an zu weinen.

»Jetzt hör mir zu«. Sie sieht mich ernst an und sagt in einem Tonfall, den ich so noch nie von ihr gehört habe: »Ich habe gesagt: DAS IST KEINE OPTION!«

Ich weiß nicht, wie ich den Tag zu Ende gebracht habe. Ich weiß nur, dass ich neben Max im großen Bett eingeschlafen bin und nachts immer wieder wach werde, die ersten zwei Herzschläge lang in der festen Überzeugung, dass alles nur ein böser Traum ist. Ist es aber nicht. Ich habe Krebs. Warum ich? War ich so böse? Was habe ich verbrochen?

Mein Held

Am nächsten Morgen bringen mein Mann und ich die Kinder in den Kindergarten und fahren nach Düsseldorf. Während der gesamten Fahrt fällt kein einziges Wort. Wir hängen unseren Gedanken nach, jeder für sich.

»Du weißt, dass meine Gedanken nur bei dir sind«, lese ich auf meinem Handy eine Nachricht von meinem Vater. Ja, Papa, das weiß ich! Und ich wünschte von ganzem Herzen, du müsstest dir nicht solche Sorgen um mich machen.

Mein Mann und ich nehmen in einem höchst diskreten Wartezimmer Platz. Die Lehnen der Stühle sind fast rundum mannshoch, sodass man weder umfallen noch sehen kann, wer rechts und links sitzt. Das kommt mir sehr gelegen, denn ich fühle mich, als hätte ich Rückgrat, Skelett und Muskeln an der Garderobe abgegeben.

Es ist der bisher schlimmste Moment meines Lebens, als ich in das Behandlungszimmer geführt werde, auf die Schlachtbank. Hier wird mir jetzt verkündet, wie lange ich noch zu leben habe. Der behandelnde Oberarzt lässt mich nicht lange warten. Er ist ein stiller, sehr zurückhaltender Mann, noch recht jung, vielleicht Anfang oder Mitte vierzig. Ich mag ihn auf Anhieb. Ich glaube, er mich auch. Er untersucht mich, sagt kein Wort, sieht mir tief in meine verquollenen Augen. Dann sagt auch er mir das, was ich am Tag zuvor bereits erfahren hatte. Auch er schwärmt davon, wie gut Tumor und Lymphen aussehen. Wenigstens ist man sich einig. Ich bin begeistert. Ich finde Schuhe schön oder Handtaschen. Von mir aus auch einen Sonnenuntergang, aber doch keinen Tumor!

Dr. Bertram entnimmt Proben und untersucht mich lange, ganz besonders meine Achsel.

»Die Lymphen sehen völlig unauffällig aus!«

»Das ist doch gut, oder?«, frage ich leicht panisch.

»Sehr gut«, versichert er mir.

»Warum gucken Sie denn dann so ernst?«, bohre ich weiter.

»Na, weil Sie doch noch völlig fertig sind. Sie sind doch noch in der Schockphase.« – Ach was?! Woran das wohl liegen mag?

»Ich kann jetzt noch nicht sterben – ich habe Kinder«, argumentiere ich, als ob er irgendetwas daran ändern könnte.

»Sie haben recht. An Krebs kann man sterben. Das werden Sie aber nicht.«

HA! Ich blicke mich um und suche Zeugen für das, was ich da gerade gehört habe. Mein Blick fällt auf die nette, blonde Arzthelferin und auf meinen Mann. Habt ihr das gehört? Oder habe ich geträumt?

»Ich muss nicht sterben?«, frage ich sehr ungläubig, aber hoffnungsvoll.

»Nein. Sie werden das schaffen und dann bleibt Ihre Lebenserwartung hier oben«, und dazu macht er eine mutmachende Handbewegung Richtung Decke. Ich weiß nicht, ob ich mich spontan je so schnell in einen Mann verliebt habe. Er ist plötzlich der schönste Mann auf der Welt. Mein Retter. Tschüss, Hase, ich gehe zu Herr Dr. Bertram. Es tut mir leid, aber er macht Frauen gesund. Ich glaube nicht, dass du da mithalten kannst.

