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von Oliver Graute

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entwickelt von

Oliver Graute, Oliver Hoffmann

und

Kai Meyer

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Autor: Oliver Graute

Lektorat: Oliver Hoffmann

Korrektorat: Corinna Schäfer, Andrea Bottlinger, Solveig Tenckhoff und Thomas Russow

Art Director und Gestaltung: Oliver Graute

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© Feder&Schwert 2013

E-Book-Ausgabe

ISBN 978-3-86762-145-8

© Feder&Schwert 2009

ISBN der Printausgabe 978-3-86762-012-3

Deus Vult ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

Inhlt

Europakarte

Einleitung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Glossar

Exodus

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In einer Zeit, die weit in unserer Zukunft liegt, ist die Erde zum gigantischen Schlachtfeld der Mächte von Gut und Böse geworden. Sie ist zerstört durch Seuchen und Umweltkatastrophen. Wind und Wetter geißeln das karge Land, der Meeresspiegel ist bedrohlich angestiegen und hat das Antlitz der Welt unwiderruflich verändert. Gewaltige Flammenlohen, die Fegefeuer, brennen dem Planeten ihr dunkles Zeichen ein. Die Menschheit lebt nach all diesen Katastrophen unter neomittelalterlichen Umständen.

Europa wird beherrscht von einer zu neuem Glanz erstarkten Kirche, die von Roma Æterna, der Ewigen Stadt, aus die Geschicke des Kontinents lenkt. Ihr Symbol sind die Engel – die himmlischen Heerscharen, die Gottesboten, die das Wort des Schöpfers in die entlegensten Winkel der Welt tragen.

Doch der Herr der Fliegen, der ewige Widersacher des Herrn, wirft Legion um Legion nichtsahnender Sklaven und williger Werkzeuge in die Schlacht, um die Welt nach seinem Bilde umzuformen. So mancher „Kirchenfürst“ und nicht wenige weltliche Herrscher stehen insgeheim in seinen Diensten. Sein mächtigstes Werkzeug aber ist die Traumsaat, abscheuliche Insektendämonen, die direkt den Alpträumen der Menschheit entsprungen scheinen.

Prolog

Sie kamen aus dem Nichts, um das unbeschreibliche Grauen zu bekämpfen, dem die Menschen mit ihrem unzulänglichen Geist die Bezeichnung Herr der Fliegen gaben. Eine Titulierung, die nicht einmal im Ansatz das Wesen dessen beschreibt, den die Menschheit mit diesem Namen verunglimpfen wollte. Seine Kreaturen, die Traumsaat, grauenerregende Geschöpfe voller Arglist und Heimtücke und doch oft auch anmutig und bewundernswert in der Konsequenz ihres Strebens nach der Vernichtung allen Lebens auf dieser Erde, machten ihr Erscheinen notwendig, um das Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen. Überhaupt drehte sich damals alles um die Vormachtstellung im Wettstreit der Kräfte der Schöpfung, und heute ist es kaum anders. Doch erst jetzt, da wir am Anbeginn eines neuen und hoffentlich besseren Zeitalters stehen, wird uns bewußt, welch wichtige Rolle die Menschheit bei der Entscheidung spielte. Damals, als der Schöpfer diesen unseren Planeten auserkor, um den Widersacher in seine Schranken zu weisen, waren wir nur wenig mehr als Parasiten auf der Oberfläche eines von Myriaden von Himmelsgebilden im endlosen Universum. Kaum der Erwähnung wert und Folge eines achtlosen Funkens göttlicher, aber nichtsdestotrotz roher schöpferischer Kraft. Als der Herr sein Werk vollbracht hatte, mag es nun sieben Tage, sieben Jahre oder sieben mal sieben Jahrtausende gedauert haben, herrschte lange Zeit Stille. Die Welt entwickelte sich, sah Jahrmillionen kommen und gehen, sah, wie sich erstes Leben in den Ozeanen tummelte und wieder verging, sah Völker in atemberaubender Geschwindigkeit erstarken und in noch kürzerer Zeit wieder untergehen, bis sich etwas regte. Eine Kraft, so urwüchsig und überlegen, daß es unsere kühnsten Vorstellungen übersteigt. Nach unendlichem Schlaf war die Zeit gekommen, sich der Fesseln zu entledigen, das Gefängnis zu verlassen. Doch der Herr hatte nicht vor, es dem Widersacher allzuleicht zu machen. Als aus der Ferne unendlicher Galaxien der Ruf zu ihm drang, sandte er seine Getreuen, um das Treiben auf unserem Planeten zu beobachten, bis er Zeit fand, sich der Sache selbst anzunehmen. Indessen wand der Herr der Fliegen sich in Fieberträumen und ersann in seinem unfaßlichen Geist immer neue Gedanken voller bizarrer Dinge, die uns in unserer Beschränktheit auch heute ängstigen.

Die Weltmächte reagierten voller kindlicher Angst auf das, was sie nicht begriffen. Unsere Zivilisation verging nach Jahrtausenden harter Kämpfe um die Grundwerte menschlichen Lebens im Bruchteil eines Lidschlages vor schierer Eitelkeit und dem Willen, auf alles eine Antwort zu kennen.

Was blieb, war eine Art Neuanfang. Die einmalige Gelegenheit, alles besser zu machen. Wie jetzt. So, wie ich heute hier stehe und diese Geschichte erzähle, so standen auch unsere Vorfahren einst vor den Trümmern dessen, was sie für die höchste Errungenschaft der Menschheit hielten. Sie hielten die Flamme der Erleuchtung in Händen, nur um sie in den Fluten der See, die fast alles Leben ertränkt hatte, zu löschen. Ob wir es eines Tages besser machen werden? Ich bin nicht sicher, doch zweifle ich daran, daß der Mensch in der Lage ist, seine Fehler wirklich zu erkennen.

Wie dem auch sei, die Menschen taten, was sie am besten konnten, sie suchten nach Antworten auf ihre zahllosen Fragen, nach dem Warum, und diesmal kamen sie der Lösung näher, als sie es jemals erfahren werden. Zunächst waren es nur wenige, die dem neuen Glauben anhingen, doch bald schon entwickelte sich die bestechende Logik der Agitatoren in den Herzen und Köpfen der Kinder und Jugendlichen, die die Zweite Flut und die Seuche überlebt hatten, zu einer wahren Hysterie. In nur wenigen Jahrhunderten war eine ganz neue Ordnung hergestellt. Doch etwas sollte sie in ihren Grundfesten erschüttern: Kämpften unsere Vorväter noch mit Speeren und Steinäxten gegen Mammuts und Säbelzahntiger, ihre Nachfahren mit Gewehren und biologischen Waffen gar gegeneinander, so hatte es die Menschheit nunmehr mit einem gänzlich anderen, heimtückischeren Feind zu tun, und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wußte sie nichts zu tun, als sich in ihr Schicksal zu ergeben und sich zu verkriechen wie niederes Getier. Die grauenvollen Fegefeuer, titanenhafte Säulen aus purem Feuer, die sich langsam Stück für Stück über das Antlitz der Welt brannten, versengten alles Leben. In ihrer steten Nachfolge kam das Brandland, riesige Korridore aus Pestqualm und giftigen Gasen, einer Mauer gleich, die den Lebensraum der Menschen immer weiter einschränkte und als Heimstatt der Traumsaat galt. Das endgültige Ende der Menschen schien in greifbare Nähe gerückt, als sie kamen.

Die Engel waren nicht zahlreich. Zerbrechlich und verletzlich schienen ihre Körper im Gegensatz zu den insektoiden, gepanzerten Leibern ihrer Gegner, doch säten sie in den Sterblichen, die sie erblickten, etwas, das uns seit jeher über die anderen Lebewesen dieses Planeten erhebt und uns die Kraft gibt, zu überleben – Hoffnung.

Ob sie allein in der Lage war, den Angriff der Dämonen des Herrn der Fliegen abzuwenden, mag man bezweifeln, doch war sie maßgeblich an den Folgen des vermeintlichen Sieges über die Traumsaat beteiligt. Der Glaube allein vermag ja sprichwörtlich, Berge zu versetzen, doch die Gewißheit, den Schutz einer wie auch immer gearteten höheren Macht zu genießen, bildete das Fundament des angelitischen Glaubens und sorgte für Jahrhunderte des Wachstums in einer neuen Weltordnung – auch wenn sich diese nur auf wenig mehr als die Fläche des ehemaligen Europas erstreckte. Doch auch für die Ignoranz der Mächtigen, wenn es darum geht, im Mittelpunkt des Geschehens stehen zu wollen, gibt es in der Geschichte mehr als ein Beispiel. Beschränken wir uns auf diesen kleinen Ausschnitt, denn in der Tat sorgte dieser doch eher beschämend kleine geographische Teil der Welt für den großen Durchbruch einer noch ungeahnten Macht.

Die Engelsorden, die die Welt zuvor so mutig errettet hatten, fanden schnell ihren Platz im Gefüge angelitischer Politik und wurden zu Grundpfeilern ihrer Exekutive. Die Machthaber der Angelitischen Kirche in Roma Æterna hielten die Zügel fest in der Hand, schlugen jeden Widerstand weltlicher Emporkömmlinge blutig nieder und statuierten Exempel an jenen, die ihnen ihre Machtposition streitig machen wollten. Sie hinterfragten nicht, woher die Engel kamen, ob sie wirklich vom Himmel herabgekommen waren und im Auftrag des Herrn die Menschheit errettet hatten oder ob da eine andere Macht ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Vielleicht wußten sie auch einfach mehr als andere Menschen ihrer Zeit. Hätten sie jedenfalls gewußt, daß die Zeichen des Herrn auf ihrer Haut, die Scriptura, frappante Ähnlichkeit mit den Zeichen, die die Fegefeuer auf dem Antlitz der Welt hinterließen, hatten, wer weiß, ob nicht die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte.

Mit der Vernichtung eines ihrer Orden, der Ragueliten, jedoch kam die gewaltige diktatorische Maschinerie der Kirche ins Wanken. Die technologischen Errungenschaften der Vergangenheit, derer sich die Angeliten bemächtigt hatten, um ihre Vormachtstellung in unserer Welt zu behaupten und die sie deshalb den gewöhnlichen Menschen vorenthielten, schienen nun auch für sie verlorenzugehen. Das Fundament des gewaltigen Apparates Angelitische Kirche schien brüchig zu werden, und die Auslöschung der Bewahrer der Technik löste eine Kettenreaktion im ehedem soliden Gefüge aus.

Die Folgen waren dramatisch. Die Traumsaat erholte sich, griff erstarkt und mit noch teuflischerer Schläue überall in Europa an und verursachte verheerende Schäden unter den Bewohnern Europas und ihren Besitztümern, während die Zahl der Engel im Dienste der Kirche aus unerfindlichen Gründen immer mehr zu schrumpfen schien. Das Gleichgewicht der Kräfte geriet endgültig ins Wanken. Die Politik der Mächtigen schien sich nicht auszuzahlen, und Dekadenz und Egoismus taten ein Übriges. Immer mehr erstarkten weltliche Organisationen, die sich der totalitären Regierung offen entgegenstellten oder sie, und das war beinahe noch zerstörerischer, von innen her aushöhlten. Die Urbanis-Liga, ein Bund von Stadtfürsten mit dem gemeinsamen Ziel, die angelitische Herrschaft in den Staub zu treten, verbündete sich mit den Jüngern des Morgensterns, einer Sekte, deren charismatische Führung in der Lage war, die Bevölkerung für sich einzunehmen, und läutete so den Anfang vom Ende ein. Es schien, als würde sich alles wiederholen, als könne die Zeit nichts Neues bringen, sondern immer nur wieder die gleichen Muster in neuen Variationen abspulen. Zivilisationen kommen und gehen, Herrscher erstarken und fallen. Die Retter der Menschheit treffen sich zum Stelldichein an den Ufern der Zeit und diskutieren die Relevanz ihres Handelns. Doch ich schweife ab.

Laßt mich einfach an dem Punkt beginnen, wo die Geschichte eine entscheidende Wendung nimmt und wo die Geschicke der Menschen von höherer Stelle bestimmt werden, so, wie sie es schon immer insgeheim befürchten oder vielleicht sogar erhoffen.