Über eine Stunde lang beantwortet mein neuer Held mir alle Fragen. Auch ohne die Ergebnisse der Biopsie gibt er mir eine genaue Einschätzung von dem, was mich erwartet. Bis zum heutigen Tag ist es auch exakt so eingetroffen. Mein neuer Traummann ist nicht nur Heiler, er ist auch Hellseher. Er erklärt mir, dass der Tumor vermutlich hochaggressiv ist. Immerhin taste ich jeden Tag, gehe zur Vorsorge, war bei der Mammographie … der muss schnell gekommen sein. Weiterhin vermutet er, dass eine neoadjuvante Chemotherapie das Mittel der Wahl sei und dass der Tumor mit etwas Glück auch ohne Operation darunter verschwinden werde.

»Sie haben mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit keine Metastase!«

Ich liebe diesen Mann!

»Frau Staudinger, das ist zwar große Kacke, aber kalkulierbare Kacke.«

Mein Gott, ist der toll!

Während mein Held seinen Bericht schreibt, versorgt die nette Helferin die Wunden der Gewebeentnahme. Sie ist Russin und vielleicht 25 Jahre alt. Ich mag Russinnen sehr und hatte schon viele russische Kolleginnen. Ihre offene, zuweilen auch recht barsche Art liegt mir irgendwie. Sie legt mir einen festen Druckverband an und noch immer kann ich nicht aufhören zu weinen. Jetzt allerdings auch ein bisschen vor Erleichterung, dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein.

Sie sieht mich forsch an und sagt mit liebenswertem Akzent: »Krebs können wir heilen. Deine Nerven nicht! Du machst dein Leben, wir machen Krebs weg, okay!?«

Okay! Das sind Anweisungen, mit denen ich leben und arbeiten kann, deutlich und klar formuliert. Nur sicherheitshalber frage ich sie leise: »Der Dr. Bertram, hat der schon einmal gesagt, man wird gesund und dann stirbt man doch?«

»Nein!«

Alles klar! Ich weiß gar nicht, ob ihr bewusst ist, wie wichtig ihre Worte für mich sind. Ich fühle mich gut aufgehoben und erstmals seit 24 Stunden bahnt sich ein kleines Fünkchen Hoffnung seinen Weg.

Kriegsgebiet abstecken

Wir verlassen das Krankenhaus in einer wesentlich besseren Verfassung, als wir es gut anderthalb Stunden zuvor betreten hatten.

»Er hat doch gesagt ›Ich muss nicht sterben‹, oder?«, frage ich meinen Mann bestimmt zum zehnten Mal.

»Ja, Maus, genau das hat er gesagt.« Er ist sichtlich erleichtert, und ich bin froh, dass ich mich entschieden hatte, ihn mitzunehmen. Auf die Ergebnisse der Biopsie müssen wir zwar jetzt noch zwei Tage warten, und die Hoffnung auf etwas Gutartiges ist längst aufgegeben, doch zumindest kann man überleben. Aber, was mache ich jetzt? Ich habe Krebs, da kann ich doch nicht einfach so nach Hause gehen und nichts tun.

Also fahren wir auf direktem Weg zu unserem Hausarzt, einer der beiden Chefs meiner Mutter. Natürlich ist er schon ausführlich informiert.

Wir sprechen lange, und da er einige Jahre in der Onkologie gearbeitet hat, kann er mir viele meiner Fragen zur bevorstehenden Chemotherapie beantworten. Und vor allem spricht er etwas an, was ich bis dahin noch nicht kannte: die Staging-Untersuchungen. So nennt man das Absuchen nach Metastasen im Körper. Dr. Bertram hatte davon etwas erwähnt, doch ich habe nur halb hingehört, denn mir hallten ja noch »Lymphen sehen gut aus« und »Sie haben zu 99 Prozent keine Metastase« im Ohr.

Dennoch, im Brustkrebs-Sektor ist alles streng geregelt: Hast du einen Tumor, musst du zu drei Staging-Untersuchungen: Thorax röntgen (das kannte ich schon nach dem Hautkrebs, da wurde das auf meinen Wunsch hin gemacht), Leber schallen und Knochenszintigraphie.

»Okay, aber wenn die Lymphen frei sind, muss ich doch keine Angst haben, oder?«

»Es ist nichts zu erwarten, aber wenn ich es wüsste, müssten wir es nicht machen!«, erklärt mir mein Arzt.