Kapitel 1

11. Julii 2659

Tyrrhenisches Meer

Mit einem feuchtwarmen Klatschen schlug die schwarzglänzende Traumsaatkreatur auf das umgischtete Deck des gepanzerten Fahrzeugs und brachte es so beinahe zum Kentern. Manolo hatte große Mühe, in der Luke der Exodus Halt zu finden. Ein paar Mal stieß er schmerzhaft gegen die nur mäßig gepolsterten Seitenwände der Ausstiegsluke, und bei jedem Aufprall befürchtete er, seine Rippen brechen zu hören. Glücklicherweise jedoch blieb ihm dies erspart. Überlaut hörte er sein eigenes schweres Atmen in der wie er fand viel zu engen Atemmaske, die man ihm vor dem Ausstieg gereicht hatte. Er wollte sie in diesem Moment einfach nur von seinem Gesicht reißen und sie so weit von sich schleudern, wie er konnte, doch das wäre sein Tod gewesen, und das war ihm bewußt. Die bedrohlich vor ihm aufragenden schwarzen Schleier des Brandlandes hielten ihn von seinem unüberlegten Vorhaben ab. Nichts Lebendiges konnte im Schatten der gigantischen Fegefeuer bestehen. Die Luft war voller giftiger Gase und angereichert mit den fauligen Ausdünstungen des dämonischen Gezüchts des Herrn der Fliegen.

Manolo stand immer noch unter dem Bann des gerade Geschehenen. Der Sondergesandte der Kirche hatte nicht gelogen, als er ihm das Artefakt, dessen rotglühender Lauf immer noch vor ihm im dichten Nebel dampfte, mit den Worten überreicht hatte, er solle vorsichtig damit umgehen, denn seine Feuerkraft sei noch nicht einmal annähernd mit der der Waffen zu vergleichen, mit denen er vorher auf Geheiß der heiligen Mutter gearbeitet hatte. Er war ein Paria der angelitischen Gesellschaft. Er nutzte die verbotene Technologie seiner Vorväter und begab sich damit in den Augen gläubiger Angeliten nah an den Rand der Ketzerei – oder sogar darüber hinaus. Die Machthaber der Kirche hatten bereits vor Jahrhunderten den Technikbann über die Welt verhängt und damit dafür Sorge getragen, daß der Herr nie wieder so erzürnt über das anmaßende Verhalten der Menschen sein könnte, wie er es gewesen war, als er die Zweite Flut und den Veitstanz geschickt hatte. Damals waren nahezu alle Menschen gestorben. Die Lehre, die die Kirche daraus gezogen hatte, hatte dazu geführt, daß ihre Templer alle Technologie eingesammelt hatten und sie seither unter Verschluß gehalten wurde.

Dennoch, auf eine seltsame Art sah er sich als Auserwählter. Er wußte, daß die Obrigkeit Ausnahmen machte. Manche Regeln galten nur für bestimmte Menschen. Menschen, deren Glaube nicht so gefestigt war wie der Manolos.

Jetzt lag die See wieder trügerisch still da. Seine Einheit im Rumpf der Exodus mußte langsam unruhig werden, denn er hörte erregte Stimmen zu sich heraufdringen. Ehe er jedoch wieder in den stählernen Bauch des Fahrzeugs zurückklettern konnte, mußte Manolo irgendwie den Kadaver des Dämons vom Deck ihres Gefährts bugsieren, denn er verhalf der Exodus zu ordentlicher Schlagseite und behinderte sie bei der Geradeausfahrt.

Manolo stemmte die Arme in die Polsterung der Ausstiegsluke und zog mit einem Ruck die Beine an, so daß er sie über den Rand katapultierte und behende auf der metallenen Außenhaut der Exodus zu stehen kam. Vorsichtig näherte er sich dem zerfetzten schwarzen Ungetüm, das vor ihm aufragte. Erst jetzt konnte der Templer Einzelheiten an dem Dämon ausmachen. Es handelte sich um ein libellenartiges Wesen von der Größe eines kleinen Wals mit viel zu vielen Gliedmaßen. Viele davon waren zu klein, um irgendeinen Zweck zu erfüllen, und die meisten standen in unnatürlichem Winkel vom übrigen Körper ab. Manolo wagte es nicht, darüber nachzudenken, ob das die Folge des Sturzes oder der Wille des Herrn der Fliegen gewesen war und stieß der Kreatur grob einen Fuß in die Seite. Der Templer bereute seine Handlung umgehend, denn der schwarzgrüne Panzer des Dämons schien hart wie Granit und der Schmerz in seinem Fuß unerhört zu sein. Der Kadaver indes bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Laut fluchend stieß Manolo auf einem Bein hüpfend gegen einen Vorsprung an Deck und fiel rücklings hin. Auf dem schlüpfrigen Gemisch aus Meerwasser und dem schwarzen, zähen Seim des Dämons benötigte der Templer lange, um sich wieder aufzuraffen. Er verfluchte sich und seine Dummheit und beschloß, diesen Teil seines heroischen Einsatzes besser geheimzuhalten.

Der Tod indes kam schnell an diesem Morgen und ließ keinen Zweifel daran, daß auch der Rest von Manolos Taten kein Stoff für ein Heldenepos sein würde. Die schweren Projektile aus Manolos Waffe hatten den Traumsaatdämon zwar tödlich getroffen, keineswegs jedoch war der Existenzkampf der Kreatur zu diesem Zeitpunkt schon beendet, und so zuckte eines der messerscharfen Beine genau in dem Augenblick vor, als der Templer sich wieder aufrichtete und durchschlug mit Leichtigkeit die gehärtete Lederrüstung des Soldaten und dann Haut, Fleisch und Knochen. Mit einem Kreischen bekam der Dämon Übergewicht und rutschte mitsamt seiner immer noch verblüfft dreinblickenden Beute von Deck.

Auftrag ausgeführt, dachte Manolo noch, bevor er in das kühle Naß tauchte. Dann schloß er die Augen, und seine Finger fanden den Ring, an dem der geballte Zorn des Herrn von seinem Gürtel baumelte. Mit einem letzten Ruck und einem zynischen Lächeln bereitete Manolo seiner und der Existenz des Dämons ein Ende.

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Die gewaltige Explosion riß das Brandlandgefährt beinahe entzwei, und ein eiskalter Schwall Meerwasser ergoß sich durch die Luke über die Gestalten im Inneren der Exodus, die daraufhin haltlos durcheinanderpurzelten. Xandra kam zuerst wieder auf die Beine und wußte sofort, daß etwas nicht nach Plan gelaufen war. Am freudigen Gejohle Manolos hatte sie unschwer erkennen können, daß er Erfolg gehabt haben mußte. Wie konnte dann so etwas passieren? Ohne auf mögliche Gefahren zu achten, ergriff sie die Sprossen der Eisenleiter, die zur Ausstiegsluke führten, und noch bevor sie jemand davon abhalten konnte, hatte sie den Ausstieg erreicht.