Dr. Bertram hatte mir zwar auch angeboten, diese Untersuchungen im Krankenhaus durchführen zu lassen, meinte aber gleichzeitig, wenn wir es schneller hinbekämen, gern auf eigene Faust. Zurzeit bin ich eine große Freundin von »auf eigene Faust«, denn so habe ich wenigstens etwas zu tun.

»Also, ich muss wissen, ob ich es nur mit dem Tumor zu tun habe oder ob mein Gegner vielleicht viel größer ist. Und ich muss das jetzt wissen«, flehe ich meinen Arzt an, der daraufhin sofort einen Termin bei seinem Kollegen zum Röntgen vereinbart.

»Das bekommen wir sofort hin. Für den Rest benötigen wir ein bisschen mehr Zeit«, erklärt er mir.

»Ich kann Ihnen was zum Schlafen und gegen die Ängste aufschreiben«, bietet er mir noch sehr freundlich an. Verlockendes Angebot! Das mit dem Schlafen ist nämlich eine tolle Sache, wenn man es denn kann. Schon in der ersten Nacht nach der Diagnose war es gar nicht mehr so einfach. Mehr als zwei Stunden waren nicht drin – der Rest war endlos lange Nacht, in der die eigenen Gedanken zu Hauptdarstellern der verschiedensten Horrorfilme wurden, die sich in Sachen Dramaturgie locker mit Alfred Hitchcock hätten messen können.

Also nehme ich das Angebot »was zum Schlafen« gern an und das sollte sich als eine der besten Entscheidungen meines Lebens herausstellen. (Rückblickend habe ich diese Schlaftabletten nur drei Tage lang genommen, danach konnte ich wieder ohne Hilfsmittel schlafen. Aber diese drei Nächte waren wichtig.)

Auch das Angebot an Angsthemmern klingt verlockend, aber ich schlage es bewusst aus. Ich will das ganze Szenario bewusst und unvernebelt erleben. Nicht, weil ich mich gern quäle, sondern weil ich der festen Überzeugung bin, dass dieses Kapitel für irgendetwas in meinem Leben gut sein wird. Ich glaube fest daran, dass ich all das hier aus einem gewissen Grund durchmache, und ich muss wissen, welcher das ist. Recht schnell habe ich für mich beschlossen, dass ich diese Zeit sehr bewusst wahrnehmen will, um ihr etwas Gutes abzugewinnen.

Eine Stunde später finde ich mich zum Röntgen in einer wieder neuen Praxis ein. In den letzten 24 Stunden habe ich mehr Praxen und Ärzte gesehen als in den gesamten 32 Jahren zuvor.

Der Ablauf von Röntgenuntersuchungen ist bekannt und vertraut. Aufmerksame, routinierte Assistentinnen machen die Aufnahmen, schicken den Patienten zurück ins Wartezimmer, bis er mit dem Arzt die Ergebnisse besprechen kann. Im Normalfall alles kein Problem. Nur wenige Stunden nach einer gesicherten Krebsdiagnose dagegen fast schon eine Katastrophe, denn erneut heißt es: Warten! Und warten bedeutet wieder Kopfkino. Vorhang auf und Bühne frei! Das heutige Programm: »Nicoles Endzeit-Szenario«. Vergessen sind die aufmunternden Worte meines Helden Dr. Bertram. Jetzt ist sie wieder da, diese Panik.

Und die netten Assistentinnen hier vor Ort tragen nicht zu meiner Beruhigung bei. Denn sie dürfen nichts sagen, während meine Metastasen oder nicht vor ihnen auf dem Monitor erscheinen.

»Wie viele Jahre machen Sie das hier schon?«, frage ich scheinheilig.

»23 Jahre bin ich jetzt hier.«

»Dann können Sie mir doch bestimmt was sagen, zu dem, was Sie da sehen.«

»Darf ich nicht!«

Oh, aber nett lächeln dürfte sie doch! Würde sie auch bestimmt, wenn das Ergebnis gut wäre. Ergo ist es das nicht. Oh, Gott! Metastasen im Thorax. Na, prima! Aber der Dr. Bertram hatte doch gesagt … Ach, was weiß der schon? Der ist ja noch so jung. Wer weiß, wie lange er überhaupt schon praktiziert? Ich werde sterben! Ich habe überall Metastasen, seit Tagen schmerzt mich auch schon die, mmh, die … ja, was eigentlich? Irgendwas schmerzt doch bestimmt! Meine Augen füllen sich mit Tränen.