Die See hatte sich nach der Explosion wieder geglättet. Alles lag ruhig vor Xandra, die sich vorsichtig immer höher schob und schließlich einen guten Rundumblick über das Deck der Exodus hatte. Von Manolo fehlte jede Spur. Die Detonation mußte ihn über Bord geschleudert haben. Mit hektischen Blicken suchte die Gabrielis-Templerin das Wasser ab. Die Atemmaske behinderte sie stark bei dieser Tätigkeit. Wenige Minuten zuvor war sie der jungen Frau beinahe vom Gesicht gerutscht, als die Detonation den Rumpf des Brandlandmobils erzittern ließ. Das wäre ihr sicherer Tod gewesen. Zumindest hatte man sie das im Rahmen der Ausbildung für diese Mission gelehrt. Irgend etwas regte sich in ihr und ließ den Wunsch aufkommen, die Frage jetzt und hier ein für alle Mal zu beantworten. Nein, sie war zwar Gabrielis-Templerin, Mitglied des starken Armes der Angelitischen Kirche, ausgebildet zu töten und sich für die heilige Sache zu opfern, aber sie war nicht dumm. Es gab sicher Menschen, die mehr von den Geheimnissen des Brandlandes und der Fegefeuer verstanden als sie. Wer war sie, die Weisheit und Erkenntnisse ihrer Vorgesetzten in Frage zu stellen?

Ruhig suchte Xandra noch einmal die Wasseroberfläche ab. Irgendwelche Anzeichen dessen, was geschehen war, mußte es doch geben. Nichts, Manolo blieb wie vom Erdboden verschluckt oder besser, wie von der See verschlungen. Minute um Minute verging, doch ihr Waffenbruder blieb verschollen. Zu Beginn der Reise hatte man ihr unmißverständlich klargemacht, daß es sich um ein Himmelfahrtskommando handeln könnte. Niemand hatte je zuvor eine solche Reise unternommen und konnte davon berichten. Die wenigen Brandlandführer, die von sich behaupteten, unbeschadet einen der Rauchkorridore durchquert zu haben, waren durchweg von zweifelhaftem Ruf, verrückt oder beides. Daß es jedoch so früh, quasi noch vor dem eigentlichen Beginn der Reise, zu Verlusten kommen würde, damit hatte die sehnige Gabrielis-Templerin nicht gerechnet.

Bekümmert wandte sie sich von der trügerischen See ab und zwängte sich zurück in den stählernen Bauch der Exodus.

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„Was ist geschehen?“ Die klare Stimme Jareks klang seltsam dumpf in Xandras Ohren. Waren das die Folgen der Explosion? Oder handelte es sich nur um die erneute Gewöhnungsphase der Verhältnisse im Inneren des stählernen Gefährts nach ihrem Aufenthalt an Deck? Nachdem die Templerin sich vergewissert hatte, daß die Einstiegsluke nun wieder dicht verschlossen war, entfernte sie umständlich das Atemgerät vor ihrem Gesicht, bevor sie ihrem Vorgesetzten antwortete.

„Das Schiff ist wieder frei. Es kann weitergehen.“ Sie selbst war wohl am meisten über die Kaltschnäuzigkeit erschrocken, mit der sie das Fehlen ihres Waffenbruders unterschlug. Ihr Blick wanderte über die Gesichter ihrer anderen Gefährten, die sie hinter ihren Masken mit einer Mischung aus Ekel und Erwartung anstarrten. Als die nachfolgende Stille sie zu übermannen drohte, fügte sie hinzu: „Manolo hat’s nicht geschafft.“

„Was hast du gesehen, Xandra?“ ließ sich Jarek aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs vernehmen.

„Nichts, nur Wasser und dieses stinkende Brandland vor uns.“

Der Anführer der kleinen Einheit versuchte, sich zur vollen Größe aufzurichten, scheiterte jedoch bei dem Versuch, da er die Decke ihres Gefährts um mindestens zwei Köpfe überragte. Geduckt und sich an diversen Haltegriffen entlanghangelnd näherte er sich Xandra. Als er sie erreicht hatte, sprach er mit leiser Stimme, so daß niemand außer der Templerin es hören konnte. „Was hast du gesehen?“

„Ich habe nichts gesehen, gar nichts.“ Im Gegensatz zu ihrem vorgesetzten Armatura machte Xandra sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu senken. „Da draußen lauert etwas, es hat Manolo geholt und wartet nur darauf, daß wir den Kopf aus der Luke stecken, um nach ihm zu suchen. Ich habe keinen Hinweis darauf gefunden, wohin er verschwunden ist.“ Die Gabrielis-Templerin begann, sich langsam in Rage zu reden. „Selbst wenn er bei der Explosion in Stücke gerissen worden wäre, hätte ich irgend etwas von ihm finden müssen, und seien es auch nur Fetzen seiner Kleidung.“ Tränen mischten sich in den Schweiß auf ihrem Gesicht, und ihre Stimme versagte ihr.

„Manolo hat seine Pflicht getan.“ Jareks Stimme schwankte zwischen Mitgefühl und Drohung. „Sein Licht ist aufgefahren zu seinen Brüdern. Er wird wie alle großen Templer Teil eines Engels werden und erneut herabkommen auf die Welt, um Großes zu vollbringen.“ Die Stimme des Armatura klang, als hätte er die Worte auswendig gelernt, was vermutlich den Tatsachen entsprach, denn lesen und schreiben konnte an Bord der Exodus niemand, das widersprach der Doktrin der heiligen Angelitischen Kirche. Die junge Templerin schob eigensinnig das Kinn vor. „Ist das die Antwort, die ihr Michaeliten auf alles habt? Verblendetes Geschwätz einer greisen Gruppe verknöcherter Klugschwätzer in Roma ...“

Eine schallende Ohrfeige unterbrach Xandras Wortschwall und ließ sie zu Boden gehen. Jareks Gesicht war zorngerötet, soweit es die Templerin im Zwielicht des Raumes ausmachen konnte, und als er sie am Kragen packte und sein Gesicht nah an das ihre brachte, konnte sie eine Ader an seiner Schläfe heftig pulsieren sehen.

„Halt dein Schandmaul, wenn du nichts Zielführendes beizusteuern hast. Mit deinem Geschwätz kommen wir nie nach Korsika.“ Nach einem kurzen Blickduell war der stumme Kampf beendet. Der hochgewachsene Michaelis-Armatura ließ Xandra los. Die Frau sackte im hinteren Teil der Kabine in sich zusammen und brauchte einige Zeit, ehe sie sich wieder im Griff hatte.

Die anderen schwiegen. Zusammengepfercht in einem viel zu kleinen Gefährt, ein ungewisses Schicksal vor Augen, nur durch einen kleinen Sehschlitz für den Fahrer mit der Außenwelt verbunden, lagen die Nerven aller blank. Doch keiner der kleinen Eliteeinheit von Templern im Dienste der heiligen Mutter Kirche wollte sich die Blöße geben, Angst zu zeigen. Gefühlsausbrüche wie der Xandras waren verpönt unter den angelitischen Kriegern. Inzwischen hatten alle die stickigen Schutzmasken wieder abgenommen und versuchten, möglichst wenig Luft zu verbrauchen. Denn diese war für die nächsten Stunden ihr kostbarster Schatz.

Man hatte Jareks Einheit für diese Mission kaum Zeit für Vorbereitungen gelassen. Der Marschbefehl war eine Woche zuvor gekommen. Außer Brako hatte niemand Erfahrung im Umgang mit vorsintflutlicher Fahrzeugtechnologie. Der Ramielis-Templer war erst seit kurzer Zeit in Jareks Einheit. Er hatte seine Ausbildung vor Jahren im Himmel der Ramieliten in Prag absolviert und zeigte ein umfassendes Verständnis für komplexe technische Zusammenhänge. Nach seiner Dienstzeit in Prag war er im Dienste der Ramieliten an die entlegensten Orte Europas gereist, um die Hinterlassenschaften der Ragueliten, der Hüter der Technik, zu sichten und den Monachen vor Ort beratend zur Seite zu stehen.

Brako redete nicht viel und hielt sich mit seiner Meinung weitgehend zurück. Seine Schwestern und Brüder hatten nicht viel Verständnis für ein solches Verhalten, schrieben es jedoch seinem fortgeschrittenen Alter, er zählte unterdessen siebenundvierzig Jahre, und der allseits bekannten osteuropäischen Unterkühltheit zu. Anfänglich war er die Zielscheibe des Spotts seiner Gefährten gewesen, doch als Brako ein ums andere Mal keinerlei Reaktion auf die Anfeindungen gezeigt hatte, hatten sie schnell die Lust an ihren Sticheleien verloren.

Jetzt saß Brako in dem mit schwerem Leder ausgekleideten Stuhl der Fahrerkanzel und blickte angestrengt durch die komplizierte Umlenkoptik, die ihm als einzigem die Sicht nach draußen ermöglichte. Seine Gefährten waren vollkommen auf ihn angewiesen, und manch einer stellte sich insgeheim die Frage, ob es eine gute Idee gewesen war, dem Ramieliten einen solch „herzlichen“ Empfang in ihren Reihen zu bescheren.

Jarek erinnerte sich. Man hatte nach ihm geschickt und ihn ins Allerheiligste inmitten Roma Æternas gebracht. Der Lateran, gelegen inmitten der Stadt auf der Nova Insula, der Kommandozentrale der Angelitischen Kirche, glich einer ehernen Festung. Wer den Weg hierher fand, war wenige Stunden später entweder tot oder ein gemachter Mann. Jarek mochte beide Gedanken nicht. Er liebte die Freiheit seiner Tätigkeit im Dienste der heiligen Mutter, und trotz zahlreicher Angebote hatte er bereits mehrmals eine Beförderung, die ihm ein stattliches Auskommen und einen noblen Wohnsitz beschert hätte, ausgeschlagen. Ihm lag nicht daran, in irgendeinem Sessel als Coccineus oder als Stadthalter einer Provinzgarnison fetter und fetter zu werden. Im Gegenteil, er verabscheute die bürokratische Oberschicht der Kirche so sehr, daß ein Aufenthalt in der Ewigen Stadt ihn schier um den Verstand brachte.

So war ihm nicht wohl gewesen, als er die Pforte des Laterans durchschritt und vor das Konsistorium trat. Der höchste angelitische Rat und Beraterstab des Pontifex Maximus bestand aus neun Personen. Manche von ihnen machten auf Jarek den Eindruck, als versauerten sie schon seit Gründung der Angelitischen Kirche dort. Andere, allerdings wenige, waren jünger und sahen zumindest so aus, als läge ihnen etwas am Geschick anderer. Fast alle blickten ihn aus kalten Augen an, als wollten sie ihn auf der Stelle zu Eis gefrieren lassen. Einige hatten ein professionelles Lächeln aufgesetzt, konnten jedoch nicht verbergen, daß ihr Gegenüber ihnen unter ihren Masken aus Freundlichkeit ebenso egal war wie dem Rest der Ratsmitglieder.

Nachdem der Ratssprecher, Kardinal zu Gemmingen, die traditionellen Grußformeln gesprochen hatte, war er ohne Umschweife zur Sache gekommen. „Wir haben viel von dir und deinen Taten sagen hören, Armatura Jarek. Du bist ein Held.“

Trotz der schmeichelnden Worte wollte der Michaelit keinen rechten Stolz empfinden. Viel zu lauernd schien ihm die Stimme seines Gegenübers. So blieb er sachlich und antwortete: „Ich tue nur demütig meine Pflicht im Angesicht des Herrn und seiner Diener, Eure hochehrwürdigen Eminenzen.“

„Sicher. Ist dir bewußt, warum wir dich in den Lateran haben rufen lassen, Armatura?“

„Nein, hochehrwürdige Eminenz.“

„Du sollst deine wohl bisher größte Heldentat vollbringen und somit zu einer Legende werden, vielleicht wirst du nach deinem Ableben sogar heiliggesprochen.“ Der Konsistorialkardinal legte eine dramatische Pause ein, um das Erstaunen im Blick seines Gegenübers auszukosten. „Du sollst als Befreier der Samaeliten in die angelitische Geschichte eingehen.“

Anders als von ihm erwartet war es Jarek damals schwergefallen, ob des Gesagten die Fassung zu wahren. Seine Gedanken hatten sich beinahe überschlagen, und ihm war wenig zu sagen eingefallen, also hatte er geschwiegen.

„Ich sehe, unser Auftrag wirft Fragen in dir auf, Armatura. Nichts anderes haben wir erwartet. Leider bleibt nicht viel Zeit für Antworten, daher erörtern wir nur in aller Kürze deine Mission.“ Mit einer gönnerhaften Geste in Richtung eines Ratsmitglieds zu seiner Linken hatte zu Gemmingen wieder Platz genommen. Der Mann, dem die stumme Aufforderung des Kardinals gegolten hatte, hatte sich erhoben und war ein paar Schritte auf Jarek zugekommen.