»Warten Sie bitte noch im Wartezimmer, der Doktor ruft Sie gleich auf.«

Natürlich! Ich warte gern. Sehr gern. Mein Mann wartet neben mir. Das Wartezimmer ist voll und es wird immer voller. Einer nach dem anderen wird aufgerufen. Auch die, die nach mir kamen. Mein Mann drückt nur meine Hand. Wir sagen nichts. Ich kann auch nicht reden, denn ich überlege mir gerade den Text meiner Trauerkarte. Ich möchte nicht, dass einer Schwarz trägt und ich will keine Blumen. Ich möchte Organe spenden. Ach Quatsch – ich habe ja Krebs! Die Organe will keiner mehr. Ob die Menschen um mich weinen werden?

»Herr Schmitz, bitte in Raum drei!«

Ob mein Mann eine neue Frau findet? Das soll er bloß nicht wagen! Er soll trauern! Sein Leben lang! Bin ich zu egoistisch? Aber wehe, die Neue ist nicht lieb zu den Kindern.

»Frau Müller, in Raum eins bitte!«

Die kam doch viel später als ich, diese Frau Müller! Na schön, ich bin die Letzte, die aufgerufen wird. So sieht wenigstens keiner, wie ich die Fassung verliere, wenn ich mein Todesurteil erhalte.

Am besten ziehen meine Eltern zu uns. Dann ist mein Mann nicht allein, hat Hilfe, und die Kinder haben Oma und Opa. Ja, so ist es am besten. Mama wird auch jede neue Frau in die Flucht schlagen. Wehe, die Kinder sagen »Mama« zu der Schnepfe! So weit kommt es noch. Ich bin jetzt schon sauer auf meinen Mann – rein prophylaktisch.

»Frau Staudinger, bitte in Raum zwei!«

Ich bleibe sitzen. Mein Mann stupst mich an. Ich gehe da nicht rein. Wofür? Um mir das Unvermeidliche anzuhören? Dass ich sterben muss? Ich sehe mich um, bin tatsächlich die Letzte in der Praxis … Recht hatte ich!

»Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, sagt der nette ältere Arzt. Ich weiß noch nicht mal seinen Namen. Lohnt sich jetzt auch nicht mehr, neue Leute kennenzulernen und schon gar nicht mit Namen.

»Ich will mich nicht setzen. Sagen Sie es mir einfach!«

Rückblickend habe ich es vielen Menschen wirklich nicht leicht gemacht. Dieser sehr erfahrene Arzt – ich sollte mich doch noch einmal nach seinem Namen erkundigen – hat offensichtlich alle Psychologieseminare doppelt belegt. Seine Augen werden mit einem Mal so warm und verständnisvoll, und ohne groß drum herumzureden, lächelt er mich an und nimmt meine Hand.

»Es ist alles in Ordnung. Wir haben ja noch die Vergleichsaufnahmen von vor zwei Jahren, und es steht zweifelsohne fest, dass hier alles bestens ist!«

Und schon wieder verliebe ich mich in einen mir vollkommen fremden Mann. Schlimmer noch, ich werde sogar körperlich, denn ich falle ihm um den Hals und frage: »Keine Metastasen im Thorax?«

»Keine Metastasen im Thorax.«

Er will noch wissen, wie lange ich die Diagnose schon habe, und versichert mir, wie gut Brustkrebs zu behandeln sei. Dann wünscht er mir alles erdenklich Gute. Ich wünsche ihm mindestens einen Lottogewinn und zehn pralle Blondinen. Spontan fällt mir mein Held Dr. Bertram wieder ein, der mit seiner enormen Berufs­erfahrung genau das vorhergesagt hatte. Mein Held eben! Der kann schon was!

»Wusste ich doch, Hase. Alles ist gut«, versichere ich völlig selbstsicher.

Wenn ich den Krebs hinter mir habe, sollte ich mich vielleicht auch mal auf Paranoia untersuchen lassen …