„Deine Mission wird sein, mit sieben deiner besten Leute das jüngst fertiggestellte Brandlandmobil, die Exodus, durch den Korridor um Korsika zu bringen und unsere Schwestern und Brüder vom Orden Samaels aus der Umklammerung des Herrn der Fliegen zu befreien.“ Zum ersten Mal im Leben hatte Jarek gespürt, wie ihm die Knie weich wurden. Nicht aus Angst, wie man angesichts einer so großen und verantwortungsvollen Aufgabe wohl hätte annehmen können, vielmehr hatte ihn die Flut von Fragen in seinem Kopf schwindeln lassen.

„Eure hochehrwürdigen Eminenzen, wie soll ich eine solche Großtat vollbringen, wo doch Jahrhunderte niemand derartiges vermocht hat? Dies ist eine Mission für die Engel des Herrn, und ich bin nur ein einfacher Templer.“

„Deine Demut ehrt dich, Armatura.“ Der Kardinal in der schlechtsitzenden Robe hatte seine Aussage mit einer übertrieben ausladenden Geste unterstrichen, ehe er fortfuhr. „Doch sei versichert, der Umstand, daß die Wahl auf dich fiel, ist nicht Unüberlegtheit und Willkür zuzurechnen, sondern das Ergebnis langjährigen Abwägens. Einem Engel ist es nicht möglich, diese Mission zu erfüllen, da es sich bei der Exodus um ein eher beengtes Gefährt handelt, was jedoch keinesfalls seiner Bedeutung für die heilige Sache ge...“

„Nun, ich denke, für den Anfang wären das genug Informationen, Bruder Jorolph.“ Zu Gemmingen hatte sich erneut erhoben und war dem vollbärtigen Amtskollegen rüde ins Wort gefallen, was dieser sofort mit einem strafenden Blick geahndet hatte, der jedoch auf zu Gemmingen keinen Eindruck zu machen schien. „Von heute an in sieben Tagen beginnt deine Mission, Armatura Jarek. Ausreichend Zeit, um sich mit den Gegebenheiten und der Ausrüstung vertraut zu machen. Mögen der Herr und seine Engel stets über dich wachen.“

Acht Tage waren seitdem vergangen. Sie waren die diffizile Funktionsweise der Exodus gemeinsam mit einer Frau namens Wanja wieder und wieder durchgegangen. Die Begine schien sich mit der Apparatur gut auszukennen, hatte jedoch den Eindruck erweckt, als widerstrebe es ihr, sich dem Gefährt zu nähern. Brandlandführer waren aus dem Osten herbestellt worden, um Jareks Armatur in allem zu unterweisen, was ihnen im Angesicht des schwarzen Vorhangs würde nützen können. Schließlich hatte man ketzerische Waffen gebracht, die angelitische Siegel trugen, die sie als unbedenklich legitimierten, weil sie ausschließlich dem Einsatz gegen die Dämonen der Traumsaat zum Einsatz kommen sollten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war Jarek die Tragweite seiner Mission bewußt geworden. Sieg und Niederlage lagen so dicht beieinander wie nie in seinem Leben. Er würde glanzvoll mit seinen Schwestern und Brüdern nach Æterna zurückkehren oder bei dem Versuch, das Brandland zu durchqueren, sterben.

„Wir tauchen jetzt ein.“ Brakos harter Akzent riß Jarek zurück ins Hier und Jetzt. Befehlsgewohnt wies er seine Kameraden an, einen sicheren Halt zu suchen und auf alles gefaßt zu sein. Selbst Xandra hatte sich aufgesetzt und machte den Eindruck, sich wieder gefaßt zu haben. Vielleicht hatte der Armatura sich in ihr doch nicht getäuscht, als er beschlossen hatte, sie mitzunehmen. Vor wenigen Augenblicken hätte er sie noch am liebsten nach Æterna zurückschwimmen lassen, jetzt ebbte sein Zorn auf sie langsam wieder ab. Sie war gut darin, allein zu überleben. Auf dem Schlachtfeld war sie eine wahre Furie, und er verdankte ihr sogar mehr als einmal sein Leben. Doch hier gehörte sie nicht hin, begriff Jarek nun und hoffte, daß er sich für seine Entscheidung, sie mitzunehmen, nicht noch einmal schreckliche Vorwürfe würde machen müssen.

Was immer die kleine Truppe auch befürchtet hatte, beim Eintritt in Feindesland geschah ... nichts. Weder wurde die Fahrt unruhiger noch verglühten sie in der Hitze tausender Schmelzöfen. Es ging einfach voran. Immer weiter näherten sie sich dem Ziel. Das einzige, was sich änderte, war der Gestank im Inneren ihres selbstgewählten Gefängnisses. Schweiß, geboren aus Angst und stickiger Hitze, rann den Gefährten in Strömen über die Haut und sammelte sich an exponierten Stellen zu kleinen Seen. Die Luft war schal und schmeckte nach Eisen. Die Augen brannten vom Salz aus ihren Poren. Niemand wagte, ein Wort zu sagen. Aller Ohren waren auf das gerichtet, was draußen, jenseits der stählernen Hülle des Brandlandgefährts, auf sie lauern mochte. Jeder von ihnen hatte die Geschichten über riesige Traumsaatdämonen gehört, die in der Lage waren, ein Gefährt wie die Exodus einfach zu verschlingen, und die meisten von Jareks Schwestern und Brüdern hatten sogar schon selbst ins Antlitz einer solchen chitingepanzerten Bestie geblickt und waren dem Tode entronnen, oft mit wenig mehr als ihrem nacktem Leben. Sie hatten dem Feind stets ins Antlitz geblickt und nie verzagt, doch dies war eine gänzlich andere Situation. Sie waren gefangen in einem schwimmenden Sarkophag, kein wahrer Angelit sollte so sterben, umhüllt von drei Zentimeter dickem Stahl, ohne den Blick gen Himmel richten zu können. Sie waren wie die Lämmer zur Schlachtbank geführt worden und hatten sich sogar im Angesicht des sicheren Todes vorgedrängt. Man hatte ihnen stets das Gefühl gegeben, unsterblich zu sein. Oft hatten sie seither befürchtet, man habe sie angelogen. Jetzt jedoch waren sie sich sicher. Sie waren keine Engel. Welche Anmaßung, auch nur über die Möglichkeit nachgedacht zu haben, es dereinst ihren strahlenden Vorbildern gleichtun zu können, welch ketzerischer Gedanke, durch hartes Training und einen unerschütterlichen Glauben in den Status der von Gott Erwählten aufsteigen zu dürfen.

„Ich sehe gar nichts. Hier ist es dunkel wie im Schoß einer urielitischen Nonna.“ Der Umstand, daß Brako einen so blumigen Vergleich für seine Situation fand, ließ Jarek darauf schließen, daß selbst der sonst so beherrschte Ramielis-Templer mit der Situation zu kämpfen hatte.

„Kurs halten und unter keinen Umständen davon abweichen.“ Jarek stand direkt hinter Brako und versuchte, an seinem Untergebenen vorbei hinaus ins Freie zu sehen. Vergeblich. Man mußte in einem speziellen Winkel in die Optik blicken, um nach draußen sehen zu können. Minuten vergingen, dann Stunden. Das einzige, was sie die ganze Zeit über begleitete, war das gleichförmige Wummern der ketzerischen Maschine in den Eingeweiden der Exodus. Mit der Zeit war es zu einer Art Vertrautheit zwischen ihnen und der Maschine gekommen. Jarek hatte sich schon mehr als einmal dabei erwischt, wie er darüber nachdachte, was so schlimm an einem solchen Apparat sein mochte, daß die heilige Mutter dafür ganze Landstriche zu entvölkern bereit war. Was konnte eine solche Maschine allein ausrichten? Ohne sie im Inneren und Brako am Steuer konnte sich das Brandlandmobil nicht einmal von der Stelle bewegen. Sicher, die Gelehrten berichten, das Streben nach verderbter Technik habe einst die Zweite Flut und den Veitstanz über die Menschheit gebracht. Die Strafe des Herrn mußte damals alles Leben ausgelöscht und nur die Kinder, die Erwählten Gottes, zurückgelassen haben, auf daß sie eine bessere Welt errichten mochten, und nun nutzten die Nachfahren dieser Erwählten wieder das verbotene Wissen. Zugegeben, es diente der guten Sache. Sie wollten ihre Geschwister aus der Umklammerung des Herrn der Fliegen befreien, der sie seit über einhundert Jahren auf Korsika festhielt. Dennoch, würde ihr Handeln am Ende alles nur noch schlimmer machen? Würde der Herr eine weitere Flut schicken und sie für ihre Verfehlungen alle endgültig auslöschen?

Was spielte das jetzt schon für eine Rolle? Sie waren hier, und wenn der Herr entschieden hatte, sie dafür zu strafen, konnte er ohnedies nichts dagegen tun. Also hieß es abwarten. Warten, bis etwas geschah.

„Sag Bescheid, sobald du etwas erkennen kannst, Brako ... egal was.“

Der Ramielis-Templer nickte. Jarek reichte das als Antwort. Nachdem er sich versichert hatte, daß er nichts weiter tun konnte, nahm er seinen Platz wieder ein. Die beiden gegenüberliegenden Sitzreihen für die Mannschaft boten wenige Annehmlichkeiten. Die lederüberzogenen Sitzplätze waren schon ohne ihre sperrigen Rüstungen unbequem, doch mit ihnen war es eine wahre Tortur. Dennoch hatte Jarek sich dagegen entschieden, seine Einheit die Panzerung abnehmen zu lassen. Zu unsicher war das Terrain, auf dem sie sich bewegten und zu groß die Gefahr, jeden Augenblick in einen Kampf verwickelt zu werden. Abgesehen davon fühlte er sich irgendwie sicherer in seiner Rüstung aus Holz, Stahl, Stoff und einer Reihe von Materialien, die allesamt strapazierfähiger waren als alles, was heutzutage hergestellt wurde. Auf längeren Feldzügen gegen Aufständische oder Diadochen hatten sie tagelang in voller Rüstung in noch unbequemeren Situationen ausharren müssen, er hatte also keinerlei Bedenken, seinen besten Leuten derartiges abzuverlangen.

Jarek blickte über die Gesichter seiner kleinen Gruppe. Neben Xandra gab es noch eine Frau in seiner Einheit. Stella war Michaelitin wie er. Sie war in seinen Augen sehr anziehend. Sie hatte blondes, glattes Haar, das asymmetrisch geschnitten war und nach vorn bis an ihr Kinn reichte und eine schlanke, gerade Nase, die ihr ein elegantes Äußeres verlieh. Ihr Körper war athletisch und mit zahlreichen Narben übersät, die davon kündeten, daß es sich bei ihr um eine erfahrene Kämpferin handelte. Doch ihr Äußeres war nicht der Grund, warum der Armatura sie mitgenommen hatte. Neben ihrer Erfahrung im Kampf war sie auch noch eine brillante Taktikerin, wenn es darum ging, kleine Gruppen durch unsicheres Gelände zu manövrieren. Als Jareks und Stellas Blicke einander trafen, lächelte die Frau kurz und schien dann nach einem imaginären Fleck auf ihrer Kleidung zu suchen.

Tankred war von seinen Leuten derjenige, den er am längsten und, wie Jarek meinte, am besten kannte. Sie waren gemeinsam ausgebildet worden, hatten lange dieselbe Nota, das Zugehörigkeitszeichen zu einer der zahlreichen Templerfamilien, getragen und waren dann durch Umstände, die sich dem Armatura nicht mehr erschlossen, voneinander getrennt worden. Jareks Weg hatte ihn nach Roma Æterna geführt, Tankred war in Iberia stationiert gewesen. Nachdem man Tankred zu einem Electus, einem Auserwählten, gemacht hatte, hatte er einige Jahre als Komtur eine Gruppe von Beutereitern in der Umgebung von Saragossa befehligt. Als er das Geschäft als Steuereintreiber der Angelitischen Kirche leid gewesen war, war er nicht wie andere mit seiner Erfahrung in den gehobenen Dienst zurückgekehrt, um nach höheren Rängen innerhalb der Templerhierarchie zu streben, sondern hatte ganz bewußt nach seinem alten Freund Jarek gesucht, um in dessen Dienste zu treten. Der Armatura wußte nicht, warum Tankred sich zu diesem Schritt entschlossen hatte, und er fragte auch nicht danach. Wichtig war, daß Jarek sich auf seinen Jugendfreund blind verlassen konnte und mit ihm einen weiteren erfahrenen Krieger an seiner Seite wußte, der mehr konnte, als fanatisch um sich zu schlagen.

Exodus

Über das Zischen des einströmenden Wassers und die Flüche seiner Männer hinweg versuchte Jarek, einen Statusbericht seines Fahrers zu bekommen. Brako hing nach wie vor kopfüber in den Gurten seines Sessels und versuchte, das Unvermeidliche abzuwenden. Immer wieder schlug er auf die Schalttafel und die darauf befindlichen Knöpfe, Schalter und Hebel ein.

Das Gebrüll des Dämons draußen übertönte alle anderen Geräusche. Stella hatte sich derweil auf den Weg in den hinteren Teil der Exodus gemacht und versuchte umständlich, die Bodenverkleidung über sich zu öffnen. Der Griff, der ihr dieses Unterfangen leicht ermöglichen sollte, rührte sich jedoch nicht. Die Platte mußte sich bei einem der Schläge der Traumsaatkreatur verzogen haben und war nun nicht mehr zu bewegen. Die Muskeln und Sehnen in ihren Armen spannten sich und traten deutlich hervor, als sie es trotzdem versuchte.

Inzwischen standen die sieben Gefährten bis zu den Knöcheln in stinkendem Salzwasser, das allerdings immer schneller in Richtung Bug abfloß, wo es sich zu einem kleinen See zu sammeln begann. Immer noch stampfte die Maschine der Exodus ihr dumpfes, monotones Lied, als sei all das, was sie hier gerade durchlebten, nicht real.

Abermals ein Treffer. Diesmal wurde das Fahrzeug hoch in die Luft gehoben und krachte mit lautem Platschen zurück ins Wasser. Stella, die immer noch verzweifelt versucht hatte, das verkeilte Bodenblech zu öffnen, wurde durch die halbe Kabine katapultiert und riß dabei drei ihrer Gefährten mit sich. Da begriff Jarek, was die Michaeliten vorgehabt hatte. So schnell es die Gegebenheiten um ihn herum zuließen, bahnte der Armatura sich einen Weg zu der Falltür im Boden, die sich jetzt über seinem Kopf befand. Wie zuvor Stella nahm er den Griff in beide Hände und begann, aus Leibeskräften daran zu drehen. Für unendliche Sekunden schien das verzogene Schloß auch ihm widerstehen zu wollen, doch dann, unendlich langsam, wie ihm schien, setzte sich rohe Gewalt gegen stählernen Trotz durch. Mit einem kreischenden, schabenden Geräusch schoben sich die metallenen Bügel aus ihren Halterungen, und die Bodenplatte krachte nach unten, gefolgt von einem Schwall eiskalten Meerwassers. Beinahe hätte die schwere Tür den Armatura am Kopf getroffen, im letzten Moment jedoch gelang es ihm, sich in Sicherheit zu bringen, so daß sich nur das stinkende Naß über seinen Kopf ergoß.

Nachdem er wieder sehen konnte, versuchte er, in die relative Dunkelheit in den Eingeweiden der Exodus zu starren. Vor ihm befand sich eine Reihe von acht Hebeln, das Notfallsystem, wie Wanja es genannt hatte. Die Hebel lösten an der Außenwand des Gefährts versteckte Luftsäcke aus, die dem Mobil im Falle des Sinkens neuen Auftrieb geben sollten. Allerdings lag die Exodus falsch herum, und er war nicht sicher, ob die Konstrukteure des Brandlandfahrzeugs dies berücksichtigt hatten. Die kleinen Symbole neben den Hebeln gaben Auskunft darüber, welcher Luftsack sich beim Betätigen wohl öffnen würde. Jarek konnte sie im Dunkeln kaum erkennen. Aufgeregt überlegte er, was wohl die richtige Reihenfolge sei, um das Fahrzeug nicht nur über Wasser zu halten, sondern auch zu drehen. Andernfalls waren sie verloren. Sollte die Exodus nur über Wasser bleiben, trieben sie steuerlos im Brandland umher, nur darauf wartend, daß ihnen die nötige Luft zum Atmen ausging oder sie im einströmenden Wasser ertranken.

Der Armatura legte die Hand um den Griff des ersten Hebels und drückte ihn. Fauchend entwich irgendwo Luft. Die Exodus reagierte sofort. Der Bug hob sich auf der rechten Seite an, so daß alles Wasser ins Heck der Kabine floß.

„Festhalten!“ Jareks Stimme klang angespannt, dann legte er den zweiten Hebel um.

Wieder ein Zischen. Augenblicklich kippte ihre Welt nach links, und die Wassermassen mit ihr. Das Brandlandmobil mußte nun vollständig unter Wasser sein, und das Jaulen und Ächzen sich verbiegenden Metalls trieb den Anführer des Templertrupps zur Eile. Wenn er jetzt einen Fehler machte, war es um ihn und seine Leute geschehen. Jarek zögerte. Er hing wie ein Bergsteiger mit der Rechten an der Kante der Bodenluke, die Beine schwangen frei im Raum. Ein Sturz wäre verkraftbar gewesen, doch durch das ständige Drehen und Kippen der Exodus war er nicht mehr sicher, welchen Hebel er umlegen sollte.

Draußen konnte er wiederum den Dämon brüllen hören. Mit einem spotzenden Geräusch erstarb das monotone Wummern der Maschine und mit ihr alles Licht. Jarek schien es, als versuche die Exodus sich in Panik vor der Traumsaatkreatur zu verstecken. Voller Trotz und Zorn fingerte der Armatura nach dem nächsten Hebel. Mit zufriedenem Zischen richtete die Exodus sich in eine aufrechte Position auf. Schnell legte Jarek den vierten Hebel um und stabilisierte damit ihr Fahrzeug im schwankenden Naß. Sie hatten einen Teilsieg errungen. Ihr Gefährt trieb wieder auf dem Wasser, und da auf das letzte Gebrüll ihres Angreifers kein weiterer Schlag folgte, wähnte Jarek sie in relativer Sicherheit. Für den Moment.

„Tankred, wie sieht es aus?“

„Frag mich das noch mal, wenn ich weiß, wo oben und unten ist, Magister.“

„Jemand verletzt?“

„Nur in meiner Ehre.“

„Stella ist bewußtlos.“ Die Stimme kam von Xandra. „Sie hat ganz schön was abbekommen. Komm mal her, Rochus.“

Der drahtige Raphaelit setzte sich in Bewegung, Jarek wollte es ihm gleichtun, doch hatte er keine Zeit, sich um Einzelschicksale zu kümmern. Nicht jetzt. Es lag in seiner Verantwortung, ob sie die nächsten Stunden überlebten oder für immer in diesem verdammten Brandland blieben.